Zukunft Forschung 02/2023
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />
ALPBACHER WENDE<br />
Wolfgang Stegmüller war der führende Vertreter der analytischen Wissenschaftstheorie im<br />
deutschsprachigen Raum. Den Grundstein zu seinem Schaffen legte er an der Universität Inns bruck.<br />
Als Wolfgang Stegmüller im Sommer<br />
1948 die Alpbacher Hochschulwochen<br />
besucht, hat er seine der traditionellen<br />
Schulphilosophie verpflichtete<br />
Dissertation hinter sich und die ähnlich<br />
gelagerte Habilitationsschrift schon abgabebereit<br />
in der Schublade. Doch Alpbach<br />
wird eine Wende in sein Schaffen bringen,<br />
denn für ihn gänzlich Neues wird dort mit<br />
Karl Popper diskutiert. „In den ersten drei<br />
Jahren meiner Tätigkeit als wissenschaftliche<br />
Hilfskraft war mir der Wiener Kreis<br />
nicht einmal vom Hörensagen bekannt“,<br />
bekennt Stegmüller Jahre später.<br />
Der Wiener Kreis war eine Gruppe Intellektueller,<br />
die sich ab Mitte der 1920er-<br />
Jahre rund um den Physiker und Philosophen<br />
Moritz Schlick bildete. Die Wissenschaftler<br />
fühlten sich – so wie jene der<br />
Berliner Gruppe und des Prager Zirkels<br />
– dem Logischen Empirismus (auch Logischer<br />
Positivismus oder Neopositivismus)<br />
verpflichtet, trotz unterschiedlicher<br />
philosophischer Positionen verband sie<br />
der Versuch, so Stegmüller, „antimetaphysische<br />
Tatsachenforschungen zu betreiben,<br />
die zu einer wissenschaftlichen<br />
Weltauffassung führen sollten.“ Doch<br />
dieses Denken war dem Austrofaschismus<br />
und später den Nationalsozialisten<br />
ein Dorn im Auge, fast alle Wissenschaftler<br />
wurden vom Hochschulbetrieb ausgesperrt<br />
und mussten emigrieren. Nach<br />
dem Krieg kehrte keiner von ihnen auf<br />
Dauer zurück, Empirismus und wissenschaftlich<br />
ausgerichtete Philosophie fand<br />
daher kein Gehör an österreichischen<br />
(und deutschen) Universitäten.<br />
Initialzündung in Alpbach<br />
So müssen nach 1945 außeruniversitäre<br />
Institutionen wie Alpbach in die Bresche<br />
springen. Dort kommt Stegmüller<br />
1948 über Popper erstmals mit dessen<br />
kritischem Rationalismus und dem logischen<br />
Positivismus in Berührung. Ein<br />
Jahr später argumentiert er in Alpbach<br />
schon mit der „Schlickschen Theorie“,<br />
ab 1951 macht sich sein philosophischer<br />
WOLFGANG STEGMÜLLER kam vor<br />
100 Jahren, am 3. Juni 1923, in Natters<br />
bei Inns bruck zur Welt. Er studierte in<br />
Innsbruck Wirtschaftswissenschaften<br />
(Promotion 1945) sowie Philosophie (Promotion<br />
1947) und habilitierte sich 1949<br />
mit dem Thema Sein, Wahrheit und Wert<br />
in der Gegenwartsphilosophie. Ein <strong>Forschung</strong>sstipendium<br />
brachte ihn 1953/54<br />
an die University of Oxford. 1958 wurde<br />
er Professor für Philosophie, Logik und<br />
Wissenschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München. Stegmüller<br />
war korrespondierendes Mitglied der<br />
Österreichischen Akademie der Wissenschaften,<br />
der Bayerischen Akademie der<br />
Wissenschaften und des Institut International<br />
de Philosophie in Paris. 1989 wurde<br />
der renommierte Philosoph zum Ehrendoktor<br />
der Universität Inns bruck ernannt.<br />
Stegmüller starb 1991 in München.<br />
Richtungswechsel hin zur Erkenntnisund<br />
Wissenschaftstheorie sowie zur analytischen<br />
Philosophie bemerkbar. 1952,<br />
als 29-Jähriger, veröffentlicht Stegmüller<br />
seine Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie,<br />
im Prinzip seine Habilitation,<br />
allerdings ergänzt um ein Kapitel zum<br />
Logischen Positivismus.<br />
Während seines <strong>Forschung</strong>sjahrs in<br />
Oxford erscheint 1954 Metaphysik, Wissenschaft,<br />
Skepsis. Diese radikale Infragestellung<br />
der Metaphysik ruft an der Universität<br />
Inns bruck heftige Kritik hervor.<br />
Emerich Coreth, Theologe und Philosoph,<br />
wirft Stegmüller „vollendeten Skeptizismus“<br />
vor, der „folgerichtig im Irrationalismus<br />
– und schließlich im Nihilismus“<br />
endet. Der akademische Streit hat Folgen:<br />
1954 ist der streng katholische Heinrich<br />
Drimmel Unterrichtsminister. Der ÖVP-<br />
Politiker attestiert dem Positivismus eine<br />
„zerstörende Wirkung“ und Nähe zum<br />
Bolschewismus und will in seiner Amtszeit<br />
dafür sorgen, dass „in Österreich<br />
kein Positivist Professor“ wird. Folglich<br />
übergeht er 1956 bei der Besetzung einer<br />
Philosophie-Professur in Inns bruck den<br />
erstgereihten Stegmüller.<br />
In Deutschland hat man weniger Berührungsängste.<br />
Stegmüller wird Gastprofessor<br />
in Kiel und Bonn, erhält Rufe<br />
an die Unis in Bonn, Hannover und München.<br />
In München sagt er 1958 zu. Von<br />
dort übt er, wie die Gesellschaft für analytische<br />
Philosophie im Jahr 2001 festhalten<br />
wird, „einen entscheidenden Einfluss bei<br />
der Wiedergeburt der analytischen Philosophie<br />
und der mit logischen Methoden<br />
arbeitenden Wissenschaftstheorie im<br />
deutschen Sprachraum nach der ‚dunklen<br />
Zeit‘ des Nationalsozialismus und der unmittelbaren<br />
Nachkriegszeit“ aus.<br />
Die Universität Inns bruck sollte noch<br />
einmal ins Blickfeld des renommierten<br />
Philosophen rücken. 1964 wird er für eine<br />
neue Philosophie-Professur wieder erstgereiht.<br />
Stegmüller wäre willens gewesen,<br />
doch die Verhandlungen mit dem Ministerium<br />
scheiterten. <br />
ah<br />
Foto: <strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv / Nachlass Wolfgang Stegmüller / Sig. 033-123-005<br />
zukunft forschung <strong>02</strong>/23 7