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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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Zwischen allen Stühlen<br />

Paul Léautaud<br />

Kriegstagebuch 1939–1945<br />

Aus dem Franz. von Hanns Grössel<br />

Berlin: Berenberg Verlag, 2011, 191 S.,<br />

€ 20,–<br />

Der französische Schriftsteller Paul<br />

Léautaud (1872–1956) schrieb Literatur-<br />

und Theaterkritiken sowie Essays. Er war von 1905 bis 1941 Lektor<br />

beim Verlag Mercure de France. Vor allem aber schrieb er Tagebuch<br />

vom 3. November 1893 bis kurz vor seinem Tod (22.2.1956) – fast<br />

63 Jahre lang. In der französischen Ausgabe umfasst dieses Oeuvre<br />

19 Bände. Eine Auswahl erschien 1966 auch auf Deutsch. 1944<br />

plante Léautaud die Herausgabe seiner während des Krieges von<br />

1939 bis 1945 entstandenen Notizen. Dazu kam es nicht, aber die<br />

von Hanns Grössel edierte und übersetzte Ausgabe im Berenberg<br />

Verlag holt das nun nach.<br />

Der Autor passt in keine Schublade und setzte sich zwischen alle<br />

Stühle. Er war ein radikaler Kriegsgegner schon im Ersten Weltkrieg,<br />

was ihn nicht von der Bewunderung für Ernst Jünger abhielt, den<br />

er im Salon der reichen Franco-Amerikanerin Florence Gould am<br />

4. Mai 1944 in Paris kennen und schätzen lernte. Léautaud lehnte<br />

jedoch nicht nur den Krieg ab, sondern auch die Résistance (»was<br />

diese Leute tun, ist wieder Krieg« S. 84) und noch entschiedener<br />

die Demokratie: »Die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht führen<br />

zum Unglück eines Landes, besser gesagt: zu seiner Erniedrigung,<br />

seiner Verdummung.« (S. 120)<br />

Auch nach seiner Selbsteinschätzung passte er in kein Lager<br />

und ordnete sich sozusagen im Niemandsland ein: »Ich bin durchaus<br />

nicht rechts, eher links, im landläufi gen Sinne dieser Begriffe. Ich<br />

weiß sehr wohl, was ich bin: nichts, neutral, unabhängig, randständig.«<br />

(S. 98) Freilich war dieses Niemandsland keineswegs neutral,<br />

denn nach seiner Vorstellung herrschten dort Hierarchie, Ordnung<br />

und Elite. Immerhin sollte es auch Pressefreiheit und Lehrfreiheit<br />

geben und »Schranken« für »die Großfi nanz«. Regierende sollten<br />

zur »moralischen und fi nanziellen Verantwortung« (S. 99) gezogen<br />

werden.<br />

Zwei Grundzüge durchziehen das »Kriegstagebuch« – ein plakativer<br />

Nonkonformismus und grobianische antisozialistische Ressentiments<br />

insbesondere gegen die Volksfrontregierung unter Léon<br />

Blum, der Jude war. Dessen Sozialpolitik fertigte er pauschal als<br />

»Demagogie, Demagogie, Demagogie« (S. 59) ab. Im Gegensatz zu<br />

vielen Intellektuellen, mit denen er in Kontakt stand, war Léautaud<br />

aber zu radikal und zu intelligent, um ein vulgärer Antisemit zu<br />

74 Rezensionen<br />

werden wie etwa Pierre Drieu La Rochelle (»Ich mag keine Päderasten.<br />

Auch keine Juden« (S. 41)), ganz zu schweigen von den<br />

tonangebenden Politikern des Vichy-Regimes wie Pétain und Laval.<br />

Große Nachsicht übte Léautaud dagegen gegenüber den deutschen<br />

Besatzern (»die behandeln uns höfl ich«), denen er allerdings<br />

auch zutraute, dass sie »bei der erstbesten Gelegenheit uns erwürgen<br />

werden« (S. 41). Aber nicht nur den militärischen Besatzern,<br />

sondern auch Hitler war Léautaud wohlgesonnen. Lange nach dem<br />

Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion, als Hitlers Niederlage<br />

