Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut
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Am Ende der Kette<br />
Annegret Schüle<br />
Industrie und Holocaust. Topf & Söhne –<br />
Die Ofenbauer von Auschwitz<br />
Göttingen: Wallstein Verlag, 2010, 464 S.,<br />
€ 29,90<br />
Erst waren es Bücher, dann Synagogen und<br />
schließlich Menschen, die Opfer der Flammen<br />
wurden, drei Arten der Verbrennungen, die den Verlauf des 20. Jahrhunderts<br />
maßgeblich bestimmten. Dem Ende dieser Folge nachzugehen,<br />
erfordert es, innere Widerstände zu überwinden und den Erkenntnissen<br />
über die Abgründe menschlichen Handelns nicht auszuweichen.<br />
»Das Ergebnis vielfältiger Versuche und Erfahrungen. Topf –<br />
Abfall-Vernichtungsofen« – so der Titel einer Werbebroschüre (undatiert)<br />
der 1885 in Erfurt gegründeten Firma J. A. Topf & Söhne,<br />
Spezialgeschäft für Heizungsanlagen, Brauerei- und Mälzereieinrichtungen.<br />
Noch führt uns die Autorin Annegret Schüle im ersten<br />
Teil ihrer fundierten Studie detailgenau und reich bebildert in die<br />
Firmengeschichte des Unternehmens ein, bevor wir uns dank gründlicher<br />
Recherchearbeit den »Ofenbauern von Auschwitz« in einzelnen<br />
Zeitabschnitten Schritt für Schritt nähern. Bereits 1935 gab es bei<br />
der Erfurter Firma, so die Autorin, Konzepte zur massenhaften Leichenverbrennung.<br />
Da war es nicht mehr weit bis zur ersten konkreten<br />
Zusammenarbeit zwischen Topf & Söhne und der SS, die in der<br />
Folge von beiden Seiten intensiviert wurde. Einer der wichtigsten Ingenieure<br />
der Leichenbeseitigung in dieser Zeit, Kurt Prüfer, erstellte<br />
unter völligem Ausschluss der bisher geltenden Kultur der Pietät, der<br />
Würde und der geltenden Gesetze zur Feuerbestattung eine Zeichnung<br />
für einen »fahrbaren, ölbeheizten Topf-Einäscherungsofen«<br />
mit einer Muffel. Hier wird in aller Deutlichkeit klar, wohin die<br />
Entwicklung gehen würde. Es galt nicht mehr das Gebot, den toten<br />
Körper nicht direkt den Flammen auszusetzen und ihn in der hoch<br />
erhitzten Luft einzuäschern, sondern ein »Verbrennungsraum«, und<br />
nicht mehr wie bei städtischen Krematoriumsöfen vorgeschrieben die<br />
»Einäscherungskammer«, wurde konstruiert. Dieser bewusst begangene<br />
Bruch mit dem bis dato Geltenden kann als das weit geöffnete<br />
Tor für das Kommende gelten. Die Entwicklung kannte nun keine<br />
Grenzen mehr, und immer deutlicher zeichnete sich ein Grundsatz<br />
ab, der so symptomatisch für die Haltung der Verantwortlichen dieses<br />
Unternehmens war: Der Krieg galt als Rechtfertigungsgrund,<br />
dem Regime bei der Vernichtung der »großen Menge verstorbener<br />
Lagerinsassen« mit dem besten technischen Know-how, erfahrenen<br />
Ingenieuren und bewährten Produktionsbedingungen für die<br />
62 Rezensionen<br />
Verbrennungsöfen zur Verfügung zu stehen. Tatsächlich ergab sich<br />
für die SS ja das Problem, möglichst schnell und effi zient für die<br />
Beseitigung der »riesigen Leichenhaufen« zu sorgen. Wir wissen,<br />
dass es viele »Verbesserungen« durch spezielle Techniken gab, es<br />
wurde geplant, getestet, korrigiert und wieder eine Steigerung der<br />
»Kapazitäten« erreicht. Zwei Namen der bei Topf & Söhne Handelnden<br />
seien hier herausgegriffen: der bereits erwähnte Kurt Prüfer<br />
und <strong>Fritz</strong> Sander, beide in führenden Positionen und maßgeblich für<br />
die Effi zienz der Verbrennungsöfen verantwortlich.<br />
Die vorliegende Studie zeigt am Beispiel der beiden Angestellten<br />
in erschreckendem Maß, wie rational, wie kreativ und zugleich<br />
systematisch Menschen an der Mordmaschinerie mitwirkten und jegliche<br />
Gewissenskonfl ikte ausschalteten. Der von Prüfer entwickelte<br />
stationäre Doppelmuffel-Ofen (später auch als »Modell Auschwitz«<br />
bezeichnet) meldet die Firma im Dezember 1939 als Patent an. Im<br />
März des folgenden Jahres wird eine eigene Abteilung für Prüfer<br />
