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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

Das klingt wie ein Versprechen auf Speed,<br />

aber als der Tross kurze Zeit später auf die A2<br />

einbiegt, wird gar nicht überholt. Die Kolonne<br />

hält sich in eiserner Disziplin an die zuvor abgemachte<br />

Reihenfolge. Gefahren wird auf der<br />

rechten Spur. Tempo 90, sonst droht der Korso<br />

auszufransen, und das wäre dann schlecht für<br />

die Wirkung. Man will was hermachen.<br />

Wenn eine*r der Fahrer*innen von weiter hinten<br />

was sagen will, rauscht und knackt in der<br />

Hand von Mirsan das Walkie-Talkie. Der Funk<br />

wird aus zwei Gründen aktiviert. Erstens: für<br />

Fragen zu Ordnung und Disziplin. In dieser<br />

Hinsicht ist Mirsan der Leader. Zweitens: um<br />

zu artikulieren, was für eine geile Zeit man hier<br />

gerade hat. Für die Party sind die Jungs weiter<br />

hinten zuständig.<br />

Funkspruch Mirsan: «Warte, Bro, fahr langsam.<br />

Wir haben ein paar an der roten Ampel verloren.»<br />

Funkspruch aus dem Porsche ganz hinten: «Vor<br />

Luzern steht die Polizei auf einer Brücke und<br />

beobachtet. Fahrt gemäss der Schilder.»<br />

Woher kriegt die Kolonne diese Information?<br />

Mirsan: «Weiss ich nicht, irgendwer weiss das<br />

eben.»<br />

Manchmal wird auf dem Funkkanal auch einfach<br />

gesungen.<br />

Wir rollen jetzt sehr gelassen auf der Autobahn<br />

dahin. Fenster auf, erst mal rauchen. Und jetzt<br />

wird geplaudert, deswegen sind wir schliesslich<br />

da. Was sind das für Typen, deren perfekt<br />

rasierte Hinterköpfe von der Rückbank dieses<br />

schönen Autos aus betrachtet souverän in den<br />

Nackenstützen liegen wie Königshäupter unter<br />

der Krone?<br />

Man tauscht Floskeln, um sich ein bisschen kennenzulernen,<br />

dann sagt Mirsan: «Es war immer<br />

unser Ziel, das Image von Kosovaren besser zu<br />

machen. Wir sind perfekt integriert, mein Vater<br />

redet wie ein Bünzli.» Warum muss das Image<br />

besser gemacht werden, gibt es ein Problem mit<br />

dem Image von Kosovar*innen? Mirsan erklärt:<br />

«Früher war das anders, die ältere Generation.<br />

Die kamen aus dem Krieg und haben Kinder<br />

sterben gesehen, die waren anders drauf.» Sinan<br />

schaltet sich ein: «Wir machen keine Probleme,<br />

wir sind hier geboren. Die Schweiz ist<br />

unsere Heimat.»<br />

Nur kein Troublemaker sein<br />

Interessante Beobachtung: Wenn man mit Mirsan<br />

und Sinan Ajeti über den Rassismus sprechen<br />

will, den sie oder ihre Familien in der Schweiz<br />

erlebt haben, dann reden sie erst einmal davon,<br />

dass die Kosovar*innen ihrer Elterngeneration<br />

sich nicht gut verhalten haben.<br />

Sie wollen es besser machen. Der Satz «Wir<br />

haben grosse Ziele» fällt ein paar Mal in diesem<br />

Auto. Die Bewertung aus den Medien ist den<br />

höflichen Männern in diesem Auto offenbar in<br />

ihr Selbstbild eingegangen: Die Troublemaker<br />

sind sie. Sie müssen, wem auch immer, das<br />

Gegenteil beweisen.<br />

Aufwachsen mit der Bringschuld, keiner zu sein,<br />

der Stress macht.<br />

Heute dieses Auto fahren. Mit 21 Jahren Chef<br />

einer eigenen Firma sein.<br />

In den Medien trotzdem als Loser abgestempelt<br />

werden. Sinan: «Benutze in deinem Bericht<br />

bloss nicht das Wort Autoposer.»<br />

Was seid ihr dann?<br />

«Autoliebhaber», sagt Mirsan.<br />

Cashtalk<br />

Der Grossvater von Mirsan und Sinan kam in<br />

