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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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exemplarischen Einblick in die gegenwärtige Erinnerungsforschung<br />

gewähren und auf künftige Herausforderungen hinweisen. Erstens<br />

kann von einer Expansion sowohl in geografi scher als auch in inhaltlicher<br />

Hinsicht gesprochen werden. So werden unter anderem das<br />

historische Bewusstsein in Familienerzählungen im heutigen Serbien<br />

und Kroatien (Natalja Bašić, CEM), der Umgang mit den realsozialistischen<br />

Diktaturen innerhalb westeuropäischer kommunistischer<br />

Milieus (Kevin Morgan, AEM), die Entschuldigungen für die staatlich<br />

organisierte Entwendung von Kindern aus indigenen Familien<br />

in Australien (Danielle Cellermajer, Dirk A. Moses, MGA) und der<br />

Ort des Vietnamkrieges in der Auseinandersetzung der Neuen Linken<br />

mit dem Holocaust (Berthold Molden, MGA) diskutiert. Einige Autorinnen<br />

und Autoren reißen die zukünftige Bedeutung europäischer<br />

Kolonialismen für Erinnerungskonfl ikte in Europa an. Die beiden<br />

diesbezüglichen Aufsätze thematisieren jedoch regional begrenzte<br />

Fälle (Jan Jansen zu Frankreich und den Algerienkrieg, Lars Elenius<br />

zu fi nno-ugrischen Minderheiten in Skandinavien; beide AEM).<br />

Neben der Ausdehnung erinnerungskultureller Debatten ist<br />

zweitens die zunehmende Beschäftigung mit der Frage nach dem<br />

Grad an Entnationalisierung von Erinnerung auffällig. Dass Erinnerungen<br />

den nationalstaatlichen Container verlassen, bildet die<br />

grundlegende Erkenntnis aller vorliegenden Studien. Ob deshalb<br />

von der Herausbildung übergeordneter Erinnerungsräume mit eigenen<br />

Charakteristika gesprochen werden kann, ist zu bezweifeln.<br />

Laut Cecilie Felicia Stokholm Banke (AEM) sind zentrale Momente<br />

länderübergreifenden Holocaustgedenkens – Menschenrechte,<br />

Pazifi smus oder militärisches Eingreifen mit der Rechtfertigung<br />

der Friedensherstellung – universell oder zumindest westlich und<br />

nicht auf Europa beschränkt. Auch die Auseinandersetzung mit japanischen<br />

Kriegsverbrechen in ostasiatischen Gesellschaften ist<br />

als konfl ikthafte Regionalisierung, nicht als Vereinheitlichung zu<br />

verstehen (Sebastian Conrad, MGA).<br />

Über welche Transmissionsriemen Erinnerung – sei es in Form<br />

konkreter Inhalte, sei es in Form ähnlicher Erinnerungspraktiken –<br />

nationalstaatliche und andere kollektive Begrenzungen überschreitet,<br />

ist drittens zu klären. Das Trauma dient dabei oft als gemeinsamer<br />

nicht nur psychologischer, sondern auch soziologischer Bezugspunkt,<br />

wodurch historische Unterschiede in den Hintergrund zu<br />

treten drohen (Natan Sznaider, CEM). Innovative Einblicke bieten<br />

die Texte von Grace Bolton und Nerina Muzurović zur ethnienübergreifenden<br />

Aufstellung einer Bruce-Lee-Statue in der fragmentierten<br />

Stadt Mostar, von Ana Sobral zu erinnerungsbezogenen Elementen<br />

in globaler Fusion Music (z. B. Manu Chao, Matisyahu) sowie von<br />

Aleida und Corinna Assmann zur Youtube-Karriere der getöteten<br />

Teheraner Demonstrantin Neda (alle MGA). Bemerkenswerterweise<br />

geht kein einziges der über fünfzig Kapitel detailliert auf Migration<br />

und Diasporagemeinschaften ein.<br />

Eine weitere Tendenz betrifft viertens den vermehrt artikulierten<br />

Einwand, dass erinnerungspolitische Anstrengungen – zumal<br />

86 Rezensionen<br />

jenseits nationaler und sprachlicher Grenzen – nur dann funktionieren<br />

können, wenn vermittels demokratischer Verfahren eine entsprechende<br />

Öffentlichkeit und Akzeptanz geschaffen werden. In seinem<br />

wegweisenden Essay argumentiert Jan-Werner Müller (AEM), dass<br />

verstrickte (entangled) Geschichte und kollektive Erinnerungen geregelter<br />

öffentlicher Diskussion zu unterwerfen seien, um sie in<br />

einem supranationalen Raum wie der EU verständlich zu machen.<br />

In den Vorworten zu allen drei Sammelbänden wird die Wichtigkeit<br />

der geschichtswissenschaftlichen Forschung als Ergänzung und Korrektiv<br />

zu Erinnerung betont, ohne dabei einer Legitimationsfunktion<br />

von Historikerinnen und Historikern das Wort zu reden.<br />

Fünftens existiert in diesem interdisziplinären Forschungsfeld<br />

eine Parallelität von kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Ansätzen<br />

