Zu den Aufgaben der deutschen Friedensbewegung beim ... - DSS

D resdener Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e. V. (DSS)
Frieden und Krieg
an der Schwelle zu
einem neuen Jahrtausend
Beiträge zum
zum 8. Dresdner Friedenssymposium
am 12. Februar 2000
DSS-Arbeitspapiere
Heft 53 – 2000

Herausgeber: Dresdener Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e. V. ( DSS )
Vorstandsvorsitzender: Prof. Dr. Rolf Lehmann Schneebergstraße 2 01277 Dresden
Zum Achten Dresdner Friedenssymposium hatten eingeladen:
die Sächsische Friedensinitiative gemeinsam mit:
DGB Kreis Dresden,
Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V.,
Gemeinschaft für Menschenrechte im Freistaat Sachsen e. V.,
IPPNW, Ärzte in sozialer Verantwortung,
Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V., Arbeitskreis Dresden.
Redaktion: Prof. Dr. Siegfried Schönherr
Druckvorbereitung und Vertrieb, V.i.S.d.P.: Dr. Joachim Klopfer
Am Jägerpark 52, 01099 Dresden; Fon: 0351 8030122, Fax: 0351 8036401
Beiträge im Rahmen der Schriftenreihe „DSS-Arbeitspapiere“ geben die Ansichten der Autoren wieder, mit denen
sich Herausgeber und Redaktion nicht in jedem Fall identifizieren.
Alle Rechte und Pflichten im Sinne des Urheberrechtsgesetzes liegen bei den Autoren! Nachdruck und jede andere
vom Gesetz nicht ausdrücklich zugelassene Verwertung bedürfen ihrer Zustimmung; zugleich haften sie dafür, dass
durch die vorliegende Veröffentlichung ihrer Ausarbeitung nicht Schutzrechte Anderer verletzt werden.
Redaktionsschluss: 24. März 2000 Kostenbeitrag: 3,50 Euro
Schriftenreihe „DSS-Arbeitspapiere“ ISSN 1436-6010

STEFFI BELKE Begrüßung
Inhaltsverzeichnis
ERNST WOIT Zu den Aufgaben der deutschen
Friedensbewegung beim Übergang
ins XXI. Jahrhundert
WOLFGANG SCHELER Friedensbewußtsein im Widerstand
gegen Krieg und Militarisierung
VOLKER BIALAS Der Gewalt widerstehen -
für eine Kultur des Friedens
LORENZ KNORR Primat des Militärischen
contra Volkssouveränität
VIKTOR MAXIMOW Das XXI. Jahrhundert ohne
Waffen und Kriege
JAN SUMAVSKI Der Medienkrieg - definierter Bestandteil
des heißen Krieges
Erklärung zum Abschluß des Achten
Dresdner Friedenssymposiums 2000
4
5
29
38
43
57
59
63
3

Steffi Belke
Begrüßung
Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde, sehr geehrte Gäste. Im
Namen der Veranstalter und Organisatoren möchte ich Sie ganz herzlich zum
Achten Dresdner Friedenssymposium hier im Gewerkschaftshaus in Dresden
begrüßen.
Wir freuen uns besonders, daß neben vielen Aktiven aus ganz Deutschland
auch in diesem Jahr Freunde der Tschechischen Friedensgesellschaft sowie
Freunde aus Rußland an unserem Symposium teilnehmen können. Ihnen gilt
unser besonderer Gruß.
Es ist zu einer guten Tradition und zum Bedürfnis geworden, Friedensfreunde
aus Deutschland, Interessenten und Gäste nach Dresden einzuladen, um
über brennende aktuelle und neu aufzuwerfende Fragen und Probleme der
Erhaltung und Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt zu diskutieren
und Schlußfolgerungen für unsere Friedensarbeit zu ziehen. Der 13. Februar,
der Tag, an dem Dresden vor nunmehr 55 Jahren durch angloamerikanische
Bomben in Schutt und Asche fiel und Tausende Menschen in
der Flammenhölle der Brand- und Sprengbomben ihr Leben lassen mußten,
ist uns immer wieder Anlaß und Mahnung, für eine friedensfördernde Politik
im Zusammenleben der Völker einzutreten und diese von den Politikern
einzufordern.
Die Hoffnung vieler Menschen auf eine Welt ohne Krieg, auf eine Welt ohne
atomare Waffen, hat sich an der Schwelle zum neuen Jahrtausend nicht erfüllt.
Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, an dem sich die Bundesrepublik
aktiv beteiligte, hat uns die bittere Wahrheit vor Augen geführt, daß
der Krieg wieder als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele salonfähig gemacht
werden soll und Militäreinsätze - als alternativlos propagiert - durchgeführt
werden.
Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Will die Friedensbewegung kriegsverhindernd
wirken, so muß sie sich selbst und die Öffentlichkeit über die
Ursachen und den Charakter heutiger und künftiger Kriege aufklären. Sie
muß in diesem Sinne nicht nur reagieren, sondern agieren. Die internationale
Vernetzung der Friedensbewegung und ihrer Aktivitäten wird dabei von immer
größerer Bedeutung. Das Dresdner Friedenssymposium will dazu mit
dem heutigen Thema Frieden und Krieg an der Schwelle zu einem neuen
Jahrtausend einen konkreten Beitrag leisten.
4

