16.01.2013 Aufrufe

Materialsammlung - Theater Marburg

Materialsammlung - Theater Marburg

Materialsammlung - Theater Marburg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Opportunismus. Die postkommunistischen Wirren führten zum Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung der Tschechoslowakei,<br />

schürten die Kriege und ethnisch motivierten Gräueltaten in Jugoslawien und brachten in Russland autoritäre Herrschaft und imperialen<br />

Revanchismus hervor.<br />

In dieser chaotischen Freiheit zerstörten unvermittelt enthüllte Geheimnisse Familien und Freundschaften und ein allgemeines Gefühl<br />

der Zusammengehörigkeit. Sie erschütterten die soziale Stabilität, so unsicher und verfälscht sie auch war. In manchen Fällen wurden<br />

sogar alte Heuchelei und Opportunismus durch neue Formen derselben ersetzt, wie man an dem Erfolg vieler ehemaliger Funktionäre<br />

und Geheimpolizei-Mitglieder erkennen konnte.<br />

Die öffentlichen Debatten in ganz Osteuropa offenbarten bald eine erbitterte Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen<br />

verborgenen Erinnerungen: die Erinnerung an den Holocaust und jene an den kommunistischen Terror und seine Verbrechen. Es<br />

entstand eine idiotische Konkurrenz zwischen den beiden Albträumen, dem Holocaust und dem Gulag, dem totalitären Nazismus und<br />

dem totalitären Kommunismus.<br />

Zwangsläufig entwickelten sich alt-neue Klischees. In Rumänien verurteilten etliche führende Intellektuelle das so genannte „jüdische<br />

Leidensmonopol“…Teil einer internationalen Verschwörung, die, wieder einmal, die Region zwischen Donau und den Karpaten erreicht<br />

hatte.<br />

Während der berüchtigten Walser-Debatte in Deutschland im Jahr 1998 über die „unerträgliche” Art, wie Deutsche nach dem Holocaust<br />

dargestellt wurden, schlug ich vor, dass jedes Land seine Denkmäler der Heldentums, durch Denkmäler der Schande ergänzen solle, um<br />

das Unrecht, das man anderen Ländern, anderen Völkern und auch den Menschen im eigenen Land angetan hatte, in Erinnerung zu<br />

rufen. Ein Jahrzehnt später scheint dieser Vorschlag noch immer sinnvoll. Wären Denkmäler der Schande nicht ebenso lehrreich, wenn<br />

nicht noch lehrreicher, als die Denkmäler des Heldentums?<br />

Obwohl die Aufnahme in die Europäische Union einen Schlussstrich unter die postkommunistische Phase zu ziehen schien (zumindest<br />

in Mittel und Osteuropa), markierte der Bruch von 1989 nicht den Beginn einer Ära vollkommener Zusammenarbeit der Menschen und<br />

für die Menschen. Aber das hinderte manche nicht, das Ende der Ideologie – und somit der Geschichte – gegenüber dem Sieg des<br />

liberalen Kapitalismus zu verkünden.<br />

Es bedarf eines gerüttelt Maßes an Vorstellungskraft, Optimismus oder blanker Dummheit um zu glauben, dass die Menschen jemals<br />

jenseits von Geschichte und Ideologie leben werden. Wie die religiösen Terroristen des 11. September 2001 bewiesen, geht die<br />

menschliche Geschichte und die Geschichte der Menschheit wie bisher weiter - durch Ideen und Konflikte, durch absolutes Glück<br />

verheißende Projekte, durch Grausamkeit und Katastrophen, durch Revolutionen und Wiedererstehung.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!