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Seite 12, 4/<strong>2022</strong><br />
Wein<br />
Hof <strong>Gast</strong><br />
Der nackte Wein<br />
Immer mehr Menschen kommen auf den Geschmack und schätzen Naturwein, manche auch Orange<br />
Wein oder Amphorenwein. Aber was ist das eigentlich genau? <br />
Von Thomas Askan Vierich<br />
Aufgeschlossene Winzer,<br />
die aus den tradierten,<br />
immer technischer werdenden<br />
Methoden Wein herzustellen,<br />
ausbrechen wollen, wurden<br />
lange belächelt. Jetzt werden<br />
ihre Weine in den besten Lokalen<br />
ausgeschenkt, weltweit exportiert<br />
und erzielen Höchstpreise.<br />
Da können die Georgier nur<br />
müde lächeln. Die vergraben<br />
ihren Wein in Tongefäßen schon<br />
seit immer. Die Römer haben es<br />
ihnen nachgemacht. Nur während<br />
der Sowjetzeit wäre ihre<br />
spezielle Kunst Wein zu machen<br />
fast ausgestorben. Sie wurden<br />
gezwungen in Stahltanks Massenwein<br />
zu produzieren. Ihren<br />
Quevri-Wein (Quevri = Amphoren)<br />
stellten sie nur noch für den<br />
Hauskonsum und den Schwarzmarkt<br />
her.<br />
Die Methode<br />
Die Georgier vergraben ihre zerquetschten<br />
Trauben mit Schale,<br />
Kernen und Stilen und den auf<br />
ihnen sitzenden Naturhefen in<br />
Tongefäßen. Dann kann die Maische<br />
bei konstanten Temperaturen<br />
und fast unter Ausschluss<br />
von Sauerstoff gaaanz langsam<br />
gären. Es kommt zu einer Maischegärung<br />
plus Mikrooxidation.<br />
Dabei werden ganz viele Tannine<br />
und Polyphenole gebildet – mehr<br />
als sonst. Das macht die Weine<br />
sehr extraktreich und lang im<br />
Abgang, aber auch aromatisch<br />
gewöhnungsbedürftig. Beim<br />
gleichen Verfahren mit weißen<br />
Trauben erhält man den so<br />
genannten Orange Wine: trübe,<br />
deutlich dunklere Weißweine,<br />
die noch gewöhnungsbedürftiger<br />
schmecken.<br />
Diese Methode haben zuerst<br />
Winzer im Friaul und vor allem<br />
jenseits der Grenze auf slowenischem<br />
Gebiet übernommen.<br />
Auch auf Istrien gibt es berühmte<br />
Orange Wine-Produzenten.<br />
Mittlerweile versucht man das<br />
auch in Frankreich, Deutschland<br />
und Österreich. Da diese<br />
Methode fehleranfällig ist -<br />
schon leichte Verunreinigungen<br />
können zu massiven Fehltönen<br />
führen (man kann ja nicht kellertechnisch<br />
nachhelfen) -, sind<br />
diese Weine nicht unumstritten.<br />
Da sie eh so seltsam schmecken,<br />
ist die Grenze für Neulinge (und<br />
auch Profis!) oft unklar: Ist dieser<br />
Wein noch gut?<br />
Naturwein<br />
Weniger radikal ist die Erzeugung<br />
von Naturweinen, die auf<br />
Englisch viel schöner Naked<br />
Wine oder Artisan Wine, auf<br />
Französisch Vin vivant heißen.<br />
Die werden nicht in Amphoren<br />
in der Erde vergraben. Bei ihnen<br />
lassen die Winzer aber auch<br />
so gut wie alles weg, was sie in<br />
den Weinbauschulen gelernt<br />
haben: Spritzen, wenig Düngen,<br />
wenig bis kein Maschineneinsatz,<br />
keine Filtration außer einer<br />
natürlichen Klärung, manchmal<br />
auch den Schwefel. Man möchte<br />
den Wein einfach machen lassen,<br />
was ihm die Natur vorgibt.<br />
Oft wirtschaften solche Winzer<br />
biologisch, meist sogar biodynamisch,<br />
nicht immer lassen<br />
sie sich dafür zertifizieren. Ihre<br />
Kunst spielt sich in erster Linie<br />
im Weingarten ab.<br />
Sie setzen wie die Georgier statt<br />
der Reinzuchthefen natürlich vorkommene<br />
Hefen zur Gärung ein.<br />
Das verlangsamt die Gärung wie<br />
beim Orange Wine, macht die<br />
Gärung weniger kontrollierbar,<br />
gibt den Weinen aber mehr Aromen<br />
und eine bessere Farbe.<br />
Diese auch Spontanvergärung<br />
genannte Methode gibt es auch<br />
beim Bierbrauen, wenn man mit<br />
offenen Bottichen arbeitet. Das A<br />
& O ist absolute Hygiene im Keller,<br />
damit es nicht zu Wein- oder<br />
Bierfehlern kommt. Das Ergebnis<br />
ist vor allem beim Wein deutlich<br />
anders, aber längst nicht so<br />
gewöhnungsbedürftig wie beim<br />
Amphorenwein. Vermutlich hat<br />
so Wein früher geschmeckt,<br />
bevor die Önologie aus ihm ein<br />
immer gleiches, perfekt kontrolliertes<br />
Handelsprodukt gemacht<br />
hat. Im besten Fall ist es wirklich<br />
aufregend.<br />
Foto: Pixabay