Materialsammlung - Theater Marburg
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Ehrich-Haefli nennt diesen Aufbau eine "Oxymoron-Struktur" (ebenda). Die Bestandteile widersprechen nicht nur einander, sie widerlegen einander.<br />
Odradek besteht nichht nur aus Kind, Greis, Ding – er besteht aus Un-Kind, denn man behandelt ihn nicht als Kind, sondern "wie ein Kind" (22);<br />
aus Un-Greis, denn er soll den Hausvater "auch noch überleben" (ebenda); aus Un-Ding, denn seine verworrene Zwirnstücke sind kein Produkt des<br />
Zerfalls: Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint<br />
aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; [...] das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.<br />
(ebenda) Odradek, wie andere Un-Gestalte Kafkas, ist das Produkt der aufeinander prallenden negierenden Kräften. Alle Geschehnisse (besonders am<br />
Beispiel von Das Schloß) sind weder logische Folgen voneinander, noch sind sie beliebige sinnlose Fragmente, sie werden von einem unkausalen<br />
Unzusammenhang reguliert.<br />
IV. Kafka und die bildende Kunst<br />
Kafkas Experimente korrespondieren mit den Prozessen in der bildenden Kunst seiner Zeit. Er wurde mit Paul Klee (Politzer) und Giorgio de Chirico<br />
(Davenport) verglichen. Klee benutzt oft dasselbe Material wie Kafka: es entstehen unmögliche Kreuzungen, wie Zwitschermaschine (Hybride von<br />
Vögeln mit Maschine), die Uhren (Uhr und Pflanze) usw. De Chirico kreiiert die Verbindungen zwischen Objekten, die es sonst nicht gibt. Wieland<br />
Schmied, der Kunstkritiker, schreibt über de Chirico: "The human observer finds himself lost in a world of artefacts which have become strangers to<br />
him. [...] When the connecting principle has been lost, the individual constituent parts - objects - become more and more important. They may be<br />
likened to the fragments of a broken and scattered mosaic, which can never again be put together into a significant whole. If anyone poses the old<br />
questions to these disjointed objects - as De Chirico does in his paintings – they appear mysterious, alien, 'metaphysical.' " (25, 12)<br />
Kafkas Texte, wie De Chiricos "Magischer Realismus", spiegeln das Ende des rationalen, kartesianischen Zeitalters wider. In Kafkas, wie De Chiricos,<br />
Geometrie können sich Parallelen überschneiden. Leib und Seele tauschen ihre Rollen aus. Diese "Wirklichkeit" ist das unfaßbare Unfaßbare, um es<br />
mit Kafkas Worten aus Von den Gleichnissen auszudrücken.<br />
[...] 'Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und schon der täglichen Mühe frei.'<br />
Ein anderer sagte: 'Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.'<br />
Der erste sagte: 'Du hast gewonnen.'<br />
Der zweite sagte: 'Aber leider nur im Gleichnis.'<br />
Der erste sagte: 'Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.' (26)<br />
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