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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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VII<br />

DIE ESKALATIONSSPIRALE<br />

«Als Richter will man immer auch verhindern,<br />

dass gegen ein Urteil Berufung eingelegt wird<br />

– egal ob von Seiten der Angeklagten oder des<br />

Staatsanwaltes», sagt Andreas Noll.<br />

Sollte das tatsächlich eine Strategie des Strafgerichts<br />

Basel-Stadt sein, ist sie in der Prozessreihe<br />

bemerkenswert erfolglos. Selbst wenn die<br />

Richter*innen harte Strafen verhängen, legt die<br />

Staatsanwaltschaft Berufung ein – sogar beim<br />

Urteil acht Monate unbedingt. Die Forderung der<br />

Staatsanwaltschaft: zwölf Monate unbedingt.<br />

Noll erklärt sich die Härte des Gerichts auch<br />

noch anderweitig: «Die Richter sind es doch<br />

leid und müde, immer wieder über Landfriedensbrüche<br />

zu urteilen. Vielleicht versprechen<br />

sie sich von den harten Urteilen, dass endlich<br />

mal Ruhe ist in Basel.»<br />

Wer mit Szene- und Justizkenner*innen aus<br />

Basel spricht, hört immer wieder: Es ist eine<br />

Eskalationsspirale in Gang, die sich immer tiefer<br />

in die Stadt schraubt. Wann das anfing, darüber<br />

gehen die Meinungen auseinander. Manche<br />

sagen, der Auslöser war der sogenannte<br />

Favela-Protest.<br />

Im Mai 2013 baut der Künstler Tadashi Kawamata<br />

im Rahmen der Art Basel ein «Favela Café»<br />

in Elendsviertel-Optik. Ungefähr 100 Personen<br />

protestieren gegen die als geschmacklos empfundene<br />

Kunstinstallation und feiern eine Party,<br />

direkt daneben. Die Polizei stürmt die feiernde<br />

Gruppe und stellt die Musikanlage sicher, setzt<br />

dabei Gummischrot und Pfefferspray ein. Verhaftungen<br />

gibt es keine.<br />

Eine Chronologie der Eskalation<br />

Das Folgende ist eine Auswahl von Versammlungen,<br />

die seit dem Favela-Protest in Basel zu<br />

Polizeieinsätzen, Verhaftungen oder Strafverfahren<br />

geführt haben.<br />

Mai 2014, die Pappteller-Affäre: Als Erinnerung<br />

an den Favela-Protest wollen Kunststudent*innen<br />

während der Art Basel eine Menschenkette<br />

bilden und mit Papptellern vor dem Gesicht an<br />

den «willkürlichen Polizeieinsatz» erinnern. Die<br />

Polizei verbietet die Aktion, und als dann trotzdem<br />

mehrere Menschen mit Papptellern in der<br />

Nähe des Messeplatzes auftauchen, werden sie<br />

von der Polizei kontrolliert und in Untersuchungshaft<br />

gebracht. Sie müssen sich ausziehen und<br />

ihnen wird DNA entnommen. Im Februar 2017<br />

kommt das Appellationsgericht zum Schluss,<br />

die Polizei habe unverhältnismässig gehandelt.<br />

März 2016, der Matthäuskirchen-Eklat: Im<br />

Rahmen des Kirchenasyls, das Flüchtlingen<br />

von der Matthäuskirche vorübergehend gewährt<br />

wird, kommt es zu einer unbewilligten<br />

Demonstration, die schliesslich blockiert wird.<br />

Die Polizei setzt Gummischrot und Tränengas<br />

ein. Eine über 60-jährige Demonstrantin wird<br />

von einem Polizeigeschoss am Kopf getroffen<br />

und leicht verletzt.<br />

April 2016, der Plattformkrawall: Nach einem<br />

Spiel des FC Basel gegen den FC Zürich kommt<br />

es vor dem Stadion zu Ausschreitungen, die<br />

Polizei schiesst Gummischrot, ein unbeteiligter<br />

Mann verliert das Augenlicht. Es kommt<br />

zu einem Verfahren gegen den Schützen, bei<br />

dem der Polizist mit Hinweis auf Notwehr freigesprochen<br />

wird.<br />

Juni 2016, «Basel 18»: Bei einer unbewilligten<br />

Demonstration gegen «Rassismus, Repression,<br />

Vertreibung und Gentrifizierung» kommt es<br />

zu diversen Sach beschädigungen. In einem<br />

aufsehenerregenden Sammelprozess gegen<br />

18 mutmassliche Teilnehmer*innen der Demo<br />

wird gegen alle dieselbe Anklage erhoben. Das<br />

Gericht verurteilt 15 von ihnen zu Freiheitsstrafen<br />

wegen qualifizierter Sachbeschädigung,<br />

Landfriedensbruch, Gewalt gegen Beamte und<br />

weiterer Delikte.<br />

Januar 2018, die Homeparty-Räumung: Die<br />

Polizei stürmt eine private Party mit dem Einsatz<br />

von zwei VW-Bussen, fünf Fahrzeugen und<br />

zwanzig Beamten. Der Vorwurf: Ruhestörung.<br />

Die Anwesenden seien vorwiegend «der Partyszene<br />

und teilweise der linksextremen Szene<br />

zuzuordnen», sagt der Polizeisprecher später.<br />

