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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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Zeitgeschichte und Zeitgeist<br />

70<br />

Wolfram Wette<br />

Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden<br />

Mit einem Vorwort von Ralph Giordano<br />

Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch<br />

Verlag, 2011, 284 S., € 9,99<br />

Täterbiografi en kranken häufi g an einem<br />

Mangel an Informationsquellen. Bei SS-<br />

Angehörigen beschränkt sich das zur Verfügung stehende Material<br />

vielfach auf SS-Personalakten und Nachkriegs-Vernehmungsprotokolle.<br />

Dieses Problem kennzeichnet auch die vorliegende Studie zu<br />

Karl Jäger, Führer des Einsatzkommandos 3 und von 1941 bis 1943<br />

Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Litauen. Jäger ist der<br />

Verfasser eines berühmt-berüchtigten Berichts über den von ihm<br />

befehligten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Litauens, in<br />

dem, nach Datum, Tatort und Geschlecht geordnet, die Zahl der Opfer<br />

akribisch aufgelistet wird. Am 1.12.1941 meldete Jäger abschließend<br />

die Gesamtzahl von 137.346 Getöteten. Er sah das Ziel, »das Judenproblem<br />

für Litauen« zu lösen, als erreicht an, da Juden nur noch in<br />

drei Ghettos lebten. Zudem hob er die entscheidende Mitwirkung<br />

litauischer Hilfswilliger hervor, zum Teil in einem »Rollkommando«<br />

unter Führung des SS-Führers Hamann zusammengefasst.<br />

Wette beschreibt die Eckdaten von Jägers Karriere anhand der<br />

SS-Personalakte. Jäger, 1888 geboren, war schon 1923 der NSDAP<br />

und 1932 der SS beigetreten. Über seine Tätigkeit als hauptamtlicher<br />

SS-Führer vor 1941 und nach 1943 als Polizeipräsident von<br />

Reichenberg fi nden sich keine Informationen. 1959 wurde Jäger<br />

verhaftet und beging Selbstmord. Die Darstellung der Ereignisse<br />

in Litauen kreist um den Jäger-Bericht; der historische Hintergrund<br />

zu Litauen und den Einsatzgruppen wird aus der Sekundärliteratur<br />

bestritten. Weiterhin benutzt Wette Zeugnisse von Überlebenden,<br />

das ist immer dann erhellend, wenn er den knappen Eintragungen<br />

im Bericht Beschreibungen von Zeitzeugen über die Grauen dieser<br />

Mordaktionen gegenüberstellen kann. In einem Fall, einen in Litauen<br />

lebenden deutschen Musiker betreffend, wird Jäger sogar selbst<br />

erwähnt. Andere Überlebendenberichte sind allgemeiner Art, die<br />

Auswahlkriterien werden nicht deutlich.<br />

Das fundamentale Problem dieses Buches ist, dass Wette nicht<br />

genug Material für eine Biografi e Jägers vorlegt, die über die bereits<br />

vorhandenen Darstellungen hinausgehen würde. Er hat aber auch<br />

nicht durch eine Ausweitung des Themas seine Studie auf eine breitere<br />

Quellenbasis gestellt. Weitere Kritikpunkte betreffen den Mangel<br />

an Quellenkritik und an einer vergleichenden Betrachtungsweise.<br />

Dazu einige Beispiele: Wette erklärt Jägers Radikalität damit, dass<br />

er älter und weniger gebildet war als viele andere Angehörige von<br />

Einsatzkommandos und sich deshalb beweisen musste. Der KdS<br />

im benachbarten Estland, Sandberger, gehörte zu den jüngsten und<br />

bestqualifi zierten Führern in der Sicherheitspolizei, er tat sich aber<br />

durch ebenso große Radikalität hervor. Weiter akzeptiert der Autor<br />

Nachkriegsbehauptungen von SS-Führern, dass Jäger eine Beteiligung<br />

aller Einheitsangehöriger an Massenerschießungen erzwungen<br />

habe, und knüpft daran weitreichende Schlussfolgerungen, wie, dass<br />

damit die Grundlage zum »Schweige- und Leugnungskartell der<br />

Nachkriegszeit« (S. 152) gelegt worden sei. Vergleichbare Behauptungen<br />

fi nden sich auch im Bezug auf andere Einsatzkommandos,<br />

scheinen aber vielfach Exkulpationsstrategien geschuldet zu sein.<br />

Ebenso sollte die Aussage des Gebietskommissars Gewecke, von<br />

Jäger einen Befehl zur Judenvernichtung erhalten (und vereitelt)<br />

zu haben, kritisch betrachtet werden (S. 150 f.). Ein KdS war nicht<br />

befugt, einem Gebietskommissar Befehle zu erteilen. In der Frage<br />

nach der Entschlussbildung zum Massenmord und der Befehlsgebung<br />

an die Einsatzgruppen bewegt Wette sich nicht auf der Höhe<br />

der mittlerweile hoch ausdifferenzierten Diskussion. Es reicht nicht<br />

aus, auf der Basis einiger herausgegriffener Zeugenaussagen zu<br />

argumentieren, ohne deren Kontext oder Datierung zu beachten.<br />

Auch erscheint die Schlussfolgerung nicht adäquat, dass die Frage<br />

nach einem allgemeinen Befehl Hitlers »für die Führer der SS-<br />

Einsatzkommandos nicht von Bedeutung (war). Sie erhielten ihre<br />

Weisungen von ihrem Vorgesetzten Heydrich […]« (S. 51). Zudem<br />

stören einige Sachfehler: Der 2. Stahleckerbericht ist vom 31.1.1942,<br />

nicht 1944 (S. 148), und Jäger war nicht »Befehlshaber« (S. 19),<br />

sondern Kommandeur der Sicherheitspolizei.<br />

Breiten Raum in der Darstellung Wettes nimmt der Umgang<br />

der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Naziverbrechen und Holocaust<br />

