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Elbufer Rundschau: Erinnerungen - Himmel und Hölle in der Bäckerei

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<strong>der</strong> e<strong>in</strong> begehrtes Versteck für uns K<strong>in</strong><strong>der</strong> war. Von<br />

dort warfen wir Strohballen <strong>in</strong> die Gänge, auf dass sie<br />

mit e<strong>in</strong>er Forke zu Schwe<strong>in</strong>estreu verteilt wurden. Auch<br />

die Rauchkammer mit ihren Würsten <strong>und</strong> gepökelten<br />

Sch<strong>in</strong>ken befand sich <strong>in</strong> den Ställen.<br />

Me<strong>in</strong>er Mutter waren die Schwe<strong>in</strong>e durch den täglichen<br />

Umgang lieb geworden. Die Tiere vertrauten ihr,<br />

freuten sich, wenn sie zum Füttern kam, <strong>und</strong> sollten<br />

nun erschossen werden. E<strong>in</strong>er unserer Onkel war Metzger.<br />

Es musste e<strong>in</strong> kalter W<strong>in</strong>tertag se<strong>in</strong>, dann kam er<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Früh <strong>und</strong> übernahm die Leitung. Me<strong>in</strong>e Mutter<br />

ließ uns nicht vor die Tür, bis <strong>der</strong> Schuss gefallen war.<br />

Sie hielt sich die Ohren zu, danach g<strong>in</strong>g es h<strong>in</strong>aus. Das<br />

Schwe<strong>in</strong> wurde auf e<strong>in</strong>e flache Leiter geb<strong>und</strong>en, mit<br />

kochendem Wasser übergossen <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>er Stahllocke<br />

von den Borsten befreit. Dann lehnten zwei Männer<br />

die Leiter an e<strong>in</strong>e Teppichstange, <strong>und</strong> me<strong>in</strong> Onkel<br />

öffnete mit schnellen Schnitten den Bauch des Tieres.<br />

Das plötzliche Zutagetreten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>geweide glich dem<br />

Öffnen <strong>der</strong> Backstubentür. Und wie die Bäcker mit ihren<br />

Schiebern <strong>in</strong> den Ofen fuhren, um Gebäck hervorzuzaubern,<br />

so för<strong>der</strong>te das Messer me<strong>in</strong>es Onkels die<br />

Innereien ans Licht. Ihre R<strong>und</strong>ungen waren glatt <strong>und</strong><br />

elastisch, ihr Glanz von <strong>der</strong> tiefen Farbigkeit <strong>der</strong> Brote.<br />

Die feucht glitzernden Organe luden zur Berührung<br />

e<strong>in</strong>. Ihr Form- <strong>und</strong> Farbenreichtum, die Unverwechselbarkeit<br />

von Leber, Nieren, Magen, Milz <strong>und</strong><br />

Herz, ihre unterschiedliche Struktur, Konsistenz <strong>und</strong><br />

die Überraschung, die e<strong>in</strong> Querschnitt brachte, all das<br />

war den Konditorwaren verwandt. In <strong>der</strong> Waschküche<br />

kochte e<strong>in</strong> großer, im Herd versenkter Kessel, <strong>in</strong> dem<br />

die Fleischstücke, Würste, Kopf <strong>und</strong> Pfoten landeten.<br />

Das Schlachten war das Spiegelbild <strong>der</strong> <strong>Bäckerei</strong>. Sie<br />

verwandelte formlose Elemente, Mehl, Wasser, Zucker<br />

<strong>und</strong> Sahne <strong>in</strong> verlockende Teigwaren <strong>und</strong> Patisserien,<br />

während das Schlachten den umgekehrten Weg e<strong>in</strong>schlug.<br />

Es zerstückelte <strong>und</strong> zerhackte <strong>in</strong> je<strong>der</strong> erdenklichen<br />

Weise perfekte Formen, um Grütze, Schwarzsauer,<br />

Magensülze <strong>und</strong> Leberwurst daraus zu machen.<br />

Das Innere des Schwe<strong>in</strong>s war e<strong>in</strong>e Offenbarung, <strong>und</strong><br />

es kommt mir ganz natürlich vor, dass man die<br />

Organe nicht nur zu verlesen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> ihnen<br />

zu lesen pflegte. Da waren die stumpfe Dichte <strong>der</strong> Flomen,<br />

die sich erhitzt <strong>in</strong> durchsichtiges Fett verwandelten,<br />

die Klebrigkeit <strong>der</strong> Leberlappen <strong>und</strong> <strong>der</strong> große Blutklumpen,<br />

das Herz, aus dem noch die Leitungen ragten.<br />

Das Blut musste bewegt werden, um se<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>nen zu<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Ich bot mich an <strong>und</strong> rührte den dampfenddicklichen<br />

