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2010 Jahresbericht - Diakonisches Werk Hessen-Nassau

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Wir leben in einer anderen Zeit, mit neuen<br />

gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen.<br />

In der Behindertenhilfe hat hohe Fachlichkeit<br />

Einzug gehalten. Die Angebote innerhalb<br />

der Einrichtungen sind unterschiedlich – wie die<br />

Bedürfnisse der Menschen. Es gibt <strong>Werk</strong>stätten<br />

und Tagesstätten, es gibt gemischte Wohngruppen<br />

für Frauen und Männer, kleine Apartments<br />

für Paare. Aber muss all dies gebündelt in einer<br />

Großeinrichtung, in einer Anstalt, angeboten<br />

werden? Eindeutig nicht.<br />

„Selbstbestimmt leben!“ diese Forderung<br />

formulierten zuerst Menschen mit körperlichen<br />

Behinderungen, inzwischen tun es auch geistig<br />

behinderte Menschen und ihre Angehörigen.<br />

„Warum müssen wir eigentlich in einem Heim<br />

leben?“, fragten vor zehn Jahren Bewohner der<br />

NRD die Politiker, die zum Wahlkampf in die Einrichtungen<br />

gekommen waren. Den Volksver -<br />

tretern blieb die Spucke weg und es fiel ihnen<br />

keine überzeugende Antwort ein.<br />

Inzwischen sagen auch Politiker: Die Zeit<br />

der Anstalten ist vorbei. Denn die Anstalt steht<br />

in Widerspruch zum Grundgesetz – „Niemand<br />

darf wegen seiner Behinderung benachteiligt<br />

werden.“ – und auch zur UN-Konvention, die die<br />

Bundesrepublik Deutschland als 50. Vertragspartner<br />

unterzeichnet hat. Die UN-Behindertenrechtskonvention<br />

setzt einen Meilenstein in der<br />

Behindertenpolitik. Sie formuliert das Recht auf<br />

Selbstbestimmung, Teilhabe und umfassenden<br />

Diskriminierungsschutz als Menschenrecht und<br />

fordert eine barrierefreie Inklusions-Gesellschaft.<br />

Inklusion bedeutet: Alles gehört zusammen.<br />

Unsere Gesellschaft spürt, dass es nicht gut ist,<br />

zu trennen. Dass Menschen mit Behinderung<br />

jetzt und in Zukunft mitten in der Gesellschaft<br />

leben, wird auch die Gesellschaft selbst weiterbringen.<br />

Weil Integration und Teilhabe nicht vereinbar<br />

sind mit einer kasernenartigen Großeinrichtung,<br />

hat die NRD beschlossen, den Weg der Regionalisierung<br />

zu gehen. „Menschen mit Behinderung<br />

sollen stationäre und auch ambulante<br />

Angebote in Zukunft dort vorfinden, wo sie mit<br />

ihren Familien leben, anstatt auf eine weit entfernte<br />

Einrichtung angewiesen zu sein“, sagt<br />

NRD-Vorstand Hans-Christoph Maurer. Menschen<br />

mit Behinderung treten in Erscheinung und zeigen<br />

uns allen: Wir wollen dabei sein. Im Fußball-<br />

Stadion, im Supermarkt, beim Arzt und Friseur,<br />

im Theater, in der Disco und im Gottesdienst.<br />

Die bisherigen Erfahrungen bestätigen, dass<br />

die NRD auf dem richtigen Weg ist: Keiner der<br />

neuen Seeheimer, die im vergangenen Jahr von<br />

Nieder-Ramstadt an die Bergstraße umgezogen<br />

sind – und nun in kleinen Wohngemeinschaften<br />

mitten im Ort leben – will wieder zurück nach<br />

Nieder-Ramstadt. Dasselbe gilt für die Mitarbeiter,<br />

die jetzt ohne zentrale Dienste auskommen<br />

müssen und stattdessen vor Ort Ärzte und Geschäfte<br />

aufsuchen und die Waschmaschine bedienen.<br />

Normal zu wohnen, in Gemeinschaften von<br />

Familiengröße – das wirkt sich aufs Verhalten<br />

aus. Die Bedürfnisse von Menschen, die zum Teil<br />

jahrzehntelang in Nieder-Ramstadt in einem<br />

Haus für 100 Menschen lebten, verändern sich<br />

mit der Normalität des Wohnens. In Seeheim<br />

sucht man Ehrenamtliche, die gern Motorrad<br />

fahren und die bereit sind, einen behinderten<br />

Menschen im Beiwagen mitzunehmen. Wie<br />

kommt es, dass einer, der jahrzehntelang in der<br />

NRD wohnte, diesen Wunsch erst jetzt formuliert?<br />

Warum kam der Mensch, der jetzt Motorrad<br />

fahren möchte, nicht auf diese Idee, als er<br />

noch im Bodelschwingh-Haus in Nieder-Ramstadt<br />

lebte? Der renommierte Architekt und<br />

Stadtplaner Daniel Libeskind gibt eine erhellende<br />

Auskunft: „Den Menschen wird langsam bewusst,<br />

dass Architektur zu tun hat mit Freiheit oder Gefangensein<br />

– Architektur spielt keine unschul -<br />

dige Rolle.“<br />

Marlene Broeckers ist Pressereferentin<br />

der Nieder-Ramstädter Diakonie.<br />

Mitglieder <strong>Jahresbericht</strong> <strong>2010</strong> 63

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