Materialsammlung - Theater Marburg
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das jahrelang, von mir kaum beachtet, in meinem Hause lebte" (9, 187) und ist trostlos, daß er sie "hingeben mußte" (ebenda) ; der Patient sagt<br />
verzweifelt: "Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; es war meine ganze Ausstattung." (9, 189) Durch Rosa, oder durch die Wunde, fest<br />
aneinander gebunden, liegen der Arzt und der Patient zusammen im Bett. Arnold Weinstein bietet verschiedene Interpretationen dieser Szene an und<br />
erkennt: "The possibilities are endless, and even though none of them is provable, the story seems unmistakably governed by the very dynamics of<br />
displacement and projection." (10, 13)<br />
Was Weinstein als "displacement and projection" bezeichnet, wird vielleicht auf das äußerste in „Das Schloß“ getrieben. "Der Landvermesser" ist<br />
eine Funktion, über deren Inhalt keiner ganz im klaren ist, weder K. noch das Schloß. Daß K. unsicher ist, ob er ein Landvermesser sei, folgt aus dem<br />
folgenden Abschnitt: 'Wer seid ihr?' fragte er und sah von einem zum anderen. 'Euere Gehilfen,' antworteten sie. 'Es sind die Gehilfen,' bestätigte<br />
leise der Wirt. 'Wie?' fragte K. 'Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?' Sie bejahten es. 'Das ist gut,' sagte K. nach<br />
einem Weilchen, 'es ist gut, daß ihr gekommen seid.' [...] '[V]ersteht ihr etwas von Landvermessung?' 'Nein,' sagten sie. 'Wenn ihr aber meine alten<br />
Gehilfen seid, müßt ihr doch das verstehen,' sagte K. Sie schwiegen. 'Dann kommt also,' sagte K. (11, 22-23)<br />
Heinz Politzer schreibt: "Und dennoch wird er [K.] während des ganzen Romans niemals der Tatsache überführt, daß er lügt und kein Landvermesser<br />
sei. Seine Fähigkeiten werden vielmehr niemals voll anerkannt oder kategorisch bestritten: sie werden lediglich bagatellisiert." (12, 323) Das kommt<br />
davon, daß es auch um kein wirkliches Landvermessen geht: Zum Beispiel wird K. der Platz eines Schuldieners (dieser Ausdruck beinhaltet – ob<br />
zufällig oder nicht – Kafkas Schlagwort Schuld) angeboten, und dabei bleibt er offiziell trotzdem ein Landvermesser und bekommt sogar einen Brief<br />
mit der Anerkennung seiner Leistungen. Während die Funktionen des Reisenden oder des Offiziers in „In der Strafkolonie“ einen bestimmten Inhalt<br />
hatten, ist der "Landvermesser" leer, mit einer oder anderen Funktionen beliebig ausfüllbar.<br />
III. Negation und die Un-Gestalten<br />
Um den Figuren ihre körperliche Substanz zu nehmen, bediente sich Kafka der einfachen Umkehrung des Vorzeichens. Ein Un-Körper ist kein Körper,<br />
aber es ist auch kein Nichts, sondern eine negative Größe - in dem Fall, wenn man von einem sich bewegenden und handelnden Un-Körper spricht.<br />
Ludwig Wittgenstein schreibt: Imagine a language in which, instead of saying 'I found nobody in the room', one said 'I found Mr. Nobody in the<br />
room.' Imagine the philosophical problems which would arise out of such a convention. Some philosophers would probably feel that they didn't like the<br />
similarity of the expressions 'Mr. Nobody' and 'Mr. Smith.' (13, 69)<br />
Ähnlich fällt es Lesern schwer, sich Kafkas Gestalten als Wesen aus Fleisch und Blut vorzustellen. Der Jäger Gracchus ist nicht lebendig, nicht tot, er<br />
ist un-tot, nicht die Auslöschung, sondern ein Produkt der Negation vom Leben. Diese effektive Methode der Entkörperung benutzt Kafka sehr oft.<br />
Seine Schriften sind voll von negierenden Ausdrücken. Wie Heinz Politzer bemerkt, fängt „Die Verwandlung“ mit einer Serie von Negationen an:<br />
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."