Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut
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Die gängigste Interpretation des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion,<br />
des Krieges und damit auch der dabei begangenen Besatzungsverbrechen<br />
setzt bei Hitler an: Dieser habe schon in den 20er<br />
Jahren sein Lebensraumkonzept entwickelt, eine Art Alternative zum<br />
gescheiterten deutschen Kolonialismus. Die deutsche Wirtschafts-<br />
und Siedlungspolitik sollte nun gegen die Sowjetunion gerichtet<br />
werden, auf die gleichsam mythischen Weiten des Kontinents und<br />
die Kornkammern Europas. 11 Zugleich galt die bolschewistische<br />
Sowjetunion als Bedrohung der europäischen Zivilisation, nicht nur<br />
den breiten bürgerlichen Schichten, sondern auch und vor allem den<br />
neu entstandenen faschistischen Bewegungen, die sich ja gerade als<br />
Speerspitze gegen den Kommunismus verstanden. Bekanntlich hat<br />
der Berliner Geschichtsphilosoph Ernst Nolte diese Argumentation<br />
vor 15 Jahren auf die Spitze getrieben und Hitlers Politik nur noch als<br />
Reaktion, ja als Nachahmung bolschewistischer Politik und Gewalt<br />
interpretiert. Abgesehen von den desaströsen empirischen Schwächen<br />
und den Anleihen bei rechtsextremen Mustern ist an Nolte vor<br />
allem eines kritisiert worden: Er unterschätzt die fundamentale und<br />
umfassende Bedeutung des Antisemitismus für Hitlers Handeln.<br />
Und Hitler sah – wie viele seiner Zeitgenossen – nicht nur die Sowjetunion<br />
als sogenanntes jüdisch-bolschewistisches System an, das<br />
angeblich von Funktionären jüdischer Herkunft dominiert sei. Der<br />
Antisemitismus, auf den Hitler aufbaute und den er selbst zuspitzte,<br />
richtete sich mindestens genauso gegen das, was die Antisemiten<br />
als jüdische Plutokratie bezeichneten, also den Westen, hinter dem<br />
angeblich das jüdische Finanzkapital stehen würde.<br />
Noltes Thesen sind zu Recht weithin abgelehnt worden. An<br />
der klassischen Interpretation, dass Hitlers Lebensraumkonzept<br />
der Ausgangspunkt des deutschen Angriffs war und Hitler seinen<br />
Plan quasi nach anderthalb Jahrzehnten umgesetzt habe, hat sich<br />
jedoch bis heute wenig geändert. Freilich rücken immer mehr andere,<br />
allgemeinere Faktoren in die Diskussion. So kann der Krieg<br />
gegen die Sowjetunion 1941 auch als Wiederaufnahme der Besatzungspolitik<br />
im Ersten Weltkrieg interpretiert werden. Schon 1915<br />
wurde deutscher Siedlungsraum im Osten propagiert, damals noch<br />
vor allem in Polen und Litauen. Und 1918 rückten deutsche und<br />
österreichisch-ungarische Truppen weit in den Süden Russlands<br />
vor, an einigen Stellen weiter, als sie dann 1942 kamen. 12 Auch der<br />
breite Konsens unter den deutschen Eliten über Krieg und Gewalt<br />
11 Klassisch: Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–<br />
1941, Frankfurt am Main 1965.<br />
12 Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und<br />
Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002; Frank Grelka, Die ukrainische<br />
Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und<br />
1941/42, Wiesbaden 20<strong>06</strong>; verkürzend: Eberhard Demm, »Das deutsche Besatzungsregime<br />
in Litauen im Ersten Weltkrieg: Generalprobe für Hitlers Ostfeldzug<br />
und Versuchslabor des totalitären Staates«, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-<br />
