Materialsammlung - Theater Marburg
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Wahrheit" ist der Bericht aber nicht wirklich verdunkelt, sondern vielmehr die Welt, deren vermeintlich verdunkelter Niederschlag in der<br />
Kunst erhellend ist. Kafka selbst bat darum, seine Stücke nicht als Gleichnisse zu bezeichnen.[16] - Sicher steht der letzte Satz im Bericht<br />
für eine Akademie stellvertretend für sein gesamtes Werk: "ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur."[17] Kafka berichtet von<br />
seinen alltäglichen Erfahrungen, dem "Kehricht der Realität"[18], ohne ihrer Bedeutung allzusehr nachzugehen. Es sind naiv anmutende<br />
Schilderungen, die wegen ihrer Einfachheit eine magische Ausstrahlung besitzen und unmittelbares Staunen hervorrufen;[19] sie<br />
gleichen Clownerien, die wie eine Falle aufgebaut sind:[20] zugleich tragisch und komisch.<br />
Kafka beschreibt die unabänderliche Reproduktion eines auf Herrschaft beruhenden stark durchhierarchisierten Immergleichen: eine<br />
ewige Ordnung des Bestehenden, aus dessen Bann nicht auszubrechen ist. Das ist die Invariante des Mythos der Gegenwart, die sich<br />
selbst als aufgeklärte, moderne Welt bezeichnet. Die Handlungen in Kafkas Texten weisen den Charakter von Verhängnis auf, "die Welt<br />
wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus archetypus wäre."[21]<br />
Der Dialektik der Aufklärung zufolge erkauften sich die Menschen im mythischen Opfer ihre Sicherheit gegen die Angst. Damit<br />
anerkannten sie Herrschaft als das Prinzip aller Beziehungen.[22] Der Mythos versprach die Erlösung von unmittelbarer<br />
Naturbedrohung, setzte aber eine qualitativ neue Bedrohung in die Welt: die Herrschaft der Götter und ihrer Stellvertreter, den Königen,<br />
Priestern, Vätern und Beamten. Der Mythos, der die Welt eindeutig und vor allen Dingen hierarchisch strukturiert, beißt sich allerdings<br />
absichtlich mit jener von Kafka angelegten Willkür, beinahe anarchistischen Unterwanderung von Hierarchie und Ordnung, wo kein<br />
Oben und kein Unten als beständiges Prinzip für Sicherheit sorgen.<br />
II.<br />
In einem Brief an Max Brod aus dem Jahre 1922 schrieb Kafka: "Ich könnte leben und lebe nicht."[23] Es ist, als könne er nirgends<br />
existieren, ohne Angst vor der Wirklichkeit zu empfinden - als sei es ein Kampf, in dem ängstlich, sehnsüchtig und dabei gelähmt er auf<br />
das Leben stiere und darüber es vergesse.[24] Kafkas Angst vor der Außenwelt, die in seine eigene Wirklichkeit einbrechen könnte,[25]<br />
ist Ausdruck eines kulturellen Unbehagens, das im Gegensatz zur psychotischen Angst der gesellschaftlichen Kritik fähig bleibt. Kafka<br />
spürt die Entfremdung seiner Zeit am eigenen Körper: "er selbst kann nirgends existieren, oder wenn er existiert, dann nur in einem<br />
absurden Zwischenreich, in dem er das Wirkliche lebt und zugleich verneint, und das Unwirkliche aber Wahre bejaht, aber nicht<br />
lebt."[26] Seine Texte sind deswegen aber weder pessimistisch noch weinerlich; er selbst ist nicht der Inbegriff einer bloß leidenden oder<br />
gar selbstbemitleidenden Person. Deleuze und Guattari betonen, daß Kafka ein lachender Autor war, "erfüllt von einer tiefen<br />
Fröhlichkeit, trotz oder gerade wegen seiner Clownerien, die er wie eine Falle aufbaut oder wie einen Zirkus vorführt."[27]<br />
Wie Sisyphos den Stein, wälzt Kafka den Felsblock geschichtlichen Geschehens (Benjamin). Die untere Seite, die dabei ans Licht kommt,