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Einsicht 06 - Fritz Bauer Institut

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Volksschule und soll ebenfalls im Geschäft mitgearbeitet haben. Sie<br />

emigrierte 1935 in die USA und heiratete 1937 den gleichfalls aus<br />

Felsberg stammenden Daniel Mannsbach. Der jüngste Sohn Max,<br />

geboren 1914, ist 1936 nach Paraguay ausgewandert und lebte später<br />

ebenfalls in den USA.<br />

Geschäftsinhaber in Felsberg<br />

Die Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck berichtete<br />

1932: »Am 5. November konnte die Firma Robert Weinstein,<br />

Felsberg, auf ihr 25-jähriges Geschäftsleben zurückblicken. Der<br />

Inhaber hat es verstanden, das Geschäft aus kleinen Anfängen heraus<br />

zu einem bedeutenden der Textil- und Modewarenbranche des<br />

Kreises Melsungen zu schaffen und sich bei der Kundschaft größter<br />

Beliebtheit zu erfreuen.« 18 Das Geschäft wird in den Erinnerungen<br />

eines Zeitzeugen beschrieben: »Es war das größte am Platze. Eine<br />

breite dreiseitige Freitreppe führte zur gläsernen Eingangstür, die mit<br />

vielen bunten Reklameschildern beklebt war, und der Laden hatte<br />

eine funktionsgerechte Innenausstattung mit vielen Schubkästen und<br />

Regalen, in denen die Waren übersichtlich gestapelt und aufbewahrt<br />

wurden. Der älteste Sohn [Siegfried] fuhr mit dem Fahrrad auf die<br />

Dörfer und nahm bei den <strong>Bauer</strong>n und Arbeitern Aufträge entgegen.<br />

Aussteuer- und Gebrauchswäsche, Arbeitskleidung und ebenso auch<br />

Modeartikel bildeten den Schwerpunkt dieses Geschäftes, während<br />

sich die anderen jüdischen Einzelhändler dieser Branche mehr oder<br />

weniger spezialisiert hatten und nicht ein solches Sortiment in Breite<br />

und Tiefe führten, wie Weinsteins. Der zweite Sohn [<strong>Fritz</strong>] studierte<br />

in Frankfurt Jura. Weinsteins waren sehr gut gestellt, was auch die<br />

anspruchsvolle Inneneinrichtung der Wohnung und das repräsentative<br />

Haus zum Ausdruck brachten.« 19 Seit 1933 litt das Geschäft unter<br />

den nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen, was schließlich<br />

Mitte des Jahres 1935 zur Geschäftsstilllegung führte. 20<br />

Politische Tätigkeit als Stadtverordneter<br />

Robert Weinstein war vielfältig in der Felsberger Gesellschaft verankert.<br />

Er gehörte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 21<br />

18 Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck, Jg. 9 (1932), Nr. 43<br />

vom 11.11.1932.<br />

19 Aus einem Schreiben von Walter Kranz vom 15.5.1983 an Siegward Weinstein.<br />

Kopie im Historischen Archiv der Stadt Felsberg.<br />

20 Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA), Abt. 518, Nr. 58240<br />

(Entschädigungsakten), Irmgard Mannsbach, Bl. 19 ff.<br />

21 Vgl. Bl. [Autor], »Staatsanwalt Hafke: ›Einmal kommt die Gerechtigkeit‹ –<br />

Acht Freisprüche im Felsberger Prozeß/Wolfram und Schanze/13 Anwälte<br />

verteidigten die 16 Angeklagten«, in: Hessische Nachrichten – Heimatecho<br />

vermutlich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges an. Ab 1919 war<br />

er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Felsberg, in der<br />

er zwischen 1921 und 1924 als Stellvertreter des Stadtverordnetenvorstehers<br />

fungierte. Bei der nächsten Kommunalwahl 1924 wurde<br />

er wiedergewählt. Er war – soweit festgestellt werden konnte – der<br />

einzige Jude im Stadtparlament. Viele der anderen Felsberger Stadtverordneten<br />

gehörten Familien an, von denen Angehörige an dem<br />

Pogrom am 8. November 1938 bzw. 1948/49 bei den Strafprozessen<br />

als Tatverdächtige und/oder Zeugen teilgenommen hatten. 22<br />

Zu seinen kommunalen Aktivitäten gehörten Bestrebungen<br />

zur Errichtung einer höheren Schule in Felsberg. 23 1920 wandten<br />

sich 26 Felsberger Familienväter – darunter Weinstein – mit einer<br />

Petition an die Regierung in Kassel und beantragten die Zulassung<br />

einer höheren Familienschule. Die Söhne Siegfried und <strong>Fritz</strong> sowie<br />

