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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 91 · 1 8./19. April 2019 3 *<br />
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Report<br />
Der Vater ist schwer krank. Er will nicht in einem Krankenhaus<br />
oder im Hospiz sterben, sondern zu Hause. Das wollen fast alle<br />
Menschen, aber es geschieht nur selten. Warum eigentlich?<br />
VonJulia Haak<br />
Altersstruktur der Gestorbenen<br />
in Deutschland nach Geschlecht, Anteil in Prozent<br />
80 und älter<br />
60-80<br />
40-60<br />
10-40<br />
1-10<br />
0-1<br />
100<br />
Männer<br />
Frauen<br />
90<br />
80<br />
70<br />
Blick auf die Nordsee, das wilde, kalte Meer<br />
JOHN FINNEY<br />
60<br />
50<br />
40<br />
nen angucken konnte,mit Schalk in den Augen<br />
–und dann folgte immer irgendetwas<br />
Lustiges.Dass wir vonräuberischen, holländischen<br />
Käsehändlernabstammen, dass wir<br />
Friesen uns nichts vorschreiben lassen. Obwohl<br />
ja keiner von uns, auch er nicht, in<br />
Friesland geboren ist.Wieermit den Kindern<br />
Pumuckl-Filme geguckt hat. Und ich hatte<br />
den Eindruck, er hat sie genauso gern angesehen<br />
wie die Kinder.Seine Großzügigkeit.<br />
Für die Trauerfeier haben wir,die Familie,<br />
ein Bild von ihm ausgesucht. Es stammt aus<br />
dem vergangenen Jahr. Ein Spaziergang am<br />
Meer,Anfang April. Es zeigt diesen besonderen<br />
Gesichtsausdruck, den er hatte. Erfand<br />
es lustig, mit einem Schnappschuss aus der<br />
Hüfte fotografiertzuwerden.<br />
In den letzten Tagen habe ich darüber<br />
nachgedacht, was wir teilen, mein Vater und<br />
ich. Da ist diese enorme Liebe zur Nordsee,<br />
zu diesem wilden, kalten Meer.ZuWind und<br />
Sturm, zu dem weiten Blick. Die Liebe zu all<br />
den Geschichten vonder Schifffahrtund den<br />
rauen Menschen mit ihrem plattdeutschen<br />
Dialekt. Dahinter steht auch ein großes Bedürfnis<br />
nach Freiheit, das sich knüpft an dieses<br />
Grenzgebiet zwischen Meer und Land.<br />
Diese Bilder in meinem Kopf, die werde<br />
ich behalten. Unddas ist mir ein Trost.<br />
Denn das Sterben an sich ist nichts Weiches,<br />
Fernes so wie eine Erinnerung. Es ist<br />
eine Naturgewalt, fast wie eine Geburt. Dasallerdings<br />
erfährtman erst, wenn man es selbst<br />
erlebt, wenn man dabei ist beim Sterben.<br />
Verzerrte Wahrnehmung<br />
DieBerichterstattung zu diesem Thema verzerrt<br />
die Wahrnehmung eigentlich nur. Berichte<br />
zum Sterben befassen sich zumeist<br />
mit biochemischen Vorgängen im Gehirn.<br />
Wie dort Informationen übermittelt werden<br />
oder eben nicht mehr übermittelt werden,<br />
wo die Angst entsteht, wie sich Nahtoderlebnisse<br />
erklären lassen. Pseudowissenschaftlich<br />
werden Zusammenhänge erklärt, und<br />
beim Lesen wächst die Distanz zum Geschehen<br />
weiter. Die letzten Minuten als Prozess,<br />
die körperlichen Abläufe nach einem Herzstillstand,<br />
die Frage,obsich Menschen an ihren<br />
eigenen Toderinnern können, wenn sie<br />
nach längerer Zeit wiederbelebt werden.<br />
In einem Artikel wird erläutert, was beim<br />
langsamen Sterben anders ist als bei einem<br />
Unfall oder plötzlichen Schlaganfall. Der<br />
Sterbeprozess dauere Monate oder Jahre, in<br />
denen sich die Funktion der einzelnen Organe<br />
verschlechtere und der Sterbende müder<br />
werde. Es folge eine Phase von Wochen<br />
