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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

V<br />

DIE AUSLEGUNG<br />

Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs<br />

stammt aus dem Mittelalter. Damals wurde er<br />

eingesetzt, um Verstösse gegen die Gesetze<br />

der herrschenden Monarch*innen zu ahnden.<br />

Die Monarchie ist längst verschwunden, der<br />

Landfriedensbruch präsent wie nie. Von 1990<br />

bis 1999 wurden gemäss Bundesamt für Statistik<br />

pro Jahr im Schnitt 43,8 Erwachsene verurteilt.<br />

Von 2000 bis 2009 waren es 136,2. Von 2010<br />

bis 2019 195,6 im Schnitt pro Jahr.<br />

Harte Strafen für Landfriedensbruch sind aber<br />

nach wie vor ungewöhnlich. So wurden 2015<br />

bei 186 Verurteilungen 152 Personen mit einer<br />

bedingten Geldstrafe bedacht. Das geht aus<br />

einer Motion hervor, die CVP-Ständerat Beat<br />

Rieder 2017 einreichte. Er forderte damals, dass<br />

der Landfriedensbruch zwingend mit Freiheitsstrafen<br />

einhergeht. Die Verschärfung des Gesetzes<br />

scheiterte am Nationalrat.<br />

In Basel scheint man das Ergebnis dieser Diskussion<br />

verpasst zu haben. Oder man will<br />

einfach neue Tatsachen schaffen: In den dreizehn<br />

Prozessen, die im Rahmen der Anti-Pnos-<br />

Demonstration geführt wurden, wurden fast<br />

ausschliesslich Freiheitsstrafen verhängt. Bislang<br />

nur eine unbedingt.<br />

Woher die Härte?<br />

In Basel werde immer repressiver gegen Demonstrant*innen<br />

vorgegangen, sagt Andreas Noll.<br />

Der Strafverteidiger vertritt Klient*innen in<br />

den laufenden Verfahren. Die Härte der Staatsanwaltschaft<br />

sei die eine Seite. «Das kann ich<br />

fast noch verstehen, das ist ihre Rolle», sagt<br />

Noll. «Aber manchmal habe ich wirklich das<br />

Gefühl, dass sich das Gericht als Teil der Strafverfolgungs<br />

behörde sieht.»<br />

Bei einem älteren Fall, den Noll behandelte –<br />

und bei dem es ebenfalls um Landfriedensbruch<br />

ging –, veranlasste die zuständige Richterin,<br />

dass zusätzliche DNA-Analysen gemacht würden,<br />

die zur Beweislast gegen den Angeklagten<br />

beitragen sollten. «Wenn Richter plötzlich Aufgaben<br />

der Staatsanwaltschaft übernehmen, ist<br />

das befremdlich.»<br />

Auch SP-Grossrat und Strafverteidiger Christian<br />

von Wartburg kritisiert den Umgang mit<br />

Artikel 260. Ihn stört vor allem, dass die Hürde,<br />

wegen Landfriedensbruchs verurteilt zu werden,<br />

sehr tief angesetzt wird.<br />

«In Deutschland wird der Tatbestand Landfriedensbruch<br />

auf die eigentlichen Gewalttäter<br />

eingeschränkt. In der Schweiz verlangte das<br />

Bundesgericht früher zumindest noch die Billigung<br />

der Gewalttätigkeiten», sagt von Wartburg.<br />

Gegenwärtig verlange das Bundesgericht<br />

jedoch keine manifeste Billigung mehr, sondern<br />

nur noch, dass die Person für den unbeteiligten<br />

Beobachter als Teil der Menge erscheint.<br />

Von Wartburg sieht in dieser Handhabung eine<br />

Bedrohung der Versammlungsfreiheit und der<br />

freien Meinungsäusserung: «Wer heute in Basel<br />

mit der Absicht aus dem Haus geht, friedlich<br />

zu demonstrieren, geht ein erhöhtes Risiko ein,<br />

am Ende des Tages eines schweren Vergehens<br />

bezichtigt zu werden.» Er fürchtet einen «Chilling-Effekt».<br />

VI<br />

DER RICHTER<br />

Nicht nur die Strafverteidiger äussern scharfe<br />

Kritik. Auch Peter Albrecht, der selbst über<br />

25 Jahre am Strafgericht Basel-Stadt Urteile<br />

sprach, hinterfragt die Verurteilung der jungen<br />

Frau zu acht Monaten Gefängnis. «Ein aus<br />

meiner Warte – ohne Akteneinsicht zu haben<br />

– hartes Urteil.»<br />

Zum Beispiel: Dass die Angeklagte in ihrem<br />

Schlussplädoyer die Teilnahme an der Anti-<br />

Pnos-Demo mit den Worten rechtfertigt, es<br />

sei notwendig, «gegen Nazis aufzustehen»,<br />

und ankündigt, das auch weiter zu tun, wird ihr<br />

