0831 - Das Kemptener Stadtmagazin (März/April 2023)
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Mehrwert
Auf welchem Weg begleitest du junge Menschen
durch für sie herausfordernde Zeiten?
Das klingt jetzt erst mal selbstverständlich, ist es aber leider
nicht: Die einfachste Methode ist das Zuhören – und zwar auf
Augenhöhe. Ich habe viele Jugendliche im Gespräch, die pausenlos
von ihren Gedanken, Wünschen und Sorgen erzählen, sobald
sie merken, dass ich ihnen interessiert und wertungsfrei zuhöre.
Wenn ich mit Jugendlichen zusammenarbeite, habe ich die
Möglichkeit, sie für mindestens drei Monate in wöchentlichen
Treffen zu begleiten. Das gibt mir die Chance, sie intensiver
kennenzulernen, mit ihnen zu beleuchten, wo sie stehen, wo es
hingehen darf und welche Blockaden sie bislang davon abgehalten
haben. Und sie dürfen erkennen, dass sie so viel mehr
können und wissen, als sie von sich selbst denken.
Hast du die ein oder andere Übung für Kids, die sie jederzeit
anwenden können, wenn sie sich gerade gestresst oder
überfordert fühlen?
Oh ja! Da gibt es natürlich eine Menge. Nicht jede Übung passt
zu jedem Charakter und zu jeder Vorliebe. Was aber bei so gut
wie jedem funktioniert: Zwinge dich dazu zu lächeln. Du kannst
gar nicht wütend sein, während du lächelst. Das nimmt etwas
die Spannung. Es gibt zum Beispiel auch eine ganz einfache
Atemübung: 4-7-8. Also vier Sekunden tief durch die Nase
einatmen, sieben Sekunden halten und acht Sekunden langsam
durch den Mund wieder ausatmen. Das Ganze dreimal wiederholen.
Das kann in einer akuten Stresssituation Druck herausnehmen
und den Fokus verändern.
Simon hat erwähnt, dass Lehrkräfte, Ausbilder:innen und
Bezugspersonen im Ehrenamt zunehmend in einer coachenden
und motivierenden Funktion gefragt sein werden.
Denkst du ähnlich darüber? Und vor allem: Wie gelingt es,
die angesprochenen Personengruppen entsprechend zu
schulen?
Ja, dem kann ich nur zustimmen. Jugendliche brauchen mehr
an ambitionierten Lehrkräften, Ausbildern und Ehrenamtlichen,
die sich für sie einsetzen. Hier muss dringend etwas an den
Strukturen gemacht werden, sei es bei der Bezahlung oder den
Ausbildungskonzepten. Allgemein muss ein Bewusstsein für die
Thematik in der Öffentlichkeit geschaffen werden, sei es durch
Interviews wie dieses hier oder durch die Arbeit von Menschen
wie Simon Schnetzer, die das Thema großartig beleuchten und
verbreiten.
Welche Kemptener Anlaufstellen gibt es für Kinder, Jugendliche
und deren Eltern, die auf der Suche nach professioneller
Unterstützung sind?
Der Stadtjugendring leistet hier zum Beispiel sehr tolle Arbeit
mit verschiedenen Angeboten, darunter drei Jugendzentren und
Ansprechpartnern an den Mittelschulen. Auch das Jugendhaus
in der Stadt und das Amt für Jugendarbeit als Dach für Jugendarbeit
in Kempten ist eine wunderbare Anlaufstelle mit tollen
Pädagogen. Darüberhinaus gibt es an den Schulen erfahrene
Ansprechpartner, beispielsweise Jugendsozialarbeiter und
Schulpsychologen. Bei akuten Fällen gibt es die Nummer gegen
Kummer – 116 111 – die anonym und kostenlos hilft.
Wie geht es den Eltern, zu denen du beruflich Kontakt hast?
Eltern fühlen sich häufig ohnmächtig, wenn es um ihre Teenies
geht. In der Jugend fängt der junge Mensch an sich abzugrenzen
– das kann ohnehin schwierig sein. Hinzu kommt jetzt, dass
sich auch Eltern sehr belastet fühlen in der gesamtgesellschaftlichen
Lage und ihrer eigenen Gefühlswelt. Da ist die Tatsache,
dass man Kinder hat, für die man als Elternteil grundsätzlich
das Beste möchte, nicht sonderlich entlastend. Eltern müssen
sozusagen ihre eigenen Gefühle und die vermuteten, weil häufig
nicht verbalisierten, Gefühle ihrer Kinder auffangen und damit
umgehen. Das ist nicht einfach.
Auf welche Warnsignale sollten Eltern bei ihren Kindern
achten? Und wie können sie reagieren, wenn solche Signale
auftreten?
Ich bin der Meinung, das Allerwichtigste ist Kommunikation. Eltern
sollten versuchen, nicht den Draht zu ihrem Kind zu verlieren
und sich bewusst Zeit für sie zu nehmen. Es ist wichtig für
das Kind, dieses ernst zu nehmen, wenn es über Ängste klagt
oder Situationen aus dem Weg gehen möchte. Neben den offensichtlichen
Merkmalen wie Rückzug, Wortkargheit oder dem
Abfall der schulischen Leistungen gilt es auch genauer hinzusehen,
wenn der Jugendliche anfängt ausschließlich weite Klamotten
zu tragen, um gegebenenfalls ein sich stark veränderndes
Gewicht zu vertuschen oder bevorzugt langärmelige Shirts zu
tragen, um eventuelle Selbstverletzungen zu verstecken.
Das Kemptener Stadtmagazin Ausgabe März/April 2023 29