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Materialsammlung - Theater Marburg

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Regression des Menschen, seine Verlorenheit im Tierhaften zum Ausdruck bringt. Der Künstler ist allerdings vermöge seiner Distanz<br />

zum Betrieb, die Kunst überhaupt erst möglich macht, dem heilsamen Eingedenken noch am nächsten.<br />

Auch die Sirenen sind solche tierähnlichen Gestalten: sie gelten als Mädchen mit Vogelleibern. Ihr Gesang verheißt tellurisches Allwissen<br />

- wohltuende Wahrheit -, die heißes Verlangen entfacht. Der Gesang der Sirenen mag die Vermittlung sein zwischen Natur und Kunst: er<br />

ist nicht mehr bloße Natur, weil das Chaotische der Natur in ihm als Mythos gebannt ist. Zum einen sind die Sirenen als allegorische<br />

Personifikation des Naturschönen von allgemeiner Natur differenziert und zum anderen bereits als Bezeichnendes nicht mehr<br />

unmittelbar identisch mit Natur; sie sind von bloßer Natur bereits abstrahiert und damit entfremdet (Distanz). Und ihr Gesang kann<br />

noch nicht Kunst sein, weil es den Sirenen an Bewußtsein mangelt; ihre archaische Übermacht kollidiert mit Kultur. - Kunst will befreien,<br />

nicht wüten.<br />

Der befreite Mensch hat nicht Kultur in sich negiert und ist zum Tier zurückgekehrt, auch wenn der Eindruck bei Kafka zunächst<br />

entstehen mag, sondern dieser Mensch hat Denken und Begehren in Einklang miteinander gebracht, wie es im Bildungsbegriff bei<br />

Schiller einmal vorgesehen war. - Odysseus müßte lernen, den Wachs aus den Ohren zu nehmen und die Fesseln zu lösen, während den<br />

Sirenen zum Bewußtsein zu verhelfen wäre. - Ihre archaische Übermacht ist durch Technik besiegt; damit die Menschen nicht<br />

untergehen, benötigen die Sirenen Bewußtsein.<br />

Odysseus' Schicksal ist unterdessen, um in der allegorischen Sprache des Berichts zu bleiben, im zoologischen Garten besiegelt worden:<br />

gut dressiert wußte er seine "Mittelchen" einzusetzen; er dürfte jenen "Irrsinn des verwirrten Tieres im Blick"[55] gehabt haben, weshalb<br />

die Sirenen in Kafkas Schilderung vielleicht voller Neugierde den Glanz seiner Augenpaare erhaschen wollten.<br />

Vom Standpunkt der aufgeklärten Welt möchte man sehr gerne annehmen, daß der Gesang der<br />

Sirenen heute mehr zu tun habe mit Kunst als mit mythisch gebannter Naturbedrohung. Die<br />

Versprechen der Sirenen sind zur Kunst neutralisiert: für bloß genießerische Kontemplation. Der<br />

Besucher eines Konzertes beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche und bedarf der Fesseln nicht<br />

mehr; "sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus."[56] Kafkas Allegorie der<br />

schweigenden Sirenen verstärkt diese Annahme noch dadurch, daß er sehr wohl die Sirenen mit<br />

Bewußtsein ausstattet, woran sie aber - gemäß der immanenten Logik des Textes - zugrunde<br />

gegangen sein müßten.<br />

Die Frage, warum die Sirenen bei Kafka schweigen, drängt sich der Betrachtung auf. Ihre Antwort<br />

ist von zentraler Bedeutung, die vermutlich über Das Schweigen der Sirenen hinausgeht und auch für

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