Ernst Woit
Zu den Aufgaben der deutschen Friedensbewegung
beim Übergang ins 21. Jahrhundert
Unter dem Gesichtspunkt ihres grundlegenden Zieles, dazu beizutragen, daß
die menschliche Gesellschaft von der Geißel des Krieges befreit wird und dazu
übergeht, die unvermeidlichen politischen Konflikte mit friedlichen Mitteln
zu lösen, haben sich die Aufgaben auch der deutschen Friedensbewegung
nicht verändert. Ich kann deshalb nur bekräftigen, was dazu im Friedens-
Memorandum 1999 ausgeführt ist: „Eine Welt ohne Krieg und ohne Waffen
ist und bleibt unser Ziel, ist und bleibt unsere Forderung, für die wir uns mit
aller Kraft einsetzen.“
Ausgehend davon betont das Friedens-Memorandum 1999 die Notwendigkeit,
„breite Kreise der Bevölkerung für Fragen von Krieg und Frieden zu
sensibilisieren und sie in die Auseinandersetzung um Fragen von Rüstungsbegrenzung
und drastische Einschränkung von Rüstungsproduktion hineinzuziehen.“
Erklärtes Ziel dieser Auseinandersetzung ist es, „den Friedenswillen
der Bevölkerung in so hohem Maße zu stärken, daß jeder Versuch von
Kriegspolitik auf ernsthaften Widerstand der Menschen dieses Landes trifft.“ 1
Allerdings gilt es, diese Aufgaben unter objektiven Bedingungen zu erfüllen,
die sich - wie in den vergangenen zehn Jahren immer deutlicher geworden
ist - tiefgreifend, qualitativ zu Ungunsten der Friedensbewegung verändert
haben. Nichts hat das deutlicher gemacht als der Aggressionskrieg der NATO
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Zu Recht heißt es deshalb in den Anregungen
des Bundesausschusses des Kasseler Friedensratschlags für die
Friedensbewegung vom 5. Juni 1999: „Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien
und die deutsche Beteiligung daran müssen Gegenstand einer fundierten wissenschaftlich-politischen
Aufarbeitung durch die Friedensbewegung bleiben.
Dabei muß deutlich gemacht werden, daß die Menschheit nur dann eine Zukunft
hat, wenn es ihr gelingt, aus der jahrhundertealten Logik des Krieges
heraus zu kommen und eine umfassende Logik des Friedens und der Gewaltfreiheit
zu etablieren.“ Das hat allerdings unter Bedingungen zu geschehen,
die sich grundlegend - ja sogar epochal - von jenen unterscheiden, unter denen
unsere Friedensbewegung einmal entstanden und erstarkt ist.
1 Friedensratschlag-Bundesausschuß (Hrsg.), Friedens-Memorandum 1999, Kassel 1999, S. 47.
5

Dazu - und zu den daraus resultierenden Konsequenzen für die Sicherung der
Wirksamkeit unseres Friedensengagements unter den neuen Bedingungen -
möchte ich einige Überlegungen anstellen.
Konsequenzen eines Epoche-Wechsels
Von einem Epoche-Wechsel ist dann zu sprechen, wenn sich zwischen den
agierenden gesellschaftlichen Hauptkräften ein qualitativ verändertes ökonomisches
und politisches Kräfteverhältnis herausgebildet hat, das nicht zuletzt
auch zu qualitativen Veränderungen in der Krieg-Frieden-Problematik führt.
Jeder wirkliche Epoche-Wechsel zwingt die politisch Handelnden bei Strafe
ihres Scheiterns dazu, ihre Strategie und Taktik, ausgehend von der Analyse
der entstandenen Lage und besonders des veränderten Kräfteverhältnisses,
neu zu bestimmen. Für die Friedensbewegung heißt das insbesondere, sich
Klarheit darüber zu verschaffen, welche Kriege von welchen politischen
Kräften drohen und welche Abrüstungs- und Friedenskonzepte dagegen zu
entwickeln sind. Nur auf diesem Wege lassen sich Argumente und Aktionslosungen
entwickeln, die die Massen mobilisieren können. 2
Meines Erachtens haben wir es mit einem epochalen Einschnitt zu tun, der
gerade hinsichtlich der Krieg-Frieden-Problematik durchaus mit jenen Einschnitten
von 1917/1918 und von 1945 zu vergleichen ist. Dabei ist zu beachten,
daß sich die volle Tragweite derartiger qualitativer Veränderungen in
den Kampfbedingungen erst allmählich offenbart. Das ist nicht zuletzt deshalb
der Fall, weil das gesellschaftliche Bewußtsein gesetzmäßig hinter der gesellschaftlichen
Realität zurück bleibt. Menschen neigen dazu, gerade an politischen
Einschätzungen, Wertungen und Orientierungen länger festzuhalten
als die gesellschaftliche Realität Bestand hat, aus der sie einmal gewonnen
wurden. Bezeichnenderweise sind es insbesondere Kriege, die solche in der
gesellschaftlichen Realität gleichsam unter der Oberfläche der Erscheinungen
eingetretenen Veränderungen dann sehr deutlich zum Ausdruck bringen und
damit die Menschen zu einem entsprechenden Um- und Weiterdenken zwingen.
So offenbarte 1914 die nationalistische, ja chauvinistische Identifikation der
führenden Parteien der II. Internationale mit der Kriegspolitik ihrer imperialistischen
Regierungen, daß die auf den Internationalen Sozialistenkongressen
von Stuttgart (1907), von Kopenhagen (1910) und von Basel (1912) gefaßten
Beschlüsse zur Vereitelung der imperialistischen Kriegspläne im Geiste des
2 Vgl. E. Woit, Gedanken zum Epochewechsel, in: V. Bialas, H.-J. Häßler, E. Woit (Hrsg.), Die
Kultur des Friedens. Weltordnungsstrukturen und Friedensgestaltung, Würzburg 1999, S.11 ff.
6

proletarischen Internationalismus für sie nicht mehr galten. Geführt von
Funktionären, die ihren Frieden mit der imperialistischen Bourgeoisie inzwischen
längst gemacht hatten, riefen die führenden Politiker der II. Internationale
im Moment des Kriegsbeginns, zusammen mit der Bourgeoisie, zur Vaterlandsverteidigung
anstatt zum Generalstreik gegen den Krieg auf. Ähnlich
verhielt es sich mit den angesehensten Wissenschaftlern, Schriftstellern und
Künstlern Europas, die zunächst nahezu ausnahmslos ihren Beitrag zur chauvinistischen
Kriegshetze der Regierenden leisteten. Und das geschah, obwohl
viele von ihnen sich vor dem Kriege auch schon als weltoffene Vertreter einer
europäischen Kultur verstanden hatten.
Die Folge war bekanntlich eine Neuorientierung nahezu aller politischen
Kräfte im Kriegsverlauf, deren wichtigstes Ergebnis die Spaltung und Neustrukturierung
der Arbeiterbewegung war. Insbesondere die Oktoberrevolution
1917 in Rußland, die ja vor allem eine Antikriegs-Revolution war, offenbarte
die gesellschaftsverändernden Potenzen der ursprünglichen Antikriegs-
Strategie der II. Internationale, die die russischen Bolschewiki unter W. I. Lenin
bewahrt und konsequent weiterentwickelt hatten. Mit der russischen Oktoberrevolution
begann eine Epoche wahrhaft welthistorischer Veränderungen,
die - unabhängig vom Scheitern dieses Versuchs, eine nichtkapitalistische,
sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen - bis heute nachwirken. Das Dekret
über den Frieden dieser Revolution ist meiner Meinung nach für alle wirklich
Frieden wollenden Menschen mit seinen grundsätzlichen Forderungen
unverändert aktuell. Allerdings erfordert eine Bezugnahme darauf, auch die
Frage zu beantworten, seit wann und warum sich die Außenpolitik der Sowjetunion
nicht mehr von diesen Forderungen leiten ließ. Eric Hobsbawm
nennt die russische Oktoberrevolution von 1917 zu Recht auch heute noch
„eine Revolution, die eine globale Konstante der Jahrhundertgeschichte wurde“,
sie war „für dieses Jahrhundert ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die
Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war.“ 3
Ein für die Differenz zwischen augenscheinlichen und zunächst noch verborgenen
gesellschaftlichen Veränderungen grundlegendes Ereignis war und ist
für mich die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki 1975. Ich
verhehle nicht, daß ich darin zunächst - und noch sehr lange - die endgültige
völkerrechtlich verbindliche Bestätigung der Ergebnisse des II. Weltkrieges
und der danach eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen in Europa
gesehen habe. Das betraf ja vor allem die Anerkennung der europäischen
Nachkriegsgrenzen durch alle europäischen Staaten, die USA und Kanada -
3 E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München u. Wien 1995, S. 78 u.79.
7