oder Monaten mit Luftnot und Schmerz, bis<br />
der Sterbende an den letzten Tagen nicht<br />
mehr essen und trinken mag und wegdämmere,<br />
wirdein Palliativmediziner zitiert. Das<br />
ist alles interessant, ohne Frage, mit dem<br />
Zwischenmenschlichen hat es aber nichts zu<br />
tun. Wie essich anfühlt, das kann man sich<br />
nicht erzählen lassen, man muss es erleben.<br />
An einem Mittwoch bekam ich einen Anruf<br />
bei der Arbeit. Sie hatten Fieber gemessen<br />
bei meinem Vater, eine Pflegekraft und<br />
seine Frau. Die Temperatur war hoch, 39,9<br />
Grad Celsius. Erwar nicht bei Bewusstsein,<br />
schon seit ein paar Stunden nicht mehr. Er<br />
hatte Schwierigkeiten mit der Atmung.<br />
Manchmal blieb der Atem plötzlich ein paar<br />
Sekunden lang weg. Seine Frau wollte nicht<br />
allein sein damit.<br />
Ich habe sofort gesagt, dass ich komme,<br />
bin nach Hause gefahren, habe ein paar Sachen<br />
gepackt und dann auf die Autobahn. Es<br />
gab nichts mehr zu tun, keine Heilungschancen,<br />
keineVersuche mehr,das Leben noch irgendwie<br />
zu retten. Es gab nur noch eine Aufgabe:<br />
da zu sein für ihn, für sie und auch für<br />
mich.<br />
Als ich ankam, hatte der Hausarzt ein Betäubungsmittel<br />
gespritzt. Morphium. Es beruhigt<br />
die Atmung, den ganzen Körper, es<br />
nimmt Schmerzen, auch starke,wenn sie da<br />
sind. Mankann Pech haben in einer solchen<br />
Phase und gerät an einen Arzt, der sich weigert,<br />
Morphium zu geben, und dann muss<br />
der Sterbende und mit ihm die Angehörigen<br />
aushalten, was eben kommt, Schmerzen,<br />
den Aufruhr im Körper, wenn der Sauerstoff<br />
fehlt, Angst, Panik. Denn die Gabe von Morphium<br />
ist gesetzlich streng geregelt. Nur bei<br />
starken Schmerzenund Luftnot darfein Arzt<br />
das Mittel verordnen. Andernfalls gilt die<br />
Gabe als Sterbehilfe,und der Arzt macht sich<br />
strafbar.Wir hatten Glück, die Eltern hatten<br />
in einer Vollmacht genau für diesen Fall vorgesorgt.<br />
DerArztließ sie sich zeigen, er versicherte<br />
sich, dass meinVater und auch wir,die<br />
Kinder, und seine Frau genau das wollten:<br />
eine Betäubung, die vielleicht lebensverkürzend<br />
wirkt, auch wenn es nur um Minuten<br />
geht.<br />
Es gehört zuden Erlebnissen, die einem<br />
vollkommen absurd vorkommen in einer<br />
solchen Situation, dass ein Arzt fragen und<br />
sich absichern muss, umseinem Patienten<br />
Erleichterung zu verschaffen, nur weil er an<br />
Das Sterben an sich<br />
ist nichts Weiches, Fernes sowie<br />
eine Erinnerung. Esist eine Naturgewalt,<br />
fast wie eine Geburt.<br />
Das allerdings erfährt man erst,<br />
wenn man esselbst erlebt, wenn man<br />
dabei ist beim Sterben.<br />
einer juristischen Grenze operiert. Wann<br />
könnte es sinnvoller sein, einem Menschen<br />
Angst und Schmerz zunehmen, als dann,<br />
wenn er stirbt? Undauch für uns.Wie hätten<br />
wir das aushalten sollen, drei TagamBett eines<br />
Mannes,der keine Luft bekommt?<br />
Mit dem Medikament entspannte mein<br />
Vater sich sofort. DieAtmung ging wieder regelmäßig.<br />
Wie ein tiefer Schlaf wirkte sein<br />
Sterben von diesem Zeitpunkt an auf uns.<br />
Und sosaßen wir dann in seiner Nähe auf<br />
dem Sofa, seine Frau, seine Tochter, später<br />
auch sein Sohn und unterhielten uns.<br />
Es war nicht alles schrecklich in diesen<br />
Tagen. Drei Tage sind lang. Man kann nicht<br />
nur warten. Wir haben uns Geschichten aus<br />