und dem Versuch, erinnerungsbezogene Fragen mit den Mitteln<br />

der empirischen Sozialforschung zu beantworten. Während bei ersterer<br />

Vorgehensweise die Gefahr des Abgleitens ins Spekulative und<br />

unzulässig Verallgemeinernde besteht, können quantitative Befragungen<br />

und qualitative Interviews bestenfalls einen eingeschränkten<br />

Teil der Wirklichkeit abbilden. Beispielsweise hängt Jie-Hyun Lie<br />

(MGA) seine Abhandlung zu südkoreanischem Opfernationalismus<br />

an der Kontroverse um ein Buch auf. Ob von der Europäisierung der<br />

Holocausterinnerung in Polen und Deutschland gesprochen werden<br />

kann, sucht Małgorzata Pakier (AEM) anhand einer Fallstudie zu<br />

Rezeption des Filmes EUROPA, EUROPA festzustellen. Am anderen<br />

Ende steht eine von Oliver Rathkolb (CEM) vorgelegte empirische<br />

Teilstudie zur Wahrnehmung des Holocaust sowie zu autoritären<br />

und antisemitischen Einstellungen in Tschechien, Polen, Ungarn<br />

und Österreich, deren Ergebnisse trotz des repräsentativen Samples<br />

keine klaren Schlüsse bezüglich einer länderübergreifenden oder gar<br />

europäischen Erinnerung zulassen.<br />

Bei allen drei Werken zum Thema Erinnerung jenseits nationalstaatlicher<br />

Zusammenhänge handelt es sich um überzeugend<br />

komponierte Bände, die auf ein erweitertes Fachpublikum abzielen.<br />

Konzeptionelle Redundanzen (so beispielsweise mehrmalige<br />

Referenzen auf die gedächtnistheoretischen Grundlagentexte von<br />

Maurice Halbwachs sowie von Aleida und Jan Assmann oder wiederkehrende<br />

Bezugnahmen auf Mark Mazowers und Tony Judts<br />

Standardwerke zur europäischen (Nachkriegs-)Geschichte) halten<br />

sich in einem äußerst erträglichen Rahmen. Bis dato weniger breit<br />

diskutierte Themenstränge wie private und öffentliche Erinnerung an<br />

europäische Kolonialismen, die Rolle sozialer Medien bei der Verbreitung<br />

und Entgrenzung von Erinnerung oder Orte demokratischer<br />

Aushandlung von Gedenken, Erinnerungspolitik und historischem<br />

Lernen bedürfen indes breiter angelegter Studien, als dies in den<br />

knappen Beiträgen von Anthologien möglich ist.<br />

Elisabeth Kübler<br />

Wien<br />

Brüchige Gewissheiten in den Briefen<br />

Rahel Levin Varnhagens<br />

Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre<br />

Freunde<br />

Hrsg. von Barbara Hahn. Mit einem Essay<br />

von Brigitte Kronauer<br />

Göttingen: Wallstein Verlag, 2011, 6 Bde.,<br />

zus. 3.310 S., € 69,–<br />

Zum ersten Mal ist das Buch des Andenkens<br />

in der letzten, durch Karl August Varnhagen<br />

vorbereiteten Fassung erschienen. Die Herausgeberin Barbara Hahn<br />

macht darauf aufmerksam, dass man wesentliche Dimensionen des<br />

Verstehens dieser einzigartigen Publikation verfehlt, wenn man die<br />

Briefe nur als subjektives Ausdrucksmedium liest, das sich allenfalls<br />

zu einem Zwiegespräch erweitert. Vielmehr soll das Buch des Andenkens<br />

einen Raum des Verstehens eröffnen, an dem viele beteiligt sind.<br />

Berühmte Salonière der Goethezeit und Romantik, Protagonistin<br />

weiblicher Emanzipation, geistreiche Autorin eines außergewöhnlichen<br />

Briefkorpus sind bekannte Benennungen, die mit dem<br />

Namen Rahel Levin Varnhagen assoziiert werden und in keinem<br />

Beitrag zu ihrem Leben und Werk fehlen. Doch wer sich in das<br />

Buch des Andenkens vertiefen will, der muss diese vereinfachenden<br />

und konventionellen Lesarten erst einmal beiseiteschieben. Bereits<br />

Hannah Arendt hat in ihrer Biografi e die Gleichung zwischen Rahel<br />

und der Romantik hinterfragt. Sie spricht von einer doppelten<br />

Exponiertheit als Frau und Jüdin, die dazu geführt hat, dass alle<br />

Assimilierungsversuche begleitet waren von einem eigentümlichen<br />

Zögern Rahels. Dieses Zögern verhindert die Identifi kation mit der<br />

angestrebten gesellschaftlichen Identität und lenkt ihr Denken in die<br />

Richtung einer Differenzierung ihres Urteilsvermögens. Gleichheit<br />

durch Vernunft und Selbstdenken, wie es die Aufklärung versprach,<br />

