Materialsammlung - Theater Marburg
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noch etwas: Kafka schreibt einige seine bedeutsamsten Texte: Erzählungen wie "Das Urteil" oder "In der Strafkolonie", den "Amerika"-Roman,<br />
den "Prozess". "Kafka ist für mich einer der unglaublich tief gesehen hat, was dem entgegensteht zu ändern. Er hat sich ja fast nicht geändert in<br />
seinem Leben. Er wollte immer von Prag weg, hat das nicht geschafft, er wollte immer heiraten, hat das nicht geschafft, er konnte nicht über<br />
das hinweg, was ihn daran gehindert hat, nämlich seine eigene Verfasstheit. Und das ist für mich eine ganz tiefe Einsicht, die er bis zum letzten<br />
radikal ausgelebt und ausformuliert hat. Und auch in seinen Büchern: Diese Vergeblichkeit, dieses Etwas-machen-wollen-und-doch-nichtkönnen<br />
- und das ist für mich eine ganz große Wahrheit." "Warum Menschen ändern wollen, Felice? Ändern kann man sie nicht, höchstens in<br />
ihrem Wesen stören. Der Mensch besteht doch nicht aus Einzelheiten, so dass man jede für sich herausnehmen und durch etwas anderes<br />
ersetzen könnte. Vielmehr ist alles ein Ganzes, und ziehst du an einem Ende, zuckt auch gegen deinen Willen das andere." Wie schon in seinen<br />
früheren Biografien geht es Alois Prinz auch bei Kafka darum, eine Lebensphilosophie darzustellen. Fragen, die andere Biografen so quälen, -<br />
ob Kafka wirklich sein gesamtes Schaffen vernichtet haben wollte, wie authentisch seine Selbstzeugnisse überhaupt sind, ob er nicht übertrieb<br />
und ob er literarisch formte, welche Ursachen seine Ängste, sein Leiden am Vater, an den Frauen hatte, inwiefern sein Judentum ihn prägte –<br />
all diese unlösbaren Rätsel beschweren Alois Prinz nicht wirklich. Für ihn besteht eine klare Korrespondenz zwischen Leben und Schreiben,<br />
das Werk gibt Aufschlüsse über den Autor – und von dieser Prämisse aus vermittelt er vor allem die Atmosphäre im Kafka-Kosmos: das<br />
Weltempfinden dieses sonderbaren Prager Versicherungsbeamten - der nachts schreibend sein Leben zu bewältigen versuchte, sich nie<br />
wirklich von seiner Familie und einem übermächtigen Vater lösen konnte und der schließlich im Alter von nur 40 Jahren an Kehlkopftuberkulose<br />
starb. So wächst, wer diese Biografie liest, mit jeder Seite mehr hinein in den unbenennbaren Schmerz, das Fremdsein, die<br />
Schuldgefühle – in ein Dasein auf der Schattenseite des Lebens. Aber zugleich zeigt Prinz mit seinem Kafkaporträt auch das Licht – dass im<br />
Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeiten auch das Potenzial zu Toleranz und Humanismus stecken kann. "Gerade Kafka zeichnet sich aus,<br />
dass er überhaupt nicht moralisch an die Dinge herangeht, sondern alles, was da ist, was Wirklichkeit ist, was Unwirklichkeit ist, und das sind<br />
oft ganz gewalttätige Träume und Gefühle, dass er die einfach ausbreiten will und an die Luft kommen lassen will. Und da gibt es keine<br />
moralischen Vorsätze. Und so ist es auch wenn ich jetzt über Kafka schreibe." Wie immer ist Alois Prinz' Sprache luzide, manchmal vielleicht<br />
ein wenig zu betulich, aber offen genug, um wie selbstverständlich Zitatfetzen von Kafka in seine Sätze einfließen zu lassen. Am Ende dieser<br />
Biografie bleibt vor allem eine Erkenntnis: Dass es gar nicht immer um das Begreifen gehen muss. Manchmal reicht auch das Erfühlen. So<br />
werden die Kafka-Experten noch weiter nach der Dechiffrierbarkeit der Texte und den intellektuellen Letztbegründungen forschen. Alois Prinz<br />
dagegen gestattet sich in seiner Biografie eine Liebeserklärung an Franz Kafka ohne den Zwang zur Interpretation und begnügt sich ganz im<br />
Sinne seines Autors mit einem Verstehen jenseits der Begriffe: mit der emotionalen Wahrheit. "Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was<br />
weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und<br />
erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir<br />
Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle."<br />
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