Alnatura Magazin Oktober 2023

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INTERVIEW Ein zehnjähriger experimentierfreudiger Junge will es wissen: Er brütet in Omas selbstgehäkeltem Schal ein Küken aus, spricht mit dem Ei, dreht und wendet es regelmäßig. 50 Jahre später: Er ist der wohl berühm teste Förster Deutschlands und mit zahlreichen Veröffent lichungen zum Thema Wald international bekannt. Das Alnatura Magazin hat mit Peter Wohlleben gesprochen, dem 2015 mit »Das geheime Leben der Bäume« ein Bestseller gelang. Das Huhn ist übrigens sehr alt geworden. Alnatura trifft Peter Wohlleben Botschafter für das Multitalent Wald 56 Alnatura Magazin Oktober 2023
INTERVIEW Herr Wohlleben, bereits als frischgebackener Förster zweifelten Sie an den Methoden der Forstwirtschaft. Warum? »Wir fällten riesige alte Buchen, das hat mir einfach leidgetan. Der Wald müsse verjüngt werden, hieß es. Nebenbei fällt noch Holz ab. Dann die Gifteinsätze, die es sogar heute noch gibt. Du denkst an deine Gesundheit und die der Waldtiere. Forstwirtschaft mit Insektiziden? Nein danke! Immer noch wird an der Plantagenwirtschaft mit Nadelbäumen festgehalten. Monokulturen, genormt für die Holzproduktion. Der Wald könne sich nicht selbst heilen, das sei ein Märchen.« Was Sie jedoch nicht glauben wollten. »Genau! Das Umgekehrte ist ja der Fall. Der Wald geht kaputt, weil man es so macht. Ich suchte und fand Beispiele, die zeigen, wo besser mit dem Wald umgegangen wird: unter anderem in der Stadt Göttingen oder im Stadtforstamt Lübeck. Aber auch Privatbesitzerinnen und -besitzer von Wäldern veranschaulichen, dass es anders geht. Ein Laubwald mit jungen, alten und abgestorbenen Bäumen sieht schöner und gesünder aus; da spürt man sofort, dass der Wald mit sich im Reinen ist.« Naturschutz und Forstwirtschaft scheint die Quadratur des Kreises zu sein. Gibt es Fortschritte? »Aktuell gibt es vor allem Rückschritte. Wir sehen die seit Jahrzehnten größten Kahlschläge durch die Forstwirtschaft und heftigsten Maschineneinsatz, der den Boden großflächig zerstört. In öffentlichen Wäldern wird sogar gepflügt! Unfassbar. Holz setzt bei der Verbrennung mehr CO 2 frei als Öl oder Gas. Pelletöfen werden trotzdem subventioniert und Holzkraftwerke gefördert. Derzeit verbrennen wir über die Hälfte des Nutzholzes in Deutschland. Naturnahe Wälder – nicht nur in Rumänien und Bulgarien – leiden unter unserem steigenden Brennholzhunger.« Was macht einen natürlich gewachsenen Wald so viel wertvoller als eine Nadelbaum-Plantage? »Alte Laubwälder können im Sommer die Temperatur um zehn bis 15 Grad senken. Wenn sie groß genug sind, erzeugen sie ihren »Wenn wir den den Wald Wald lassen, lassen, rettet er rettet sich er selbst.« sich Peter selbst.« Wohlleben eigenen Regen. Das wusste schon Alexander von Humboldt. Ein alter großer ein heimischer Laubbaum wächst exponentiell. Die Riesen sind wahre CO 2 -Staubsauger. Ein junger Ersatzbaum braucht Jahrzehnte bis dahin. Die Rechnung geht nicht auf. Fichten-Plantagen gehen seit 200 Jahren alle fünf bis zehn Jahre regelmäßig ein. Die erste Katastrophe beschwor um 1860 der Borken käfer herauf, genau wie jetzt auch. Dazu kommen Stürme wie in den 1990er-Jahren, Wassermangel, Klimawandel. Ein ausgewachsener Baum gibt im Sommer bis zu hundert Kilo Zucker an für ihn lebenswichtige Pilze und Bakterien im Boden ab. Bei Kahlschlag in den Plantagen verhungern die Pilze, das Ökosystem ist zerstört.