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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

«In praktisch allen<br />

Vergewaltigungsfällen handelt<br />

es sich um eine Situation<br />

Aussage gegen Aussage»<br />

Andreas Noll<br />

Die meisten, die sich in den Medien geäussert<br />

haben, stimmen mit der aktuellen Auslegung<br />

des Rechts überein. Strafverteidiger*innen zum<br />

Beispiel. Sie befassen sich mit den Täter*innen<br />

– und strafmildernden Umständen. Mit<br />

ihren Innenleben, mit ihren Motiven, mit ihren<br />

Lebensumständen, mit ihrer Affekthaftigkeit.<br />

Mutmassliche Vergewaltiger zu verteidigen, ist<br />

nicht einfach. Einer, der das tut, ist der Basler<br />

Anwalt Andreas Noll.<br />

Das Grundproblem bei den Sexualstraftatbeständen<br />

sei nicht das Rechtliche, sondern der<br />

Sachverhalt. «In praktisch allen Vergewaltigungsfällen<br />

handelt es sich um eine Situation<br />

Aussage gegen Aussage», folglich lasse sich<br />

eine Täterschaft praktisch nie beweisen. Es<br />

gehe schlussendlich um die Wahrheitsfindung,<br />

erklärt Noll, denn «ohne Wahrheit kein Recht».<br />

Wie steht es um die Mitschuld des Opfers aus<br />

dem Blickwinkel der Verteidigung?<br />

Eine Strafe habe schuldangemessen zu sein,<br />

erklärt Noll. Es gehe nicht nur um das dem<br />

Opfer zugeführte Leid, sondern auch um das<br />

Verschulden des Täters. Es gehe gar nicht um<br />

eine Opfermitschuld, sondern um die Perspektive<br />

des Täters.<br />

Er macht ein Beispiel: «Wenn ich meine Brieftasche<br />

im Restaurant liegen lasse und sie jemand<br />

mitnimmt, ist es für mich zwar das Gleiche, wie<br />

wenn jemand in meine Wohnung eindringt und<br />

mir meine Brieftasche vom Nachttisch klaut.<br />

Das Verschulden des Täters ist jedoch ein anderes.<br />

Ebenfalls ist das Verschulden des Täters<br />

ein anderes, wenn er mir mein Velo stiehlt, das<br />

ich nicht abgeschlossen habe stehen lassen,<br />

als wenn ich es an eine Strassenlaterne angekettet<br />

habe.»<br />

Das Gericht sei bei der Strafzumessung verpflichtet,<br />

eine dem Verschulden des Täters angemessene<br />

Strafe zu fällen, und «es hat dabei<br />

sämtliche Umstände zu berücksichtigen». Das<br />

gelte auch für Sexualstraftaten.<br />

Kann das Dilemma zwischen der Anerkennung<br />

des Unrechts am Opfer und einer für den Täter<br />

gerechten Strafe also nicht gelöst werden?<br />

«Nur Ja heisst Ja»<br />

Die Frage geht an die Strafrechtlerin Nora<br />

Scheidegger. Sie kennt das Sexualstrafrecht<br />

bis ins letzte Detail. Und will es gründlich reformieren<br />

(siehe Box rechts).<br />

Faktoren, die das Strafmass beeinflussen, seien<br />

nötig, um individuell und transparent auf Taten<br />

und Täter eingehen zu können, sagt auch<br />

Scheidegger: «Ein Fremder, der eine Frau vergewaltigt,<br />

ist genauso schuldig wie der Ehemann<br />

oder Freund, der sich an seiner Frau oder<br />

Freundin vergeht. Aber Abstufungen gehören<br />

zum Rechtssystem dazu. Es gibt Faktoren wie<br />

die Vorgeschichte und Umstände, die das Strafmass<br />

beeinflussen können.»<br />

Ein weiteres Beispiel: Die Tat eines unbekannten<br />

Mannes, der eine Frau nachts überfällt<br />

und sich an ihr vergeht, ist meist gewaltvoller<br />

und brutaler als bei einem bekannten Täter,<br />

und diese zusätzliche Gewalt wird dann auch<br />

schwerer gewichtet. «Ob das richtig ist, ist eine<br />

andere Frage», sagt Scheidegger. «Denn bei<br />

der Vergewaltigung durch einen Bekannten ist<br />

der immense Vertrauensbruch, den der Täter<br />

damit begeht, für das Opfer oft mindestens so<br />

schlimm wie körperliche Gewalt.»<br />

Ein weiteres Beispiel: Ist ein Täter stark alkoholisiert,<br />

gilt er in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit<br />

eingeschränkt, was sich mildernd<br />

auf das Strafmass auswirken kann.<br />

Jeder Fall wird gesondert betrachtet und durchleuchtet.<br />

Das sei auch richtig so, sagt Scheidegger.<br />

Das Problem sei, wenn bei Sexualdelikten<br />

das vorherige oder allgemeine, vermeintlich<br />

«freizügige» Verhalten des Opfers einer moralischen<br />