eingerichtet. So kann er sich ganz auf die weitere Konstruktion<br />
von »Spezialöfen« konzentrieren. Sander, der glaubte, der bessere<br />
Ingenieur zu sein, sagte nach Kriegsende aus, dass er »auf eigene<br />
Initiative« gehandelt habe, als er Verbesserungen für die Öfen vorschlug.<br />
Seiner Meinung nach ging die Einäscherung nicht schnell<br />
genug vor sich, um eine große Anzahl von Leichen in wünschenswert<br />
kurzer Zeit zu beseitigen (Dokument, S. 443).<br />
In zwei aufhellenden Abschnitten ihrer Arbeit beleuchtet die<br />
Autorin die Firmengeschichte nach 1945, die Verhaftung von Prüfer<br />
durch die US-Armee (er wird nach knapp 14 Tagen wieder entlassen),<br />
den Selbstmord von Ludwig Topf, die Reise seines Bruders Ernst<br />
Wolfgang Topf in den Westen, die spätere Verhaftung von vier Ingenieuren<br />
der Firma durch die sowjetische Armee, ihre Verurteilung<br />
in Moskau 1948 und die späteren Versuche eines Neuanfangs des<br />
Unternehmens zunächst in Mainz und anschließend in Wiesbaden.<br />
In Umkehrung des Titels Macht ohne Moral, einer 1957 erschienenen<br />
Dokumentation von Raimund Schnabel über die SS, erdreistet<br />
sich Ernst Wolfgang Topf zu folgender Behauptung: »Es ist keine<br />
Phrase, wenn ich mein Haus und sein gesamtes Verhalten in den<br />
12 Jahren des Hitlerreiches mit den Worten kennzeichne: »Moral<br />
ohne Macht« (S. 343, Hervorh. i. O.).<br />
Die Arbeit der Autorin endet mit einer hervorragend gestalteten<br />
Wiedergabe wichtiger Dokumente, die es ermöglicht, wesentliche<br />
Zusammenhänge des Themas im Original nachzulesen. »Stets<br />
gern für Sie beschäftigt«, eine abschließende Floskel aus einem<br />
Geschäftsbrief der Firma an die Zentral-Bauleitung der Waffen-SS<br />
und Polizei in Auschwitz (S. 454), könnte als bedrückendes Resümee<br />
einer Unternehmensgeschichte gelten.<br />
Annegret Schüle legt eine eindrucksvolle und längst fällige Dokumentation<br />
des letzten Glieds einer »industriellen« Mordmaschine vor.<br />
Jens-Jürgen Ventzki<br />
Maishofen/Zell am See (Österreich)<br />
Die Tat, ihre Bedingungen und Folgen<br />
Maike Rotzoll u. a. (Hrsg.)<br />
Die nationalsozialistische »Euthanasie«-<br />
Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte<br />
und ethische Konsequenzen für die<br />
Gegenwart<br />
Paderborn: Schöningh Verlag, 2010,<br />
463 S., € 48,–<br />
Als sich 20<strong>06</strong> die interdisziplinäre Erforschung<br />
der in Stasiarchiven aufgetauchten<br />
Patientenakten der Opfer der »Aktion T4« dem Ende zuneigte, beschloss<br />
das Team, die Ergebnisse mit Kollegen und mit Mitarbeitern<br />
der NS-»Euthanasie«-Gedenkstätten zu diskutieren. Initiiert als »Gespräch<br />
mit Werkstattcharakter« (S. 19), fand 2007 in Heidelberg eine<br />
Tagung statt, auf der die neuen Erkenntnisse erörtert, der Forschungsstand<br />
zusammengefasst und der Bezug zur Gegenwart hergestellt<br />
wurde. Der daraus hervorgegangene Sammelband nimmt diesen<br />
weiten Bogen auf. Sich nicht auf das Tatgeschehen zu beschränken,<br />
sondern neben der Genese und der Nachkriegszeit immer wieder<br />
auch die bioethische Debatte der Gegenwart ins Auge zu fassen,<br />
ist eine Eigenart der Forschung zu NS-»Euthanasie«, die in ihrem<br />
Gegenstand begründet liegt: Einerseits fanden die NS-Täter fertige<br />
Legitimationsfi guren vor – im rassenhygienischen Schrifttum und<br />
der Euthanasiedebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts –, andererseits<br />
sind in den Jahrzehnten nach dem Krieg vielfach uneindeutige, wenn<br />
nicht apologetische Positionen zur Tötung von kranken, behinderten<br />
und sozial missliebigen Menschen formuliert worden, die sich<br />
auch auf aktuelle Debatten auswirken. Den Tagungsorganisatoren<br />
kommt gleichwohl das Verdienst zu, was in der Sache angelegt ist,<br />
konzeptionell aufgegriffen zu haben.<br />
Der Sammelband bietet, aufgeteilt in sieben Abschnitte, einen<br />
beeindruckenden Querschnitt durch die Forschung der letzten Jahre.<br />