und darunter nicht zuletzt auch die Existenz zweier deutscher Staaten. Heute
wissen wir, daß sich im KSZE-Prozeß vor allem die Auflösung der Sowjetunion
und der von ihr geführten politisch-ökonomischen und militärischen
Bündnissysteme vollzog, was nicht nur das Ende der Block-Konfrontation
zur Folge hatte, sondern mit dem Sieg des NATO-Imperialismus auch die
Infragestellung der nach dem II. Weltkrieg in Europa entstandenen Staatsgrenzen.
Vergangenheit - aus heutiger Sicht
Die Beurteilung einer neuen Situation muß mit der erneuten Beurteilung jener
beginnen, aus der die neue entstanden ist. Was müssen wir an unserer Einschätzung
der vergangenen Situation im Friedenskampf vor allem hinterfragen
- und gegebenenfalls korrigieren?
Ich möchte das einmal auf einige Fragen zuspitzen: Ist der Krieg, auf dessen
Verhinderung wir über Jahrzehnte all unsere Anstrengungen konzentriert hatten,
- ein alles vernichtender Raketenkernwaffenkrieg - nicht objektiv der unwahrscheinlichste
Krieg gewesen? Aber: War nicht gerade die Angst vor einem
Atomkrieg für sehr viele Menschen gerade in Deutschland das Hauptmotiv
für ihr Engagement in der Friedensbewegung? Warum haben wir so
viele Kriege, die weit weg von uns stattfanden, einfach ignoriert oder - wie die
sowjetische Intervention in Afghanistan - unter dem Gesichtspunkt einer
geistigen Block-Disziplin regelrecht verdrängt. Oder war es einfach unser eurozentrisches
Denken und Fühlen, daß uns Kriege in anderen Regionen
manchmal gar nicht wahrnehmen ließ? Welche Aufmerksamkeit hat etwa der
Golfkrieg I zwischen dem Irak und dem Iran (1980 - 1988 ) in unserem Friedensengagement
vor dem Golfkrieg II gefunden? Oder die auch für unser
heutiges Handeln noch grundsätzliche Frage: Was für ein Krieg war eigentlich
der Kalte Krieg? Und - beinahe noch wichtiger: Was für ein Frieden war der
Frieden des Kalten Krieges? Was für ein Kräfteverhältnis lag ihm zugrunde
und welche Freiräume für Kriege ließ er außerhalb der unmittelbaren Interessen
der USA und der Sowjetunion?
Da halte ich es schon für anregend, wenn der italienische Philosoph Umberto
Eco 1997 schreibt: „Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit
des Krieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternative Lösung gibt. Allenfalls
wäre daran zu erinnern, daß unser Jahrhundert eine exzellente Alternative
zum Krieg gekannt hat, nämlich den ‚Kalten Krieg‘. Sooft er auch Gelegenheit
zu Greueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz, lokalen Konflikten und diffusem
Terror geboten hat - am Ende wird die Geschichte zugeben müssen,
daß der Kalte Krieg eine sehr humane und relativ sanfte Lösung war, bei der
8

es schließlich sogar Sieger und Besiegte gab. Aber es steht der intellektuellen
Funktion nicht zu, Kalte Kriege zu erklären.“ 4
Nach dem Kalten Krieg - Ende des UNO-Systems?
Zu unserem bisherigen Verständnis dessen, was nun aber die neue Situation,
das neue Kräfteverhältnis, und die daraus resultierenden Möglichkeiten von
Kriegen und Frieden betrifft, möchte ich nur eine Frage aufwerfen: Wer von
uns hat es ab wann für möglich gehalten, daß die NATO ohne UNO-Mandat
gegen Jugoslawien - also in Europa - einen derart verbrecherischen Krieg
führt? Dahinter steht die größere Frage: War diese erstmalig so offene und
zynische Mißachtung des laut UNO-Charta beim UN-Sicherheitsrat liegenden
Gewaltmonopols in den internationalen Beziehungen eine Ausnahme oder
ein Präzedenzfall für künftige Normalität im Umgang der USA und der
NATO mit Staaten, die sich ihnen nicht unterordnen wollen? Ich fürchte, wir
müssen uns auf letzteres einstellen.
Dafür spricht erstens das nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages und
des RGW eindeutig zu Gunsten der USA und der NATO veränderte wirtschaftliche,
politische und militärische Kräfteverhältnis in der Welt. Das
Kräfteverhältnis, das vor allem im Ergebnis des II. Weltkrieges, der sozialistischen
Revolutionen in Europa und Asien sowie des Untergangs des
klassischen kapitalistischen Kolonialsystems entstanden war, besteht heute
nicht mehr.
Dafür spricht zweitens die Entschlossenheit des USA-Imperialismus, sich
bei der Verfolgung seiner globalstrategischen Ziele noch weniger als schon
in der Vergangenheit vom kodifizierten Völkerrecht hindern zu lassen.
Das heißt., die schon immer bestehende Differenz zwischen den vertraglich
vereinbarten Normen des Völkerrechts und ihrer praktischen Einhaltung
durch imperialistische Mächte wird größer.
Dafür spricht schließlich drittens die Fähigkeit der USA und der NATO,
über die ihnen verfügbaren Massenmedien derartige imperialistische Aggressionskriege
für eine hinreichende Mehrheit ihrer Bürger und der Weltöffentlichkeit
zumindest zeitweise überzeugend als notwendige und gerechte
humanitäre Interventionen gegen sogenannte Schurkenstaaten erscheinen
zu lassen und sie damit erst einmal politisch und moralisch zu
rechtfertigen.
Einer der ersten US-amerikanischen Strategen, der unmittelbar nach dem Ende
des Kalten Krieges den Weltherrschaftsanspruch der USA zu begründen
4 U. Eco, Vier moralische Schriften, München und Wien 1998, S. 34 f.
9

