16.11.2021 Aufrufe

Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

Man beäugt sich, scannt Frisuren, Kleider, sucht<br />

Symbole verräterischer Zugehörigkeit. Aber in<br />

der Signallandschaft zwischen links und rechts<br />

sind die ehemals einschlägigen Token – Springerstiefel,<br />

Millimeterschnitt, Bomberjacke – schon<br />

lange keine verlässlichen Anhaltspunkte mehr.<br />

In diesen Minuten der Lager-Sortierung ist die<br />

Stimmung gespannt, Stress liegt in der Luft,<br />

während sich die Lücke zwischen der Pnos<br />

und der schnell wachsenden Gruppe auf der<br />

anderen Seite langsam verkleinert.<br />

Die Polizei hat offenbar gutschweizerisch mit<br />

einem pünktlichen Demonstrationsbeginn gerechnet.<br />

Weit und breit sind keine Beamt*innen<br />

zu sehen.<br />

Dann geht es schnell.<br />

Ein paar einzelne Gegendemonstrant*innen<br />

brechen aus der Masse aus und stürmen auf<br />

die Pnos zu. Beschimpfungen fliegen hin und<br />

her. Einige der Rechtsextremen weichen zurück,<br />

andere positionieren sich, als wollten sie<br />

sich tatsächlich auf einen Faustkampf mit der<br />

zahlenmässig weit überlegenen Masse einlassen.<br />

In diesem Augenblick hätte alles passieren<br />

können. Aber es bleibt bei diesem kurzen<br />

Tumult, als würden beide Seiten auf eine Art<br />

offizielles Startsignal warten.<br />

Kurz vor 14 Uhr, der Messeplatz ist längst rappelvoll,<br />

stürmt aus einer Seitengasse ein Polizeitrupp<br />

in Vollmontur heran und bildet eine<br />

Kette zwischen der Pnos und den Gegendemonstrant*innen.<br />

Die seltsam aufgekratzte Stimmung der Ratlosigkeit<br />

kanalisiert sich augenblicklich in routinierte<br />

Bahnen, als wäre endlich irgendein<br />

Fehler im Gesamtbild kaschiert. Als wären die<br />

späten Gäste einer Verabredung eingetroffen.<br />

Die Pnos-Anhänger*innen rollen die Fahnen<br />

aus. Die Gegner bringen ihre Transparente in<br />

der ersten Reihe in Stellung, der ganze Platz<br />

skandiert: «Basel nazifrei!» Und dazwischen<br />

die Polizei.<br />

Die Gegendemonstration ist noch grösser als<br />

erwartet. In den Anklage schriften der Staatsanwaltschaft<br />

wird später von 500 Menschen<br />

die Rede sein, aber das ist selbst konservativ<br />

geschätzt vollkommen unrealistisch. Die Medien<br />

einigen sich auf 2000 Teilnehmer*innen.<br />

Alle sind da, ein Mega-Bündnis zivilen Protests.<br />

Politische Verbände und Parteien, Leute mit<br />

Antifa-Fahnen, Kurd*innen, der Revolutionäre<br />

Aufbau, Familien mit Kindern, Student*innen<br />

und Schüler*innen. Auf den Polizeibildern wird<br />

man später sehen, dass viele ältere Menschen<br />

mitunter in der ersten Reihe vor den Polizist*innen<br />

standen.<br />

Hinter der Polizeikette ist kurz Baschi Dürr zu<br />

sehen. Er trägt einen Hut und einen grauen Mantel<br />

und will sich offenbar mit eigenen Augen ein<br />

Bild von der Situation machen. Dürr pflegt in<br />

Interviews zu sagen, er stehe für eine liberale<br />

Polizeitaktik, gebe nur die grosse Fluchtlinie<br />

vor. «Augenmass» ist einer seiner Lieblingsbegriffe.<br />

Im Einsatz aber, da entscheide im<br />

konkreten Fall jeweils der Einsatzleiter, was zu<br />

tun sei, sagt Dürr.<br />

Der Einsatzleiter entscheidet: Die Pnos wird<br />