Tochter Irmgard besuchten die Schule, für die zunächst Unterrichtsräume<br />

im »Haus Weinstein« eingerichtet wurden. Noch im<br />

gleichen Jahr erfolgte die Umwandlung der Familienschule in eine<br />

höhere Privatschule, mit deren Leitung der Studienassessor Maus<br />

beauftragt wurde. Daher wurde der Schulneubau am Steinweg im<br />

Volksmund auch »Mausoleum« genannt. Der Bau der »Höheren<br />

Privat-Knaben- und Mädchenschule Felsberg« war durch den Verein<br />

für den Neubau der höheren Privatschule Felsberg e.V. unterstützt<br />

worden, dessen Vorstand Weinstein angehörte. Die Schule<br />

bestand bis 1941.<br />

Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und Chewra Kadischa<br />

Robert Weinstein beteiligte sich neben seiner kommunalpolitischen<br />

Tätigkeit am jüdischen Vereinsleben: In Felsberg gab es seit<br />

1870 den Wohlfahrtspfl egeverein Chewra Kadischa, als dessen<br />

Zweck 1932 die »Unterstützung Hilfsbedürftiger, Lehrverträge<br />

[sic!], Wache bei Verstorbenen« genannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt<br />

hatte der Verein 36 Mitglieder, der Vorsitzende hieß Robert<br />

Weinstein. 24<br />

der Kreise Melsungen und <strong>Fritz</strong>lar-Homberg vom 8.5.1948.<br />

22 Vgl. Kurt Schilde, »›… aus dem Gefühl der nachbarlichen Verbundenheit und<br />

Zusammengehörigkeit mit der Wahrheit zurückgehalten‹. Der Pogrom in Felsberg<br />

am 8. November 1938 und dessen strafrechtliche Behandlung 1948/49«, in:<br />

Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Der Novemberpogrom 1938. Versuch<br />

einer Bilanz, Berlin 2009, S. 79–93; ders., »›Jedermann wusste, dass es nicht gestattet<br />

war, Juden zu mißhandeln, zu ermorden …‹ Der Pogrom in Felsberg am 8.<br />

November 1938 und die strafrechtliche Behandlung 1948/49«, in: Hessisches<br />

Jahrbuch für Landesgeschichte 59 (2009), S. 135–161.<br />

23 Vgl. [Konrad Sinning], Das höhere Schulwesen im Raum Gensungen-Felsberg<br />

von der Kaiserzeit bis Ende 1941, Melsungen (1987).<br />

24 Vgl. Bella Schlesinger (Bearb.), Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung<br />

und Wohlfahrtspfl ege in Deutschland 1932–33, hrsg. von der Zentralwohlfahrtsstelle<br />

der deutschen Juden, Berlin (1932), S. 172.<br />

50 <strong>Einsicht</strong><br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>06</strong> Herbst 2011<br />

Abbildungsreihe oben: Die von 1826 bis 1931 bestehende Religionsschule<br />

der Jüdischen Gemeinde in Felsberg war in dem 1653 erbauten Patrizierhaus<br />

Obergasse 6 untergebracht. 1938 wohnte Robert Weinstein in dem Gebäude.<br />

(historisches Foto, ca. 1920; aktuelles Foto; Hinweistafel)<br />

Fotos: Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der<br />

Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum<br />

Unten links: Werbeanzeige im Handbuch des Kreises Melsungen für das Jahr 1921<br />

Unten rechts: Grabstein für Robert Weinstein auf dem jüdischen Friedhof in<br />

Kassel-Bettenhausen. Foto: Sabine Hering<br />

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