absehbar geworden war, hoffte er noch auf einen Sieg des Nationalsozialismus<br />

und damit auf eine »Reorganisierung Europas durch<br />

Deutschland«.<br />

Trotz aller Exaltiertheiten verfügte Léautaud durchaus über eine<br />

realistische Selbsteinschätzung und räumt Mitte 1942 ein, »dass ich<br />

bereits mit zwanzig Jahren etwas xenophob war allen zweifelhaften<br />

Ausländern gegenüber, die damals schon in Paris zu sehen waren,<br />

leicht antisemitisch (in literarischer Hinsicht) und stark antidemokratisch,<br />

zugleich antisozial und antipatriotisch« (S. 93).<br />

In politischer Hinsicht ist das Kriegstagebuch ein schwer erträgliches<br />

Sammelsurium von Fehleinschätzungen, Irrtümern und<br />

Frivolitäten. Bedeutung gewinnt das Tagebuch dagegen als Zeugnis<br />

der beengten und gefährdeten Existenz eines radikalen intellektuellen<br />

Sonderlings. 1914 pfl egte er in seinem Einsiedlerrefugium »38<br />

Katzen, 22 Hunde, 1 Ziege und 1 Gans« (S. 167). Zu Beginn des<br />

Krieges 1939 waren es immerhin noch 7 Katzen und 2 Hunde, am<br />

20.11.1945 nur noch 3 Katzen. Dem Tierfreund fehlten schlicht die<br />

Mittel, seine Lieblinge zu ernähren. In seinem Testament verfügte<br />

er auch, welche Tiere von welchen Freunden übernommen werden<br />

sollten, falls sie bei seinem Tod noch lebten. Bereits 1942 begann<br />

er, mit Möbeln zu heizen (»man hat immer zu viele Möbel«, S. 47),<br />

und stellte sarkastisch fest: »Eine neue Annehmlichkeit seit gestern:<br />

das Gas im Kochherd gibt so viel Wärme wie eine Kerze. Kartoffeln<br />

muss man um 9 Uhr früh aufsetzen, wenn sie mittags gar sein<br />

sollen.« (S. 80) Am 22. August 1941 notierte er: »Seit drei Tagen<br />

bin ich ohne Brot. Keine Marken mehr« (S. 65), und ein Jahr später<br />

beschreibt er sein Leben als eines mit »Bärenhunger« (S. 86). Von<br />

der Besetzungsmacht nahm er kein Geld.<br />

Seine Polemik gegen »den neidischen und gehässigen und<br />

stumpfsinnigen und gierigen Demos« erfuhr einen Hauch von Berechtigung,<br />

als Léautaud bei Kriegsende an seiner Gartenmauer<br />

eines Tages eine Inschrift vorfand mit dem Satz: »Hier wohnt ein<br />

Kollaborateur.« (S. 160) Angesichts der Selbstjustiz des französischen<br />

Volkes 1945 und der politisch geförderten Rachejustiz war<br />

das eine gefährliche Denunziation, die den Autor hätte das Leben<br />

kosten können. Ein Kollaborateur war Léautaud nicht, ein politischer<br />

Hasardeur allemal.<br />

Rudolf Walther<br />

Frankfurt am Main<br />

»Buchenwaldkinder« fürs Image?<br />

Madeleine Lerf<br />

»Buchenwaldkinder« – eine Schweizer<br />

Hilfsaktion<br />

Zürich: Chronos Verlag, 2010, 443 S.,<br />

€ 44,–<br />

Im Juni 1945, nur wenige Wochen nach<br />

Kriegsende, kamen 374 junge Menschen<br />

aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald in die Schweiz.<br />

Ihnen sollte ein sechsmonatiger »Erholungsaufenthalt« ermöglicht<br />

werden. So leitet die Historikerin Madeleine Lerf ihre Fallstudie zu<br />

einer außergewöhnlichen humanitären Hilfsaktion der Schweiz ein,<br />

die 2010 in der Veröffentlichungsreihe des Archivs für Zeitgeschichte<br />

der ETH Zürich erschienen ist.<br />

Für die vom Krieg unversehrte, aber isolierte Schweiz stellte<br />

sich die Frage, wie sie sich an der Nachkriegshilfe in Europa beteiligen<br />

könnte. Ein Beitritt zum Hilfswerk der Siegermächte (UNRRA)<br />