durch einen engen Korridor auf die Rückseite<br />

des Messeturms auf einen Parkplatz geschleust<br />

und ausser Sichtweite der Gegendemonstration<br />

gebracht. Die Basler Polizei hat Unterstützung<br />

aus den Korps benachbarter Kantone sowie<br />

aus Zürich und Bern erhalten. Die uniformierten<br />

Beamt*innen riegeln die Pnos-Kundgebung<br />

ab, so gut es geht. Die Gegendemonstration<br />

versucht mehrmals, zur Pnos durchzudringen –<br />

vergeblich. Ein Helikopter kreist über der Stadt.<br />

Ein ziemliches Durcheinander.<br />

Zwei Stunden später kommt es auf der Kreuzung<br />

Mattenstrasse, Ecke Rosentalstrasse zur<br />

Eskalation.<br />

II<br />

DIE ESKALATION<br />

Die Polizei hat den Einsatz minutiös und aus<br />

verschiedenen Perspektiven gefilmt. Die Videoaufnahmen,<br />

die <strong>Bajour</strong> und der «Republik»<br />

vorliegen, sind das Hauptbeweismittel für die<br />

später einsetzende Strafverfolgung.<br />

Demonstrant*innen skandieren Parolen. Aus<br />

den Boxen des Demo-Soundwagens tönt Bob<br />

Marleys «Everything’s gonna be alright», der<br />

blecherne Reggae ist auf den Polizeiaufnahmen<br />

gut zu hören. Ein Absperrband markiert<br />

den Mindestabstand zur Polizeikette. Als es<br />

zu Boden fällt, bleiben die Demonstrant*innen<br />

hinter der gebotenen Linie. Alle bis auf einen.<br />

Ein einzelner Demonstrant torkelt vor der Linie<br />

hin und her, in der Hand hält er ein Bier, die<br />

Jacke sitzt ihm schief auf der Schulter. Er wirft<br />

den Demonstrant*innen hinter ihm Kusshände<br />

zu. Nach einer Weile lösen sich zwei Demonstrantinnen<br />

aus der Reihe, gehen zu ihm hin.<br />

Jetzt hört man die Stimme eines Polizeibeamten<br />

am Megafon. Was er sagt, ist auf der Aufzeichnung<br />

der Polizeikamera nicht ganz zu verstehen.<br />

Irgendetwas mit «zurück» oder «Schluss»?<br />

Dann ist plötzlich Chaos. Die Polizei feuert mehrere<br />

Salven Gummischrot in die Menschenkette.<br />

Über eine Minute lang knallt es ununterbrochen.<br />

Mit jedem Schuss fliegen 35 Gummiteile durch<br />

die Luft, «Schilder hoch!», ruft immer wieder ein<br />

Beamter, während weiter geschossen wird. Ein<br />

Demonstrant wird von einem Gummigeschoss<br />

im Gesicht getroffen und bleibt blutüberströmt<br />

auf der Strasse liegen – er trägt bleibende<br />

Schäden am Auge davon. Ein anderer blutet<br />

heftig aus der Stirn. Einige Demonstrant*innen<br />

suchen Schutz, wo sie können, ein kleiner Teil<br />

bleibt einfach stehen. Das Gummi prasselt auf<br />

Körper und Transparente, wie auf den Videos<br />

zu sehen ist.<br />

«Mittel sparen», ruft der Einsatzleiter immer<br />

wieder, und irgendwann «Stopp! Stooopp!»<br />

«Schilder hoch!», ruft der Einsatzleiter.<br />

«Achtung, Stein von rechts.»<br />

Tatsächlich: Nun fliegen Steine, Bierbüchsen und<br />

aufgehobenes Gummi schrot auf die Beamt*innen.<br />

Die Kamera der Polizei filmt hektisch hin<br />

und her, zoomt an Gesichter ran und wieder<br />

weg. Die Demonstrant*innen und die Polizei<br />

stehen sich noch eine ganze Weile gegenüber<br />

im zornigen Patt. Auf Umwegen können die<br />

Pnos-Anhänger*innen von der Polizei aus dem<br />

Hinterhof geschleust werden. Vereinzelt kommt<br />

