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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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Szene isch Avia<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

Wie eine verdammte<br />

Discokugel auf<br />

vier Rädern<br />

An den Stadträndern macht sich eine neue Szene breit. Tankstellen<br />

werden zu Sehnsuchtsorten. Wir sind eingestiegen und im glitzernden<br />

BMW mitgefahren – quer durch die halbe Schweiz.<br />

Daniel Faulhaber<br />

Zusammengezählt stehen auf der kleinen Avia-<br />

Tankstelle in Kleinhüningen an diesem Samstag<br />

im April 2021 genug Pferdestärken, um eine<br />

mittelgrosse Armee beritten in den Kampf zu<br />

schicken. Ein Lamborghini Gallardo, orange, mit<br />

offenem Verdeck, ca. 500 PS. Ein Mercedes mit<br />

Maybach-Ausstattung, 300 PS. Ein BMW X6M,<br />

mit rot metallisierter Diamantoptik-Folie, 600<br />

PS. Und so weiter.<br />

Zirka 30 sehr starke Autos stehen Flanke an<br />

Flanke in der Frühlingssonne, während manchen<br />

von ihnen der frische Reinigungsschaum<br />

von den Felgen tropft wie Tau von frischen<br />

Blättern. Wie das alles glitzert! Motorhauben<br />

werden aufgeklappt und wieder zu, es wird<br />

umhergegangen und gegrüsst. Dann verteilt<br />

einer der Jungen die Funkgeräte. Es geht los.<br />

Stress durch Lärm:<br />

Einer belastet alle?<br />

Im öffentlichen Diskurs hat ein neues Feindbild<br />

Einzug gehalten: Autoposer*innen. Erkennungsmerkmale,<br />

herausdestilliert aus Reportagen der<br />

Boulevardmedien «Blick», «20 Minuten» und<br />

anderen Presseorganen: jung, schnell, laut. Migrationshintergrund.<br />

In einem «Psychogramm»<br />

des «St. Galler Tagblatts» – «So ticken die Poser»<br />

– vergleicht ein Verkehrspsychologe die<br />

Szene-Teilnehmer mit Tieren. Grundlage dieser<br />

«Analyse»: Konkurrenzverhalten junger Männer.<br />

BlickTV hat mit einem Verkehrsgutachter gesprochen,<br />

der «genau weiss, wie die Autoposer<br />

ticken». Frage des Moderators, ob es bei der<br />

Poserei vor allem darum gehe, Frauen zu beeindrucken?<br />

Der Experte antwortete, das werde<br />

wohl so sein, aber man müsse sich schon<br />

fragen, welche Frau auf so ein getuntes Auto<br />

stehe. Wahrscheinlich sei das nicht die Frau<br />

fürs Leben.<br />

Zusammengefasst: In der Berichterstattung<br />

über Autoposer*innen dominieren Vorurteile.<br />

Normalerweise führen Vorurteile zu Kontroversen.<br />

Aber weil es so schwer ist, mit lauten,<br />

schnellen Maschinen eine Lobby zu kriegen,<br />

werden Autoposer*innen von allen Seiten missgünstig<br />

verachtet. In den Augen der Öffentlichkeit<br />

sind sie alle Troublemaker.<br />

Manche sind das auch. In einer Antwort der<br />

Regierung auf eine Interpellation des alt SP-<br />

Grossrats Talha Uğur Çamlıbel vom Herbst 2020<br />

steht, dass an Teilen der Hochbergerstrasse, die<br />

auch an der Avia-Tankstelle vorbeiführt, die zumutbare<br />

Lärmbelastung für Anwohner*innen<br />

regelmässig überschritten wird.<br />

Dass der Lärm von Raser*innen stammt, kann<br />

die Regierung allerdings nicht bestätigen, die<br />

Übertretungsquote auf diesem Strassenabschnitt<br />

sei eher unterdurchschnittlich. Heisst:<br />

Diese Strasse ist einfach laut, mit der Autoszene<br />

hat das nur bedingt zu tun.<br />

Ein weiterer Anzug von Talha Uğur Çamlıbel<br />

betreffend einer «Strategie gegen Autoposer»<br />

ist zurzeit hängig.<br />

Mirsan und Sinan Ajeti sind Stars der lokalen<br />

Liebhaber*innenszene. Seit sie ihren BMW X6M<br />

in präziser Handarbeit mit einem glitzernden,<br />

knallroten Stoff neu foliert haben, taucht das<br />

Auto auf Instagram überall dort in den Storys<br />

der User*innen auf, wo sich die Szene trifft.<br />

Das sind vor allem Tankstellen. Der beliebteste<br />

Treffpunkt Basels hat längst einen eigenen<br />

Account: Szene_isch_Avia. Seit die Polizei an<br />

der Avia-Tankstelle in Kleinhüningen mit rigorosen<br />

Kontrollen gegen Autoliebhaber*innen<br />

vorgeht, hat sich ein neuer Treffpunkt etabliert<br />

und die Szene trifft sich jetzt auf dem Parkplatz<br />

der Autobahnraststätte Pratteln Süd in Fahrtrichtung<br />

Basel. Szene isch neuerdings Prattele.<br />

Der Begriff «Szene» hat auf der Strasse nicht<br />

zuletzt durch den Kleinbasler Rapper S-Hot<br />

Einzug gehalten. Es ist eine Art Code, der Zugehörigkeitsgefühl<br />

und Stolz bedeutet.<br />

Manche Autos haben «Szene isch Avia»-Sticker<br />

auf den Autos, um zu zeigen, wo sie in Basel dazugehören,<br />

und auf dem dazugehörigen «Szene<br />

isch Avia»-Instagram-Account, auf dem Fotos<br />

von allen möglichen Autos geteilt und geliked<br />

werden, taucht irgendwann im März 2021 sehr<br />

oft das Auto von Mirsan und Sinan Ajeti auf.<br />

Weil es so heftig glitzert wie eine gottverdammte<br />

Discokugel auf vier Rädern. Man kann sich<br />

diesem Auto nicht entziehen.<br />

«Bro, bis auf Rückspiegel»<br />

Es versteht sich daher von selbst, dass Mirsan<br />

und Sinan Ajeti mit ihrem Auto ganz vorne einspuren,<br />

als sich der Fuhrpark von zirka fünfundzwanzig<br />

Autos an der Avia-Tankstelle zur<br />

Abfahrt bereit macht.<br />

Geplant ist ein Ausflug. Abfahrt an der Avia,<br />

von da geht es nach Luzern, dann nach Zürich<br />

und wieder zurück nach Basel. Die Fahrer sind<br />

untereinander mit Walkie-Talkies verbunden.<br />

Mirsan startet den BMW. «Alle bereit? Abfahrt.»<br />

Vor dem Einsteigen sagt einer der Fahrer im<br />

Spass zum anderen: «Bro, bis auf Rückspiegel.»<br />

Szenesprech für: «Bis gleich.»<br />

16 17<br />

«Wir sind<br />

perfekt<br />

integriert,<br />

mein Vater<br />

redet wie<br />

ein Bünzli.»<br />

Mirsan Ajeti<br />

↗ Mirsan und Sinan Ajeti vor ihrem BMW X6M, mit rot metallisierter Diamantoptik-Folie. Auf Instagram ist dieses Auto ein Star der Basler Szene. (Foto: Daniel Faulhaber)<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

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