kam damals aus Neutralitätsgründen nicht infrage, stattdessen wurde<br />

Ende 1944 ein eigenes Hilfswerk mit dem Namen »Schweizer<br />

Spende« eingesetzt. Zu Kriegsende bot das Schweizer Hilfswerk<br />

den Alliierten an, für ein halbes Jahr 2.000 Kinder im Alter bis zu<br />

maximal zwölf Jahren aus Konzentrationslagern vorübergehend<br />

zur Erholung aufzunehmen. Die Regierung beabsichtigte damit,<br />

ihr Image bei den alliierten Siegermächten aufzubessern. Als die<br />

Beauftragte des Hilfswerks am 15. Juni 1945 im Konzentrationslager<br />

Buchenwald eintraf, erfuhr sie, dass Kinder in den Konzentrationslagern<br />

kaum Überlebenschancen gehabt hatten. Sie fuhr schließlich<br />

mit einer Gruppe junger Menschen im Zug nach Basel, von denen<br />

mehr als die Hälfte älter als siebzehn und meistens jüdisch waren.<br />

Die Organisatoren der Hilfsaktion waren darauf so gut wie nicht<br />

vorbereitet, und die »Schweizer Spende« stellte daraufhin ihr Hilfsangebot<br />

rasch wieder ein.<br />

Auch wenn der Aufenthalt in der Schweiz wesentlich länger<br />

dauerte als ursprünglich geplant, so war niemals die Rede davon,<br />

diese kleine Gruppe von 374 Menschen aus Buchenwald ganz in<br />

der Schweiz aufzunehmen. Das »Transmigrationsprinzip«, das die<br />

Politik der Schweiz gegenüber den vom Nationalsozialismus Verfolgten<br />

von Anfang an bestimmt hatte, wurde auch nach dem Krieg<br />

nicht infrage gestellt. Viele der »Buchenwalder« waren aber staatenlos.<br />

Es gab also kein Land, wohin sie selbstverständlich hätten<br />

ausreisen können, und es dauerte lange, bis sie ein Einreisevisum<br />

für ein anderes Land erwirken konnten. Manche von ihnen verbrachten<br />

Jahre mit wechselnden Unterbringungen, beschränkten<br />

Ausbildungsmöglichkeiten und einer ungewissen Zukunft. Madeleine<br />

Lerf weist an dieser Stelle die Kontinuitäten der restriktiven<br />

und antisemitischen Flüchtlingspolitik aus der Kriegszeit genauso<br />

präzise nach wie auch die Brüche und Neuerungen im Umgang mit<br />

den Überlebenden.<br />

Mit ihrem akteurzentrierten Ansatz untersucht sie das Spannungsfeld<br />

zwischen Planung und praktischer Umsetzung, eine Diskrepanz,<br />

die in der Forschung meist unterschätzt wird. Ihr Augenmerk<br />

liegt zum einen auf den beteiligten <strong>Institut</strong>ionen: der Schweizer<br />

Spende, der UNRRA, der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten<br />

Kreuzes sowie den verschiedenen jüdischen Organisationen zum<br />

anderen, und nicht zuletzt nimmt sie auch die Hilfeempfänger als<br />

Akteure wahr. Dabei kann Lerf zeigen, welche unerträglichen Folgen<br />

das Tauziehen um den Verbleib, die Unterbringung und Betreuung<br />

der Flüchtlinge zwischen verschiedenen politischen <strong>Institut</strong>ionen und<br />

Hilfswerken bei allem guten Willen immer wieder für die einzelnen<br />

Betroffenen hatte.<br />

Einfühlsam und differenziert beschreibt die Autorin den Alltag<br />

der Holocaustüberlebenden in der Schweiz. Wie gelang es ihnen, ein<br />

neues Leben aufzubauen, während viele oder fast alle ihrer Familienangehörigen<br />

nicht überlebt hatten? Welche Schwierigkeiten und<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011 75<br />

Foto: Hafen in Batumi, Georgien<br />

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