das gesamte Werk Kafkas wichtig ist. Wenn Kunst bisher einen Ausweg anzubieten hatte, verweist das Schweigen der Sirenen hingegen auf die nunmehr gewordene Ausweglosigkeit der Kunst, die deshalb schweigt, weil der mögliche Ausweg vernunmöglicht wurde.[57] Benjamins Vermutung muß zugestimmt werden, daß Kafkas Vorliebe für Musik und Gesang als "Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens"[58] der Schlüssel ist für das rätselhafte Schweigen der Sirenen: Kunst als "Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen, zugleich tröstlichen und albernen Mittelwelt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind."[59] Wo Hoffnung schwindet, weil es keinen Ausweg gibt, wird der unausgesetzte Einsatz einmal adäquater Mittel selbst absurd, kindisch und degradiert das Mittel zum Mittelchen. Es scheint, als wollte Kafka die Sirenen vor einem albernen Odysseus retten. Aber nicht, weil die Kunst eitel sei. - Die Sängerin Josefine mag aus diesem Grund nicht mehr singen. Im Schweigen der Sirenen geht es hingegen um viel mehr: die Kunst läuft Gefahr, sich als Verschleierung und Affirmation barbarischer Verhältnisse zu erniedrigen - selbst wo sie ausdrücklich kritisiert. Indem sie als die Allegorie des Naturschönen in der aufgeklärten aber zugleich unvernünftigen Welt neben Gewalt und Herrschaft sich einrichtet und solche Schönheit möglich macht,[60] verschönert sie Herrschaft und Gewalt - "erscheinende Natur will schweigen"[61] aus diesem Grund. In jener albernen Mittelwelt trifft man stumme untergeordnete Personen an, die zu ersticken drohen an der Enge der versteinerten Verhältnisse. Ihre stumme, unmusikalisch klappernde Sprache ist das Resultat eines gegenüber dem stummen Zwang des stahlharten Gehäuses der Hörigkeit (Weber) im Spätkapitalismus mimikryschen Verhaltens.[62] Davon bleiben auch die Künstler nicht verschont. Die Sprache der Beherrschten ist weder bezeichnend noch musikalisch; sie ist jener "aus Schweigen geborene Tonfall",[63] den Kafka aufspürt, weil er Ausdruck eines gemeinsamen Leidens ist, das die Verhältnisse nicht mehr zum Tanz auffordern kann, indem man diesen ihre eigene Melodie vorspielt, weil jenes hermetische Prinzip totaler Vergesellschaftung eben keine Melodie mehr hat; es vollstreckt Vergesellschaftung ohne Ton. Zuletzt hat Kunst in der verwalteten Welt nichts besonderes mehr auszudrücken und hört auf, Kunst zu sein; sie wird entkunstet nach der Seite der Belanglosigkeit des Immergleichen.[64] Das revolutionäre Moment an Kafka besteht darin, daß er "die Axt (...) für das gefrorene Meer in uns"[65] (Verdinglichung) anbietet: Indem er das Tempo der Verdinglichung und Entfremdung in seiner literarischen Welt beschleunigt, gleichsam als müsse man die Entfremdung aufheben darüber, daß man total entfremde, rückt er sein Werk in die Nähe eines marxschen Theorems, daß man den Druck der Verhältnisse zum Zwecke ihrer Aufhebung stärker machen müsse, indem man das Bewußtsein darüber noch hinzufüge.[66]
Anmerkungen [1] Franz Kafka: GW, Tagebücher 1910-1923, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, S. 152. [2] Vgl. Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, S. 251. [3] Vgl. Walter Benjamin: Briefe, Frankfurt a.M. 1966, S. 220. [4] Hans-Gerd Koch:Ein Bericht für eine Akademie, in: Michael Müller (Hg.), a.a.O., S. 193 f. - Dieser Aufsatz nimmt genau dies für sich in Anspruch; seine Deutung ist zum Teil sicher wagemutig und stellt verschiedene Texte Kafkas zum Teil unmittelbar in Zusammenhang. Die einzige Rechtfertigung für ein solches Vorgehen besteht darin, daß der Autor nicht ungewillt ist, sich Kafkas Texten gegenüber so zu verhalten, wie Kafka zu den Träumen. - Vgl. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S. 254. [5] Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung, in: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 268. [6] Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S. 250. [7] Vgl. Roger Garaudy: Kafka, die moderne Kunst und wir, in: Fritz J. Raddatz (Hg.): Marxismus und Literatur, Eine Dokumentation in drei Bänden, Bd. III, Hamburg 1969, S. 214 f. [8] Garaudy, a.a.O., S. 213. [9] "Hat Kunst psychoanalytische Wurzeln, dann die der Phantasie in der von Allmacht. In ihr ist aber auch der Wunsch am Werk, eine bessere Welt herzustellen. Das entbindet die Symbolismen ergebe sich keinerlei Sinn mehr. Solche Aussage vereinnahmt unzulässigerweise Kafka für die Postmoderne.