den 1960er-Jahren in die Schweiz, der Vater<br />

und die Mutter in den 1980ern. Sie hatten Glück<br />

und hatten den Krieg nicht am eigenen Leib erlebt.<br />

Der Vater hat hart gearbeitet und wurde<br />

schliesslich Transportleiter Nordwestschweiz<br />

bei einem grossen Bauunternehmen. Mirsan<br />

hat eine Lehre gemacht als Sanitärinstallateur,<br />

Sinan als Kaufmann. Heute haben die beiden<br />

eine Garage für Folierungen und Scheibentönungen<br />

in Lausen BL. Name: NWS Folierungen.<br />

Das schimmernde Auto ist ihr rollendes Werbebanner.<br />

Mirsan ist 21, Sinan 22 Jahre alt. Ganz<br />

schön jung. Mirsan sagt: «Im Kopf bin ich ausgewachsener<br />

als andere in meinem Alter. Wir<br />

haben grosse Ziele, die wir erreichen wollen.»<br />

Welche Ziele denn?<br />

«Wir wollen mit der Werkstatt etwas aufbauen.<br />

Vielleicht etwas mit Immobilien. Damit gutes<br />

Geld reinkommt und wir nicht mehr 13, 14 Stunden<br />

am Tag arbeiten müssen, wie wir das jetzt<br />

tun.» Der BMW hat 72’000 Franken gekostet.<br />

Ein Teil davon ist abbezahlt. Den Rest berappen<br />

die Brüder über einen Leasingvertrag.<br />

Der Autokorso rollt jetzt von der A2 auf die<br />

Raststätte Neuenkirch. Es war zwar bislang<br />

eine sehr wohltemperierte Ausfahrt, aber Mirsan<br />

sagt am Funk, den Schalk in der Stimme:<br />

«Hier machen wir erst mal Pause, damit sich<br />

alle ein birebizzeli beruhigen.»<br />

Die meisten Fahrer*innen der Maseratis und<br />

BMWs, der Mercedes und Maybachs stehen<br />

eher am Anfang einer beruflichen Laufbahn.<br />

Valbone zum Beispiel hat einen Beratungsjob<br />

beim Modehaus PKZ, ihre Schwester Saranda<br />

hat zuletzt als Detailhändlerin gearbeitet.<br />

Zusammen fahren sie einen pechschwarzen<br />

Mercedes AMG C-Klasse mit Sternenhimmel.<br />

So heisst die Innenausstattung. Sternenhimmel.<br />

Das komplette Dach des Mercedes ist innen mit<br />

kleinen leuchtenden Punkten überzogen, die<br />

auf Knopfdruck die Farbe wechseln. Das Auto<br />

gehört den Schwestern gemeinsam, und wenn<br />

man sie ein bisschen peinlich berührt fragt,<br />

ob sie, naja, wie das denn sei, so als Frauen in<br />

dieser Männerszene, dann ziehen sie kurz die<br />

Stirn in Falten und sagen, das sei doch Blödsinn,<br />

sie begeisterten sich eben auch für Autos,<br />

und basta.<br />

Das sagt auch Folita, die ein weisses BMW-<br />

Cabriolet steuert. «Es gibt hier keinen Chef,<br />

der entscheidet, wer mitmachen darf und wer<br />

nicht. Wir sind eine Familie. Wer Bock hat, ist<br />

dabei.» Seit dem Ausbruch der Coronakrise<br />

fehlen Treffpunkte, alle Clubs und Bars sind zu.<br />

Die Autoszene gab es zwar schon vorher, sagt<br />

Valbone, aber seit Corona hat sie einen neuen<br />

Schub erhalten. «Das Tolle ist: Früher waren wir<br />

oft über verschiedene Lokale verstreut. Seit die<br />

Bars zu sind, gehen wir eben an die Treffs. Das<br />

ist viel übersichtlicher. Alle sind da.»<br />

18 19<br />

Leasing: Wie<br />

funktioniert das?<br />

Wenn sich ein*e Kund*in entscheidet, ein<br />

Auto zu leasen, findet eine Art Dreiecksvertrag<br />

statt. Die Leasinggesellschaft<br />

kauft das Fahrzeug. Der*die Kund*in erhält<br />

das Nutzungsrecht und bezahlt eine<br />

monatliche Rate. Wie das «St. Galler Tagblatt»<br />

recherchiert hat, lässt sich beispielsweise<br />

ein über 70’000 Franken teurer<br />

BMW M2 Competition für monatlich rund<br />

800 Franken über eine Laufzeit von vier<br />

Jahren leasen. Bei vielen Leasingverträgen<br />

