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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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Da der WJC – nach einem erfolglosen Anlauf bei der designierten<br />

Nürnberger Anklagevertretung – auch in Lüneburg keine<br />

organisierte Interessenvertretung in Form eines amicus curiae hatte<br />

installieren können, waren die jüdischen Zeugen der Anklage in dem<br />

Prozess weitgehend auf sich gestellt. Cramer misst dem Auftritt dieser<br />

Zeugen eine herausgehobene Bedeutung zu, bewirkten doch ihre<br />

Aussagen, dass »der in der Anklageschrift so abstrakt formulierte<br />

Tatbestand der Kriegsverbrechen auf im wahrsten Sinne des Wortes<br />

überwältigende Weise« (S. 162) konkretisiert worden sei. Gleichzeitig<br />

macht der Autor aber auch deutlich, dass der Gerichtsauftritt für<br />

die meisten Opfer eine durchaus ambivalente Erfahrung darstellte.<br />

Dies sei einerseits den Versuchen der Verteidigung geschuldet gewesen,<br />

die Überlebenden durch Hinweise auf Erinnerungslücken zu<br />

diskreditieren. Andererseits habe aber auch die Staatsanwaltschaft<br />

durch ihre Fokussierung auf zahllose Einzelhandlungen und eine<br />

ebenso plakative wie unsensible Rhetorik dazu beigetragen, dass<br />

Empathie für die Opfer in diesem Prozess eher die Ausnahme als<br />

die Regel war.<br />

In seiner Schlussbetrachtung ordnet der Autor den Belsen-<br />

Prozess dann in das größere Tableau des westalliierten Kriegsverbrecherprogramms<br />

in Deutschland ein. Wie schon Eberhard Kolb,<br />

der bereits 1962 eine erste wissenschaftliche Untersuchung zu dem<br />

Lüneburger Verfahren vorlegte, kommt auch Cramer zu dem Schluss,<br />

es habe sich um ein faires und rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren<br />

gehandelt. Gewisse Schwächen seien zum Teil durch die<br />

Koppelung der beiden Verbrechenskomplexe Bergen-Belsen und<br />

Auschwitz begründet gewesen, da das Gericht dadurch zuweilen den<br />

Überblick verloren habe. Ein anderes Problem sieht er darin, dass<br />

das Verfahren von allen Beteiligten als eine Art »Probelauf« für den<br />

bevorstehenden Hauptkriegsverbrecherprozess wahrgenommen worden<br />

sei (S. 395). Diese Perspektive habe aber weder der rechtlichen<br />

noch der symbolischen Bedeutung des Belsen-Prozesses gerecht<br />

werden können: »Lüneburg konnte und wollte nicht Nürnberg sein<br />

– Ziel des Prozesses war die Bestrafung von ausführenden Tätern<br />

der untersten Hierarchiestufen, nicht des Regimes an sich. Die Signalwirkung,<br />

die von den Urteilen ausgehen sollte, zielte auf einen<br />

Bewusstseinswandel in der deutschen Bevölkerung, nicht aber auf<br />

die Schaffung einer ›Magna Charta des Weltgerichts‹ […].« (S. 396)<br />

Vor diesem Hintergrund dürfte Cramer auch mit seiner Einschätzung<br />

richtig liegen, dass es den pädagogisch »richtigen« Zeitpunkt<br />

für den Prozess nicht gegeben habe (S. 401) – so verschwommen<br />

das Konzept eines didaktischen Einsatzes von Strafprozessen auch<br />

ist. Nachdem »Lüneburg« kurzzeitig den sadistischen SS-Täter ins<br />

Rampenlicht geholt hatte, konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit<br />

