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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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Mehr als nur eine Lokalstudie<br />

Martin Ulmer<br />

Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933.<br />

Studien zum öffentlichen Diskurs und<br />

Alltag<br />

Berlin: Metropol Verlag, 2011, 478 S.,<br />

€ 28,–<br />

Stuttgart, evangelische Residenzstadt und<br />

Zentrum des »liberalen Musterländles« –<br />

gegen die Hartnäckigkeit dieses Mythos schreibt Ulmer mit Verve an<br />

und kann dabei zahlreiche überzeugende Belege anführen. Bereits im<br />

Einleitungsteil formuliert er sein Urteil: »Von einem gesellschaftspolitischen<br />

Liberalismus mit Demokratisierung und einer Toleranzpolitik<br />

gegenüber Minderheiten ist wenig zu spüren.« (S. 21)<br />

Bei dem Buch handelt es sich um eine historische Langzeitstudie,<br />

die als Lokal- und Regionalstudie konzipiert wurde, aber weit<br />

mehr zu bieten hat als zahlreiche vergleichbare Arbeiten. Zielsetzung<br />

der Arbeit ist es, den Blick auf die »weitgehend unerforschten<br />

Akteure des Antisemitismus sowie ihre Sympathisanten und<br />

Gegenkräfte, auf ihre Handlungen und ihre Diskurse« zu richten<br />

(S. 15 f.). Dazu zieht der Autor einen umfangreichen Quellenmix<br />

unterschiedlichster Provenienz heran: Wahlstatistiken, Protokollbände<br />

des Stuttgarter Gemeinderates, des Landesparlaments, Vereinsakten,<br />

Zeitungen, interne und offi zielle Dokumente jüdischer<br />

Organisationen sowie Autobiografi en Stuttgarter Juden. Das im<br />

ersten Teil der Arbeit beschriebene methodische Instrumentarium ist<br />

beeindruckend: Historische Diskursanalyse, Historische Semantik<br />

sowie Ansätze der Alltags- und Mentalitätsgeschichte zeichnen den<br />

interdisziplinären Ausgangspunkt der Arbeit aus. Ulmer nimmt seinen<br />

eingangs dargelegten breiten methodischen Ansatz im weiteren<br />

Verlauf der Studie ernst. Die Diskursanalyse wird exemplarisch an<br />

mehreren Fällen im Kaiserreich durchgespielt. So untersucht Ulmer<br />

beispielsweise die reichsweite Antisemitenpetition 1880/81, die in<br />

Württemberg zwar relativ schwache Unterstützung erfuhr, jedoch<br />

für die weitere antisemitische Propaganda einen Kommunikationsraum<br />

schuf. Auch analysiert er den öffentlichen Symbolkampf<br />

gegen die Stuttgarter Judenstraße, der 1893 mit der Umbenennung<br />

der Straße endete.<br />

Der Autor knüpft an die Theorie des Antisemitismus als kulturellen<br />

Code der israelischen Historikerin Shulamit Volkov an und<br />

unterzieht diese einer konkreten Überprüfung. Dabei veranschaulicht<br />

er Muster des codierten Antisemitismus; in jeweils kurzen Kapiteln<br />

beschreibt er das sprachliche Spektrum, das von Ironisierung über<br />

Dramatisierung bis zur Dämonisierung reicht. Besonders deutlich<br />

66 Rezensionen<br />

wird von Ulmer die viel beschworene »Warenhausgefahr« als ökonomische<br />

Chiffre für eine vermeintlich drohende »Judenherrschaft«<br />

herausgearbeitet. Für die Weimarer Republik unterzieht er ausgewählte<br />

Begriffe (z. B. Plutokratie, Wucher, Schiebertum) der antisemitischen<br />

Codesprache einer semantischen Analyse.<br />

Der von Ulmer angemeldete Anspruch auf Repräsentativität<br />

der Quellen und der Ergebnisse in der Analyse des öffentlichen<br />

Diskurses wird zweifelsfrei eingelöst. Schwieriger ist dieses Unterfangen<br />

hingegen, wenn es um den Alltagsantisemitismus geht.<br />

Dieses Problem gesteht sich auch der Autor im Einleitungsteil ein.<br />

Mit vier Seiten fällt der Abschnitt »Auswirkungen auf den Alltag für<br />

das Kaiserreich« vergleichsweise recht knapp aus, umfangreicher<br />

ist hingegen das Kapitel über den Alltagsantisemitismus nach 1918,<br />

sodass die Universalisierung und Radikalisierung des Antisemitismus<br />

evident wird. Die in diesem Zusammenhang einbezogenen<br />

autobiografi schen Berichte hätten jedoch einer erinnerungskritischen<br />

Analyse bedurft. Durch die positivistische Lesart der Quelle läuft<br />

Ulmer Gefahr, die Aussagefähigkeit seines Materials zu überdehnen,<br />

wenn es beispielsweise um das Ausmaß des Antisemitismus<br />

in Schulen geht.<br />

Entlang der kenntnisreich dargelegten aktuellen fachhistorischen<br />

Diskussionen formuliert Ulmer eine ganze Reihe von Leitfragen, auf<br />