suchte, war Francis Fukuyama mit seinem scheinphilosophischen Theorem
vom Ende der Geschichte. Fukuyama, damals stellvertretender Planungschef
im US-State Department, publizierte Zielvorstellungen, die heute, nach dem
Aggressionskrieg gegen Jugoslawien, als durchaus ernst zu nehmende Ankündigungen
gewertet werden müssen. So rechtfertigte er nicht nur nachträglich
noch „die Bombardierung Dresdens und Hiroshimas ..., die man“, wie er zynisch
formulierte, „früher als Völkermord bezeichnet hätte.“ Er stellte auch
direkt die UN-Charta und das gesamte UNO-System wegen des darin festgeschriebenen
Prinzips der souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten in Frage
und forderte, man müsse sich „mehr an der NATO orientieren als an der
UNO. Es ginge dann um einen Bund wirklich freier Staaten ... Ein solcher
Bund wäre vermutlich viel eher zu einer militärischen Aktion fähig, um seine
kollektive Sicherheit gegen Bedrohungen aus dem nichtdemokratischen Teil
der Welt zu schützen.“ 5
Zugleich sind die USA nach Zbigniew Brzezinski heute „die einzige wirkliche
Weltmacht“, ist insbesondere der gesamte eurasische Kontinent „von amerikanischen
Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät ...“ 6
Tatsächlich hat gerade der Verlauf der NATO-Aggression gegen Jugoslawien
gezeigt, wie schwach Rußland heute ist und wie relativ leicht es den Aggressoren
fiel, dieses Rußland in ihre Politik einzubinden. Da ist dann die Tatsache,
daß Rußland noch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat - auch für
die Erwartungen der Friedensbewegung - bestenfalls noch von taktischer Bedeutung.
Ebenso schwierig dürfte es sein vorherzusagen, welche Positionen
die asiatische Großmacht China in künftigen Situationen konkreter Friedensgefährdung
und bei militärischen Aggressionshandlungen der USA und der
NATO einnimmt.
Auf diesem Hintergrund möchte ich jetzt einige Bemerkungen zum Krieg,
den Rußland seit Monaten in Tschetschenien führt, machen. Es geht in diesem
Krieg um wesentlich mehr als um die formal immer noch zur Russischen Föderation
gehörende Republik Tschetschenien. Anfang dieses Jahres schrieb
Brzezinski, daß Rußlands Krieg im Kaukasus „den Zugang der westlichen
Länder zu den Energieressourcen im Kaspischen Meer in Frage stellt.“ 7
5 F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992, S. 378 f.
6 Z. Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Weinheim und
Berlin 1997, S. 41.
7 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.01.2000.
10

Damit dürfte der Kern der gegenwärtig in dieser Region ausgetragenen Interessenkonflikte
markiert sein. Bis 1991 war das Kaspische Meer ein zwischen
der UdSSR und dem Iran aufgeteiltes Binnenmeer. Seitdem sind auf dem Territorium
um das Kaspische Meer, das einst Teil der UdSSR war, acht selbständige
Staaten entstanden: Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan,
Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan. Auf dem Boden
aller dieser Staaten gibt es reiche Erdöl- und Erdgasvorkommen bzw. Pipelines
zur Beförderung dieser Bodenschätze. Selbstverständlich haben diese
Staaten ein Interesse an der gewinnbringenden Vermarktung dieser ihrer
Schätze. Interesse an diesem inzwischen größten erkundeten Energiereservoir
der Welt haben aber auch die mächtigsten kapitalistischen Erdölkonzerne, die
dort schon etliche Milliarden Dollar investiert haben. Insofern ist es das gemeinsame
Interesse der USA und der selbständigen neuen Staaten der Region
um das Kaspische Meer, zunächst das russische Transportmonopol für Erdöl
und Erdgas zu brechen und dann Rußland dauerhaft aus dem Nahen und
Mittleren Osten zu verdrängen.
Dagegen versucht sich Rußland zu wehren. Nach Brzezinski steht Rußland in
dieser Auseinandersetzung „vor einem Dilemma: Es ist politisch zu schwach,
um die Region völlig von der Außenwelt abzuriegeln, und zu arm, um das
Gebiet allein zu erschließen.“ 8
Aber auch die USA haben ihre Probleme: „Amerika ist geographisch zu weit
entfernt, um in diesem Teil Eurasiens eine beherrschende Rolle zu spielen,
aber es ist zu mächtig, um unbeteiligt zuzusehen.“ Hingegen seien die Türkei
und der Iran „stark genug, um ihren Einfluß geltend zu machen ...“ 9
Als in der Region gelegene islamische Mittelmächte sind die Türkei und der
Iran tatsächlich die für den Zugang zu dieser Region sowie ihre Beherrschung
und Ausbeutung entscheidenden strategischen Schlüsselmächte. Brzezinski
nennt es dann das primäre Interesse der USA, „dafür zu sorgen, daß keine
einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erhält“, sondern die von den
USA geführte „Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen
Zugang zu ihr hat.“ 10
Dabei setzen die USA auf die Stärkung des NATO-Staates Türkei und seines
Einflusses auf die Kaukasusstaaten. 11
8
Z. Brzezinski, Die einzige Weltmacht, a.a.O., S. 206.
9
Ebenda, S. 215.
10
Ebenda. Vgl. auch: Ch. Neef, Griff nach dem Öl, in: Der Spiegel, Hamburg, 02/2000, S. 116 f.
11 Vgl. ebenda, S. 217.
11

