Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut
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eide zum Zuge und führten, zusammen mit Italien, den Kollaps<br />
der internationalen Ordnung herbei. Auf die Vertragsbrüche folgten<br />
die Brüche des humanitären Völkerrechts, zunächst in der Mandschurei,<br />
bald aber auch im Abessinienkrieg, der nicht zu Unrecht<br />
als »erster faschistischer Vernichtungskrieg« bezeichnet worden<br />
ist. Bis 1941 haben die italienischen Besatzungstruppen dort um<br />
die 200.000 Einheimische getötet, zumeist bei »Polizeiaktionen«<br />
gegen den Widerstand. Noch ist wenig untersucht, ob solche Grenzüberschreitungen<br />
nicht schon früher zu verzeichnen waren, etwa bei<br />
der Radikalisierung des sogenannten zweiten Senussi-Krieges, den<br />
Italien bis 1931 in Libyen führte. 60<br />
Das Völkerrecht stand für viele Militärs schon vorher zur Disposition.<br />
In der intensiven Debatte um den »Krieg der Zukunft«<br />
wurden bereits Szenarien des totalen Luftkrieges und der Aufhebung<br />
des Unterschiedes zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten<br />
diskutiert. 61 Auch die Wiederaufnahme des Gaskrieges stand<br />
zur Debatte; überall wurde der Gaskrieg vorbereitet, in kolonialen<br />
Konfl ikten wie gegen die aufständischen Rif-Kabylen in Marokko<br />
von Spanien 62 oder in Abessinien von Italien dann auch praktiziert,<br />
freilich nirgendwo so systematisch und folgenreich wie durch die<br />
japanische Armee. Überall diskutierte man die Eingrenzung des<br />
Krieges, zugleich aber auch Grenzüberschreitungen: Gaskrieg, Bombardierung<br />
der Zivilbevölkerung, Tötung von Kriegsgefangenen,<br />
wenn dafür eine Notwendigkeit konstruiert wurde.<br />
Erst vor diesem Hintergrund zeigt sich wieder die Spezifi k des<br />
deutschen und des japanischen Falles: Lebensraum-Konzepte, die<br />
auf die Ansiedlung eigener Bürger und auf Verdrängung oder gar<br />
Vernichtung der Einheimischen zielten, und der Rassismus, der in<br />
NS-Deutschland und Japan ab 1931 aber recht unterschiedlich ausgeprägt<br />
war. Die extreme Widerstandsbekämpfung, die wir in beiden<br />
Fällen gesehen haben, resultiert jedoch auch aus universellen Phänomenen,<br />
die durch die jeweilige Radikalität des Systems gesteigert<br />
wurde. Einige Zehntausend Erschießungen oder Erhängungen wegen<br />
Widerstands oder Kollaboration mit dem Feind hatte es schon unter<br />
60 Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen<br />
Äthiopien 1935–1941. Hrsg. von Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli, Köln<br />
20<strong>06</strong>. Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine<br />
internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005; ders., »Die vergessenen<br />
Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933«, in: Völkermord<br />
und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. im<br />
Auftrag des <strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong>s von Irmtrud Wojak und Susanne Meinl. Frankfurt<br />
am Main 2004, S. 203–226.<br />
61 An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der<br />
Zukunft 1919–1939. Hrsg. von Stig Förster, Paderborn 2002; leider ohne Beitrag<br />
zu Japan.<br />
62 Rudibert Kunz »›Con ayuda del más dañino de todos los gases‹. Der Gaskrieg<br />
gegen die Rif-Kabylen in Spanisch-Marokko 1922–1927«, in: Völkermord und<br />
Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 153–192.<br />
deutsch-österreichisch-ungarischer Herrschaft im Ersten Weltkrieg<br />
