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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

anders. Die Pandemie trifft die Bettler*innen<br />

hart. Der Weihnachtsmarkt ist abgesagt, viele<br />

Geschäfte sind geschlossen, haben Existenzsorgen<br />

und kein Kleingeld übrig. Und trotzdem<br />

vermeldete die Polizei eine Zunahme: «Es ist<br />

augenfällig, dass wieder mehr Bettler unterwegs<br />

sind. Das milde Wetter der vergangenen Tage<br />

und die vielen Passanten könnten zu einer Zunahme<br />

geführt haben», sagte Polizeisprecher<br />

Toprak Yerguz am 23. November 2020.<br />

Das milde Wetter hat sich in der Zwischenzeit<br />

verabschiedet, aber die Hoffnung vieler<br />

Basler*innen, dass sich die Problematik rund<br />

um die Bettler*innen mit dem Einsetzen der<br />

Minustemperaturen erledigen würde, hat sich<br />

nicht bewahrheitet. Sie sind noch immer da.<br />

Und scheinen nicht so bald abreisen zu wollen.<br />

Ludovic zieht sich seine rote Bommelmütze mit<br />

dem Schweizerkreuz etwas tiefer ins Gesicht,<br />

klemmt sich die Schaumstoffmatratze unter<br />

den Arm und läuft schwerfällig los. Sein Neffe<br />

Gavril und der Rest der Gruppe tut es ihm nach.<br />

Sie gehen in Richtung De-Wette-Park. Gavril<br />

hat einen schweren Rucksack geschultert. An<br />

den Füssen trägt er braune abgewetzte Lederlatschen,<br />

die Spitze der Schuhe hat sich von<br />

der Feuchtigkeit dunkel gefärbt. Unter seiner<br />

sandfarbenen Winterjacke hat er einen grauen<br />

Pulli und ein blaues verwaschenes T-Shirt an. Er<br />

habe ein paar Kleider bei der Verteilaktion am<br />

Bahnhof vor ein paar Tagen bekommen, sagt er.<br />

Community-Mitglied Jean hatte letzte Woche<br />

mit Hilfe von «Gärn gschee – Basel hilft» Bettler*innen<br />

mit warmen Kleidern, Decken, Schlafsäcken<br />

und Essen ausgerüstet.<br />

21 Uhr, 1 Grad<br />

Nieselregen hat eingesetzt, es ist etwa 1 Grad<br />

kalt. Wir laufen neben Gavril und Ludovic her<br />

und fragen zögerlich, ob wir heute Nacht bei<br />

ihnen und ihren Verwandten bleiben dürfen. Ich<br />

bin ein bisschen nervös, kann nicht abschätzen,<br />

wie ihre Reaktion ausfallen wird, und hoffe, sie<br />

nicht vor den Kopf zu stossen.<br />

«Ihr wollt auch draussen schlafen?», fragen<br />

sie ungläubig. Gavril sieht uns mit weit aufgerissenen<br />

Augen an. Unser Vorhaben sorgt<br />

für ratlose Gesichter. Aber niemand hat etwas<br />

dagegen. «Das könnt ihr schon machen. Ich<br />

verstehe zwar nicht ganz, warum, aber bleibt<br />

ruhig», sagt Gavril mit seiner tiefen Stimme auf<br />

Rumänisch. «Neben mir hat es vielleicht etwas<br />

Platz für euch.» Wir sind die Letzten, die im<br />

Park ankommen. Die Grossfamilie hat sich in<br />

der Zwischenzeit im Pavillon eingerichtet. Die<br />

Wolldecken hängen über dem Geländer und<br />

sollen vor dem Wind schützen. Eng nebeneinander<br />

liegen sie zugedeckt im Kreis. Es sind<br />

etwa zwanzig Menschen.<br />

Gavril steht am Brunnen und füllt seine PET-<br />

Flasche mit Wasser. Sein Cousin Mihail tut es<br />

ihm gleich und hält einen kleinen Milchkarton<br />

unter den Wasserstrahl.<br />

«Ich bin seit einer Woche wieder hier. Es läuft<br />

nicht besonders gut für uns. Gestern habe ich<br />

fünf Franken gemacht. Heute gar nichts», sagt<br />

Gavril.<br />

Es seien zu viele Bettler*innen in der Stadt,<br />

hören wir Gavril und auch andere Bettler*innen<br />

immer wieder sagen. Das mache das Geschäft<br />

kaputt. Die Menschen seien vielleicht<br />

↓Auf zum Nachtlager.<br />

spendemüde geworden, jetzt, wo man fast an<br />

jeder Ecke in der Innenstadt eine*n Bettler*in<br />

antrifft, sagen sie.<br />

«In den letzten drei<br />

Monaten haben wir<br />

vom erbettelten<br />

Geld gelebt.»<br />

Gavril, Bettler aus Rumänien<br />

Der Regen ist etwas stärker geworden. Gavril<br />

bedeutet uns, uns unter den Dachvorsprung des<br />

Pavillons zu stellen. Er beisst in einen halben<br />

Laib Weissbrot und beginnt kauend zu erzählen:<br />

«Im Sommer waren meine Frau und ich zwei<br />

Wochen da. Gemeinsam haben wir 500 Euro<br />

gemacht und sind damit wieder zurück nach<br />

Rumänien zu unseren drei Kindern.» Er hält uns<br />

ein Foto hin. «Hier, das ist meine grosse Tochter.<br />

Sie ist zwanzig.» Seine anderen beiden Kinder,<br />

Söhne, sind im Teenager-Alter und haben Trisomie<br />