Von ernstzunehmender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang der 1996
abgeschlossene Vertrag über militärisches Zusammenwirken zwischen der
Türkei und Israel 12 sowie die im November 1999 während des OSZE-Gipfels
in Istanbul abgeschlossenen Verträge zwischen der Türkei, Georgien und Aserbaidschan
sowie der Türkei, Turkmenistan und Kasachstan über den Bau
von Pipelines, die Erdöl und Erdgas aus den Ländern um das Kaspische Meer
an die türkische Mittelmeerküste bringen sollen, ohne noch russisches Territorium
zu berühren.
Der nach immerhin sechsjährigen Verhandlungen auf dem OSZE-Gipfel in
Istanbul vorgenommene Abschluß der Pipeline-Verträge veranlaßte den russischen
Präsidenten Jelzin, diesen Gipfel wutschnaubend zu verlassen, und
führte dazu, daß Rußland wenige Tage später - gegen den wütenden Protest
der USA - mit dem Iran vereinbarte, den Bau des Kernkraftwerkes Buschehr
fortzusetzen. Es ist immerhin ein Projekt von 2 Milliarden Dollar und durchaus
geeignet, dem Iran die Voraussetzungen für die Produktion von Kernwaffen
zu verschaffen.
Konsequenzen für die Friedensbewegung
Bereits aus dem bisher Skizzierten ergeben sich eine Reihe von Entwicklungstendenzen
und Konsequenzen, mit denen sich die Friedensbewegung bisher
noch kaum auseinandergesetzt hat. Einige seien hier hervorgehoben:
Das in Kapitel VI der UNO-Charta völkerrechtlich verbindlich festgelegte
Monopol des UN-Sicherheitsrates, über die Anwendung von militärischer
Gewalt bei internationalen Streitigkeiten zu entscheiden, wird durch
die permanente Mißachtung dieses Monopols seitens der USA, Großbritanniens
und der NATO de facto bereits weitgehend ignoriert. Ich erinnere
hier nur daran, daß die nun schon seit Jahren ohne UN-Mandat erfolgende
beinahe tägliche Bombardierung irakischen Territoriums durch USamerikanische
und britische Flugzeuge inzwischen kaum noch eine Meldung
in den Medien wert ist.
Der völkerrechtlich entscheidende Hintergrund für die Mißachtung des
Gewaltmonopols der UN ist die immer offenere Infragestellung der souveränen
Gleichheit aller ihrer Mitglieder, laut Art. 2.1 der Charta der UN
die Basis dieser Staatengemeinschaft, aus der auch das Verbot resultiert,
sich in Angelegenheiten einzumischen, „die ihrem Wesen nach zur inneren
Zuständigkeit eines Staates gehören“ (Art 2.7). Allerdings gehört zur Diskussion
der Problematik Gewaltmonopol der UN auch die Tatsache, daß
12 Vgl. E. Woit, Panzer für die Türkei, in: Marxistische Blätter, Essen, Heft 37/1999, S.1.
12

es bisher niemals zu der in Art. 46 und 47 der UN-Charta festgelegten
Anwendung von Waffengewalt unter unmittelbarer Verantwortung des Sicherheitsrates
und eines ihm unterstehenden Generalstabsausschusses gekommen
ist. Als der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali
in seiner im Januar 1992 - also nach dem Golfkrieg II - vorgelegten Agenda
für den Frieden vorschlug, die Rolle des UN-Sicherheitsrates bei der
Kriegs-Prävention erheblich zu verstärken, zugleich aber dem UN-
Generalsekretär „Truppen zur Friedensdurchsetzung“ zu unterstellen, um
nach entsprechendem Beschluß des Sicherheitsrates sofort handeln zu
können, 13 verweigerten die USA und deren Verbündete nicht nur die Diskussion
dieses Dokuments. Es fiel zugleich die Entscheidung, daß dieser
UN-Generalsekretär als erster und bisher einziger keine zweite Amtszeit
bekommen würde.
Zahlreiche Staaten und ihre Grenzen, wie sie sich im Ergebnis des
II. Weltkrieges und des Zerfalls des ursprünglichen kapitalistischen Kolonialsystems
und im Rahmen der UNO konstituiert hatten, werden heute
von innen und außen in Frage gestellt und verändert. Teilweise geschieht
das ohne Anwendung von Waffengewalt (wie z.B. im Falle der CSSR),
sehr häufig aber in Form von Kriegen.
Immerhin sind im vergangenen Jahrzehnt nicht weniger als 23 neue Staaten
entstanden, wodurch sich für 170 Millionen Menschen die Staatszugehörig-keit
verändert hat. 14
Faktisch ist in diesem Zusammenhang eine Neuaufteilung der Welt längst
im Gange, wobei die USA bestrebt sind, eine ihrer Weltherrschaft adäquate
Neue Weltordnung zu installieren. In Europa sind inzwischen mit dem
Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens faktisch
nicht nur die territorialen Resultate des II. Weltkrieges, sondern auch die
des I. Weltkrieges bereits weitgehend korrigiert, woran insbesondere der
deutsche Imperialismus als Verlierer beider Weltkriege ein spezifisches Interesse
hatte und hat.
Für die deutsche Friedensbewegung ist dabei die Erkenntnis wichtig, daß
der in Richtung Ost- und Südosteuropa zielende deutsche Revanchismus
niemals aufgegeben wurde und - wie der Krieg gegen Jugoslawien deutlich
13
Vgl. B. Boutros-Ghali, Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung,
Friedenssicherung, New York 1992, S.29 ff.
14
Es handelt sich um folgende Staaten: Litauen, Estland, Lettland, Weißrußland, Ukraine, Kasachstan,
Tschechien, Georgien, Armenien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Aserbaidschan,
Bosnien-Herzegowina, Moldawien, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan, Mazedonien, Namibia,
Eritrea, Tadschikistan, Palau. Vgl. Focus, München, Heft 43/1999, S. 382 f.
13