« Ist der Wald noch zu retten? »Wenn wir ihn lassen, rettet er sich selbst. Ein Beispiel ist das Eschentriebsterben. Zehn bis 15 Prozent der Bäume scheinen zu überleben. Vor Kurzem wurde nun eine Bakterienart entdeckt, die an der Esche lebt und ihren Stoffwechsel geändert hat. Sie bekämpft wahrscheinlich den für Eschen tödlichen Pilz. Eine von Tausenden Bakterienarten an der Esche. In nur zwei Esslöffeln Walderde in einem Buchenwald haben norwegische Forscherinnen und Forscher rund 40 000 Bakterienarten ge funden – nicht Bakterien, sondern Bakterien arten! Wir wissen fast nichts über das so komplexe Waldsystem.« Lernen wir Menschen nichts dazu? »Doch. Die Bevölkerung ist der größte Waldbesitzer Deutschlands. 52 Prozent der Wälder sind in öffentlicher Hand. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger sorgen sich um ihren Wald. Es entstehen vielerorts Initiativen, um ihn zu schützen. Das Bundesumweltministerium denkt über einen Schutzstatus alter öffentlicher Wälder nach und rät von Holz als Brennstoff ab. Die Jugend ist in Klimafragen ein starker Partner und sehr sensibilisiert. Wir sind auch gut vernetzt mit der Wissenschaft, arbeiten zum Beispiel mit Biologinnen und Biologen der Univer si tät Koblenz zusammen sowie mit der Hochschule Eberswalde, wo wir einen neuen Stu dien gang – Sozialökologisches Waldmana gement – initiiert haben, eine Alternative zur klassischen Forstwirtschaft. Es geht nicht nur um Naturschutz, sondern Vom Wald her die Welt verstehen Ist der Wald noch zu retten und mit ihm auch unsere Zukunft? Förster Peter Wohlleben und Wissenschaftler Pierre L. Ibisch nehmen uns in ihrem ersten gemeinsamen Buch »Waldwissen« auf eine spannende Reise in unsere Wälder mit, lassen uns staunen über diesen einzigartigen Lebensraum, über das faszinierende Zusammenspiel von riesigen Bäumen bis hin zu Einzellern. Sie laden uns ein, den Wald neu zu denken, denn er ist viel mehr als nur die Summe aller Bäume. Auch als Hörbuch erhältlich. auch um Wasser, Kühlung, Sport, Erholung und Holz als Baustoff. Nutzholz sollte nicht mehr verbrannt werden. Im Wald kann man sein Einkommen erzielen – auch ohne Baumplantagen.« Sie glauben, dass wir den Klimawandel noch stoppen können. Was lässt Sie hoffen? »Ich erwarte in drei bis vier Jahren den grünen Kipppunkt in der Gesellschaft. Der Ukrainekrieg rückt noch einmal den Fokus auf fossile Brennstoffe. Es wird aber einen Riesenschub für grüne Energien geben. Vielen auf dem Globus wird klar, dass ein ›Weiter so‹ nicht mehr geht. Wir könnten acht Milliarden Menschen vernünftig ernähren, kleiden und vor allem bilden, auch ohne – wie bisher – den halben Planeten umzugraben.« Wenn Sie einen Wunsch frei hätten … »Dann würde ich mir eine breite Diskussion in der Gesellschaft darüber wünschen, was wir vom Wald wollen. Mehr alter Laubwald, das tut nicht nur unserer Psyche gut.« Das Interview führte Katrin Kasch. Alnatura Magazin Oktober 2023 57
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