danach auf die »Großen« des Regimes (S. 397). Auch<br />

wenn die erinnerungskulturellen Wirkungen des Verfahrens somit<br />

alles in allem marginal blieben, zeigt diese materialreiche Studie<br />

in eindrucksvoller Weise, was bereits in den ersten Nachkriegsjahren<br />

über Lager wie Bergen-Belsen und Auschwitz alles gewusst<br />

werden konnte. Es ist daher zu hoffen, dass Cramers Buch die ihm<br />

gebührende Beachtung fi ndet – auch wenn die starre Systematik des<br />

Aufbaus und das fehlende Personenverzeichnis dessen Lesbarkeit<br />

leider mitunter etwas beeinträchtigen.<br />

Annette Weinke<br />

Jena<br />

Betrachtungen des langen Prozesses<br />

gegen John (Iwan) Demjanjuk<br />

Matthias Janson<br />

Hitlers Hiwis. Iwan Demjanjuk und die<br />

Trawniki-Männer<br />

Hamburg: Konkret Verlag, 2010, 119 S.,<br />

€ 14,–<br />

Heinrich Wefi ng<br />

Der Fall Demjanjuk. Der letzte große<br />

NS-Prozess<br />

München: C.H. Beck Verlag, 2011, 231 S.,<br />

€ 19,95<br />

Angelika Benz<br />

Der Henkersknecht. Der Prozess gegen<br />

John (Iwan) Demjanjuk in München<br />

Berlin: Metropol Verlag, 2011, 248 S.,<br />

€ 19,–<br />

Im Mai 2011 wurde der Prozess gegen John<br />

(Iwan) Demjanjuk (s. <strong>Einsicht</strong> 02, Herbst<br />

2009), der erste in Deutschland gegen einen<br />

»fremdvölkischen Hilfswilligen« aus dem<br />

SS-Ausbildungslager Trawniki geführte, in<br />

München mit einem Schuldspruch beendet.<br />

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass<br />

Demjanjuk als Wachmann im Vernichtungslager<br />

Sobibór an der Massenvernichtung<br />

der Juden beteiligt gewesen ist. Die<br />

drei Monografi en, die zu dem deutschen<br />

Verfahren gegen Demjanjuk bis jetzt vorliegen,<br />

haben eines gemeinsam: Sie alle<br />

78 Rezensionen<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011<br />

enthalten für die historische Erforschung des Lagers Trawniki und<br />

den Taten der »Hilfswilligen« kaum neue Erkenntnisse, sondern<br />

stützen sich in diesem Punkt weitestgehend auf bereits vorliegende<br />

Studien. Das liegt mit Sicherheit daran, dass der Verurteilte in<br />

diesem, wie in den vorangegangenen Prozessen in den USA und<br />

Israel, sich nicht zu seiner Beteiligung am Vernichtungsprozess<br />

geäußert hat. Von dieser im Gegenstand begründeten Gemeinsamkeit<br />

abgesehen, unterscheiden sich die drei Autoren sehr stark in<br />

ihrer Schwerpunktsetzung und in ihrer Positionierung gegenüber<br />

der Causa Demjanjuk.<br />

Matthias Jansons Buch Hitlers Hiwis ist bereits im Herbst 2010<br />

erschienen und beinhaltet eine kompakte Zusammenstellung des<br />

Forschungsstandes zu dem Lager Trawniki und der Beteiligung<br />

der dort Ausgebildeten an Ghettoräumungen und am Betrieb der<br />

Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«. Der freie Autor möchte<br />