- Vgl. Deleuze/Guattari, a.a.O., S. 32. [16] "Gleichnisse bitte ich die Stücke nicht zu nennen, es sind nicht eigentlich Gleichnisse." - Zit.n. Koch, a.a.O., S. 175. - Kafka meint in diesem Zusammenhang eigentlich zwei bestimmte Stücke (Schakale und Araber und Ein Bericht für eine Akademie), die er für eine Veröffentlichung bereitgestellt hatte. Man kann aber diese Aussage für alle seine Stücke geltend machen. [17] Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie, in: GW, Erzählungen, hrsg.v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, S. 147. [18] Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S. 258. [19] Vgl. Wagenbach, a.a.O., S. 41. [20] Vgl. Deleuze/Guattari, a.a.O., S. 58. [21] Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S. 280. [22] Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 15. [23] Franz Kafka: GW, Briefe 1902-1924, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, S. 385. [24] Vgl. Kierkegaard zit.n. Wagenbach, a.a.O., S. 77 f. [25] Vgl. Wagenbach, a.a.O., S. 76. [26] Wilhelm Emrich: Nachwort, in: Franz Kafka: Brief an den Vater, Frankfurt a.M. 1975, S. 79. gesamte Dialektik, während die Ansicht vom Kunstwerk als einer bloß subjektiven Sprache [27] Deleuze/Guattari, a.a.O., S. 58. - "Der andere Aspekt ist die Komik und Freude bei des Unbewußten sie gar nicht erst erreicht." - Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. Kafka. Doch beide sind ein und dasselbe: Politik der Aussage und Freude des Verlangens. 1973, S. 21f. Und dies noch beim kranken, selbst noch beim sterbenden Kafka, trotz allem Zirkus, den er [10] Adorno: Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 35. mit dem Gefühl und Begriff der 'Schuld' abzieht. Nicht zufällig insistieren die [11] Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Kafka, Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. Interpretationen mit neurotischer Tendenz immer auf einem zugleich tragischen und 38 f. und S. 32. angsterfüllten und auf einem unpolitischen Aspekt. Die Fröhlichkeit Kafkas oder dessen, [12] Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, a.a.O., S. 251. was er geschrieben hat, ist nicht weniger wichtig als seine politische Realität und [13] Vgl. Klaus Wagenbach: Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Tragweite." - Ebd., Anm. 16. Hamburg 1964, S. 56 f. [28] "Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unteridische. Sie besteht im [14] "Wenn der Weise sagt: 'Gehe hinüber', so meint er nicht, daß man auf die andere Seite Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges Leidenschaften." - Horkheimer/Adorno: Interesse am Körper, in: Dialektik der Aufklärung, wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, a.a.O., S. 246. das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen [29] Benjamin: Franz Kafka, a.a.O., S. 428. kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, [30] Vgl. Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, Philosophische Essays, ausgewählt von und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Rolf Tiedemann, Stuttgart 1992, S. 146. Dinge." - Franz Kafka: Von den Gleichnissen, GS, Beschreibung eines Kampfes, Novellen, [31] "An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt 1983, S. 72. Das wäre kein Glauben." - Franz Kafka zit. n. Benjamin: Franz Kafka, a.a.O., S. 428. [15] Vgl. Deleuze/Guattari, a.a.O., S. 96. - Allerdings gehen Deleuze und Guattari zu weit, [32] "Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil das Rettende versäumt ward. Diese wenn sie wohlwollend unterstellen, nach der bewußten Zerstörung der Metaphern und Hölle hat das späte Bürgertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern des
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