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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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die junge Frau sich nicht aktiv gewehrt hat,<br />

sondern «es über sich ergehen liess», kam es<br />

gar nicht zu einer Anklage.<br />

Derzeit wird von den Eidgenössischen Räten<br />

eine Revision des Sexualstrafgesetzes beraten.<br />

Wäre das die Lösung?<br />

An dem Urteil über den Fall aus der Elsässerstrasse<br />

hätte es nichts geändert, sagt Nora<br />

Scheidegger: «Der Täter wurde der Vergewaltigung<br />

schuldig erklärt. Punkt.» Deshalb hält sie<br />

auch nichts von der Forderung, die Richterin<br />

im Fall Elsässerstrasse zu entlassen.<br />

Für Scheidegger deutet aber die Art und Weise,<br />

wie mit dem Opfer kommuniziert wurde,<br />

auf das mangelnde psychosoziale Wissen zu<br />

Sexualdelikten hin, das an manchen Gerichten<br />

immer noch herrsche. «Es braucht dahingehend<br />

mehr Sensibilisierungsarbeit.»<br />

Ähnlich argumentiert die Expertin für sexualisierte<br />

Gewalt Agota Lavoyer. In der «NZZ<br />

am Sonntag» schreibt sie: «Wir brauchen eine<br />

Rechtsprechung, die mit der Zeit geht und die<br />

den durch Wissen, Aufklärung und Sensibilisierung<br />

gewandelten sozialen Anschauungen<br />

über Sexualdelikte endlich Rechnung trägt.»<br />

Es gehe letztlich um die Frage, welche Anforderungen<br />

wir an das soziale Verhalten eines<br />

Mannes stellen: Und das sei nun einmal der<br />

absolute Respekt vor einem Nein.<br />

↓ Hunderte Frauen solidarisierten sich mit dem Opfer im Vergewaltigungsfall Elsässerstrasse. Am 8. August 2021 demonstrierten<br />

sie vor dem Basler Appellationsgericht gegen das Urteil der Richterin Liselotte Henz. (Foto: Keystone-SDA)<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

Es bleibt Auslegungssache<br />

Das Nein als Grundsatz im Gesetz zu verankern,<br />

sei schon mal ein Fortschritt, meint Kathrin<br />

Bichsel. Obwohl dann das Opfer nach wie vor<br />

nachweisen muss, dass es «Nein» gesagt hat:<br />

«Noch besser wäre es, wenn wir uns am schwedischen<br />

Modell, ‹Nur Ja heisst Ja›, orientieren<br />

würden und die sexuelle Selbstbestimmung<br />

als das schützenswerte Rechtsgut anerkennen.»<br />

Damit schaffe man für alle Klarheit und<br />

beseitige diskriminierende Mechanismen. «Die<br />

entscheidende Frage soll sein, ob das Opfer<br />

zugestimmt hat oder nicht», betont Lavoyer.<br />

Was ist aber mit dem Strafmass? Sollte es darum<br />

gehen, möglichst hohe Strafen für Sexualdelikte<br />

zu erwirken? Bichsel meint, die Strafen<br />

hätten sich in den letzten Jahren zwar erhöht,<br />

aber «sie sind immer noch eher tief». Es gehe<br />

aber vor allem darum, das Unrecht am Opfer<br />

anzuerkennen.<br />

Anderer Meinung ist Andreas Noll: Die Revision<br />

des Sexualstrafrechts ziele darauf ab, das Beweismass<br />

beträchtlich zu senken, was zu einer<br />

massiven Umverteilung der Beweislast führe,<br />

weil der vom Staat zu erbringende Beweis auf<br />

die fehlende Ja-Aussage beschränkt werde. In<br />

der Folge müssten Unschuldige ihre Unschuld<br />

beweisen können: «Dadurch wird man sicherlich<br />

zahlreichen vergewaltigten Frauen gerecht, indem<br />

die Täter nicht mehr so einfach mit einem<br />

Freispruch in dubio pro reo davonkommen»,<br />

räumt er ein, «auf der anderen Seite werden<br />

vermehrt auch wegen dieser Beweiserleichterung<br />

Fehlurteile gefällt und Unschuldige verurteilt<br />

werden.»<br />

Faktisch kehre man mit einer Einführung einer<br />

«Nur Ja heisst Ja»-Regel zur früheren Praxis in<br />

Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen zurück,<br />

wo noch keine Glaubhaftigkeitsbeurteilung den<br />

Beweis erbringen konnte, sagt Andreas Noll,<br />

nur mit umgekehrten Vorzeichen: «In solchen<br />

Fällen wird das Urteil dann stets auf schuldig<br />

lauten. Dadurch führt man zwar alle Vergewaltiger<br />

ihrer gerechten Strafe zu, bestraft jedoch<br />

gleichzeitig in zahlreichen Fällen auch vermehrt<br />

Unschuldige.» Das dürfe die Gesellschaft nicht<br />

ausblenden und auch nicht akzeptieren.<br />

Der Täter im Fall der Elsässerstrasse sitzt aktuell<br />

noch in Haft. Am 11. August 2021 hätte er<br />

eigentlich aus dem Gefängnis entlassen werden<br />

sollen. Weil er aber für unbezahlte Bussen aufkommen<br />

muss, verlängert sich seine Haftstrafe<br />

nun um sechzehn Tage. Unterdessen hat die<br />

Basler Staatsanwaltschaft ausserdem beantragt,<br />

den Mann so lange in Haft zu bewahren,<br />

bis das schriftliche Urteil publiziert wurde und<br />

entschieden ist, ob der Prozess weiter an das<br />

Bundesgericht gezogen wird. Das Gericht hat<br />

diesen Antrag abgelehnt.<br />

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

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