oder ästhetisch-romantisch durch Einfallsreichtum und Fantasie<br />

– alle diese Identitätsangebote werden durch Erfahrung auf ihren<br />

Wirklichkeitsgehalt überprüft. Die Briefe verlassen die Ebene der<br />

Selbstbezüglichkeit und verweisen auf Gesellschaft und Geschichte.<br />

Obwohl nur die Briefe Rahels dokumentiert sind, bildet sie<br />

nicht das auktoriale Zentrum, und obwohl die Briefe chronologisch<br />

geordnet sind, haben wir es nicht mit einer Entwicklungsgeschichte<br />

der Briefeschreiberin zu tun. Je nachdem, an wen der Brief adressiert<br />

wird, werden bestimmte Fragestellungen und Themen konfi guriert,<br />

zeigt die Schreiberin, dass sie antwortet, ist das Sprechen anders.<br />

Nicht »eine Geschichte« entsteht, sondern »viele Geschichten« (Barbara<br />

Hahn), die sich miteinander verzweigen, sodass sich zu jedem<br />

Brief verschiedene Zugänge eröffnen. Damit hat eine neue Form<br />

intersubjektiver Geschichtsschreibung begonnen, die nur im Medium<br />

des Briefes Gestalt annehmen konnte: die der Vielstimmigkeit.<br />

Rahels Vorbehalt gegenüber eindeutigen Identifi zierungen beruht<br />

auf Erfahrungen, und nur durch Erfahrungen weiß sie von den<br />

»lügenhaften Selbstidentifi zierungen« der Gesellschaft. Was sie lernt<br />

ist, dass ein unkonventioneller Lebensstil nicht identisch ist mit<br />

Vorurteilslosigkeit und gesellschaftlicher Gleichheit, dass Vernunft<br />

nicht bereits einen neuen Menschen kreiert. Antijüdische Ressentiments<br />

artikulieren sich nicht nur auf den Straßen, sondern auch<br />

in den geistigen Kreisen, in denen sie verkehrte, offen und hinter<br />

vorgehaltener Hand. Also muss sie experimentieren, wenn sie sich<br />

mitteilen will. Das, was mündlich häufi g nicht gesagt werden kann,<br />

weil das Gespräch verweigert wird, fi ndet nun seinen Weg in den<br />

Brief. Die Briefe werden zum Treffpunkt der Wahrheit.<br />

Verschiedener könnten die Adressaten der Briefe nicht sein. Zu<br />

ihnen gehören der schwedische Diplomat Gustav von Brinckmann<br />

und der dänische Legationsrat Georg Wilhelm von Bokelmann, der<br />

Jugendfreund David Veit und die Familie Levin, der preußische<br />

Politiker Friedrich von Gentz, die Schauspielerin Auguste Brede,<br />

Pauline Wiesel (die Geliebte des preußischen Prinzen), der Adlige<br />

Alexander von der Marwitz und der Ehemann August von Varnhagen,<br />

die Gräfi nnen Schlabrendorf und Pachta, die Brentanos, Börne,<br />

Heine und viele andere mehr. Nur in einer Frage, wie sie sich gegenüber<br />

ihrer jüdischen Herkunft verhalten soll, kann sie sich nur an<br />

die besten Freunde wenden. Mit Bettine von Arnim gibt es bereits<br />

Verständigungsschwierigkeiten, Clemens Brentano äußert sich offen<br />

feindlich und antisemitisch. Nicht erst durch die Zurücknahme des<br />

Emanzipationsedikts von 1812 in der Zeit der Restauration und die<br />

1819 ausbrechenden Pogrome weiß Rahel, dass es Erfahrungen<br />

gibt, die sie nicht mit allen teilen kann. »Nur die Galeerensklaven<br />

kennen sich«, schreibt sie an David Veit. Zu ihnen gehören auch<br />

Heinrich Heine und ihr Bruder Ludwig Robert, mit dem sie offen<br />

über politische Fragen diskutieren kann.<br />

Fünf Bände, 1.599 Briefe – dennoch ist nichts gedankenloser als<br />

die Frage eines Rezensenten: Wer soll das alles lesen? Band 6 der<br />

Ausgabe versammelt Beiträge, die das Besondere dieses editorischen<br />

Entwurfs nachvollziehbar machen: das ausgezeichnete Nachwort der<br />

Herausgeberin, in der die Geschichte der Entstehung des Buchs des<br />

Andenkens erzählt wird, das Netzwerk sämtlicher Adressaten, ein<br />

biografi sches und ein Namensregister. Sie alle bilden die Elemente<br />

eines Rahmens, der dem Leser Erkundungsmöglichkeiten eröffnet,<br />

sich auf die konkrete Materialität des Textes einzulassen und zugleich<br />

völlig frei in ihm zu bewegen.<br />

Ingeborg Nordmann<br />

Bensheim<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011 87

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