gemacht hat - die Bereitschaft zu neuen Kriegen einschließt. 15 Nach wie
vor gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972,
nach dem die Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf die Grenzen von
1937 erhebt. In einem Grundsatzartikel erklärte der damalige Bundesaußenminister
Klaus Kinkel 1993: „Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern.
Im Innern müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt
es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind.“ 16 Wie
groß dabei der Appetit ist, verdeutlicht die Tatsache, daß der Amtsvorgänger
Kinkels als Außenminister, Genscher, nachdem er die Zerschlagung
der Bundesrepublik Jugoslawien eingeleitet hatte, 1992 die norditalienischen
Separatisten mit den Worten ermunterte, der nördliche Teil Italiens
werde „entdecken, daß er mehr gemeinsame Interessen mit Süddeutschland
als mit Süditalien hat.“ 17
Die weitgehende Aufhebung des Gewaltmonopols der UNO, die unübersehbare
Infragestellung der Grenzen und der Souveränität einzelner Staaten
und der Erfolg bewaffneter Sezessionsbewegungen, wie der albanischen
UCK in Jugoslawien, führen international zu einem Anwachsen von
Sezessionsbestrebungen und Sezessionskriegen, wodurch zahlreiche in den
vergangenen 50 Jahren anerkannte Staaten und ihre Grenzen in Frage gestellt
werden. Das setzt besonders dort ein überaus explosives Potential
frei, wo die imperialistischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien –
sehr oft in der deutlichen Absicht zu teilen, um weiterhin herrschen zu
15 Vgl. u.a. W. v. Goldenbach u. H.-R. Minow, Von Krieg zu Krieg. Die deutsche Außenpolitik
und die ethnische Parzellierung Europas, 3. Aufl., Berlin 1999. Mit welcher strategischen Weitsicht
die BRD auch die Expansion ihres Staatsgebietes plant, offenbart das 1993 eingeführte
System der Postleitzahlen. Ein aufmerksamer Bürger, dem aufgefallen war, daß in den Regionen
mit den Anfangszahlern 0, 1, 4 und 6 einige Zahlen fehlen und der sich daraufhin an das
Postministerium wandte, erhielt von der Generaldirektion der Deutschen Bundespost ein
Schreiben, in dem es u.a. hieß: „Der Rest ist für die Zukunft reserviert, um das System numerisch
elastisch zu halten, damit es möglichst lange Bestand haben kann. Wir sprechen in diesen
Fällen von sogenannten Wachstumsreserven.“ Es handelt sich in allen Fällen, wo Postleitzahlen
bisher freigehalten werden, um Grenzbereiche, und zwar um Pommern, Schlesien und das
Sudetenland im Osten sowie Eupen und Malmedy im Westen! Vgl. Neues Deutschland, Berlin,
vom 24.11.1997, S. 2.
16 K. Kinkel, Verantwortung, Realismus, Zukunftssicherung. Deutsche Außenpolitik in einer sich
neu ordnenden Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 03. 1993. Aufschlußreich ist,
wie der gegenwärtige deutsche Außenminister diesen dritten Versuch definiert: „Die Vollendung
der europäischen Integration bleibt ... die wichtigste Aufgabe der deutschen Politik. ... Die Osterweiterung
der EU ist ein notwendiger Bestandteil der deutschen Wiedervereinigung.“ Vgl. J.
Fischer, Außenpolitik im Widerspruch, in: Die Zeit, Hamburg vom 03.02.2000, S.45.
17 Nach G. Feldbauer, Barbarossa und die Lega Nord, in: Neues Deutschland, Berlin, vom
14
01./02.06.1996, S. 11.

können - mit Grenzen in die staatliche Unabhängigkeit entlassen haben,
die mit dem Lineal quer durch die verschiedensten Ethnien gezogen wurden.
Schließlich besteht eine Konsequenz dieser Entwicklungen darin, daß unsere
unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der nuklearen Blockkonfrontation
entstandene Friedensbewegung selbst in eine Krise - ähnlich
der von 1914 - geraten ist, die sie nur meistern kann, wenn sie sich kritisch
und selbstkritisch mit den qualitativ und strategisch veränderten Bedingungen
des Friedenskampfes auseinandersetzt, d.h. zunächst einmal die
entstandene Lage gründlich analysiert und - ausgehend von diesen Analysen
- neue adäquate Orientierungen ableitet, zeitgemäße Aktionslosungen
entwickelt und sich auch für neue Kampfformen öffnet.
Auch Friedensbewegungen haben ihre Geschichte. Sie entstehen, haben
ihre höchste Wirksamkeit und verlieren an Bedeutung, wenn sie nicht in
der Lage sind, einer neuen strategischen Situation entsprechende neue Inhalte,
Organisations- und Kampfformen zu entwickeln. Hinzu kommt das
unvermeidliche Älterwerden der Gründer und Aktivisten und damit der
für jedes politische Engagement so wichtigen Identifikationspersonen sowie
die natürliche Scheu der jungen Leute, sich immer wieder zusammen
mit Menschen zu versammeln, die ihre Omas und Opas sein könnten.
Noch sind wir sicher nicht so weit, aber wir sollten keine Scheu haben, uns
auch historisch zu sehen und zumindest versuchen, alles in unseren Kräften
Stehende zu unternehmen, uns den neuen Problemen so zu stellen,
daß eine Stafettenübergabe an die nächste Generation möglich wird.
Inhaltliche Probleme, mit denen wir uns vor allem auseinandersetzen
sollten
Zuerst und vor allem gilt es wohl an der Erkenntnis festzuhalten und sie immer
wieder zu vertiefen, daß es inzwischen einen globalen Zusammenhang
von Frieden, sozialer Sicherheit und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen
der Menschheit gibt. Doch dieser Zusammenhang muß immer
wieder neu gedacht und - ausgehend von neuen Erkenntnissen und den aktuellen
Erfahrungen - in das Bewußtsein von immer mehr Menschen gebracht
werden. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat das objektiv nicht leichter
gemacht.
Ein erstes wichtiges Problem muß für uns die Auseinandersetzung mit dem
politischen und militärischen Charakter der Kriege sein, die jüngst stattfanden,
gegenwärtig geführt und für die Zukunft vorbereitet werden. Besonders
wichtig ist für die deutsche Friedensbewegung dabei die Auseinandersetzung
mit all jenen Kriegen, die erklärtermaßen für die neue Weltordnung geführt
15

wurden, welche der USA-Imperialismus errichten will und zu der sich auch
die herrschenden Kreise Deutschlands bekennen. Ich meine den Golfkrieg II
und den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Den ersten hat Deutschland gutgeheißen
und auch maßgeblich bezahlt, im zweiten war es auch militärisch
Kriegspartei.
Zur Beurteilung des politischen Charakters beider Kriege halte ich die Beantwortung
der Frage für entscheidend, welche tatsächliche Bedeutung die offiziellen
Kriegsgründe (Beendigung der Aggression des Irak gegen Kuwait bzw.
Verteidigung der Menschenrechte der albanischen Kosovaren) hatten und
welches Gewicht demgegenüber das Streben der USA und ihrer NATO-
Verbündeten zur Durchsetzung einer ihren spezifischen ökonomischen und
geostrategischen Interessen entsprechenden, nicht mehr durch die UNO-
Charta geregelten, neuen Weltordnung für den Übergang zum Krieg hatte.
Es spricht sehr viel dafür, daß das Hauptziel beider Kriege seitens der USA
darin bestand, faktisch allen anderen Staaten vorzuführen, was ihnen passiert,
wenn sie sich der nunmehr einzigen Weltmacht nicht unterordnen. Die geostrategische
Zielsetzung des angeblich für die Menschenrechte der Kosovo-
Albaner geführten Angriffskrieges der NATO gegen Jugoslawien markierte
Robert E. Hunter, Chefberater der RAND Corporation auf dem Höhepunkt
des Krieges, als er sich am 21. April 1999 in der Washington Post unter dem
Thema Clinton-Doktrin dahingehend äußerte, der Kosovo sei „das Tor zu
Bereichen intensiven westlichen Interesses: arabisch-israelischer Konflikt, Irak
und Iran, Afghanistan, Kaspisches Meer und Transkaukasien. Stabilität in
Südosteuropa muß ein Vorläufer für den Schutz westlicher Interessen und
den Abbau von Bedrohungen von weiter ostwärts her sein.“ 18
Die Herausgeber des Friedensgutachten 1999 klassifizieren diese Vorgehensweise
zu Recht als Übergang vom Völkerrecht zum Faustrecht und begründen
das am Beispiel der NATO-Aggression gegen Jugoslawien folgendermaßen:
„Die bloße Einschüchterung hatte die beabsichtigte Wirkung verfehlt.
Doch die Drohungen führten in eine Glaubwürdigkeitsfalle: Die NATO
schritt von Ultimatum zu Ultimatum, bis sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr
anders konnte, als zur Gewalt zu greifen. Die Unbedenklichkeit, mit der sich
die Atlantische Allianz am 24. März 1999 über geltendes Völkerrecht hinwegsetzte,
markiert eine Zäsur. Ihrem Bombenkrieg fehlen das Mandat des UN-
18 Nach M. Weißbecker, Ohne Not kein Gebot, in: Neues Deutschland, Berlin, vom
16
30/31.10.1999, S. 12.

