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Materialsammlung - Theater Marburg

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auf Selbstgenuß zu verzichten; einziehn in das Haus, statt es zu bewundern und zu bekränzen. [...] Der zweite Hauptgrund [...] ist die Überlegung:<br />

'Was ich gespielt habe, wird wirklich geschehn. Ich habe mich durch das Schreiben nich losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde<br />

ich wirklich sterben. [...] Ich selbst aber kann nicht weiterleben, da ich ja nicht gelebt habe, ich bin Lehm geblieben, den Funken habe ich nicht zum<br />

Feuer gemacht, sondern nur zur Illuminierung meines Leichnams benutzt.“ (3, 385)<br />

Als Kafka in seinem Sterbebett lag, verglich er sich mit den Blumen, die neben ihm standen: Er meinte, er wäre so wie sie – weder tot noch lebendig.<br />

Seine Krankheit hinderte ihn daran, sich ganz lebendig zu fühlen, wobei sie ihm auch keine Einsicht in das andere, den Tod, verlieh: „Wer einmal<br />

scheintot gewesen ist, kann davon Schreckliches erzählen, aber wie es nach dem Tode ist, das kann er nicht sagen, er ist eigentlich nicht einmal dem<br />

Tode näher gewesen als ein anderer, er hat im Grunde nur etwas Besonderes 'erlebt' und das nicht besondere, das gewöhnliche Leben ist ihm dadurch<br />

wertvoller geworden. (4)<br />

Die "Unmöglichkeit, Kafka zu sein" (5, 80), kam in verschiedensten Identitätsproblemen zum Ausdruck: nie war Kafka ganz Schrifsteller, weil er<br />

Beamter war; assimilierter Jude, schwärmte er für das jiddische <strong>Theater</strong>; trotz seiner Heiratsversuche starb er als Junggeselle; seine vegetarische Diät<br />

machte ihn auch in seinen Essensbräuchen auf Einsamkeit angewiesen; die Tuberkulose vervollständigte seine Ausgeschlossenheit. Kafka weigerte sich,<br />

eine einzige Identität anzunehmen. Er wollte die freie Wahl nicht verlieren, so schwankte er immer zwischen Möglichkeiten, ohne sich entscheiden zu<br />

können. Guy Davenport schreibt: "Reality is the most effective mask of reality. Our fondest wish, attained, ceases to be our fondest wish. Success is the<br />

greatest of dissapointments. The spirit is most alive when it is lost. Anxiety was Kafka's composure." (6, 16) Kafkas Schreiben war sein Un-Leben, das<br />

für ihn die Essenz des Lebens war: eine einsame Expedition an die Grenzen der Existenz, in die Bereiche, wo der sterbliche Körper keine Bedeutung<br />

mehr hat und die Abstraktionen regieren.<br />

II. Funktion statt Figur<br />

Die Gestalten, die Kafkas Oeuvre bewohnen, sind von der seltsamsten Körperlosigkeit. Die Körper sind dermaßen aufgelöst, daß die Figuren oft<br />

ausschließlich von der Kleidung oder dem Ersatz des Namen durch die angewiesene Funktion (wie der Reisende, der Offizier, der Soldat) bestimmt<br />

werden. Diese Figuren sind fast mathematisch trocken deklariert und unterliegen fast mathematischen Operationen: die Kreuzung wie Katzenlamm<br />

kann nur als eine Summe von abstrakten Eigenschaften aufgefaßt werden. Die Katze, das Lamm und der Mensch werden zu einem Ganzen, indem sie<br />

vom Körperhaften befreit werden.<br />

„In der Strafkolonie“ kann als ein Beispiel dieser Körperlosigkeit benutzt werden. Vom ersten Blick scheint es problematisch, zu behaupten, daß eben in<br />

der Erzählung, die von Tortur handelt, die Rede nicht vom Körper ist. Mark M. Anderson schreibt: „[...] the story's vivid, detailed presentation of<br />

torture and execution seemed so gruesome that some protection was felt to be needed against its literal meaning. [...] The story's pornological, sadomasochistic<br />

elements, its grotesquely playful presentation of torture and death [...] have repeatedly been avoided or treated only obliquely by critics

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