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Materialsammlung - Theater Marburg

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Stärker als alle Schwerkraft von Thomas Steinfeld<br />

Wie nur wenige steht Franz Kafka für das Leiden am Deutschen. Doch Kafka war nicht der größte Gefangene, sondern der größte<br />

Virtuose der deutschen Sprache. Eine der bekanntesten Erzählungen in deutscher Sprache beginnt mit dem Satz: "Als Gregor Samsa<br />

eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."<br />

undatiertes Porträt Franz Kafkas: Sein Ort war sein Schreiben, seine Sprache, seine Dichtung. (© Foto: dpa)<br />

Das Ereignis, von dem hier die Rede ist, mag gewaltig sein, erschütternd, unbegreiflich. Aber die Form, in der davon berichtet wird, ist<br />

das Muster eines wohlgestalteten deutschen Satzes. Wie naheliegend wäre es gewesen, das Außerordentliche auch sprachlich zu<br />

gestalten. Doch nichts Ungewöhnliches geschieht, weder in der Grammatik noch in der Wortwahl. Geordnet und auf diskrete Weise<br />

lebhaft zieht der Satz dahin, der lange Satzbogen ist gespannt durch die Temporalkonstruktion und die beiden jeweils ans Ende des<br />

Haupt- und Nebensatzes gesetzten Verben.<br />

Vielfüßiges Stolpern und Trippeln<br />

Und wie geschickt ist es, aus dem steten Rhythmus genau drei Wörter herausfallen zu lassen: "unruhigen", "ungeheuren" und<br />

"Ungeziefer". In diesen Wörtern ist es, als begänne mitten im Satz ein vielfüßiges Stolpern und Trippeln. Von Franz Kafka, dem jung an<br />

Schwindsucht gestorbenen Prager Juden, ist seit langem die Vorstellung im Umlauf, er habe, wie kein anderer Schriftsteller, die<br />

Katastrophen des 20.Jahrhunderts in sich aufgenommen, in seine Person und in sein Werk. Dieses Schreckensgesicht, diese weit<br />

geöffneten Augen und aufgestellten Ohren! Im Werk von Kafka sei, so will es diese spät, erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene<br />

Vorstellung, das Leiden am Deutschen auf seinem Höhepunkt angekommen.<br />

Ein sprachlicher Nicht-Ort<br />

In der Folge sei Kafka gar nicht wirklich in der deutschen Sprache zu Hause. So kam es, dass eigens für ihn ein sprachlicher Nicht-Ort

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