16.11.2021 Aufrufe

Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Vergewaltigung an der Elsässerstrasse<br />

Das Dilemma bleibt<br />

Am Vergewaltigungsfall an der Elsässerstrasse entzünden sich<br />

Konflikte: Das Opfer trägt niemals eine Schuld. Aber welche<br />

Umstände gelten als strafmildernd für den Täter? Auch das<br />

neue Sexualstrafrecht braucht Interpretationsspielraum.<br />

↓ Das revidierte Sexualstrafrecht fordert das, was die Demonstrant*innen hier skandieren: Nur Ja heisst Ja.<br />

Sexuelle Handlungen ohne Zustimmung würden dann unter Strafe fallen. (Foto: Keystone-SDA)<br />

Adelina Gashi<br />

Romina Loliva<br />

Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält explizite<br />

Schilderungen sexualisierter Gewalt.<br />

Am frühen 1. Februar 2020, ein Samstag, steigt<br />

eine Frau angetrunken in das 11er-Drämmli. Sie<br />

war lange feiern, ist müde und will nach Hause.<br />

Im Tram trifft die 33-Jährige zufällig auf einen<br />

alten Bekannten – sie kennt ihn seit 13 Jahren<br />

– und seinen Kumpel. Die beiden Männer bieten<br />

der Frau an, sie nach Hause zu begleiten.<br />

Sie willigt ein.<br />

Als sie vor ihrer Haustüre stehen, bedrängen<br />

sie die beiden Männer (32 und 17), im Windfang<br />

vor ihrem Haus in der Elsässerstrasse. Sie versucht<br />

sich zu wehren: Die Männer ringen die<br />

Frau gewaltsam zu Boden und vergewaltigen<br />

sie. Die Frau brüllt, aber ihre Schreie bleiben<br />

unbemerkt. Die beiden Männer lassen nach ein<br />

paar Minuten von ihr ab und fliehen. Die Frau<br />

greift aufgelöst zum Telefon und benachrichtigt<br />

die Polizei.<br />

Seitdem lässt die Geschichte Basel nicht los.<br />

Noch am gleichen Abend versammeln sich<br />

rund 100 Personen auf dem Claraplatz für eine<br />

spontane Kundgebung. «Alle zwei Wochen wird<br />

in der Schweiz eine Frau durch ihren Partner<br />

oder Expartner ermordet. Jede Woche überlebt<br />

eine Frau einen solchen Mordversuch.<br />

Vergewaltigung in der Ehe war in der Schweiz<br />

bis 1992 erlaubt», skandiert eine junge Frau in<br />

ein Megaphon.<br />

Die Anteilnahme ist gross. <strong>Bajour</strong> spricht ein<br />

paar Tage später mit Menschen im Quartier.<br />

In der Metzgerei Pippo paniert eine junge Frau<br />

gerade Schnitzel, als ihr die Tränen in die Augen<br />

schiessen: «Die Frau, diese Frau tut mir so unendlich<br />

leid. Ich muss immerzu an sie denken.<br />

Am meisten macht mich traurig, dass niemand<br />

etwas dagegen tun konnte. Das macht mich<br />

wirklich sehr betroffen. Wir waren so nah, und<br />

haben nichts bemerkt, wir haben nichts tun<br />

können», sagt sie. Hätte sie nur etwas davon<br />

mitgekriegt: «Ich wäre hingelaufen, ich hätte<br />

geschrien, ich hätte auf die Männer eingeschlagen,<br />

ganz egal, was.»<br />

Die Polizei kann die beiden Tatverdächtigen<br />

rasch ermitteln. Sie haben sich nach Portugal<br />

abgesetzt. Nach einer internationalen Fahndung<br />

stellt sich der Haupttäter den Behörden. Die<br />

Anklage lautet: sexuelle Nötigung, Vergewaltigung.<br />

Im medial minutiös begleiteten Prozess<br />

folgt das Strafgericht der Anklage und spricht<br />

eine Freiheitsstrafe von 51 Monaten und einen<br />

Landesverweis aus. Das Opfer bekommt 12’000<br />

Franken Genugtuung.<br />

Jede Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung<br />

zu viel. Da sind sich alle einig. Aber wie können<br />

solche Taten verhindert werden? Ist das Gesetz<br />

noch zeitgemäss? Braucht es härtere Strafen?<br />

Gleichzeitig mit dem Basler Prozess gewinnt<br />

die Debatte über das Schweizer Sexualstrafrecht<br />

an Fahrt.<br />

Bewegungen wie #Metoo, #SchweizerAufschrei<br />

und der Frauenstreik 2019 haben feministische<br />

Fragen nach sexualisierter Gewalt, struktureller<br />

Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit wieder<br />

mitten in die Öffentlichkeit katapultiert.<br />

Die Tat an der Elsässerstrasse ruft das alles in<br />

Erinnerung.<br />

↗ Juristin Nora Scheidegger kämpft für ein neues Sexualstrafrecht.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

38 39<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!