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LA KW 14

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GRIASS ENK AUS … Krakau in Polen<br />

Wie ich nach Krakau gekommen<br />

bin? Es war wohl die Sprache. Das<br />

erste polnische Wort hörte ich im<br />

Sommer 1985 im damaligen Leningrad.<br />

Studienkollegen aus der<br />

französischen Schweiz, die zuvor<br />

in Polen gewesen waren, wechselten<br />

spaßeshalber einige Sätze auf<br />

Polnisch: „Krakau ist schöner als<br />

Warschau“. Dabei mischten sie Russisch<br />

ins Polnische und das hat mich<br />

empört, als ob der Sprache, die ich<br />

ja gar nicht kannte, Gewalt angetan<br />

würde. Gleich nach der Rückkehr<br />

aus der Sowjetunion nach Bern, wo<br />

ich damals Altgriechisch und Russisch<br />

studierte, gab es wundersamerweise<br />

den ersten Polnisch-Kurs<br />

an meinem Institut. Gelernt habe<br />

ich die Sprache aber viel mehr in der<br />

Küche meiner Lehrerin und Freundin<br />

Jolanta und in Berns Gasthäusern,<br />

wo sich nach dem Unterricht<br />

aus Polen stammende Kollegen über<br />

Gott und die Welt und die Zukunft<br />

des Landes stritten.<br />

Zum ersten Mal sah ich den Krakauer<br />

Marktplatz am Ostermorgen<br />

des Jahres 1987. Damals war der<br />

größte quadratische Platz Europas<br />

(200 mal 200 m) noch nicht von den<br />

Tischen der unzähligen Straßencafés<br />

und Restaurants verstellt, für die die<br />

Stadt inzwischen berühmt ist – Reiseführer<br />

preisen „die höchste Kneipendichte“<br />

von allen europäischen<br />

Städten. Noch heute überrascht<br />

mich, wenn ich aus einer der Seitengassen<br />

auf den Platz trete, jedes Mal<br />

wieder die Schönheit dieser „Piazza“.<br />

Krakau ist eine Renaissancestadt<br />

und hat wie viele italienische Städte<br />

Maß am Menschen genommen: Im<br />

Zentrum ist alles mühelos fußläufig<br />

erreichbar und das Gassengeflecht<br />

hat sich seit Jahrhunderten kaum<br />

verändert. Die Altstadt fühlt sich an<br />

wie eine zweite Haut oder ein perfekt<br />

anliegendes Gewand. Mein Arbeitsweg<br />

gehört zu den schönsten,<br />

die man in Europa haben kann. Er<br />

führt am Collegium Novum vorbei,<br />

dem Hauptgebäude der Universität,<br />

wo mir in den 1980ern das Stipendium<br />

und in den 1990ern der Gehalt<br />

bar ausbezahlt wurde, weiter über<br />

den südlichen Teil des Marktplatzes<br />

mit Blick auf die Tuchhallen und die<br />

Marienkirche im Hintergrund (vgl.<br />

Foto), hinein in die Burggasse, den<br />

alten Krönungsweg der polnischen<br />

Könige. Das Institut für Religionswissenschaft<br />

der Jagiellonen Universität<br />

(gegründet 1364) befindet<br />

sich im ehemaligen Kollegium der<br />

Jesuiten. Wenn das Gebäude nicht<br />

gerade renoviert wird und hinter<br />

Baugerüsten verschwindet, sieht<br />

man während des Unterrichts an<br />

jeder Seite auf eine der prachtvollen<br />

Kirchen der Stadt.<br />

Was mir in Krakau gefehlt hat?<br />

Auf diese Frage fiel mir lange Zeit<br />

keine Antwort ein. Anfangs war das<br />

die Nähe zu Italien und zum Meer,<br />

denn an die polnische Ostsee war es<br />

damals noch eine sehr lange Reise.<br />

Inzwischen stürmen ja auch die Polen<br />

jeden Sommer an die kroatische<br />

Küste, wie die Tiroler an den Gardasee<br />

und die Wiener nach Grado –<br />

eine der wenigen Vorlieben, die ich<br />

nie übernommen habe. Wenn schon<br />

Italien, dann richtig tief in den Süden.<br />

Und auch dort stellte sich die<br />

Buchhändlerin und Verlegerin, mit<br />

der ich mich angefreundet habe, als<br />

gebürtige Polin heraus.<br />

Was in Polen anders ist? Vor<br />

allem ist das die Geschichte und<br />

die Folge von Umbrüchen, die den<br />

Polen seit Jahrhunderten abverlangt<br />

werden. Nur ein Teil davon<br />

fällt in meine Zeit hier: das Ende<br />

der Volksrepublik mit dem inzwischen<br />

