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Elbufer Rundschau: Erinnerungen - Himmel und Hölle in der Bäckerei

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Torten, Bunte Teller <strong>und</strong> Marzipanfiguren für die Weihnachts-<br />

<strong>und</strong> Ostertage zu formen. Er hatte Talent, es<br />

machte ihm nichts aus. Sobald er geduscht hatte,<br />

schlief er ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, <strong>und</strong> me<strong>in</strong>er Mutter, die gern ausgehen<br />

wollte, gelang es kaum, ihn zu wecken. In Wahrheit<br />

fand unser Leben nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Freizeit statt. Sie war<br />

e<strong>in</strong>e Verlegenheit, für die ke<strong>in</strong>e Kraft mehr übrig blieb.<br />

Norbert, Michael <strong>und</strong> ich am Heiligabend<br />

Den Weihnachtsbaumschmuck holte me<strong>in</strong>e Mutter<br />

erst am Heiligabend vom Boden, unsere Geschenke<br />

waren nicht immer e<strong>in</strong>gewickelt, <strong>und</strong> manchmal h<strong>in</strong>g<br />

noch das Preisschild dran. Geliebt wurden wir trotzdem<br />

<strong>und</strong> fühlten uns von vielen behütet. Das Spektakel <strong>der</strong><br />

Pflichten, denen die Erwachsenen unermüdlich ausgeliefert<br />

waren, enttäuschte oft unsere Wünsche, aber es<br />

weckte auch Verantwortung <strong>und</strong> e<strong>in</strong> ganz unk<strong>in</strong>dliches<br />

Gefühl <strong>der</strong> bangen Sympathie.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>Bäckerei</strong> ist e<strong>in</strong> archaischer Ort, daran än<strong>der</strong>te<br />

sich auch nichts, als wir <strong>in</strong>s neue Haus umzogen.<br />

Wenn vor den Fenstern die Sonne rot über <strong>der</strong> Elbe<br />

aufg<strong>in</strong>g <strong>und</strong> das Brot aus dem Ofen kam, war me<strong>in</strong> Vater<br />

andächtig gestimmt, von e<strong>in</strong>em elementaren Ritus<br />

<strong>in</strong> Anspruch genommen, <strong>in</strong> direktem Kontakt mit <strong>der</strong><br />

Schöpfung. Wenn die Lehrl<strong>in</strong>ge, die oft noch K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

waren, vor dem Ofen standen <strong>und</strong> sich ihrer Haut erwehrten,<br />

waren auch sie <strong>in</strong> den alten Tanz <strong>in</strong>itiiert. Und<br />

wenn me<strong>in</strong> Onkel mit ernstem Gesicht se<strong>in</strong>e Pistole <strong>in</strong><br />

das Halfter steckte, wird er sich <strong>der</strong> ursprünglichen Gewalten,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Diensten er stand, nicht weniger bewusst<br />

gewesen se<strong>in</strong>.<br />

So erfüllend das Handwerksleben ist, so schnell verwischen<br />

se<strong>in</strong>e Spuren. Aber die Energie pflanzt sich<br />

fort. Norbert hat den Beruf übernommen <strong>und</strong>, während<br />

das Dorfleben langsam e<strong>in</strong>schlief, <strong>in</strong> Lüneburg<br />

neu angefangen. Me<strong>in</strong> Vater hat die deutsch-deutsche<br />

Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung am symbolischen Tag se<strong>in</strong>es Abtritts<br />

mit k<strong>in</strong>dlichem Gemüt gefeiert. Das Ger<strong>in</strong>ge<br />

fügte sich <strong>in</strong>s Große, es war, als hätte er unwissentlich<br />

an e<strong>in</strong>er Meistererzählung mitgewirkt. Die über die<br />

Elbe reichenden Wege se<strong>in</strong>er Jugend waren wie<strong>der</strong> frei<br />

geworden, <strong>Hölle</strong> <strong>und</strong> <strong>Himmel</strong> unentwirrbar verstrickt.<br />

Me<strong>in</strong>e Mutter wacht noch immer um sechs Uhr auf,<br />

<strong>und</strong> manchmal br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>g von früher e<strong>in</strong>en<br />

Blumenstrauß vorbei. Es gibt etwas, an dem wir alle zusammenhängen,<br />

an das wir nur scheu zu rühren wagen<br />

<strong>und</strong> das zu mächtig für jeden E<strong>in</strong>zelnen von uns ist. Wir<br />

erzählen davon wie von e<strong>in</strong>er geschlagenen Schlacht<br />

<strong>und</strong> w<strong>in</strong>ken ab, aus Respekt vor <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Brüchigkeit <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Emotion wegen,<br />

die uns zu überwältigen droht.<br />

Im März dieses Jahres hatte die Mutter von Ingeborg Harms – Inge Harms – sich noch bereit erklärt, für die <strong>Elbufer</strong>-<br />

<strong>R<strong>und</strong>schau</strong> e<strong>in</strong> Interview zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Bäckerei</strong> <strong>und</strong> zu ihrem langen <strong>und</strong> wechselvollen Leben zu geben.<br />

Doch lei<strong>der</strong> schwanden ihre Kräfte <strong>in</strong> den letzten Monaten <strong>der</strong>art, dass sie zuletzt nur noch <strong>in</strong> ihrem Bett liegen<br />

konnte <strong>und</strong> dann zu schwach für das Interview war.<br />

Am 28. Mai dieses Jahres, dem Pf<strong>in</strong>gstsonntag, verstarb Inge Harms im Alter von 90 Jahren.<br />

Fotos: Mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung <strong>der</strong> Familie Harms<br />

<strong>R<strong>und</strong>schau</strong><br />

Elb-Ufer Klöndör<br />

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