gegeben, bereits deutlich ideologisierte Züge trugen die Nachkriegskämpfe<br />
von 1919/20 mit ihren wechselseitigen Massentötungen. 63<br />
Haben die Regime voneinander »gelernt«? Zunächst ist einmal<br />
festzustellen, dass die Verbrechen beider Regimes generell relativ<br />
schnell international bekannt wurden, dass aber auch gerade die hier<br />
gewählten Schauplätze, die Sowjetunion und Nordchina, eher an der<br />
Peripherie der internationalen Öffentlichkeit lagen. Dies galt insbesondere<br />
für das Schicksal der Kriegsgefangenen, das in beiden Fällen<br />
nahezu ohne zeitgenössischen Widerhall blieb. Immerhin berichtete<br />
nicht nur das Time Magazine, sondern auch die Frankfurter Zeitung,<br />
natürlich in jeweils unterschiedlicher Form, über den japanischen<br />
Anti-Partisanenkrieg in Nordchina. 64 In der Berichterstattung der<br />
Diplomatie und der Geheimdienste, vereinzelt auch durch die Auslandsvertretungen<br />
deutscher Firmen in China, war der Kenntnisstand<br />
nicht schlecht. Die sowjetischen Geheimdienste registrierten die<br />
Massaker der japanischen Armee ebenfalls genau. 65<br />
Zwar wurde die politische Entwicklung Deutschlands in den<br />
1930er Jahren in Japan intensiv rezipiert. Dennoch sind direkte Bezüge<br />
in der Gewaltpolitik wenig nachweisbar, etwa durch militärische<br />
Berater oder Beobachter. Eine internationale Diskussion um die<br />
Natur des Partisanenkampfes hatte es in der Zwischenkriegszeit<br />
gegeben, aber anscheinend kaum zur »Counterinsurgency«. Das<br />
Vorgehen der Achsenstaaten sprengte hier auch alle bisher gekannten<br />
Dimensionen, selbst wenn man den Russischen Bürgerkrieg<br />
einbezieht.<br />
Es war vermutlich mehr das allgemeine Bewusstsein der »revisionistischen«<br />
Mächte, dass Expansionen notwendig sind, jedoch<br />
nahezu zwangsläufi g auf Widerstand im besetzten Gebiet treffen<br />
würden. Angesichts begrenzter eigener Ressourcen, vor allem aber<br />
angesichts eines Feindes, der nicht nur als rassisch minderwertig,<br />
sondern als politisch extrem gefährlich galt, entwickelten sich die<br />
Vernichtungsstrategien ohne größere Widerstände. Diese wurden<br />
jedoch von den Staatsführungen, den Militärs, und im deutschen<br />
Fall von der Polizei gestaltet. Weitgehende Gestaltungsfreiheit boten<br />
insbesondere solche Territorien, die man ohne Rücksicht auf<br />
die internationale Öffentlichkeit als rechtsfrei deklarieren konnte.<br />
Die Sowjetunion praktizierte eine ähnliche Form der Widerstandsbekämpfung<br />
zunächst im eigenen Lande, etwa im Kaukasus,<br />
63 Vladimir N. Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political parties<br />
and social movements in Russia, 1918–1922. Princeton, NJ 1994; Boris Barth,<br />
Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen<br />
Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003, S. 257 ff.<br />
64 Deutschland und China 1937–1949. Politik, Militär, Wirtschaft, Kultur. Eine<br />
Quellensammlung. Hrsg. von Mechthild Leutner. Bearb. von Wolfram Adolphi,<br />
Berlin 1998, S. 163 ff.; »The Pangs of Empire«, in: Time, 27.7.1942.<br />
65 Vgl. Voennaja razvedka informiruet. Dokumenty Razvedupravlenija Krasnoj Armii,<br />
janvar’ 1939 – ijun’ 1941 g. Hrsg. von V. A. Gavrilov. Moskva 2008.<br />
30 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011<br />
ab 1944 dann auch in den annektierten Westgebieten, so besonders<br />
im Baltikum und in der Westukraine. Zu erinnern ist auch an die<br />
extremen Vernichtungsaktionen des indonesischen Militärs 1965/66<br />