21, sagt Gavril.<br />

Jetzt ist er mit Cousin Mihail angereist. Die Frau<br />

sei bei den Kindern geblieben. «In den letzten<br />

drei Monaten haben wir vom erbettelten Geld<br />

gelebt.» Einen Job hat er zu Hause nicht.<br />

Plötzlich hören wir eine verärgerte Stimme, direkt<br />

neben uns. «Geht woandershin. Ich versuche<br />

hier zu schlafen», sagt einer der Roma, der<br />

gleich neben uns liegt. Wir entfernen uns ein<br />

paar Schritte. Ich ziehe meine Kapuze auf und<br />

meine Jacke zu. Gegen den Regen nützt das<br />

trotzdem nicht lange. Meine Beine sind irgendwann<br />

nass. Ich spüre, wie die kalte Feuchtigkeit<br />

in meine Kleidung kriecht.<br />

Organisiert, aber keine Bande<br />

Gavril will genug Geld sparen, um seine Rückreise<br />

zu finanzieren. Die koste 100 Euro pro<br />

Person. Rumänen würden sie in einem Van<br />

mit acht Plätzen zurückfahren. Aber sie fahren<br />

erst, wenn genug Geld zusammengekommen<br />

sei. Es komme auch vor, dass man sich bei ihnen<br />

verschulde.<br />

Sofort denke ich an Schlepper, die sich auf Kosten<br />

von armen Menschen bereichern.<br />

«Setzen diese Fahrer euch unter Druck? Versteht<br />

ihr euch gut mit ihnen?», wollen wir von<br />

Gavril wissen.<br />

«Nein, kein Druck. Sie gehören nun zu unserer<br />

Gruppe. Wir sind Freunde», sagt Gavril.<br />

Gut, 100 Franken für eine Fahrt sind nicht viel.<br />

Klingt nicht nach Bereicherung ... Schaut man bei<br />

FlixBus, kostet die nächste Fahrt am Sonntag,<br />

13.12., von Zürich nach Bukarest 195 Franken.<br />

8 9<br />

Roma-Familien reisen häufig organisiert zum<br />

Betteln ins Ausland, wie schon die deutsche<br />

Reporterin Anna Tillack recherchiert hat. Sie<br />

hat eine Romni für eine Doku ein Jahr lang<br />

begleitet.<br />

Wer jetzt einen mafiösen Bettelboss mit Goldkette<br />

und Villa vor dem inneren Auge sieht:<br />

Das ist ein Hirngespinst. Wir von <strong>Bajour</strong> haben<br />

den Bettelboss im Sommer gesucht und<br />

keinen gefunden. Jean-Pierre Tabin, Professor<br />

an der Fachhochschule für soziale Arbeit und<br />

Gesundheit in Lausanne, hat das Thema Betteln<br />

wissenschaftlich untersucht. Resultat: Die<br />

Verdienstmöglichkeit einer Bettlerin liegt in der<br />

Schweiz zwischen 10 und 20 Franken pro Tag.<br />

Das spricht gegen mafiöses Betteln, oder wie<br />

Wissenschaftler Tabin gegenüber swissinfo.ch<br />

sagt: «Es existiert nicht, es ist eine Fantasie.»<br />

Was es gebe, sei Familiensolidarität.<br />

In Basel ist seit Juli 2020 Betteln erlaubt, solange<br />

es nicht bandenmässig geschieht. Die<br />

Polizei soll mehrere Dutzend Bettler*innen<br />

verzeigt haben. Die Gründe dafür sind aber<br />

Teil der Ermittlungen und wurden bisher nicht<br />

kommuniziert.<br />

Rückkehrhilfe für Roma<br />

Allerdings gäbe es noch eine zweite Lösung,<br />

um heimzufahren. Sie könnten beim Kanton<br />

Basel-Stadt Nothilfe beantragen und so ihr<br />

Rückfahrtbillet finanzieren. «Ja, das wissen<br />

wir», sagt Gavril. Aber er und seine Familienmitglieder<br />

seien skeptisch. «Wir wären dann<br />

mit unseren Personalien registriert. Ich weiss<br />

nicht, ob das gut ist. Wir fragen uns, ob das<br />

dann bedeutet, dass wir nie mehr nach Basel<br />

zurück dürfen?»<br />

Auch Michel Steiner, Co-Geschäftsleiter des<br />

Vereins für Gassenarbeit «Schwarzer Peter»,<br />

hat die Erfahrung gemacht, dass die Bettler*innen<br />

sich ungern Hilfe holen: «Das Problem ist,<br />

dass die Menschen sich dafür offiziell anmelden<br />

müssten und die Rückkehrhilfe einmalig gilt.<br />

Aber die meisten wollen nicht definitiv zurück.<br />

Höchstens über die Festtage.» Die Schweizer<br />

Asylverordnung sieht nämlich vor, dass Begünstigte,<br />

die in die Schweiz zurückkommen,<br />

die Nothilfe zurückzahlen müssen.<br />

Aus demselben Grund gehen viele Bettler*innen<br />

wohl nicht in die Notschlafstelle. Auswärtige, die<br />

nicht über die Sozialhilfe gehen, zahlen in der<br />

Notschlafstelle 40 Franken pro Übernachtung.<br />

Auf einmal stellt sich ein Mann neben uns und<br />

redet aufgeregt auf Rumänisch auf uns ein.<br />

«Seid ihr meine Anwältinnen?», will er wissen.<br />

Er erzählt uns, dass er Ärger mit den Behörden<br />

habe. Er soll unschuldig im Gefängnis gewe-<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

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