es zu Scharmützeln zwischen Antifaschist*innen<br />

und Leuten von der Pnos. Um halb sechs<br />

am Abend beruhigt sich die Lage.<br />

III<br />

DIE STRAFVERFOLGUNG<br />

Danach setzt eine Strafverfolgung ein, wie sie<br />

Basel noch nicht gesehen hat. Mindestens 335<br />

Gigabyte Videomaterial werden ausgewertet,<br />

vor Ort wird an Flaschen, Bier büchsen und Steinen<br />

DNA sichergestellt. Daten banken werden<br />

angezapft, der Nachrichten dienst zurate gezogen,<br />

sogar Interpol wird ersucht, Auskunft<br />

über die Identität einzelner Teilnehmer*innen<br />

der Gegen demonstration zu geben.<br />

Es kommt zu Haus durchsuchungen in Basel,<br />

Baselland, Zürich, Luzern. Ende November 2019<br />

veröffentlicht die Staatsanwaltschaft gar die<br />

unverpixelten Fotos von 20 Demoteilnehmer*innen<br />

auf ihrer Website. Und ermittelt schliesslich<br />

gegen mehr als 60 Personen.<br />

Seit Juli 2020 laufen die Prozesse. Insgesamt<br />

hat die Staats anwaltschaft 38 Anklage schriften<br />

eingereicht. Allesamt fordern sie hohe Freiheitsstrafen<br />

– auch bei Menschen, die an jenem Tag<br />

einfach demonstriert und keine Gewalt angewendet<br />

haben.<br />

IV<br />

DER TATBESTAND<br />

Der Hauptanklagepunkt ist bei allen Fällen der<br />

Gleiche: Landfriedensbruch sowie Gewalt und<br />

Drohung gegen Beamte.<br />

Landfriedensbruch – Artikel 260 des Strafgesetzbuches<br />

– ist eine kleine Anomalie im<br />

Schweizer Strafgesetz. Grundsätzlich gilt im<br />

Rechtsstaat, dass man nur für Straftaten verurteilt<br />

werden kann, die man selbst begangen<br />

hat. Nicht so beim Landfriedensbruch: Wer an<br />

einer öffentlichen Zusammenrottung teilnimmt,<br />

bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen<br />

oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden,<br />

wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei<br />

Jahren oder Geldstrafe bestraft.<br />

Landfriedensbruch trifft in der Regel Hooligans<br />

und Demonstrant*innen. Wichtig zu wissen, ist<br />

aber: Die blosse Teilnahme an einer Demonstration<br />

– auch an einer nicht bewilligten – lässt<br />

sich im Sinne der von der Verfassung garantierten<br />

Rechte auf freie Meinungsäusserung<br />

und Versammlungsfreiheit per se nicht juristisch<br />

verfolgen. Wenn aber einzelne Demonstrant*innen<br />

Gewalt anwenden, kann das unter<br />

dem Tatbestand des Landfriedensbruchs auch<br />

jenen angelastet werden, die danebenstehen,<br />

ohne selbst gewalttätig zu werden. «Letztlich<br />

kommt der Landfriedensbruch dann zum Zug,<br />

wenn der Strafverfolgung die Beweise für Gewaltakte<br />

fehlen», sagt Peter Albrecht, emeritierter<br />

Rechtsprofessor der Universität Basel und<br />

ehemaliger Gerichtspräsident des Strafgerichts<br />

Basel-Stadt. «Dabei sein genügt.»<br />

In anderen Worten: Statt im Zweifel für die*den<br />

Angeklagte*n, gelte beim Landfriedensbruch<br />

in dubio pro magistratu – im Zweifel für die<br />

Behörde. «Dagegen kann man sich nur schwer<br />

wehren», sagt Albrecht, der die jüngsten Entwicklungen<br />

in Sachen Landfriedensbruch mit<br />

einer gewissen Beunruhigung verfolgt.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

50 51

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!