Forschung 51 (2002), S. 64–74.<br />
gegen die Sowjetunion 1941 hatte sicher tiefere Wurzeln als nur die<br />
Annahme, dass Hitlers Entscheidungen genau die richtigen seien.<br />
Die extreme Gewalt im Krieg gegen die Sowjetunion wurde bisher<br />
zumeist in Rahmen der ideologischen Todfeindschaft, aber auch<br />
als weitere Eskalation des bis dahin praktizierten Antisemitismus<br />
gesehen. Auch hier lassen sich übrigens leichte Kontinuitätslinien<br />
zu den Jahren ab 1918 ziehen, zu den Gewalttaten der Freikorps<br />
und der Verbreitung antijüdischer Stereotypen am Ende des Ersten<br />
Weltkrieges. Erst in den 1990er Jahren kam eine weitere Interpretation<br />
hinzu, die diese Gewalt nicht nur als ideologisch motiviert,<br />
sondern auch als instrumentell ansah. Das heißt, Hitler, der NS-<br />
Apparat und die Wehrmachtführung entschieden sich auch deshalb<br />
für die Gewalt, weil sie hofften, dass die Sowjetunion schneller zusammenbrechen<br />
würde, wenn man ihre echten oder vermeintlichen<br />
Stützen, also die Funktionäre und – aus antisemitischer Sicht – vor<br />
allem die jüdischen Männer umbringen würde. Auch die gefangenen<br />
Rotarmisten sollten möglichst schlecht behandelt werden,<br />
da sie nicht nur militärisch, sondern auch rassisch-ideologisch als<br />
besonders gefährlich galten.<br />
Diese Art der Interpretation ist in den letzten Jahren noch<br />
weitergetrieben worden: Die Rahmenbedingungen und die Aufgabenstellung<br />
der deutschen Eroberung hätten die Gewalt quasi<br />
entscheidend gefördert. So gehörten zur Planung des Feldzuges<br />
auch die weitgehende Plünderung der Wirtschaft, die Zerstörung<br />
der Produktion und die Beschlagnahme der Agrarerträge, um davon<br />
das Heer der Eroberer zu ernähren. Deshalb gingen deutsche Planer<br />
nicht nur davon aus, dass wortwörtlich »zig-Millionen« Einwohner<br />
verhungern oder fl üchten würden, sondern dass im Hinterland auch<br />
massive Gewalt angewendet werden müsse, um etwaige Hungeraufstände<br />
niederzuschlagen oder zu verhindern. 13 Schließlich sei<br />
die sowjetische Gesellschaft an sich schon von einer Kultur der<br />
Gewalt geprägt gewesen, einerseits durch russische Traditionen,<br />
andererseits aber auch durch die Traumatisierung, die die stalinistischen<br />
Massenverbrechen der 1930er Jahre hinterlassen hatten. Man<br />
hat sogar von regelrechten »Gewalträumen« gesprochen, in die die<br />
Eroberer vorgedrungen seien, Gebiete, die geprägt gewesen seien<br />
durch den Ersten Weltkrieg, den Bürgerkrieg mit seinen Pogromen,<br />
die Kollektivierung 1930 und den Massenhunger von 1933, durch<br />
den Großen Terror oder schließlich die Gewalt bei den Annexionen<br />
1939/40. 14 Freilich ist der Zusammenhang zwischen der Gewalt vor<br />
1941 und danach oft behauptet, aber selten genau untersucht worden.<br />
13 Vgl. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen<br />
Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998.<br />
14 Vgl. jetzt Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand. Hrsg. von Jörg<br />
Baberowski, Frankfurt am Main 2010; in eine ähnliche Richtung geht: Timothy<br />
Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, bei dem<br />
allerdings unklar bleibt, wieso er die Westhälfte Polens in sein Konzept einbezieht,<br />
den Nordkaukasus aber nicht.<br />
18 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011<br />
