Materialsammlung - Theater Marburg
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versuchte sein Freund und Nachlassverwalter Max Brod, die Schriften mithilfe des tschechischen Kulturattachés zu retten. Erfolglos. Es<br />
sollte fast 65 Jahre dauern, bis es wieder einen systematischen Versuch gab, die Texte zu finden: von einer kalifornischen Journalistin und<br />
Literaturkritikerin, die über das Leben von Dora Diamant recherchierte. Ihre Anfragen beim Bundesarchiv und der Gauck-Behörde<br />
brachten kein neues Material - außer einer Bestätigung, dass die Texte tatsächlich von der Gestapo konfisziert worden waren.<br />
Warum wollte keiner was von Dora wissen?<br />
Die Frau, die mehr darüber gewusst hätte - zum Beispiel, ob das Mädchen die Briefe mit nach Hause genommen hatte -, wurde nie<br />
gefragt: Dora Diamant lebte bis in die fünfziger Jahre in London, und außer zwei Interviews in Literaturzeitschriften gab es von<br />
wissenschaftlicher Seite kein Interesse an ihr. Was kein Zufall ist, sagt Harman, sondern mit Kafka selbst zu tun hat, der als überzeitlicher<br />
Autor angesehen wurde, unter dem Einfluss von Max Brod, der ihn als religiösen Schreiber sah und seine Werke allegorisch deutete.<br />
Ein anderer Grund für das Desinteresse, glaubt Harman, liegt in der Art, wie die wissenschaftliche Literaturkritik im 20. Jahrhundert<br />
Texte betrachet hat: die Dominanz des New Criticism, der eine regelrechte Abscheu gegen alles Biografische hatte, gegen alles, was<br />
außerhalb des Textes stand. Ein Interview mit Dora Diamant in den fünfziger Jahren in London? Es hätte vielleicht nicht die Karriere<br />
ruiniert, aber es hätte einen im akademischen Literaturbetrieb eher verdächtig gemacht, sagt Harman, dem eine Menge Fragen an Dora<br />
Diamant einfallen würden.<br />
In Berlin machte im Winter 1923/24 die Inflation die Pension wertlos, die Kafka von der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt bekam.<br />
Die Miete war hoch, und die Vermieterin hasste das unverheiratete jüdische Paar, Kafka schrieb über sie in der Geschichte Eine kleine<br />
Frau. Im Februar 1924 fand das Paar zwei Zimmer bei der Witwe des Dichters Karl Busse. Es war nicht das Berlin, von dem Kafka in Prag<br />
geträumt hatte, als er an Max Brod schrieb: Die Wannseevilla, Max! Und mir bitte ein stilles Dachzimmer (weit vom Musikzimmer), aus<br />
dem ich mich gar nicht fortrühren will<br />
man wird gar nicht merken, daß ich dort bin.<br />
Mark Harman kannte den Brief, aber erst als Fellow der American Academy erinnerte er sich wieder daran. Und bemerkte, dass er jetzt<br />
selbst so lebte, wie Kafka es beschrieben hatte: im ersten Stock einer Wannseevilla, mit Blick auf das Wasser.<br />
Hier erreichte ihn der Anruf einer älteren Dame, die im Lokalteil des Tagesspiegels einen Artikel über die neuen Stipendiaten gelesen<br />
hatte. Sie meldete sich mit dem Namen Geier, Geier Christine, und sagte, dass sie Kafka in Berlin gekannt hatte.<br />
Auch sie spielte damals noch mit Puppen, obwohl sie schon 15 war. Die Briefe hat auch sie nicht, ihre Verbindung zu Franz Kafka ist eine<br />
andere: Er trat als Untermieter in ihr Leben, als er im Frühjahr 1924 ins Haus ihrer Mutter zog, der Witwe des Dichters Karl Busse.<br />
Sie ist jetzt 92 Jahre alt, trägt Hosen und einen modischen Rundschnitt. Ihr Gesicht ist runzlig, aber ihre Augen sind klar, wie man es in<br />
Filmen sieht, wenn Schauspieler auf alt geschminkt werden, die in Wirklichkeit viel jünger sind.