berühmten „runden Tisch“<br />

und den ersten (fast) freien Wahlen<br />

– die friedliche Revolution im<br />

„annus mirabilis“ 1989; dann die<br />

verrückten 1990er-Jahre, als das<br />

Land sich regelrecht überschlug –,<br />

da war ich bereits Lektorin am Institut<br />

für Germanistik der Jagiellonen<br />

Universität und am österreichischen<br />

Konsulat. Die Deutschkurse<br />

des Österreich Instituts, das ich<br />

daraufhin leitete, boomten. Schier<br />

jede Woche entstand eine Projektidee<br />

für den österreich-polnischen<br />

Austausch von AutorInnen, WissenschaftlerInnen<br />

oder KünstlerInnen.<br />

Den Beitritt Polens zur EU im Jahr<br />

2004 habe ich von Zürich aus begleitet<br />

– damals verantwortlich für<br />

die Kulturarbeit der Schweiz in und<br />

mit den Višegrad-Ländern (neben<br />

Polen: Ungarn, Tschechien und die<br />

Slowakei). Aus diesem Anlass durfte<br />

ich mein Lieblingsprojekt umsetzen:<br />

knapp 100 Veranstaltungen zu Mitteleuropa<br />

in der gesamten Schweiz.<br />

Die Weitung des Blicks auf Polen,<br />

die Perspektive aus der ferneren<br />

Schweiz und das Einbeziehen der<br />

gesamten Region scheint mir heute<br />

noch wertvoll und sogar notwendig,<br />

um Polen zu verstehen. Es ließ mich<br />

Krakau wieder neu entdecken.<br />

Nicht zuletzt kamen damals auch<br />

ukrainische SchriftstellerInnen in<br />

die Schweiz, die ich von Polen her<br />

kannte. Als ich im Jahr 20<strong>14</strong> wieder<br />

Marlis Lami <br />

Foto: Petra Lutnyk<br />

zurück in Krakau war, lebte nach<br />

Schätzungen bereits eine Million<br />

UkrainerInnen im Land. Seit dem<br />

24. Februar 2022 hört man ihre<br />

Sprache an jedem Eck – ähnlich wie<br />

das Polnische in Wien, wo ich immer<br />

mehr lebe und es immer besser<br />

sogar ohne eigene Bleibe in Krakau<br />

aushalten kann. Wenn ich nach<br />

Zams komme, eher selten, beneide<br />

ich meine Freundinnen bisweilen<br />

darum, wie wenig sich ändert. Man<br />

lebt im Gefühl der Sicherheit ein –<br />

im Vergleich zu Polen – bequemes<br />

und ruhiges Leben in Wohlstand.<br />

Die Beziehung zu einer Sprache<br />

gleicht einer Liebesgeschichte, von<br />

der ersten „schicksalhaften“ Begegnung<br />

(das erste Wort), dem euphorischen<br />

Verlieben, dann Vertrautwerden<br />

über Jahre und Jahrzehnte,<br />

mit Distanzieren und erneutem<br />

Annähern, fallweise auch Ernüchterung,<br />

bis hin zu immer wieder aufflammender<br />

Begeisterung. Sie bedeutet<br />

aber auch Mühe, Geduld und<br />

ständiges Arbeiten, oft anstrengend<br />

Marlis Lami vor dem Institut für Religionswissenschaft<br />

der Jagiel lonen<br />

Universität im Collegium Broscianum<br />

<br />

Fotos: Marlis Lami<br />

Blick vom Rathausturm auf den Marktplatz mit den Tuchhallen<br />

und lästig im Alltag. Mein Traum<br />

war immer: alle Sprachen zugleich.<br />

Je länger ich die Stadt kenne und<br />

je mehr ich über das Land weiß,<br />

desto unmöglicher scheint mir die<br />

Vermittlung zwischen „Ost“ und<br />

„West“. Wie ein Scheidungskind<br />

(das ich ja bin) höre ich beide Seiten,<br />

weiß, was die eine meint, doch<br />

die andere nicht versteht, und kann<br />

beobachten, wie man aneinander<br />

vorbeiredet. Das Gefühl, hilflos zusehen<br />

zu müssen, wie zwei nicht<br />

zueinander finden – das ist der Preis<br />

für ein Leben in mehr als einer Welt.<br />

<br />

Marlis Lami<br />

„Griaß enk aus …“ ist eine<br />

RUNDSCHAU-Serie, in der „Auslandslandecker“<br />

zu Wort kommen.<br />

In ihren „Briefen“ ermöglichen sie<br />

Lesern einen Blick auf das Leben<br />

in einem manchmal sehr weit entfernten<br />

Teil der Welt. Viel Freude<br />

beim Lesen, sich Erinnern, falls Sie<br />

den Absender kennen, und Neues<br />

Erfahren. Die Redaktion<br />

RUNDSCHAU Seite 18 3./4. April 2024

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