Materialsammlung - Theater Marburg
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Kafkas Werk als Paradigma der modernen arabischen Literatur<br />
Josef K. und seine arabischen Söhne von Atef Botros (CNMS <strong>Marburg</strong>)<br />
Franz Kafkas Protagonisten, die sich unvermittelt in den Rädern eines unverständlichen, dabei aber nicht minderzermalmenden offiziösen Apparats<br />
finden, sind zu Ikonen moderner Befindlichkeit geworden. Ganz besonders im arabischen Raum bieten sie ein – freilich nicht konfliktfreies –<br />
Identifikationspotenzial.<br />
«Zwischen Chile und China gibt es immer irgendeinen verleumdeten Josef K., der verhaftet wird, ohne dass er etwas Böses getan hätte»,<br />
schreibt der irakische Exildichter Farouq Yusuf im Juli 2005. Josef K. ist viel mehr als die literarische Figur aus Kafkas Roman «Der<br />
Process», dessen erster Satz – «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines<br />
Morgens verhaftet» – zu den berühmtesten und meistzitierten Sätzen der Weltliteratur zählt. Tatsächlich sind die Eben- und Nachbilder<br />
Josef K.s oder des K. aus «Das Schloss» überall dort zu finden, wo eine Realität vorherrscht, die man als kafkaesk zu bezeichnen pflegt.<br />
Vor allem in der arabischen Welt scheinen sie zu Hause zu sein. Kein Wunder. Ein Blick auf die irakische oder palästinensische<br />
Lebenswirklichkeit, auf die in Syrien oder Libyen allgegenwärtigen Kontroll- und Überwachungssysteme genügt, um festzustellen, dass<br />
die Menschen dort einem von Absurditäten diktierten Alltag und unfassbaren Mächten ausgeliefert sind. Vor diesem Hintergrund sind<br />
Kafka und sein K. für die arabischen Intellektuellen zu einer Ikone der arabischen postkolonialen Realität geworden. Der Erfinder K.s<br />
wird in der Not angerufen, wie der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali 2007 schreibt: «Unabhängig von Hautfarbe, Religion,<br />
Sprache und Ort spürt jeder Mensch die Nähe eines kranken jüdischen Freundes, der in Prag lebte, seine Werke auf Deutsch verfasste<br />
und dessen Botschaft trotz des verfrühten Todes alle Zeiten überlebte; sein Name ist Franz Kafka.»<br />
Grenzüberschreitend<br />
Kafkas literarische Figuren überdauern aufgrund ihrer aussergewöhnlichen symbolischen Kraft die Zeit und überschreiten den Raum.<br />
Ihre Wirkung ist so mächtig und universal, dass sie Menschen verschiedener Zugehörigkeiten und Kontexte miteinander verbindet. In<br />
der jüdischen Kafka-Rezeptionsgeschichte lautet der K.-Satz etwa: «Jemand musste die europäischen Juden verleumdet haben, denn<br />
ohne dass sie etwas Böses getan hätten, wurden sie vernichtet und vertrieben.» Hat Kafka, dessen Schwestern in Vernichtungslagern<br />
ermordet wurden, den Holocaust prophezeit? Im Kontext des blutigen Befreiungskrieges in Algerien, der eine Million Menschenleben<br />
forderte, wurde der Satz folgendermassen umformuliert: «Jemand musste Algerien verleumdet haben, denn ohne dass es etwas Böses<br />
getan hätte, wurde es von den Franzosen 130 Jahre lang vergewaltigt.» Dem deutsch schreibenden palästinensischen Autor Wadi Sodah<br />
reicht es nicht, die palästinensischen Geschichten als kafkaesk zu bezeichnen – er reklamiert den Schriftsteller gleich für sein eigenes<br />
Volk: «Kafka und andere palästinensische Geschichten.» Warum mischt sich der Prager Jurist immer wieder in solche arabischen<br />
«Processe» ein – und warum tauchen die K.s allenthalben auf? «Kafka ist überall, er liegt in der arabischen Luft», sagt Firyal Ghazoul,<br />
eine irakische Literaturwissenschafterin an der amerikanischen Universität in Kairo. Vielleicht liegt das aber auch ebenso sehr an der