die er in der weiteren Darstellung zu sprechen kommt. So versucht er<br />

auch die Frage nach der Bedeutung der Judenfeindschaft für den Aufstieg<br />

und Erfolg der NSDAP zu klären. Den Antisemitismus macht<br />

er als wichtigen Faktor beim Wahlverhalten aus. Jedoch kommt er<br />

an dieser Stelle über vermeintliche Plausibilitätserklärungen nicht<br />

hinaus. Das Ergebnis, wonach die NSDAP besonders dort erfolgreich<br />

war, wo eine starke Mobilisierung stattfand, gleicht letztlich einer<br />

Tautologie. Auch für die Behauptung, dass die NSDAP in Stuttgart<br />

keine Volks-, sondern eine bürgerliche Massenpartei gewesen sei,<br />

fehlen Ulmer die empirischen Belege.<br />

Trotz der vom Rezensenten vorgebrachten Einwände ist die überzeugende<br />

Bandbreite der Studie herauszustellen. Ulmer meistert die<br />

Schwierigkeit, zwischen einem methodisch anspruchsvollen Werk<br />

und einer lesbaren, chronologisch orientierten Darstellung eine gelungene<br />

Balance zu fi nden.<br />

Martin Liepach<br />

Pädagogisches Zentrum Frankfurt<br />

Dramatische Rettungsbemühungen<br />

Susanne Heim, Beate Meyer, Francis R.<br />

Nicosia (Hrsg.)<br />

»Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht<br />

sein Leben«. Deutsche Juden 1938–1941<br />

Göttingen: Wallstein Verlag, 2010, 302 S.,<br />

€ 34,90<br />

Der Sammelband basiert auf einem von Beate<br />

Meyer, Susanne Heim und Anna Hajková<br />

2009 in Hamburg ausgerichteten Workshop. Fünfzehn Autoren befassen<br />

sich mit den Reaktionen der deutschen Juden auf die Novemberpogrome<br />

und den Rahmenbedingungen ihrer vom NS-Regime<br />

weiter forcierten Vertreibung zwischen Herbst 1938 und dem Beginn<br />

der Großdeportationen im Oktober 1941.<br />

Der erste Themenblock untersucht die Lage der Juden im »Großdeutschen<br />

Reich«. Beate Meyer schildert die Tätigkeit der Anfang<br />

Juni 1939 gegründeten Reichsvereinigung der Juden in Deutschland,<br />

der zwangsweise alle Personen, die aufgrund der Nürnberger<br />

Gesetze als Juden galten, angehörten. Eine ihrer Hauptaufgaben<br />

war die Unterstützung der Auswanderung, daneben war sie aber<br />

auch für das Erziehungs-, Ausbildungs- und Wohlfahrtswesen zuständig.<br />

Bis Herbst 1941 konnten noch einmal rund 100.000 Juden<br />

emigrieren; zugleich deportierten die NS-Behörden aber bereits<br />

10.000 Juden aus Deutschland. Kim Wünschmann analysiert die<br />

KZ-Erfahrungen jüdischer Männer nach dem Novemberpogrom<br />

1938. Die zumeist bürgerlichen Juden sahen sich in den Lagern mit<br />

jungen und fanatischen SS-Männern konfrontiert. Die Hafterfahrung<br />

stellte das männliche Selbstverständnis der Betroffenen radikal auf<br />

die Probe. Andrea Löw untersucht die frühen Deportationen aus dem<br />

Reichsgebiet. Sie nimmt das Verhältnis der jüdischen Funktionäre<br />

zu den Gemeindemitgliedern sowie die Auswirkungen der Deportationen<br />

auf die Betroffenen, deren Familien wie auch die jeweilige<br />

Gemeinde in den Blick. Bereits in den frühen Deportationen waren<br />

die späteren Konfl ikte zwischen den Judenräten und der Ghettobevölkerung<br />

angelegt: Die Israelitische Kultusgemeinde Wien etwa<br />

kooperierte mit den NS-Behörden, um Schlimmeres zu verhüten und<br />

jene zu retten, deren Emigration bald erfolgen sollte. Maria von der<br />

Neuer Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur<br />

»Eine radikal neue jüdische<br />

Enzyklopädie« NZZ<br />

Mehr: www.metzlerverlag.de/EJGK<br />

Von Europa über Amerika bis zum Vorderen Orient, Nordafrika und<br />

anderen außereuropäischen jüdischen Siedlungsräumen erschließt die<br />

Enzyklopädie in sechs Bänden und einem Registerband die neuere<br />

Geschichte der Juden von 1750 bis 1950. Rund 800 Stichwörter präsentieren<br />

den Stand der internationalen Forschung und entwerfen ein<br />

vielschichtiges Porträt jüdischer Lebenswelten.<br />

Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur<br />

Gesamtwerk in 7 Bänden inkl. Registerband<br />

Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften<br />

herausgegeben von Dan Diner<br />

2011. Ca. 4.200 S., 360 s/w Abb., 42 Karten.<br />

Geb., Leinen mit Prägung.<br />

€ 1.399,65 • ISBN 978-3-476-02500-5<br />

Pro Jahr erscheinen zwei Bände.<br />

info@metzlerverlag.de<br />

www.metzlerverlag.de<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011 67

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