Fünf Personen verbringen bis zu 36 Stunden<br />

in einer Polizeizelle. Ihnen wird DNA entnommen.<br />

Sie müssen wegen Gewalt und Drohung<br />

gegen Behörden und Beamte und Hinderung<br />

von Amtshandlungen vor Gericht<br />

Mai 2020, Tag der Arbeit: Trotz der Corona-<br />

Verordnung des Bundes, wonach Menschenansammlungen<br />

mit mehr als 5 Personen verboten<br />

sind, zieht eine unbewilligte Demo mit rund 300<br />

Menschen durch die Stadt. Die meisten wahren<br />

Abstand, viele tragen Maske. Die Polizei greift<br />

zunächst nicht ein, kontrolliert danach aber<br />

diverse Personen in den Strassen und Seitengassen<br />

Kleinbasels und verurteilt 45 per Strafbefehl<br />

zu Geldstrafen von über 1600 Franken.<br />

Juni 2020, 1 Jahr feministischer Streik: Ein Jahr<br />

nach dem grossen, schweizweiten feministischen<br />

Streik findet in Basel eine kleine, Covid-bedingt<br />

unbewilligte Demo statt. Die Polizei kesselt die<br />

vornehmlich weiblichen Demonstrant*innen auf<br />

einer Brücke ein, fotografiert und büsst jede*n<br />

einzelne*n Teilnehmer*in mit 100 Franken. Die<br />

Basler Nationalrätin Sibel Arslan versucht zu<br />

vermitteln. Als das nicht effizient genug gelingt,<br />

wird sie von der Polizei am Arm gepackt<br />

und davongeführt.<br />

Juli 2020, Staatsanwaltschafts-Protest: Nachdem<br />

die Anklageschriften in den Basel-nazifrei-<br />

Prozessen verschickt sind, kommt es vor den<br />

Büros der Staatsanwaltschaft zu einer Demonstration,<br />

an der rund 100 Personen teilnehmen.<br />

Die Polizei greift ein, führt Personenkontrollen<br />

durch, die Demonstrant*innen bleiben friedlich.<br />

Im Herbst erhalten sie trotzdem Vorladungen.<br />

Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht auf Geheiss<br />

der Polizei entfernt zu haben. Beobachter*innen<br />

schildern aber, dass die Demonstrant*innen<br />

so eingekesselt wurden, dass sie sich gar<br />

nicht entfernen konnten.<br />

Strafverteidiger Andreas Noll attestiert der<br />

Staatsanwaltschaft einen «gewissen Übereifer»,<br />

wenn es um linke Demonstrationen geht: «Das<br />

ist auch in Bezug auf Personalaufwand und<br />

Ermittlungskosten eine Frage der Verhältnismässigkeit.»<br />

Die regelmässigen Zusammenstösse von Strafverfolgung<br />

und Demonstrant*innen in Basel<br />

werden polizeiintern als Katz-und-Maus-Spiel<br />

bezeichnet, wie ein Beamter Noll gegenüber<br />

explizit erklärt haben soll. «Die Polizei und die<br />

Staatsanwaltschaft fühlen sich provoziert. Es<br />

ist, als ob sie glaubten, die Demonstranten gingen<br />

jeweils nur auf die Strasse, um ihnen Ärger<br />

zu machen», so Noll.<br />

Leistet sich die Basler Straf verfolgung also auf<br />

Kosten der Steuerzahler*innen eine Privatfehde<br />

mit einem Teil der Zivilbevölkerung? Und wenn<br />

ja – was bedeutet das für Basel, wenn jene Behörde,<br />

bei der das Gewaltmonopol liegt, sich<br />

so gebärdet?<br />

VIII<br />

DIE KONTROLLEURE<br />

Das Departement für Justiz und Sicherheit<br />

Basel-Stadt nimmt schriftlich dazu Stellung:<br />

«Die Kantonspolizei hält die Meinungsfreiheit<br />

hoch und ermöglicht, wann immer es geht, die<br />

Durchführung von Demonstrationen. (...) Nur<br />

ganz wenige Kundgebungen werden nicht bewilligt<br />

oder führen zu polizeilichen Interventionen.<br />

Gleichbleibend ist weiter auch der Auftrag,<br />

Delikte im Rahmen von Kundgebungen (zum<br />

Beispiel Sachbeschädigungen) zu verhindern<br />

oder zu verzeigen. Welchem politischen oder<br />

anderweitigen Milieu mutmassliche Täter zugehören,<br />

spielt dabei keinerlei Rolle.»<br />

Ob die Polizei sich jeweils korrekt verhalte, könne<br />

er nicht beurteilen, sagt alt Richter Albrecht.<br />

«Das müsste untersucht werden.»<br />

Es ist eine alte Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleur*innen?<br />

Im Fall der Nazifrei-Demonstration wurde Anzeige<br />

gegen die Polizei und den Mitteleinsatz<br />

erstattet. Die Anzeige ist bei der Staatsanwaltschaft<br />

hängig, der Ausgang unklar. Die Erfahrung<br />

zeigt aber: Sich in Basel bei der Staatsanwaltschaft<br />

über die Polizei zu beschweren,<br />

kann für Demonstrant*innen gefährlich werden.<br />

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

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