Sicherheitsrates und damit die völkerrechtliche Legitimation ... Der Luftkrieg
der NATO erfüllt den Tatbestand des Völkerrechtsbruchs.“ 19
Und zwar handelt es sich - was man nicht deutlich genug hervorheben kann -
um einen vorsätzlichen Bruch des geltenden Völkerrechts mit dem Ziel, für
sich von nun an gleichsam schon gewohnheitsrechtlich das Faustrecht gegenüber
unbotmäßigen schwächeren Staaten zu exekutieren.
Wie langfristig dieser Bruch des geltenden Völkerrechts auch in Deutschland
planmäßig vorbereitet wurde, wird an folgenden Tatsachen deutlich: Mit seinem
Urteil vom 12. Juli 1994 gab das Bundesverfassungsgericht Auslandseinsätzen
dadurch einen “weiten juristischen Rahmen“, daß es die Militärpakte
NATO und WEU kurzerhand zu „kollektiven Sicherheitssystemen“
erklärte. In einer Studie der Akademie der Bundeswehr für Information und
Kommunikation wird deshalb schon 1996 festgestellt: „Die Qualifizierung
von NATO und WEU als Systeme kollektiver Sicherheit macht auch Bundeswehreinsätze
ohne UNO-Mandat möglich ... Zu betrachten bliebe die
Möglichkeit der Blockade des Sicherheitsrates durch das Veto eines Ständigen
Mitglieds, etwa Rußlands oder der Volksrepublik China. Doch zeigt die politische
Praxis der NATO gerade gegenüber Rußland, wie sehr die Allianz um
eine Einbindung Rußlands in politische Entscheidungen bemüht ist.“ 20
Doch damit nicht genug: 1997 - also zwei Jahre vor der Aggression - stellte
das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr intensive Befragungen
der Bevölkerung an, um deren Zustimmungspotential zu verteidigungspolitischen
Richtungsentscheidungen zu ermitteln. Dabei betraf eine Frage direkt
Militärische Kampfhandlungen im Auftrag und unter Kontrolle der Vereinten
Nationen (UNO) oder anderer internationaler Organisationen. 21 Am 16.
Oktober 1998 beschloß der Deutsche Bundestag auf Antrag der Kohl-
Regierung, die Bundeswehr dürfe an Luftbombardements der NATO gegen
Jugoslawien auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrates der UNO mitwirken.
Am 22. Februar 1999 schließlich stimmte der Deutsche Bundestag
mehrheitlich dem Antrag der Schröder-Regierung zu, daß der Einsatz deutscher
Streitkräfte gegen Jugoslawien „in der politischen und strategischen
Verantwortung der Allianz, das heißt, auf der Grundlage eines NATO-
19
B. Schoch, U. Ratsch, R. Mutz (Hrsg.), Friedensgutachten 1999, Münster, Hamburg, London
1999, S. 4.
20
S. B. Gareis, Deutschland und die kollektive Sicherheit, AIK-Texte, 01/1996, Strausberg 1996,
S. 28.
21
Vgl. St. Spangeaber, Bundeswehr und öffentliche Meinung, SOWI-Arbeitspapier Nr.114,
Strausberg, November 1998, S.18.
17

Operationsplanes einschließlich entsprechender NATO-Einsatzregeln und
NATO-Führungsstrukturen“ erfolgen kann.
Es gab also auch in Deutschland ein planmäßiges jahrelanges Zusammenwirken
hoher und höchster Gremien in Politik, Justiz und Militär zur Vorbereitung
eines Angriffskrieges und damit einen eklatanten Bruchs des geltenden
Völkerrechts und des Grundgesetzes. Damit ordnete sich die herrschende
Klasse Deutschlands willig jener Position der USA unter, die der Staatssekretär
im US-Außenministerium, Thomas Pickering, am 10. Februar 1999 vor
der US-Militärakademie in West Point in die Worte gefaßt hatte: „Würden wir
uns darauf beschränken, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Sicherheitsrates
zu handeln, räumten wir Rußland und China praktisch ein Vetorecht gegen
alle NATO-Aktionen ein. Das ist inakzeptabel.“ 22
Da die NATO mit ihrer Aggression in eine bestehende reale Bürgerkriegssituation
eingegriffen hat, kann es für die Entwicklung realistischer Verfahren
präventiver und friedlicher Konfliktlösung nicht wichtig genug genommen
werden, all jene von der OSZE in Jugoslawien vor der Intervention der
NATO unternommenen Versuche einer Deeskalierung und friedlichen Konfliktlösung
genau zu dokumentieren, die durch die Kriegführung der NATO
barsch unterbrochen wurden, ehe sie Erfolge zeitigen konnten.
Daß es zum Krieg gegen Jugoslawien gekommen ist, führte der Vizepräsident
der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und CDU-Bundestagsabgeordnete
Willy Wimmer darauf zurück, daß vor allem die USA und Großbritannien
„kein Interesse am Erfolg der OSZE“ im Kosovo gehabt haben.
Zugleich betonte er, OSZE-Beobachter hätten eindeutig festgestellt, daß 1998
„die jugoslawische Seite nach den Oktober-Vereinbarungen sich an diese
auch gehalten hat. Und daß hingegen die UCK systematisch diese unterlaufen
hat.“ 23
Schließlich hat der Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung in
Wien, Brigadegeneral der Bundeswehr a.D. Heinz Loquai, präzise nachgewiesen,
„daß durchaus Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Kosovo-
Konfliktes bestanden“, weil die Belgrader Führung dazu nachweisbar bereit
war, doch wäre es dazu „erforderlich gewesen, auch die Kosovo-Albaner auf
diesen Weg zu bringen oder zu zwingen.“ 24 Doch dazu waren, wie Loquai
22 junge Welt, Berlin, vom 10.02.1999, S. 11.
23 W. Wimmer, War der NATO-Angriff ein Fehler?, in: junge Welt, Berlin, vom 26.03.1999, S. 2.
24 H. Loquai: Die OSZE-Mission im Kosovo - eine ungenutzte Friedenschance?, in: Blätter für
deutsche und internationale Politik, Bonn, Nr. 09/1999, S. 1125.
18

