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Materialsammlung - Theater Marburg

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Mark Harman ist groß und hager wie Franz Kafka, und das ist ungefähr alles, was er mit dem Objekt seiner Obsession teilt. Er hat<br />

rotblonde Haare, nicht sehr viele, Sommersprossen, blaue Augen. Eigentlich kommt er aus Dublin, aber er lebt in den USA, seit er mit 24<br />

nach Yale ging, wo er seine Doktorarbeit über Kafka geschrieben hat. Er ist jetzt 49 Jahre alt und hat sich auch mit Joyce und Beckett<br />

beschäftigt. Kafka hat er in der ganzen Zeit nie weggelegt und ist tief in seine Welt eingetaucht, als er Das Schloß übersetzte, was mit<br />

Unterbrechungen fast vier Jahre gedauert hat (Kafka brauchte sieben Monate und hörte mitten im Satz mit dem Schreiben auf. Das<br />

Manuskript blieb unvollendet).<br />

Dass seine Faszination für Kafka auch etwas mit seiner eigenen Biografie zu tun haben könnte, hat Mark Harman lange nicht zugegeben:<br />

Ich sagte einfach, er ist ein großer Schriftsteller, ein großer Erzähler, und wer würde dem widersprechen. Als ein Freund ihn fragte,<br />

warum er seine Dissertation über den großen Dichter aus Prag schrieb (statt über den großen Dichter aus Dublin), murmelte ich was<br />

über akademische Gründe und wechselte das Thema.<br />

Erst 1998 schrieb er einen Aufsatz über sein eigenes Vater-Thema und seine eigene Obsession mit undurchschaubaren Autoritäten: Ich<br />

habe einen Großteil meiner Jugend damit verbracht, über meinen Vater zu spekulieren und über die Mechanismen seiner<br />

Kommandozentrale, genau wie der Landvermesser im Schloß ständig jede Geste der mysteriösen Schloß-Beamten interpretiert.<br />

An diesem Nachmittag war der Spielplatz leer.<br />

Während seiner jahrelangen Übersetzungsarbeit, basierend auf der kritischen Ausgabe, die die Stellen enthält, die später gestrichen<br />

wurden, fand Harman einen neuen Zugang zur Obsession des Landvermessers: Tief im Text versteckt, und in den Stellen, die Kafka<br />

gestrichen hat, gibt es ein Bewusstsein des Helden, dass seine Interpretationswut sinnlos ist und er sich im Kreise dreht. Harman las nun<br />

- verändert auch durch eigene Lebenserfahrung -, was er als Student nicht sehen konnte: Eine Abwendung von der Obsession. Gerade in<br />

den Stellen, die Kafka gestrichen hat, wird gegen Obsession ziemlich deutlich Stellung bezogen.<br />

Nachdem er Das Schloß geschrieben hatte, ging Kafka nach Berlin<br />

nachdem Harman es übersetzt hatte, bewarb er sich um ein Forschungsstipendium an der American Academy, weil er untersuchen<br />

wollte, wie Kafka sein Leben - via Tagebücher und Briefe - in literarische Texte verwandelt hat. Und in seine berühmten Metaphern, die<br />

so fremd und gleichzeitig vertraut erscheinen, dass auch Leute, die Kafka nie gelesen haben, sich heute in Situationen wiederfinden, für<br />

die es nur ein gutes Wort gibt: kafkaesk.<br />

Der Steglitzer Stadtpark liegt zwischen einem Hochhaus und Stadtvillen am südlichen Rand Berlins. Er ist klein und hügelig, mit einem<br />

runden See in seiner Mitte und einem texanischen Steakhouse. Es gibt einen Spielplatz mit Schaukeln und einer Hängebrücke, auf der<br />

die Kinder lernen, eine wacklige Balance zu halten. An einem Nachmittag im Dezember war der Spielplatz leer: Um kurz vor vier hatte<br />

sich ein bleiernes Grau um die Bäume gelegt, durch die Äste blinkten die Lichter der Stadt. Sich an einem Tag wie diesem einen

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