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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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Gärngschee macht satt<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

«Hier habe ich nicht<br />

das Gefühl, eine<br />

Bettlerin zu sein»<br />

Menschen, die nicht so viel haben im Leben, finden Hilfe bei der<br />

Lebensmittelabgabe von Gärngschee. Dort bekommen sie das Nötigste für<br />

den Alltag. Wie geht es diesen Menschen? Wir haben mit ihnen gesprochen.<br />

Ina Bullwinkel<br />

Ein Samstag im Oktober, es ist zwanzig vor<br />

zwölf und beim Hinterhof im Clarahofweg 15<br />

hat sich schon eine kleine Schlange gebildet.<br />

Menschen mit Einkaufstrolley stehen hier und<br />

warten, dass es losgeht.<br />

So sieht das jeden Samstag aus, seit der gemeinnützige<br />

Verein Gärngschee seine Lebensmittelabgabe<br />

organisiert. Menschen, die nicht<br />

so viel haben im Leben, dürfen hier Gemüse,<br />

Teigwaren, Milch, Pflegeprodukte und einfach<br />

das Nötigste für den Alltag abholen.<br />

Und das Angebot ist beliebt. Meist kommen 50<br />

bis 60 Familien, sagt Tijana, die Gärngschee-<br />

Tätschmeisterin. Ihr ist es wichtig, wie mit den<br />

Menschen umgegangen wird, deswegen spreche<br />

sie ganz bewusst vom Einkaufen und nicht von<br />

Lebensmittelabgabe. «Die Leute kaufen hier ein,<br />

so wie auch ich am Samstag einkaufen gehe.»<br />

Die Leute, das sind Menschen, bunt gemischt<br />

durch fast alle Altersklassen, aber die meisten,<br />

die herkommen, sind schon älter oder müssen<br />

eine Familie versorgen. Wir haben mit einigen<br />

von ihnen gesprochen, um zu hören, was ihnen<br />

die Lebensmittelabgabe bedeutet und wie es<br />

ist, mit wenig Geld auskommen zu müssen.<br />

Susanne, 62, und Michele, 52<br />

Susanne und ihr bester Freund Michele kommen<br />

regelmässig zur Lebensmittelabgabe. Es<br />

ist aber das erste Mal, dass sie sie bei der neuen<br />

Ausgabestelle am Clarahofweg einkaufen. Sie<br />

freuen sich am meisten über das Gemüse, Brot,<br />

Teigwaren, Joghurt und Milch – also so gut wie<br />

alles, was sie bekommen. Susanne muss einen<br />

5-Personen-Haushalt versorgen, Michele lebt<br />

zu dritt in der Wohnung.<br />

Susanne erhält IV und eine Witwenrente, die<br />

zurzeit allerdings teilweise gepfändet werde,<br />

sagt sie. Michele arbeitet als Gärtner, musste<br />

aber nach einer Trennung Schulden übernehmen<br />

und lebt deshalb am Existenzminimum.<br />

Sein Lohn reicht nicht, um alle monatlichen<br />

Ausgaben zu decken.<br />

«Hier gibt es von allem etwas», sagt Susanne.<br />

Zum Beispiel auch Hygienemasken, von denen<br />

man im Moment täglich welche braucht. Susanne<br />

mag, dass es bei der Lebensmittelabgabe<br />

so familiär zugeht. «Bei Gärngschee sind nette<br />

Leute wie Sandie und Tijana. Man schreibt sich<br />

auch sonst mal.»<br />

«Wir sind sehr dankbar, dass es die Lebensmittelabgabe<br />

gibt», sagt Michele.<br />

René, 61<br />

ist ein freundlicher Mann, der gern ein wenig<br />

plaudert. Während er erzählt, raucht er einen<br />

Zigarillo, den er zwischendurch immer wieder<br />

neu anstecken muss. Wie die meisten hier ist<br />

er ein alter Hase bei der Lebensmittelabgabe.<br />

«Ich nehme am liebsten Früchte mit oder Sachen,<br />

die andere nicht so gerne mögen, Peperoni<br />

zum Beispiel.» Heute habe er auch eine<br />

Flasche roten Essig ergattert. Süsses nimmt er<br />

nicht mit, wegen eines Magenbypasses dürfe<br />

er kaum Zucker essen.<br />

René wird von der Sozialhilfe unterstützt. Er<br />

lebt in einer WG, um Geld zu sparen. Weil er<br />

nicht alleine wohnt, wird ihm der Grundbedarf<br />

gekürzt, so wie es auch bei Verheirateten der<br />

Fall ist. Das empfindet er als grosse Ungerechtigkeit.<br />

«Dadurch habe ich 250 Franken weniger<br />

im Monat. Die Lebensmittelabgabe ist da<br />

eine grosse Hilfe.» Wegen seines Bypasses sei<br />

es wichtig, dass er sich gesund ernährt. «Hier<br />

bekomme ich genug Gemüse und Früchte.»<br />

René erzählt, er kenne Sandie von früher. Zu<br />

Weihnachten habe sie ihn dann auf die Geschenk-<br />