und seit 1975, Letztere im Rahmen der Eroberung Osttimors. 66 Ob<br />
dies alles als Vernichtungskrieg zu qualifi zieren ist, bleibt nicht zuletzt<br />
eine Frage der Defi nition. Hier fehlte die reguläre militärische<br />
Auseinandersetzung. Während des Vietnamkrieges, der Anlass zum<br />
Studium der japanischen Erfahrungen in China gab, zeigten sich einige<br />
deutliche Spuren dieser Tradition; etwa die »strategic hamlets«,<br />
freilich in ganz anderem Rahmen und in ganz anderen Ausmaßen.<br />
Versucht man nun eine Bilanz dieses hier nur grob skizzierten<br />
Vergleiches anzustellen, so lässt sich die These formulieren, dass die<br />
Wehrmacht im Grunde einen ähnlichen Krieg in der Sowjetunion<br />
führte wie die kaiserlich-japanische Armee in China. Zwar unterstützten<br />
zahlreiche deutsche militärische Stellen auch den Mord an<br />
den Juden, der ja zumeist vor Beginn der Partisanenkämpfe vonstattenging;<br />
ja sie waren maßgeblich verantwortlich für Verbrechen an<br />
Roma und Psychiatriepatienten. Den spezifi sch deutschen Teil des<br />
Vernichtungskrieges übernahmen aber im Kern die Dienststellen<br />
von SS und Polizei. Hier ist auch die deutsche Zivilverwaltung anzusiedeln,<br />
die den Völkermord immer wieder vorantrieb. Genau dies,<br />
der rassistische, ideologisch fundierte Massenmord an bestimmten<br />
Bevölkerungsgruppen, an Juden und Roma, fand keine Entsprechung<br />
im japanischen Krieg gegen China.<br />
Gemessen am menschlichen Verlust zeitigten beide Besatzungsregime<br />
jedoch ähnliche Ergebnisse. Wenn wir auch bis heute nicht<br />
wissen, wie viele Opfer der Krieg in der Sowjetunion und in China<br />
gekostet hat, so bleibt jedoch klar, dass beide Länder am stärksten<br />
unter Krieg und Besatzung zu leiden hatten.<br />
66 Zusammenfassend: Gerlach, Extremely Violent Societies, S. 17–91.<br />
Neuerscheinungen bei V&R<br />
!<br />
Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hg.)<br />
NS-Prozesse und<br />
deutsche Öffentlichkeit<br />
Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik<br />
und DDR<br />
Schriften des Hannah-Arendt-<strong>Institut</strong>s, Band 45.<br />
2011. 456 Seiten, gebunden<br />
€ 62,95 D<br />
ISBN 978-3-525-36921-0<br />
Der Band analysiert, wie die Öffentlichkeit<br />
in der frühen Bundesrepublik<br />
und DDR auf die NS-Prozesse<br />
reagierte.<br />
Manfred Gailus / Armin Nolzen (Hg.)<br />
Zerstrittene<br />
»Volksgemeinschaft«<br />
Glaube, Konfession und Religion<br />
im Nationalsozialismus<br />
2011. 325 Seiten mit 10 Abb., gebunden<br />
€ 39,95 D<br />
ISBN 978-3-525-30029-9<br />
Die Beiträge dieses Bands untersuchen<br />
die komplexen, erstaunlich<br />
pluralisierten Religionsverhältnisse<br />
im Nationalsozialismus.<br />
Nicole Kramer<br />
Volksgenossinnen<br />
an der Heimatfront<br />
Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung<br />
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der<br />
Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd 82.<br />
2011. 392 Seiten, gebunden<br />
€ 54,95 D<br />
ISBN 978-3-525-36075-0<br />
Die Studie untersucht bisher wenig<br />
beachtete Mobilisierungsformen<br />
und Bindekräfte der nationalsozialistischen<br />
Kriegsgesellschaft am<br />
Beispiel der »Volksgenossinnen«.<br />
Weitere Informationen zu diesen Bänden sowie Leseproben fi nden<br />
Sie unter www.v-r.de<br />
Postanschrift: 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de<br />
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