Materialsammlung - Theater Marburg
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eingerichtet wurde, abseits des emanzipierten Judentums, für das sein Vater stand, abseits der Sprache, die ihm als Prager Deutsch, als<br />
die Sprache einer gebildeten, unangefochtenen Minderheit entgegentrat, abseits auch des Tschechischen, das die Arbeiter und einfachen<br />
Leute in Böhmen sprachen. Dabei besteht sein Werk mitnichten aus dem Mäusegequieke, das Gregor Samsa als Ungeziefer von sich gibt.<br />
Offensichtlich gibt es auch für Franz Kafka einen Ort: sein Schreiben, seine Sprache, seine Dichtung. "Er wurde geboren mit der Frage: 'Was<br />
haben wir hier auf dieser Welt zu tun?'" Die 104-jährige Pianistin und Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, Alice Herz-Sommer,<br />
spricht über ihre Bekanntschaft zu Franz Kafka. Deutlich sind sie geprägt von der deutschen Literatur des 19.Jahrhunderts, von Goethe vor<br />
allem, aber auch von Kleist, von Johann Peter Hebel, von Adalbert Stifter. Einen anderen als diesen mitten in der deutschen Sprache<br />
beheimateten, mit sich selbst identischen Franz Kafka gibt es nicht. Immer wieder sagt Kafka, er lebe nur schreibend. "Die Festigkeit<br />
aber", teilt er im November 1913 Felice Bauer mit, "die das geringste Schreiben mir verursacht, ist zweifellos und wunderbar."<br />
Negatives Gesetz<br />
Dieses Schreiben aber, heißt es anderswo, sei "nichts als die Fahne des Robinson auf dem höchsten Punkt der Insel." In zahllosen<br />
Deutungen, denen das Unglück dieses Schriftstellers vorausgesetzt zu sein scheint wie ein Fundament aus Beton, wurde aus dieser<br />
Nachricht das negative Gesetz des gesamten Werks: das Schreiben als höchste, letzte und doch wieder aussichtslose Flucht aus einem<br />
verlorenen, angsterfüllten Leben. Wie aber, wenn man in dieser Auskunft über sich selbst etwas anderes, minder Existentielles zu<br />
erkennen hätte? Wie, wenn Kafka nicht der größte Gefangene, sondern der größte Virtuose der deutschen Sprache gewesen wäre, ein<br />
Sportler gleichsam, erfüllt von einem unbedingten Willen, seine Fähigkeiten auszuleben, sie sinnlich gestaltet zu erfahren?<br />
Und wenn eben seine Meisterschaft darin bestanden hätte, diese Virtuosität in den Dienst der Dichtung zu<br />
stellen, lauter wohlgeordnete, lebendige Sätze hervorbringen zu können, ein jeder genau so lang, wie er sein muss, gefüllt mit möglichst<br />
wenigen, aber treffenden, und nicht mit vielen prächtigen Wörtern?