Alle diese neuen, oder manchmal gar nicht so neuen Interpretationen<br />
haben sicher die Diskussion und damit auch die Analyse<br />
des Vernichtungskrieges in der Sowjetunion gefördert, gelegentlich<br />
auch dadurch, dass sie widerlegt wurden. Immerhin ist inzwischen<br />
die Perspektive deutlich erweitert worden. Allerdings fi ndet sich<br />
kaum jemand, der einmal einen vergleichenden Blick auf die besetzte<br />
Sowjetunion wagt, um spezifi sche Zusammenhänge und Logiken<br />
genauer fassen zu können. Sicher lassen sich vergleichende<br />
Perspektiven auf die anderen Gebiete unter deutscher Besetzung<br />
ausmachen, in denen extreme Gewalt ausgeübt wurde, so vor allem<br />
zu Polen und Jugoslawien. 15 Hier beruht der Vergleich natürlich auf<br />
dem gemeinsamen politischen Rahmen und den nahezu synchronen<br />
Entwicklungen.<br />
Gleichwohl gab es noch ganz andere synchrone Entwicklungen,<br />
die hierzulande kaum wahrgenommen werden: insbesondere<br />
das japanische Gewaltregime in China. Japan hatte 1931 zunächst<br />
Teile Nordostchinas durch politischen Druck unterworfen und eine<br />
abhängige Mandschurei geschaffen, später seinen Einfl uss noch<br />
weiter ausgedehnt. Seit 1937 tobte dann der japanisch-chinesische<br />
Krieg, der von äußerster Besatzungsgewalt gegen die Einheimischen<br />
begleitet war. Glaubt man den Statistiken der chinesischen<br />
Forschung, so kamen dabei weit über zehn Millionen Zivilisten<br />
um, das wären wahrscheinlich mehr Opfer, als es in der besetzten<br />
Sowjetunion gegeben hat. 16<br />
Im Folgenden soll versucht werden, am Beispiel der japanischen<br />
Besatzungspolitik in Nordchina die Gewaltregime vergleichend zu<br />
betrachten. Dabei steht nicht so sehr ein gleichgewichtiger Vergleich<br />
beider Komplexe, sondern eine größere Einordnung des deutschen<br />
Falles im Vordergrund. Dass es sich um Phänomene handelt, die<br />
sich für einen Vergleich anbieten, obwohl dieser bisher eher selten<br />
vorgenommen worden ist, ist zu betonen. 17 Dies liegt nicht nur an der<br />
zeitlichen Parallele, sondern auch an der ausgreifenden Expansion<br />
und der extremen Gewaltpolitik beider Länder in dieser Phase, die<br />
15 Einer der wenigen Vergleiche: Lutz Klinkhammer, »Der Partisanenkrieg der<br />
Wehrmacht«, in: Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Hrsg. von Rolf-Dieter<br />
Müller, Hans-Erich Volkmann, München 1999, S. 815–836.<br />
16 Vgl. etwa die ungesicherten Zahlen bei Werner Gruhl, Imperial Japan’s World<br />
War Two, 1931–1945, New Brunswick 2007, S. 62: 12 Mio. zivile und 3 Mio.<br />
militärische Opfer; 1985 lauteten die offi ziellen Zahlen: 15 Mio. zivile und 3<br />
Mio. militärische Opfer: China’s Bitter Victory: The War with Japan, 1937–1945.<br />
Hrsg. von James C. Hsiung, Steven I. Levine, Armonk 1992, S. 178.<br />
17 L. H. Gann, »Refl ections on the Japanese and German Empires of World War II«,<br />
in: The Japanese Wartime Empire, 1931–1945. Hrsg. von Peter Duus, Princeton<br />
1996, S. 335–362; Gavan McCormack, »Refl ections on modern Japanese history<br />
in the context of the concept of ›genocide‹«, in: The Specter of Genocide: Mass<br />
Murder in Historical Perspective. Hrsg. von Bob Gellately, Ben Kiernan, Cambridge<br />
2003, S. 265–288; David Cohen, »Historiography, War, and War Crimes:<br />
The Representation of World War II«, in: Journal for History of Law/Rechtshistorisches<br />
