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Materialsammlung - Theater Marburg

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Subjektes, erweist sich als unabdingbar gebunden an die Vermehrung der Entfremdung des Selbst von Natur, die Vermehrung der<br />

Unfreiheit. "Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.<br />

So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen."[42]<br />

Es scheint, als identifiziere Kafka ein bißchen sich mit diesem entfremdeten Odysseus, der genießen möchte, aber nicht genießt. Um<br />

objektive Entfremdung erkennbar zu machen, bedient Kafka sich des Mittels der Verfremdung. Es ist nicht Mitleid gegenüber Odysseus,<br />

das den Text bestimmt, sondern Anklage des gesellschaftlich prototypischen Unvermögens, mit allen Sinnen wahrhaftig Mensch zu sein.<br />

"Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchgefurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen<br />

die Hölle sein müßte."[43] Kafka stellt verhängnisvolle Geschichte als hermetisches Geschehen vor, das zuletzt die scheinhaft autonome<br />

aber tatsächlich "vollendet entfremdete Subjektivität"[44] hervorbrachte: kein Fortschreiten der Freiheit in der Wirklichkeit; keine<br />

Menschwerdung, aber dafür Dingwerdung des Menschen.[45] Kafka verwischt die Grenze zwischen Menschlichem und Dinghaftem.<br />

Seine literarischen Gestalten sind allgemein keine Helden;[46] sie tragen Lasten auf ihren Schultern, ihre Erscheinungen sind düsterer<br />

Art: kreatürlich; ihr Gang ist verhängnisvoll, vom Schicksal besiegelt; sie sind sprunghaft, inkonsistent, variant, inkonsequent -<br />

menschlich zwischen Tier und Mensch, menschlich auch zwischen Ding und Tier, zwischen Ding und Mensch. "Keine hat ihre feste<br />

Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde<br />

oder Nachbarn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und dennoch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst<br />

am Anfang einer langen Dauer wäre."[47]<br />

Der Wunsch nach einem Ausweg drängt sich sehnsüchtig auf. Solcher Realität möchte man aus wahrhaftigen Gründen fliehen. So wie<br />

der Affe im Bericht für eine Akademie keinen Ausweg hatte und sich diesen erst verschaffen mußte, weil er ohne nicht leben konnte,[48] so<br />

dringend brauchte auch Kafka den Ausweg.[49] Und der Affe spricht absichtlich von Ausweg und nicht von Freiheit; "damit betrügt man<br />

sich unter Menschen allzuoft." Was als Menschenfreiheit gilt, ist die "Verspottung der heiligen Natur".[50] Die Menschwerdung des<br />

Menschen beruht bei Kafka auf dem Eingedenken der Natur im Subjekt[51] - im Bericht: auf der Erinnerung der Affennatur im Menschen.<br />

Der Mensch, der sich selbst mit der Peitsche beaufsichtigt,[52] verhöhnt seine eigene Natur, indem er solches als Freiheit bezeichnet.<br />

Solche Menschenfreiheit scheidet für den Affen ganz aus. Im Bericht für eine Akademie stellt Kafka Kunst als Ausweg dar: Als der Affe die<br />

zwei Möglichkeiten für sich erkannte - zoologischer Garten oder Varieté - zögerte er keine Sekunde. "Ich sagte mir: setze alle Kraft an,<br />

um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du<br />

verloren."[53]<br />

Die Ähnlichkeit der literarischen Gestalten Kafkas mit Tieren, die mit menschlichen Verhaltensweisen ausgestattet sind, verweist<br />

genauso auf das Motiv des heilsamen Eingedenkens in die Tierähnlichkeit: rettendes Erwachen als Tier,[54] wie es auch die fluchtartige

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