vom Gericht als schlechte Prognose ausgelegt.<br />

Allein aus der Äusserung einer politischen Meinung<br />

eine Rückfallgefahr abzuleiten, hält Albrecht<br />

für falsch. Auch, dass der Richter bei der<br />

mündlichen Urteilsbegründung ein laufendes<br />

Verfahren gegen die Frau anführte, kritisiert<br />

der alt Richter scharf: «Freiheitsrechte und die<br />

Unschuldsvermutung sind elementare Grundsätze<br />

unseres liberalen Rechtsstaates. Solange<br />

jemand nicht verurteilt ist, gilt er als unschuldig.<br />

Punkt.»<br />

Albrecht war während seiner Zeit als Richter<br />

über die Kantonsgrenzen hinaus dafür bekannt,<br />

dass er die Anklage der Staatsanwaltschaft immer<br />

sehr kritisch untersuchte. Seine liberalen<br />

Urteile haben ihn bei den Straf verfolgungs behörden<br />

nicht beliebt gemacht, heisst es. Albrecht sagt: «Vielleicht<br />

habe ich es punkto Beweiswürdigung genauer<br />

genommen als andere – ich habe sicher nie blind der<br />

Polizei geglaubt. Im Zweifel immer für den Angeklagten.»<br />

Besonders bei Anklagepunkten wie Landfriedensbruch<br />

und Gewalt und Drohung gegen Beamte werde er hellhörig.<br />

«Da habe ich schon oft Zweifel gehabt, ob die<br />

Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Staatsanwaltschaft<br />

und der Polizei wirklich genügend ausgeprägt<br />

ist», sagt er. Seine Kritik am Urteil gegen die<br />

28-Jährige hatte Albrecht auch unmittelbar nach dem<br />

Prozess in einem Artikel in der «bz Basel» geäussert.<br />

Der verantwortliche Richter, René Ernst, SP, rechtfertigte<br />

daraufhin sein Urteil in der «Basler Zeitung»<br />

in einem ausführlichen Interview. Unter anderem mit<br />

den Worten: «Sie (die Angeklagte) ist in dieser Szene<br />

bekannt und hat etwas zu sagen.»<br />

Weiter sagte Ernst: «Ich kann akzeptieren, dass das<br />

Urteil oder die Strafhöhe oder die Frage, ob ein Prozess<br />

unbedingt nötig war, diskutiert werden. Aber<br />

wenn der Schuldspruch grundsätzlich infrage gestellt<br />

wird – da sollte man sich schon mit den Fakten besser<br />

vertraut machen.»<br />

Besonders der letzte Satz hinterlässt bei einigen Strafverteidiger*innen<br />

in der Prozessreihe, darunter auch<br />

Noll und von Wartburg, mehr als einen bitteren Beigeschmack.<br />

Als Replik haben sie einen offenen Brief<br />

in der «Basler Zeitung» und bei <strong>Bajour</strong> veröffentlicht.<br />

Richter Ernst, so das Schreiben, nehme mit seinen Äusserungen<br />

eine Bewertung der Gegendemonstration als<br />

Ganzes vor, was einer Vor verurteilung der übrigen Angeklagten<br />

gleichkäme. Und da Ernst auch amtierender<br />

Gerichtspräsident ist, müsse davon ausgegangen werden,<br />

dass es sich dabei um die Haltung des Gesamtgerichts<br />

handelt. «Ein solches Vorpreschen während<br />

laufender Strafverfahren ist beispiellos.»<br />

Die Verteidiger*innen verlangen mit Berufung auf den<br />

Verdacht der Befangenheit, dass ein anderes Gericht<br />

die Prozesse weiterführt. Im Basler Stadtkanton bedeutet<br />

das, dass ein anderer Kanton die Verfahren<br />

übernehmen müsste.<br />

Das Gericht lehnt die Forderung ab. Das war zu erwarten.<br />

Es erklärt aber nicht, warum das Strafgericht<br />

Basel-Stadt so harte Strafen verhängt.<br />

Ein möglicher Grund ist der sogenannte Anchoring-Bias.<br />

Mehrere Studien haben festgestellt, dass die Höhe<br />

der Strafforderung der Staatsanwaltschaft einen Einfluss<br />

auf das Urteil hat – je härter die Forderung, desto<br />

härter das Urteil.<br />

«Wer heute in Basel<br />

mit der Absicht<br />

aus dem Haus<br />

geht, friedlich zu<br />

demonstrieren,<br />

geht ein erhöhtes<br />

Risiko ein, am Ende<br />

des Tages eines<br />

schweren Vergehens<br />

bezichtigt zu<br />

werden.»<br />

Christian von Wartburg, Anwalt<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

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