Aktion von Gärngschee aufmerksam gemacht.<br />

René strahlt: «Das Hemd, das ich trage, habe<br />

ich damals bekommen.» Auf seinen Wunschzettel<br />

hatte er damals Kleidung und einen<br />

Reisegutschein geschrieben, um seine Eltern<br />

endlich mal wieder in Interlaken besuchen zu<br />

können. Beide Wünsche hat die Gärngschee-<br />

Community ihm erfüllt. Die Dankbarkeit sieht<br />

man ihm heute noch an. Inzwischen hilft René<br />

selbst bei Gärngschee mit – als Moderator bei<br />

der Facebook-Gruppe.<br />

Besonders stolz ist René auf seine Hundedame<br />

Amy, auf seiner Mütze steht «Dog Dad». Sie<br />

lässt sich gern von den anderen Menschen in<br />

der Schlange streicheln und spielt zwischendurch<br />

mit den braunen Blättern am Boden.<br />

René kommt nicht nur wegen der Lebensmittel<br />

her. «Hier sind Freundschaften entstanden, die<br />

setzen sich für mich ein.» Gemeint sind Sandie<br />

und Tijana. «Seit ich Gärngschee kenne, hat<br />

sich viel zum Guten gewendet.» Mit manchen<br />

verabrede er sich zwischendurch auf einen<br />

Kaffee, «um zu besprechen, was meine Seele<br />

bedrückt». Andersherum gehe er mit anderen<br />

mit seiner Hündin spazieren, «damit sie mal<br />

abgelenkt sind von ihren täglichen Sorgen».<br />

Auch für René ist das Einkaufen in Deutschland<br />

ein wichtiger Bestandteil, um seinen Alltag zu<br />

bestreiten. «Ich wohne direkt an der Grenze und<br />

brauche nur 20 Minuten zum nächsten Laden.»<br />

Im Shutdown sei es besonders schwierig für ihn<br />

gewesen, da er auf eine gesunde Ernährung<br />

achten muss – und das ist mit einem knappen<br />

Budget gar nicht so einfach. «Mit Magenbypass<br />

muss man mehr Proteine zu sich nehmen. Dieser<br />

Mehrbedarf wird nicht von der Sozialkasse<br />

übernommen.» René sagt, wenn er für 60 Franken<br />

in Deutschland einkaufe, komme er damit<br />

für eine Woche aus – Hundefutter nicht mitgerechnet.<br />

Er kaufe zum Beispiel oft Härdöpfel<br />

im Angebot in Deutschland. Fünf Kilogramm<br />

würden dann einen Monat lang für ihn reichen.<br />

Renés Rucksack ist vollgepackt. Den kleinen<br />

58 59<br />

Rest von seinem Zigarillo drückt er aus und<br />

stopft ihn zurück in die Packung. Er schnallt<br />

seinen Wanderrucksack an der Hüfte zusammen,<br />

schnappt noch eine kleine Tüte mit Lebensmitteln<br />

und die Hundeleine und macht sich<br />

mit Amy auf den Weg.<br />

Liz, 61<br />

Mit ihrem Mann lebt sie von IV und AHV ohne<br />

Ergänzungsleistungen. Vom Sozialamt wollen<br />

sie nicht abhängig sein. «Selber zu helfen, ist<br />

mir wichtiger als die Abgabe. Ich bin sehr froh<br />

über die Lebensmittel, aber in erster Linie geht<br />

es mir darum, einen Beitrag für ein gesellschaftliches<br />

Problem zu leisten.»<br />

Liz ist 61 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie und<br />

ihr Mann haben ein Auto, dadurch können sie in<br />

die Stadt fahren und helfen dabei, die übrig gebliebenen<br />

Lebensmittel am Ende zum Tierpark<br />

Lange Erlen oder zum Soup&Chill zu bringen.<br />

Im ersten Shutdown hat Liz Hilfe über die Gärngschee-Gruppe<br />

auf Facebook bekommen. Sie<br />

brauchte damals jemanden, der oder die ihr<br />

einmal die Woche eine Spritze setzt, weil sie<br />

dafür nicht mehr ins Spital gehen konnte und<br />

die Spitex nicht vorbeikam. Zwei ausgebildete<br />

Pflegefachfrauen haben ihr dann regelmässig<br />

geholfen. «Ich war gottedankbar. Das waren<br />

unsere Corona-Engel von Gärngschee.»<br />

Am meisten freut sie sich über die frischen Sachen<br />

bei der Lebensmittelabgabe, sagt sie, Gemüse<br />

und Früchte, Milch und Käse. «Ah, super,<br />

merci», Tijana hat ihr zwei Packungen Hygienemasken<br />

eingepackt. Eine andere Frau hat<br />

keine Packung mehr abbekommen, also gibt<br />

Liz ihr eine von sich ab. «Oh, ihr seid toll!», ruft<br />

Tijana, als sie das mitbekommt. Liz schmunzelt<br />

und zuckt mit den Schultern: «Auch das ist<br />

Gärngschee.»<br />

Susanne, 62, und Michele, 52 René 61 Liz 61<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

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