mit seinem Buch die Grundlage schaffen, um von der Einheit<br />

der Trawnikis und ihrer Rolle für die NS-Vernichtungspolitik auf<br />

den Einzelnen zu schließen. Für Janson steht fest, dass die aus<br />

den Kriegsgefangenenlagern rekrutierten Hilfswilligen spätestens<br />

im Lager Trawniki von der Judenvernichtung erfahren haben. Er<br />

betont die lang unterschätzte, wichtige Rolle der Trawnikis für<br />

den arbeitsteilig organisierten Massenmord und kommt zu dem<br />

Schluss: »Aus der Perspektive der Historiker ist der Schuldspruch<br />

gegen Demjanjuk längst gefällt worden.« (S. 26) Außerdem fi ndet<br />

sich bei Janson im Vergleich zu den beiden anderen Büchern die<br />

ausführlichste kritische Betrachtung des Prozesses in den 1970er<br />

Jahren gegen die Trawniki-Lagerleiter, deren Biografi en alle kurz<br />

referiert werden; die Prozessgeschichte Demjanjuks hingegen ist<br />

bei Benz und insbesondere bei Wefi ng wesentlich detaillierter<br />

dargestellt. Die im Anhang dokumentierten Interviews Jansons<br />

mit Frank Golczewski, Annette Weinke und Tom Segev vermitteln<br />

einen guten Eindruck von der Schwierigkeit der strafrechtlichen<br />

Verfolgung von NS-Tätern und besonders der Beurteilung der<br />

Trawnikis.<br />

Anders als Janson plädiert der Journalist Heinrich Wefi ng, der vielen<br />

der Münchener Verhandlungstage beigewohnt hat, im Zweifel für<br />

den Angeklagten, gibt dem Zweifel sehr viel Raum und möchte<br />

lieber von einer »Rechtswidrigkeit« als von »Schuld« sprechen<br />

(vgl. S. 202). Sein Buch Der Fall Demjanjuk ist auf die Person<br />

Demjanjuks konzentriert und enthält die detailreichste Darstellung<br />

der langen Vorgeschichte bis zu dem Prozess in München. Unter<br />

den Porträts der anderen Beteiligten fi ndet sich auch eines von<br />

Thomas Walter, dessen Bedeutung als Mitarbeiter der Ludwigsburger<br />

Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen<br />

für das Münchener Verfahren in Wefi ngs Buch am<br />

gründlichsten herausgearbeitet wird. Im Epilog problematisiert der<br />

Autor die Selbstverständlichkeit, mit der bei den Verhandlungen<br />

NS-Begriffe verwendet wurden, wird aber seinen eigenen Ansprüchen<br />

an sprachliche Sensibilität nicht gerecht. So kritisiert er zwar<br />

den von Demjanjuks Verteidiger gebrauchten Begriff der »Zwangsdeportation«<br />

für die Abschiebung des Angeklagten aus den USA<br />

nach Deutschland (vgl. S. 119 u. S. 178), meint aber an anderer<br />

Stelle, dass kein Land verpfl ichtet sei, »Menschen aufzunehmen, die<br />

aus Amerika deportiert werden sollen« (S. 95). Zusätzlich schadet<br />

Wefi ng seiner Darstellung, wenn er durch die Ansammlung von<br />

Details eine besondere Sachkenntnis suggerieren möchte und damit<br />

im Gegenteil zu einer Verfl achung beiträgt. Ebenso ärgerlich ist die<br />

ständig wiederholte Behauptung der Schicksalhaftigkeit und der<br />

Tragik des Falles Demjanjuk.<br />

Die Historikerin Angelika Benz, die mit Der Henkersknecht das eindringlichste<br />

und ausführlichste Beobachtungszeugnis des Münchener<br />

Prozesses vorgelegt hat, beweist sehr viel sprachliches und damit<br />

sachliches Feingefühl, wenn sie sich nicht mit Kritik der augenfälligen<br />

Provokationen des Verteidigers bescheidet. Für sie war nämlich<br />

eine der abschließenden Äußerungen des Richters skandalös, mit<br />

der er die Arbeitsjuden in den Vernichtungslagern auf die Täterseite<br />

gestellt habe und der Argumentation der Verteidigung dadurch sehr<br />

nahe gekommen sein soll (vgl. S. 233). Benz hat als Beobachterin<br />

den Prozess kontinuierlich begleitet und schafft es sehr gut, dem<br />

Leser einen Eindruck von den Verhandlungen zu vermitteln. Da<br />

das Ausbildungslager Trawniki der Gegenstand ihrer Promotionsforschung<br />

ist, ist ihre Darstellung des Lagers die kenntnisreichste.<br />

Der Prozess war für die Forscherin enttäuschend, sie misst ihm aber<br />

eine große symbolische Wirkung zu.<br />

Jérôme Seeburger<br />

Offenbach am Main<br />

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