Von den historischen Ausgangspunkten der NS-»Euthanasie« (Eugenik,<br />
Biopolitik, innermedizinische Logiken) geht es zur »Aktion<br />
T4« und den neuen Untersuchungen des Krankenaktenbestands. Die<br />
Rekonstruktion exemplarischer Opferbiografi en und die kollektivbiografi<br />
sche Annährung an Opfer, Überlebende und Täter mündet<br />
in die Diskussion grundlegender Deutungsansätze, oszillierend zwischen<br />
ökonomischer Rationalität und Rassenbiologie, Verwaltungsinteressen<br />
und medizinischem Erlösungsideal. Zum Abschluss fällt<br />
der Blick auf den Konnex zwischen historischer Erkenntnis und<br />
aktueller Sterbehilfedebatte.<br />
Aus der Fülle der Beiträge seien exemplarisch die herausgegriffen,<br />
die sich mit der »Euthanasie« in bisher wenig erforschten<br />
Regionen beschäftigen: Die »Aktion T4« erstreckte sich auch auf<br />
den 1938 annektierten Reichsgau Sudentenland und das Protektorat<br />
Böhmen und Mähren. Angewandt wurden die bekannten Methoden<br />
der zentralen Erfassung mittels Meldebögen, der Selektion und dem<br />
Abtransport – häufi g über Zwischenanstalten – in die Tötungsanstalten,<br />
in diesem Fall nach Hartheim und Pirna-Sonnenstein. Die<br />
Meldepfl icht für Säuglinge und Kinder mit Behinderungen, die nicht<br />
in Anstaltspfl ege waren, sondern zu Hause lebten, wurde auch im<br />
Sudetengau eingeführt. Die Einrichtung einer »Kinderfachabteilung«<br />
(der Ort der Ermordung entsprechend befundener Kinder)<br />
in Westböhmen ist für die Anstalt Wiesengrund (Dobřany) belegt.<br />
Insgesamt erforderten die »komplizierten Volkstumsverhältnisse«<br />
der böhmischen Länder »die Verabschiedung von besonderen Selektionsgrundsätzen«:<br />
Tschechen mit tschechischer Staatsangehörigkeit<br />
im Reichsgau sollten nicht in die »Aktion« einbezogen, sondern<br />
alsbald ins Protektorat abgeschoben werden, die (volks-)deutsche<br />
Bevölkerung des Protektorats wurde dagegen einbezogen. Zu dieser<br />
Zeit – 1940/41 – waren die »Kriterien der Volks-, Nationalität- bzw.<br />
Rassenzugehörigkeit im Protektorat […] allen anderen Kriterien<br />
übergeordnet« (S. 163). In weiteren Beiträgen werden die Krankentötungen<br />
in Ostpreußen, die Euthanasieverbrechen in Oberschlesien<br />
und die Morde an polnischen Psychiatriepatienten thematisiert.<br />
Letztgenannte stellt der Autor in einen engen Zusammenhang mit<br />
den Morden an der polnischen Intelligenz: Die von den deutschen<br />
Okkupanten im Wesentlichen für niedere körperliche Arbeiten vorgesehene<br />
polnische Bevölkerung wurde um die Arbeitsunfähigen<br />
dezimiert ebenso wie um jene, die potenziell in der Lage schienen,<br />
Widerstand zu leisten (vgl. S. 175). Die nationalsozialistischen Euthanasiemorde<br />
wurden auch auf Slowenien ausgedehnt. Aus fünf<br />
Altersheimen und aus einer psychiatrischen Anstalt wurden 1941<br />
Insassen nach Hartheim sowie nach Feldhof, nahe Graz, deportiert.<br />
Nach heutigem Kenntnisstand fi elen diesen Tötungen 554 kranke,<br />
alte und behinderte Menschen zum Opfer (vgl. S. 188).<br />
Es ist fraglich, ob das vielfach konstatierte Fehlen einer Gesamtdarstellung<br />
der NS-»Euthanasie« (auf dem neusten Forschungsstand)<br />
tatsächlich ins Gewicht fällt, wenn auf der Basis der Standardliteratur<br />
solch detailreiche und umfassende Einblicke in die<br />
aktuelle Forschungspraxis zusammengeführt werden. Der Nachteil<br />
eines Sammelbands – der Schlaglichtcharakter und die Variationen<br />
der Ansätze und Stile – wird vom Vorteil aufgewogen, dass Deutungsdifferenzen<br />
und Widersprüche zum Ausdruck kommen, mithin<br />
die Brisanz vieler Fragestellungen nicht ausgefi ltert oder geglättet<br />
wird. Der sorgsam edierte Band enthält zahlreiche Fotografi en und<br />
faksimilierte Dokumente sowie im Anhang die Kurzbiografi en der<br />
Meldebögen-Gutachter, also der Selekteure der »Aktion T4«.<br />
Christoph Schneider<br />
Frankfurt am Main<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011 63