ein. Wette neigt dabei zu Generalisierungen und sieht »die<br />

Deutschen« in Abwehr und Verleugnung vereint. Auch hierzu liegen<br />

mittlerweile differenziertere Erkenntnisse vor, besonders was den<br />

juristischen Umgang mit Naziverbrechen angeht. Die historische<br />

Forschung wandte sich auch nicht erst Ende der 1990er Jahre dem<br />

Judenmord in Litauen zu (S. 173), das Standardwerk von Helmut<br />

Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm – in dem Jäger und seine<br />

Verbrechen behandelt werden – erschien 1981. Im letzten Teil des<br />

Buches schildert Wette eine Auseinandersetzung in seinem Wohnort<br />

Waldkirch darüber, ob die Einwohner deshalb, weil Jäger bis 1936<br />

in Waldkirch lebte, zur Erinnerungsarbeit verpfl ichtet seien. Wette<br />

selbst war einer der Protagonisten in dieser Debatte, eine wissenschaftliche<br />

Bearbeitung ist nicht erkennbar. Man erfährt in diesem<br />

Buch einiges zu einer bestimmten Ausformung des Zeitgeistes, aber<br />

nichts Neues zur Zeitgeschichte.<br />

Ruth Bettina Birn<br />

Den Haag<br />

Rezensionen<br />

Zeugnisse der Flucht<br />

Briefe – Gurs – Lettres. Briefe einer<br />

badisch-jüdischen Familie aus französischen<br />

Internierungslagern. Lettres d’une famille<br />

juive du Pays de Bade internée dans les<br />

camps en France. Paul Niedermann.<br />

Erinnerungen – Mémoires.<br />

Hrsg. v. Stadtarchiv Karlsruhe durch Ernst<br />

Otto Bräunche u. Jürgen Schuhladen-<br />

Krämer, Übers. i. d. Franz. v. Irène Kuhn<br />

Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte,<br />

Schriftenreihe des Stadtarchivs<br />

Karlsruhe, Bd. 11. Karlsruhe: Info Verlag,<br />

2011, 544 S., deut.-franz. € 26,80<br />

Ein deutsch-französisches Buch, durchgängig zweisprachig. Es basiert<br />

auf persönlichen Zeugnissen und Briefen und ist mit großer<br />

Sorgfalt zusammengestellt. Ein besonderes Buch, das Opfern und<br />

Überlebenden der Shoah eine Stimme verleiht. Man muss seine Besprechung<br />

mit einem großen Dank an die an der Edition beteiligten<br />

Menschen beginnen. Selten wird die jüdisch-französisch-deutsche<br />

Geschichte auf so eindringliche Weise miteinander verbunden.<br />

Nach dem Geleitwort des Oberbürgermeisters von Karlsruhe<br />

folgen die Genealogien der Familien Heimberger, Niedermann<br />

und Straus. Diese Strukturen der Verwandtschaft dienen als erste<br />

Orientierung. Eine zweite Orientierung bietet der geschichtliche<br />

Hintergrund auf 17 Seiten: Deportation aus Baden (Oktober 1940),<br />

Internierung in Frankreich, Unterstützung der Lagerinsassen, Deportation<br />

in die Vernichtungslager. Die Briefe aus den Lagern Gurs,<br />

Rivesaltes und Noé, geschrieben in den Jahren 1940 bis 1943, bilden<br />

den Hauptteil des Buches mit 153 Seiten, zuzüglich des Abdrucks<br />

einiger Briefe als Faksimile auf 50 Seiten. Paul Niedermann, am<br />

1. November 1927 in Karlsruhe geboren, ist der einzige noch lebende<br />

Zeuge dieser Familiengeschichte. Er arbeitet in der Geschichtsvermittlung,<br />

hat entscheidend an der Edition der Briefe mitgewirkt und<br />

zudem seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Diese 65 Seiten, eindringlich<br />

und dokumentarisch zugleich, sind versehen mit mehr als<br />

25 fotografi schen Reproduktionen von Familienfotos. Überlebt hat<br />

Eine Analyse der Nazi-Raubökonomie im besetzten Osteuropa<br />

Karl Heinz Roth | Jan-Peter Abraham<br />

REEMTSMA AUF DER KRIM<br />

Was brachte den Reemtsma-Konzern dazu, während des<br />

Zweiten Weltkriegs die Tabakwirtschaft der Krim auszubeuten?<br />

Und welche Folgen hatte das für die Bevölkerung der Halbinsel,<br />

die vom November 1941 bis April 1944 von den<br />

Deutschen besetzt war? Auf diese Fragen antwortet das vorliegende<br />

Buch sowohl aus der Perspektive der Konzernmanager<br />

als auch aus der der Ausgebeuteten.<br />

REEMTSMA AUF DER KRIM<br />

Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter<br />

der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944<br />

Gebunden mit Schutzumschlag<br />

576 Seiten mit vielen Fotos und Karten<br />

€ 39,90 [D] | € 41,10 [A]<br />

Edition Nautilus<br />

Mehr zum Programm: www.edition-nautilus.de<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011 71

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