16.11.2021 Aufrufe

Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Was ist, wenn das Opfer lügt?<br />

Als ein knappes Jahr später, am 30. Juli 2021,<br />

das Appellationsgericht sein Urteil mündlich<br />

eröffnet, wird Basel erneut von einer Welle der<br />

Empörung erfasst. Der Täter, der die Berufung<br />

eingelegt hatte, bleibt zwar wegen Vergewaltigung<br />

verurteilt, wird aber nun deutlich milder<br />

bestraft. Das Strafmass für eine Vergewaltigung<br />

beträgt ein bis zehn Jahre. Das Dreiergremium<br />

unter dem Vorsitz von Gerichtspräsidentin Liselotte<br />

Henz (FDP) reduziert das Strafmass auf<br />

drei Jahre. Davon sind 18 Monate bedingt. Der<br />

Täter wird statt acht nur sechs Jahre aus der<br />

Schweiz verwiesen und muss weniger Genugtuung<br />

bezahlen.<br />

Mündlich begründet wird dies unter anderem<br />

mit einem Satz, der sich im kollektiven Bewusstsein<br />

einbrennen wird: «Die Frau hat mit dem<br />

Feuer gespielt.» Das Vergehen werde relativiert<br />

durch «die Signale, die das Opfer auf Männer<br />

aussendet», so die Richterin.<br />

Viele Basler*innen interpretieren aus diesem<br />

Satz: Das Opfer trägt eine Mitschuld an der<br />

Tat. Aus Protest gehen 500 – die Veranstalter*innen<br />

sprechen von 1000 – Personen<br />

auf die Strasse: «Nicht mit uns!», heisst<br />

es, «Nur Ja heisst Ja!» Das Frauenstreik-Kollektiv<br />

Basel spricht in einer<br />

Stellungnahme von Victim Blaming.<br />

Gerichtspräsidentin Liselotte Henz<br />

soll zurücktreten, fordern manche<br />

der Protestierenden.<br />

Jurist*innen kontern, dass<br />

solche Forderungen nichts<br />

bringen und Richter*innen<br />

unnötig durch die Öffentlichkeit<br />

unter Druck gesetzt<br />

würden und die Gewaltentrennung auf<br />

dem Spiel stehe.<br />

Auch die Politik meldet sich zu Wort. Linke<br />

und bürgerliche Politiker*innen äussern über<br />

Social Media ihr Unverständnis über das Urteil<br />

und ziehen ihre eigenen Schlüsse. Jérômie<br />

Repond, Vorstandsmitglied der Jungen SVP<br />

Basel-Stadt, fordert auf Twitter härtere Strafen<br />

für Vergewaltiger.<br />

So unglücklich der Satz der Richterin auch<br />

ist, aus juristischer Sicht ist es schwierig, daraus<br />

sofortiges politisches Handeln zu fordern.<br />

Denn der Kontext fehlt: Erst die schriftliche<br />

Urteilsbegründung wird die Überlegungen des<br />

Dreiergerichtes transparent machen. Die ehemalige<br />

Luzerner Kantonsrichterin<br />

Marianne Heer formuliert<br />

es in einem bemerkenswerten<br />

Interview mit der «Republik» pointiert: Schliesslich<br />

«sind wir nicht einfach im Mittel alter, wo<br />

nach Intuition oder Emotion entschieden wird».<br />

Doch wie bestraft man eine Vergewaltigung?<br />

Was gilt als strafverschärfend? Was als strafmildernd?<br />

Die Dauer der Handlung, die Vertrautheit<br />

zwischen Opfer und Täter? Wie viel<br />

Spielraum haben die Richter*innen?<br />

Diese Fragen sind nicht nur Fragen der Rechtsprechung.<br />

Es sind Fragen unserer Moralvorstellungen<br />

und wie sich unsere Gesellschaft als<br />

Ganzes verändert. Und das Unbequeme daran:<br />

Es gibt keine einfachen Antworten.<br />

Der «hilflose Mann» im Zentrum<br />

Sind alle Vergewaltigungen gleich schlimm? Ist<br />

es egal, wie lange sie dauern, wie gewalttätig sie<br />

sind? Welche Rolle spielt es, was der Täter gedacht,<br />

angenommen, interpretiert hat? Kommt<br />

es darauf an, wie sich das Opfer verhalten hat?<br />

Das Opfer trägt absolut keinerlei Mitschuld. In<br />

keinem Fall. Aber eine Richterin, die etwa das<br />

Strafmass des Täters bemessen soll, kann diesen<br />

relativierenden Fragen nicht ausweichen.<br />

Was zu einem gerechten Strafmass, oder – bei<br />

einer völlig verunglückten Kommunikation<br />

wie im vorliegenden Fall<br />

– zu einer Vermischung<br />

von Opfer- und Täterrolle und zu grosser Empörung<br />

führen kann.<br />

Franziska Schutzbach, Genderforscherin und<br />

Lehrbeauftragte an der Universität Basel, forscht<br />

über gesellschaftliche Klischees auf Kosten der<br />

Opfer, sogenannte Vergewaltigungsmythen.<br />

Diese halten sich laut Schutzbach hartnäckig:<br />

«Die Vorstellung, dass Übergriffe an Frauen<br />

durch ihr Verhalten provoziert werden, weil<br />

sie sich zum Beispiel zu sexy kleiden, ist nach<br />

wie vor weit verbreitet.» Das habe mit dem<br />

Glauben zu tun, dass Männer den Reizen der<br />

Frauen hilflos ausgeliefert und deshalb schutzbedürftig<br />

seien, erklärt Schutzbach. «Es findet<br />

eine Täter-Opfer-Umkehr statt.»<br />

Bis heute sei ausserdem die Idee verbreitet,<br />

Männer hätten einen Anspruch auf die Liebe<br />

und den Körper einer Frau, «egal ob diese das<br />

will oder nicht», sagt Schutzbach.<br />

Soziologische Studien aus den USA zeigen,<br />

dass Vergewaltigungsmythen dermassen verinnerlicht<br />

sind, dass sogar Frauen, die bereits<br />

sexuelle Gewalt erfahren haben, diese reproduzieren<br />

und sich selbst eine Mitschuld an der<br />

Tat geben.<br />

Diese frauenfeindliche Ideologie drückt sich<br />

laut Schutzbach auch darin aus, dass Männern,<br />

die der sexuellen Gewalt beschuldigt werden,<br />

oft mehr Mitgefühl entgegengebracht wird als<br />

dem Opfer.<br />

In der Wissenschaft spricht man von «Himpathy».<br />

Gesellschaftlich herrsche eine Grundsympathie<br />

für Männer, die dazu führe, dass ihr Verhalten<br />

milder beurteilt werde. Die Dynamiken sind<br />

komplex, es ist ein Wechselspiel: «Verhält sich<br />

ein Opfer untypisch, ist es also nicht passiv und<br />

psychologisch zerstört, nimmt man ihm das Leid<br />

nicht ab», erklärt die Geschlechterforscherin.<br />

Die Schwere der Tat des Vergewaltigers wird<br />

moralisch in Frage gestellt.<br />

Feminist*innen, darunter auch Schutzbach, sehen<br />

diese Vergewaltigungsmythen in den Aussagen<br />

der Richterin bestätigt. Auf die Frage,<br />

welche strafmildernden Umstände Schutzbach<br />

für den Täter im konkreten Fall gelten lassen<br />

würde, winkt die Soziologin allerdings ab und<br />

verweist darauf, keine Juristin zu sein.<br />

Was also meinen die Jurist*innen?<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

40 41<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!