Bewertung unterzogen und als Anknüpfungspunkt<br />

herangezogen werde, um das<br />

Verschulden des Täters zu relativieren.<br />

Die Basler Juristin Kathrin Bichsel hat sich als<br />

Anwältin auf die Vertretung von Opfern im<br />

Strafverfahren spezialisiert. Für sie ist, ebenso<br />

wie für Scheidegger, klar: «Das Sexualstrafrecht<br />

ist veraltet.» So hat Bichsel schon viele Fälle<br />

erlebt, in welchen die erlebte sexualisierte Gewalt<br />

den Straftatbestand der Vergewaltigung<br />

nicht erfüllte. Dies, weil bei der Durchsetzung<br />

der sexuellen Handlungen die für das Gesetz<br />

zwingende Nötigung fehlte. «Das ist sehr demütigend»,<br />

erzählt Bichsel: «Das Gesetz basiert<br />

auf veralteten Vorstellungen», etwa, dass sich<br />

Opfer von sexuellem Missbrauch mit aller Kraft<br />

gegen die Tat wehren müssten oder gar selbst<br />

schuld daran seien, was ihnen widerfahren ist.<br />

«Die Idee, dass Frauen Männer zu Unrecht<br />

beschuldigen würden, um ihnen zu schaden,<br />

ist immer noch vorhanden.» Dies, obwohl Expert*innen<br />

davon ausgehen, dass die Quote von<br />

Falschbeschuldigungen, die sich nur schätzen<br />

lässt, zwischen 3 und 20 Prozent liegen dürfte.<br />

So kann es vorkommen, dass das Gericht aus<br />

Mangel an Beweisen einen Freispruch fällt,<br />

wenn Opfer als Reaktion die Tat wie gelähmt<br />

über sich ergehen lassen – «da sich der Einsatz<br />

eines nötigenden Mittels nicht nachweisen<br />

lässt», wie es im Jurist*innen-Deutsch heisst.<br />

Und auch wenn die Tat gefilmt oder aufgezeichnet<br />

wird, ist die Lage nicht eindeutig. Kathrin<br />

Bichsel gibt als Beispiel summarisch einen Fall<br />

wieder: Eine junge Frau, noch minderjährig,<br />

wurde bei einer Party von mehreren Personen<br />

bedrängt, zuerst machte man sich über<br />

sie lustig, dann wurde sie sexuell missbraucht.<br />

Die Tat wurde mit einem Handy gefilmt. Weil<br />

aber keine vaginale Penetration stattfand und<br />

Die Revision des Sexualstrafrechts<br />

Die Strafrechtlerin Nora Scheidegger ist der Meinung,<br />

dass es eine grundsätzliche Debatte darüber braucht,<br />

wie mit Sexualdelikten umgegangen wird. Juristisch<br />

wie moralisch.<br />

Bislang ist der Vergewaltigungstatbestand, Art. 190<br />

StGB, eng definiert: Nur wenn das Opfer bedroht wird,<br />

unter psychischen Druck gesetzt wird, zum Widerstand<br />

unfähig gemacht wird oder wenn Gewalt angewendet<br />

wird, gilt eine ungewollte Penetration in die Vagina als<br />

Vergewaltigung. Dass ein Opfer Nein sagt und mit dem<br />

Akt nicht einverstanden ist, reicht nicht aus.<br />

Und: Nur Personen weiblichen Geschlechts können betroffen<br />

sein. Wenn non-binäre Menschen und Personen<br />

männlichen Geschlechts vergewaltigt werden, wenn<br />

die Gewalt anal oder durch Gegenstände oder mit den<br />

Händen geschieht, dann fällt das rechtlich unter andere<br />

Tatbestände.<br />

Nun soll das Gesetz ausgeweitet werden. In Scheideggers<br />

Dissertation, die landesweit Schlagzeilen machte, schlägt<br />

sie vor, einen Grundtatbestand einzuführen, der sexuelle<br />

Handlungen ohne Zustimmung unter Strafe stellt. Der<br />

Vorschlag wurde vom Parlament aufgenommen. Die<br />

Rechtskommission des Ständerats hat im Februar die<br />

Vernehmlassung eröffnet.<br />

Vorgeschlagen werden diverse Anpassungen der geltenden<br />

Strafrahmen sowie Änderungen bei den Tatbeständen,<br />

wie die Umschreibung des strafbaren Verhaltens.<br />

Neu soll auch das Anbahnen von sexuellen Kontakten<br />

mit Kindern explizit mit Strafe bedroht werden. Weiter<br />

wird die Schaffung eines Tatbestands des «sexuellen<br />

Übergriffs» vorgeschlagen.<br />

Die Revision wird von den linken Parteien, der GLP, der<br />

Mitte-Partei und der FDP, Menschenrechts-, Kinderschutz-<br />

und Opferorganisationen, von Gleichstellungsbeauftragten<br />

und der Eidgenössischen Kommission für<br />

Frauenfragen (EKF) befürwortet. Die SVP zeigt sich mit<br />

dem Kernanliegen grundsätzlich einverstanden, bemängelt<br />

jedoch Details der Umsetzung.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

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