Saft begeistert mit nacktem Arm. Aus Übereifer<br />

steckte ich den F<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den Fleischwolf<br />

<strong>und</strong> verlor e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>gerkuppe. Man fuhr mich schnell<br />

zum Arzt, auch das war aufregend, an den Schmerz<br />

er<strong>in</strong>nere ich mich nicht. Am Abend trugen wir K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Wurstkostproben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachbarschaft aus.<br />

Me<strong>in</strong>e Liebl<strong>in</strong>gslektüre hieß die <strong>Himmel</strong>swerkstatt.<br />

Das illustrierte K<strong>in</strong><strong>der</strong>buch erzählt davon, wie es<br />

zur Vorweihnachtszeit <strong>in</strong> <strong>Himmel</strong> <strong>und</strong> <strong>Hölle</strong> zugeht.<br />

Über den Wolken dekorieren süße Engelchen zum Anbeißen<br />

raff<strong>in</strong>ierte bunte Plätzchen, während <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

von Fackeln erleuchteten <strong>Hölle</strong> Teufelchen Spielzeug<br />

zusammenschustern. E<strong>in</strong>er hämmert auf den tonnenförmigen<br />

Leib e<strong>in</strong>er Giraffe e<strong>in</strong>, zwei r<strong>und</strong>liche Racker<br />

bearbeiten e<strong>in</strong>e glühende Wurst mit Hammer <strong>und</strong> Zange.<br />

Verloren sitzt e<strong>in</strong> Teddybär mit missratenem Kopf<br />

auf dem Ste<strong>in</strong>fußboden. Die ungeschlachte Gestalt<br />

von Giraffe <strong>und</strong> Teddy machte sie mir nur noch lieber.<br />

Ich sehnte mich mit gleicher Intensität nach dem <strong>Hölle</strong>nspielzeug<br />

<strong>und</strong> den <strong>Himmel</strong>splätzchen. Die beiden<br />

Werkstätten schienen zusammenzugehören. Sie lagen<br />

Tür an Tür wie Backstube <strong>und</strong> Konditorei. Wie die Teufelchen<br />

waren die Bäcker, wenn sie die Kohlen aus dem<br />

Ofen holten, bis aufs Schießer-Hemd <strong>und</strong> die Karohose<br />

nackt. Es g<strong>in</strong>g rau<br />

zu, die Glut war sichtbar,<br />

die Anstrengung<br />

auch. In <strong>der</strong> Konditorei<br />

h<strong>in</strong>gegen herrschte<br />

Frieden, die Konzentration<br />

war meditativ. Die<br />

Baiser- <strong>und</strong> Schwarzwäl<strong>der</strong><br />

Kirschtorten, Sahneschnitten<br />

<strong>und</strong> bemalten<br />

Lebkuchen verdankten<br />

ihre Attraktivität<br />

dem F<strong>in</strong>gerspitzengefühl.<br />

Nichts g<strong>in</strong>g<br />

hier mit Gewalt, wie<br />

me<strong>in</strong> Vater erfahren<br />

musste, als er mit e<strong>in</strong>er<br />

Hochzeitstorte im Kofferraum<br />

e<strong>in</strong>e Kurve zu<br />

Ich buttere Butterkuchen scharf nahm.<br />

Je kosmopolitischer die K<strong>und</strong>schaft wurde, desto<br />

mehr lebten wir aufs Wochenende h<strong>in</strong>. Die K<strong>und</strong>enflut<br />

<strong>und</strong> die Welten, die sie mit sich brachte, versetzten<br />

uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Rausch. Dann bedienten wir zu viert, me<strong>in</strong>e<br />

Mutter kannte alle K<strong>und</strong>en beim Namen. Während<br />

Son<strong>der</strong>wünsche erfüllt wurden, tauschte sie kle<strong>in</strong>e<br />

Privatschnipsel aus, die sich über die Jahre zu e<strong>in</strong>em<br />

Bild <strong>und</strong> achtsamer Fre<strong>und</strong>schaft zusammensetzten.<br />

E<strong>in</strong> Seemann, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Auge auf mich geworfen hatte,<br />

schenkte mir e<strong>in</strong>en Flakon „First“ von Van Cleef & Arpels.<br />

Ich war <strong>der</strong> Geste nicht gewachsen <strong>und</strong> schämte<br />

mich sehr.<br />

Me<strong>in</strong>e Eltern wurden nie krank, sie konnten es sich<br />

nicht leisten. Und sie opferten regelmäßig ihr Privatleben,<br />

um Unzureichendes zu kompensieren. Me<strong>in</strong><br />

Vater stand oft bis zum Abend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konditorei, um<br />

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