Journal 19 (2001), S. 413–431.<br />
sich zudem in meinem speziellen Fall vor allem gegen einen kommunistischen<br />
Gegner richtete.<br />
Es lässt sich die These vertreten, dass es sich in beiden Fällen<br />
um einen Vernichtungskrieg handelt. Damit ist eine moderne extreme<br />
Kriegführung gemeint, die gezielte Massenmorde an Kriegsgefangenen<br />
und an Teilen der Zivilbevölkerung als Teil der militärischen<br />
Strategie und Taktik ansieht, wenn auch andere Zusammenhänge<br />
dabei eine große Rolle spielen. Dies grenzt sich vom Vernichtungsdogma<br />
in rein militärischer Sicht ab, das eine totale Vernichtung der<br />
gegnerischen Kampfkraft 18 zum Ziel hatte, und von Vernichtungsfeldzügen<br />
ohne regulären militärischem Gegner, wie sie gelegentlich<br />
in Kolonialkriegen zu beobachten sind.<br />
Während die Koordinaten des deutschen Vernichtungskrieges<br />
in der Sowjetunion relativ klar erscheinen, also Kriegführung und<br />
Besatzungspolitik im Westteil der Sowjetunion und der von ihr annektierten<br />
Gebiete in der Zeit von Juni 1941 bis Juli 1944 bzw.<br />
Januar 1945, bedarf die Abgrenzung des japanischen Vergleichsfalles,<br />
also von Krieg und Besatzung in China, einiger Erklärung: 19<br />
Der eigentliche Krieg begann bekanntlich vor 1941, obwohl die<br />
japanische Führung ihre Expansion in ganz China ab 1937 offi ziell<br />
als »Zwischenfall« bemäntelte. Diese Kriegführung war von Anfang<br />
an von extremer Gewalt begleitet. Dennoch bieten sich gerade die<br />
Phase nach dem weitgehenden Stillstand des Bewegungskrieges<br />
und Nordchina als Vergleichsfall zum deutschen Vorgehen in der<br />
Sowjetunion an: Nördlich des Gelben Flusses wurde spätestens ab<br />
1941 ein extremer Vernichtungskrieg geführt mit dem Ziel, die kommunistische<br />
Partisanenbewegung auszuschalten und das Hinterland<br />
von Peking einer wirtschaftlichen Ausbeutung zu unterwerfen. Die<br />
Kriegführung in Nordchina gewann eine spezifi sche Ausprägung<br />
und erstreckte sich auf einen Raum mit ähnlichen quantitativen Dimensionen<br />
wie der des deutschen Krieges in der Sowjetunion, wo<br />
etwa ein bis zwei Millionen Quadratkilometer mit circa 65 Millionen<br />
Einwohnern betroffen waren, in Nordchina etwa eine halbe Million<br />
Quadratkilometer mit über 100 Millionen Einwohnern.<br />
Während der deutsche Krieg aber vergleichsweise gut erforscht<br />
ist und sich über seinen Charakter ein weitgehender Konsens herausgebildet<br />
hat, gestaltet sich die Untersuchung des japanisch-chinesischen<br />
Falles, zumal für einen durchschnittlichen Westhistoriker,<br />
deutlich komplizierter. Zwar erscheint der Forschungsstand, soweit<br />
er sich aus der Ferne beobachten lässt, nicht schlecht. 20 Es liegen<br />
zahlreiche Dokumentationen und Untersuchungen zur Gewaltpolitik<br />
18 Vgl. Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht – Die Lehren von<br />
Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen, München 1970.<br />
19 Deutschsprachiger Überblick: Dieter Kuhn, Der Zweite Weltkrieg in China, Berlin<br />
1999; sehr kurze Darstellung bei: Diana Lary, The Chinese People at War:<br />
Human Suffering and Social Transformation, 1937–1945, New York 2010.<br />
20 Vgl. das Projekt der Harvard University: A Joint Study of the Sino-Japanese War,<br />
1931–1945, www.fas.harvard.edu/~asiactr/sino-japanese/index.htm [25.7.2011].<br />
19