besteht die Möglichkeit, das Auto<br />

nach Ablauf der Vertragsfrist zu kaufen.<br />

<strong>Bajour</strong> wollte w issen, ob es zurzeit<br />

ein zunehmendes Interesse an Leasing-Verträgen<br />

von Autos gibt. Der Schweizerische<br />

Leasingverband (SLV) antwortet, dass es<br />

seit ein paar Jahren allgemein, und nicht<br />

nur in einer bestimmten Zielgruppe, Trends<br />

zu sogenannten Abo-Modellen gibt. Den<br />

Konsument*innen seien die Fahrzeuge<br />

bzw. das Eigentum am Fahrzeug immer<br />

weniger wichtig. «Sie wollen zwar mobil<br />

sein, aber sich möglichst wenig um das<br />

Fahrzeug an sich oder seine Wartung etc.<br />

kümmern müssen», schreibt der SLV. Deshalb<br />

entscheiden sich immer mehr Konsument*innen<br />

für ein Abo, in welchem der<br />

Unterhalt, die Versicherungen, Assistance,<br />

Reifen etc. alles bereits enthalten sind.<br />

Toprak Yerguz, der Sprecher der Basler Kantonspolizei,<br />

bestätigt das. «Seit rund einem Jahr<br />

verzeichnen wir im Kleinhüninger Hafengebiet<br />

eine deutlich erhöhte Aktivität der Autoszene.»<br />

Die Anwohner*innen störten sich an den lauten<br />

Motoren, an den Treffpunkten bleibe Abfall liegen.<br />

Seit Februar gebe es wieder grössere Kontrollaktionen.<br />

«Der Kantonspolizei war wichtig,<br />

bereits früh zu Beginn der ‹Saison› Präsenz zu<br />

markieren. Die wettermässig schönen Monate<br />

stehen uns erst noch bevor», schreibt Yerguz.<br />

Das Anschwellen der Autoszene ist kein reines<br />

Basler Phänomen. In der ganzen Schweiz,<br />

von Genf bis Basel, stehen jetzt Schilder an<br />

den Strassenrändern der Innenstädte. Slogan:<br />

Laut ist out.<br />

Die Autoszene versucht ihrerseits, mit einer<br />

Charmeoffensive die Wellen zu glätten. Unter<br />

dem Hashtag #Carloverstogether haben sich<br />

mehrere reichweitenstarke Szene-Accounts in<br />

den sozialen Medien zusammengeschlossen.<br />

Sie bitten ihre Follower um drei Dinge: Abfall<br />

mitnehmen, kein Aufheulenlassen der Motoren,<br />

Coronaregeln einhalten.<br />

Polizeisprecher Yerguz sagt dazu: «Die Kantonspolizei<br />

Basel-Stadt begrüsst grundsätzlich jede<br />

Initiative, die eine Rücksichtnahme unterstützt.<br />

Die Wirkung der genannten Aktion können wir<br />

nicht abschätzen.» In der Regel liessen die Autolenker*innen<br />

den Motor nicht in Anwesenheit<br />

der Polizei aufheulen.<br />

Tanken statt Tindern<br />

Apropos Anwesenheit. Der Raum, auf dem sich<br />

die Szene trifft, gehört allen. Es ist Steuerzahler*innenterrain,<br />

es ist die Strasse. Aber es ist<br />

eben auch vernachlässigter Raum, Durchfahrtsraum.<br />

Tankstellen sind nicht zum Verweilen<br />

gedacht. Und so ist es unter dem Gesichtspunkt<br />

der Aneignung interessant, was da an<br />

den Stadträndern passiert. Dass nämlich Unorte<br />

sozial aufgewertet werden und eine neue<br />

Belebung erfahren. Cornern an der Tanke, das<br />

kannte man zuletzt in den 1990er-Jahren als<br />

Jugendphänomen.<br />

Aber jetzt ist die Tanke als Topos zurück. Man<br />

darf das auch wertschätzen. Denn da passiert<br />

so viel mehr, als die paar eingebrannten Donuts<br />

auf dem Asphalt erzählen.<br />

An den Tankstellen entstehen zum Beispiel neue<br />

Spielformen des Kennenlernens. Das ist gerade<br />

in Zeiten von Corona ohnehin eine erschwerte<br />

Angelegenheit. Die einschlägigen Treffpunkte<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

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