der Vergangenheit erzählt, aber auch, was so<br />
los ist im Leben des einen und des anderen.<br />
Wir haben geweint und auch gelacht. Wir<br />
waren kurz draußen, abwechselnd, wir haben<br />
gekocht und gegessen, gelesen und geschlafen.<br />
Und fast alles fand auf dem Sofa<br />
statt, gleich neben seinem Bett. Daskam uns<br />
vollkommen normal vor.<br />
Am dritten Tagveränderte sich sein Atmen.<br />
Es wurde mechanischer, stoßweise,<br />
zwerchfellgesteuert. Ein Reflex wohl nur<br />
noch. Wirwaren nun zu dritt, und so konnten<br />
wir dann tatsächlich um ihn herum stehen,<br />
seine Hände halten, ihn streicheln, mit ihm<br />
sprechen, als er starb.Als der Atem immer mal<br />
wieder wegblieb. Als es rasselte in seiner<br />
Lunge.Als er seinen letzten Atem ausstieß.<br />
Wirhaben uns umarmt, wir drei, und uns<br />
gegenseitig gesagt, dass wir das Richtige getan<br />
haben. Das einzig Richtige. Dann haben<br />
wir die große Uhr ander Wand angehalten<br />
und die Tür geöffnet, um die Seelerauszulassen.<br />
Und auch das kam uns vollkommen<br />
normal vor.<br />
Es ist jetzt ein paar Wochen her,und mittlerweile<br />
haben sich die freundlichen Bilder<br />
aus der Vergangenheit über diejenigen vom<br />
Sterben gelegt. Das Gefühl einer schweren<br />
Last, die ich ein paar Tage nach seinem Tod<br />
mit mir herumtrug, ist wieder verschwunden.<br />
Auch die Erinnerungen an die unangenehmen<br />
Erlebnisse im Krankenhaus, die<br />
dem Sterbenvorausgingen, sind verblasst.<br />
Die Zeit,die man braucht<br />
Ich würde es wieder so machen. Meinen Vater<br />
nach Hause holen. Da sein für ihn. Ich<br />
würde das auch für mich wieder so machen.<br />
Das eigentliche Sterben kann man nicht<br />
steuern. Genau wie bei der Geburt übernimmt<br />
der Körper die Kontrolle. Esist ein<br />
Programm, das in diesem Körper abläuft,<br />
man kann nur bewusst daran teilnehmen<br />
oder die Verantwortung abgeben an eine<br />
Einrichtung, an fremde Menschen. Zu Hause<br />
kann man aber alles um das Sterben herum<br />
so gestalten, wie man selber sich das vorstellt.<br />
MankannMusik spielen, den Sterbenden<br />
mit Menschen und Dingen umgeben,<br />
die er mag. Man kann der Natur ihren Lauf<br />
lassen, und niemand kann einen darin bevormunden<br />
und mit medizinischer Kompetenz<br />
auf einem anderen Ablauf bestehen.<br />
Auch dann nicht, wenn es schon vorbei ist.<br />
Es gibt keinen Zwang, soforteinen Arzt oder<br />
Bestatter anzurufen. Es gibt keine Eile, man<br />
hat die Zeit, die man braucht.<br />
Mein Vaterhatte einen friedlichen Tod. Er<br />
hat nicht gelitten. Er hat sich nicht gewehrt.<br />
Am Ende blieb einfach sein Herz stehen.<br />
Kann man sagen, es war ein schöner Tod?<br />
Vielleicht.<br />
JuliaHaak ist froh darüber,dass sie<br />
ihren Vater an seinen letzten Tagen<br />
begleiten konnte.<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
1901 ’52 ’00 2016 1901 ’52 ’00 2016<br />
Entwicklung der Lebenserwartung<br />
Neugeborene des Jahrgangs 2016 im Vergleich zu<br />
1960, in ausgewählten europäischen Ländern<br />
Island<br />
Polen<br />
männlich<br />
Portugal<br />
Italien<br />
Spanien<br />
Frankreich<br />
Deutschland<br />
Belgien<br />
Großbrit.<br />
Niederlande<br />
Dänemark<br />
Estland<br />
Slowakei<br />
Bulgarien<br />
weiblich<br />
Erhöhung um... Jahre<br />
0 4 8 12 16<br />
BLZ/GALANTY (4); QUELLE: EUROSTAT, EURO