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Heimat-Filmtrilogie, sich so viel e<strong>in</strong>gebildet hatte. Seit<br />
me<strong>in</strong> Urgroßonkel aus Dresden zugewan<strong>der</strong>t war,<br />
wurde im Haus gebacken. Se<strong>in</strong> vergilbter Meisterbrief<br />
h<strong>in</strong>g neben dem me<strong>in</strong>es Vaters im Geschäft.<br />
Abriss des über 100 Jahre alten Hauses<br />
Als das alte Haus abgerissen wurde, halfen wir K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
beim E<strong>in</strong>stoßen <strong>der</strong> Lehmwände enthusiastisch mit.<br />
Wir entdeckten e<strong>in</strong>e Farbenkammer, von <strong>der</strong> niemand<br />
gewusst hatte. Me<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong> Norbert fiel durch die<br />
Dachbodenplanken <strong>und</strong> tauchte als blaugrünes Gespenst<br />
wie<strong>der</strong> auf. Die Backste<strong>in</strong>e fürs neue Haus ließen<br />
me<strong>in</strong>e Eltern aus Holland kommen. Es sollte noch<br />
viel länger als das alte Lehmhaus halten. Sie hatten<br />
we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Landflucht noch mit dem Fall <strong>der</strong> Mauer<br />
gerechnet. Am 9. November 1989 wurde e<strong>in</strong> weiteres<br />
Haus e<strong>in</strong>geweiht, das me<strong>in</strong>e Eltern für ihren Ruhestand<br />
gebaut hatten. Im Rückblick wird es zum Floß, auf das<br />
sie sich zu retten suchten. Aber was für e<strong>in</strong> glorreicher<br />
Moment im W<strong>in</strong>dschatten <strong>der</strong> Geschichte waren die 30<br />
Jahre davor, <strong>in</strong> denen <strong>der</strong> Zukunftsoptimismus me<strong>in</strong>es<br />
Vaters auf den b<strong>und</strong>esrepublikanischen Aufschwung<br />
traf. Prosperierende Städter aus Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Hamburg<br />
bauten sich scharenweise Datschas im Wendland.<br />
Samstags hielten schöne Autos vor unserem Geschäft,<br />
<strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en standen Schlange. Bis auf die Straße,<br />
sagt me<strong>in</strong>e Mutter. Und das ist nicht übertrieben.<br />
Die alte <strong>Bäckerei</strong> hatte ganz dem Dorf gehört. Im<br />
Laden wurde Platt gesprochen, <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Weihnachtstagen<br />
gab es mehr Frauen als Männer im Backstubenbereich.<br />
Sie rückten <strong>in</strong> Kopftüchern <strong>und</strong> bunten<br />
Schürzen an, um ihre hauseigenen Teigmischungen auszurollen<br />
<strong>und</strong> abzubacken. Dann war auf <strong>der</strong> Bodentreppe<br />
bis spät <strong>in</strong> die Nacht Betrieb. Vor Weihnachten konnten<br />
auf dem Speicher leicht 120 Blechkuchen lagern.<br />
Schwungvolle Teig<strong>in</strong>itialien gaben zu wissen, wem<br />
sie gehörten. Das Fluidum verwandelte sich <strong>in</strong> diesen<br />
Tagen. Sonst war die Stimmung e<strong>in</strong>silbig, die Meister<br />
gaben nervöse Kommandos, die Gesellen fuhren die<br />
Lehrl<strong>in</strong>ge an, <strong>und</strong> die Lehrl<strong>in</strong>ge, die wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal den<br />
Sauerteig vernachlässigt hatten, murrten vor sich h<strong>in</strong>.<br />
Doch vor dem Fest wurde die Atmosphäre fem<strong>in</strong><strong>in</strong>. Die<br />
Bäcker assistierten den Frauen bei ihren Landgrafen,<br />
Mandel-, Streusel- <strong>und</strong> Pfefferkuchen, Klatschgeschichten<br />
breiteten sich aus, <strong>und</strong> auf burschikose, grob-schroffe<br />
Weise wurde geflirtet, dass sich die Balken bogen.<br />
Die Backstube fühlte sich an, als würde man <strong>in</strong> die<br />
Erde h<strong>in</strong>untersteigen. Sie war ganz Innenraum,<br />
zum Bersten aufgeheizt, wenn die Glut aus dem Brustfeuerungsofen<br />
geholt <strong>und</strong> er mit feuchten Tüchern<br />
ausgeschleu<strong>der</strong>t wurde. Ständig fuhren die großen<br />
Holzru<strong>der</strong> <strong>der</strong> Männer h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Mit artistischer Vorsicht<br />
drehten sie sich um <strong>und</strong> ließen ihre dampfende Beute<br />
eilig auf e<strong>in</strong>en Holztisch gleiten. Alles musste schnell<br />
gehen, wenn die Brote aufgegangen waren. E<strong>in</strong>e Fuhre<br />
nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en wurde gelöscht. Und das buchstäblich,<br />
denn wenn das Brot an die Luft kam, strichen sie<br />
mit angefeuchteten Bürsten darüber, dass es zischte.<br />
Norbert <strong>und</strong> ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> alten Backstube<br />
Rechts vom Ofen führte e<strong>in</strong>e steile Ste<strong>in</strong>treppe <strong>in</strong> den<br />
Mehlraum h<strong>in</strong>auf. Weil er über dem Ofen lag, war er<br />
immer warm. E<strong>in</strong>er me<strong>in</strong>er Brü<strong>der</strong> ist die Treppe e<strong>in</strong>mal<br />
h<strong>in</strong>untergefallen. Er hatte viel Fantasie, die Lehrl<strong>in</strong>ge<br />
erschreckten ihn gern mit Mehlsäcken über dem Kopf.<br />
Nachts standen wir an se<strong>in</strong>em Bett <strong>und</strong> hörten se<strong>in</strong>en<br />
Albträumen zu. Während die Bäcker den Teig kneteten<br />
<strong>und</strong> rhythmisch Mehl h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>warfen, unterhielten sie<br />
sich, hänselten uns <strong>und</strong> e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, schon um nicht e<strong>in</strong>zuschlafen.<br />
Sie wohnten im Haus, <strong>in</strong> ihren Zimmern im<br />
ersten Stock lagen Landser- <strong>und</strong> Popeye-Hefte herum.<br />
Und weil die Türen offen standen, liehen wir sie uns aus<br />
<strong>und</strong> lasen sie uns auf <strong>der</strong> Bodentreppe vor.<br />
Die <strong>Bäckerei</strong> war e<strong>in</strong> Organismus, dessen Spezialfunktionen<br />
<strong>in</strong> die Ställe ausgelagert wurden. Jeden<br />
Morgen um vier sprang die Masch<strong>in</strong>erie an. Ich hörte<br />
im Halbschlaf das Weckerkl<strong>in</strong>geln <strong>und</strong> Türenschlagen.<br />
Gegen fünf stand me<strong>in</strong>e Mutter auf. Sie bereitete am<br />
langen Ende das Frühstück für die Belegschaft vor <strong>und</strong><br />
fütterte die Schwe<strong>in</strong>e, die rebellierten, wenn sie zu spät<br />
kam. Täglich wurden Futterkartoffeln auf dem Waschküchenherd<br />
gekocht <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>geweichtem Brot <strong>und</strong><br />
Kuchenresten vermengt. Nebenan lagerte Brennholz<br />
für den Backofen. E<strong>in</strong>e Leiter führte zum Stallboden,<br />
<strong>R<strong>und</strong>schau</strong><br />
Elb-Ufer Klöndör<br />
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