gab November 2023
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MUSIK<br />
FOTO: L. WILLIAMS<br />
Es ist ein wunderschöner Tag<br />
in Berlin und Dorian Electra<br />
genießt die Sonne auf einem<br />
Friedhof. Einfach, weil es ein<br />
faszinierender und schöner Ort ist, und<br />
außerdem, weil er genug Ruhe für ein<br />
Gespräch bietet. Und zu bereden gibt<br />
es wahrhaftig viel, denn das neue, dritte<br />
Album „Fanfare“ der sich als genderfluid/<br />
transgender identifizierenden US-<br />
Künstler*in stellt sich musikalisch wie<br />
inhaltlich als wildes, intensives und aufregendes<br />
Werk heraus, dessen Produktion<br />
– bei der richtigen Anlage – Häuser zum<br />
Einstürzen bringen könnte. Mal muss man<br />
dabei unwillkürlich an SOPHIE denken,<br />
oder auch, wie bei „Manmade Horrors“, an<br />
Sleigh Bells, doch fast immer an Charlie<br />
XCX, mit der Dorian Electra (unter anderem)<br />
zusammengearbeitet hat. Am besten<br />
könnte man hier von Hyperpop reden,<br />
allerdings Hyperpop, der es ernst meint.<br />
Was beim Hören sofort auffällt – es gibt<br />
dieses Mal keine Features. „Ich hatte so<br />
viele auf dem letzten Album. Das war<br />
extrem schön, aber auch so viel Arbeit,<br />
denn man wartete lange, man koordiniert<br />
so viel …“ Auch wenn es sich sicher gelohnt<br />
hat, denn wer hatte schon sonst jemals die<br />
Village People und Pussy Riot auf einem<br />
Track vereint? Dieses mal jedoch „wollte ich<br />
ein Statement-Album.“ Und auf diesem<br />
dreht sich alles um den die Exzesse des<br />
Celebrity-Kultes. Mehr denn je will ein jeder<br />
ein Stück Ruhm und möchte verehrt und<br />
bewundert werden, selbst wenn es nur<br />
durch ein paar Likes geschieht. Sind wir<br />
denn wirklich alle mit zu wenig Liebe aufgewachsen<br />
und versuchen sie uns nun von<br />
Wildfremden zu holen? „Es fällt letztendlich<br />
alles auf unsere Kultur zurück, auf den<br />
extremen Individualismus und die Hustle<br />
Culture. Du musst heute besonders sein,<br />
um zu gelten, du musst etwas schaffen<br />
und erreichen, um Anerkennung zu finden.<br />
Und damit sind wir auch beim Kapitalismus,<br />
der erwartet, dass sich jeder allein um sich<br />
selbst kümmert.“ Jeder muss sich selbst<br />
vermarkten, jeder muss eine Marke sein.<br />
„Die Celebritys sind der strahlende Erfolg<br />
in beiden Kategorien. Das ist der Mythos<br />
dahinter.“<br />
So ist unsere globale Popkultur … und<br />
Dorian Electra ist sich sehr wohl über die<br />
eigene Positionierung darin klar. „Ich fühle<br />
mich sehr privilegiert. Ich kann das alles und<br />
den Kapitalismus kritisieren, bin aber immer<br />
auch ein Teil davon. Niemand kann dem<br />
TIPP<br />
„Kill Your Idols“ –<br />
DORIAN ELECTRA<br />
entkommen. Um diese Gegensätze geht<br />
es. Denn ich will auch nicht sagen, dass das<br />
alles nur schlecht ist.“ Man kann die Realität<br />
offenlegen, ohne daran zu verzweifeln, die<br />
Widersprüche erkennen und gleichzeitig<br />
akzeptieren. Und sich dann vielleicht auch<br />
seinem eigenen obsessiven Verhalten stellen<br />
und hinterfragen, warum man gewisse<br />
Stars überhaupt anhimmelt. „Irgendwann<br />
wird einem klar, dass jeder nur ein Mensch<br />
ist und kein Gott. Für die meisten ist es der<br />
Moment, wenn du erlebst, dass deine Eltern<br />
nicht perfekt sind … Was ich bei meinen<br />
sehr früh lernte. Man sagt nicht umsonst:<br />
,Kill your idols!‘“<br />
Ein weiterer Ausweg ist es, sich einfach aus<br />
dem Kreislauf des „sehen und gesehen werden“<br />
zurückzuziehen, und sich zum Beispiel<br />
Zeit für klares Digital Detox zu nehmen.<br />
„Defintiv! Aber ich checke Instagram immer<br />
noch gerne, da bin ich Millennial! Doch ich<br />
lese viel mehr Bücher in diesem Jahr, das<br />
war ein fester Vorsatz. Das habe ich seitdem<br />
Collage nicht mehr so gemacht.“ Das<br />
kleine private Wunder der Entschleunigung<br />
und erhöhter Achtsamkeit. Dazu passt der<br />
Sound von „Fanfare“ zwar überhaupt nicht –<br />
aber wer schafft es auch schon, den ganzen<br />
Tag das Handy bei Seite zu legen?<br />
*Interview: Christian K. L. Fischer