einschätzt, vor allem die USA nicht bereit, die nicht zuletzt in Hinblick auf
den 50. Jahrestag der NATO eine schnelle und natürlich erfolgreiche kriegerische
Lösung wollten. 25 Im übrigen hat nachträglich kein geringerer als Henry
Kissinger genau dieses auf Krieg zielende Vorgehen der USA kritisiert, als er
zu der Einschätzung kam: „In Rambouillet forderte die NATO das unbegrenzte
Recht, ihre Truppen durch jugoslawisches Gebiet zu bewegen und die
Provinzen eines souveränen Staates zu besetzen, noch ehe die ethnischen
Säuberungen ein größeres Ausmaß erreicht hatten. Diese Forderungen garantierten
ein Ergebnis, wie es blutiger nicht hätte sein können.“ 26
Damit unmittelbar im Zusammenhang steht das Problem der Analyse und
Kritik der ideologischen Konstrukte zur Rechtfertigung von Kriegen in unserer
Zeit. Das betrifft zunächst die grundsätzliche Einstellung zum Krieg überhaupt.
So ist es wohl alles andere als zufällig, daß zeitgleich mit der immer
offeneren Orientierung der USA und der NATO auf Kriege zur Durchsetzung
ihrer politischen und ökonomischen Interessen - neben der wachsenden
Zahl Gewalt und Kriege verherrlichender Filme in nahezu allen Fernsehprogrammen
- verstärkt theoretische Publikationen erscheinen, in denen die Ächtung
des Krieges abgelehnt, ja der Krieg geradezu als ein Weg zur Entfaltung
aller menschlichen Wesenskräfte verherrlicht wird. Das trifft natürlich auch
verstärkt auf Deutschland zu, in dem sich in letzter Zeit die Stimmen deutlich
vermehrt haben, die es normal finden, endlich wieder Krieg führen zu können.
Ich habe mich deshalb kürzlich mit diesem erneuten Kult des Krieges auseinandergesetzt,
wie er insbesondere in Cora Stephans Buch Das Handwerk
des Krieges getrieben wird, mit dem diese Journalistin jene den Krieg gleichsam
zeitlos rechtfertigenden Theoreme publikumswirksam umsetzt, die der
israelische Militärhistoriker Martin van Creveld und der britische Militärhistoriker
John Keegan in ihren Büchern über die Kultur bzw. die Zukunft des
Krieges formuliert haben. 27
In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf F. Fukuyama verwiesen, der in
seinem Buch Das Ende der Geschichte unter völlig ahistorischer Berufung
25
Ebenda.
26
H. Kissinger, Das amerikanische Jahrhundert, in: Welt am Sonntag, Berlin, vom 09.01.2000,
S.30.
27
Vgl. E. Woit, Der Mensch ist doch kein bellizistisches Wesen. Gegen einen neuen Kult des
Krieges, in: Krieg im 21. Jahrhundert ? Neue Herausforderungen für die Friedensbewegung,
Beiträge zum 7. Dresdner Friedenssymposium am 13. Februar 1999, Dresden 1999, S.48 ff.
bzw. E. Woit, Der neue Kult des Krieges, in: PAX-Report, Berlin, Nr. 02/03. 03. 1999, S. 4 f.
19

auf Hegel erklärt: „Ohne den Krieg und die Opfer, die er verlangt, wird die
Menschheit ... verweichlicht und egozentrisch; die Gesellschaft versinkt in eigensüchtigem
Hedonismus, und die Gemeinschaft wird letztlich zerfallen. Die
Furcht vor dem Tod als Herrn und Meister jedes Menschen ist eine unvergleichliche
Kraft. Sie kann den Menschen von seiner Eigensucht befreien und
ihn daran erinnern, daß er kein isoliertes Atom ist, sondern einer Gemeinschaft
angehört, die auf gemeinsamen Idealen basiert. Eine liberale Demokratie,
die alle zwanzig Jahre einen kurzen, entschlossenen Krieg zur Verteidigung
ihrer Freiheit und Unabhängigkeit führen könnte, wäre bei weitem gesünder
und zufriedener als eine Demokratie, die in dauerhaftem Frieden
lebt.“ 28
Die Friedensbewegung muß diesem Trend viel stärker und systematischer als
bisher schon mit der Verbreitung der Wahrheit über die im 20. Jahrhundert
geführten Kriege und die in ihnen begangenen Kriegsverbrechen begegnen.
Denn um den Krieg und die Instrumente zu seiner Führung aus dem Leben
der menschlichen Gesellschaft entfernen zu können, muß ihnen zuvor all das
an Ehre und Beweihräucherung genommen werden, das die Kriegsinteressenten
in Schulbüchern, Denkmälern und Gedenktagen bisher entwickelt haben.
Über welche - insbesondere auch die jüngere Generation direkt ansprechenden
- Möglichkeiten wir dazu gerade in Deutschland verfügen, hat die Wanderausstellung
über die Kriegsverbrechen der Nazi-Wehrmacht in Osteuropa
gezeigt. Diese Ausstellung und die im Zusammenhang mit ihr erschienenen
Dokumentationen 29 stellen - international betrachtet - einen bisher singulären
historischen Tabubruch dar, der mit der traditionellen kritiklosen Ehrung der
Waffenträger des eigenen Landes Schluß macht, indem endlich auch ihre
Kriegsverbrechen - und nicht mehr nur die des ehemaligen Feindes - eindeutig
dokumentiert und thematisiert werden.
Das steht in Ländern wie den USA, Großbritannien, Frankreich, Japan, Belgien
und den Niederlanden bis heute noch aus. Dabei hat es gerade in den
Kriegen dieser imperialistischen Mächte gegen die antikoloniale Befreiungsbewegung
historisch beispiellose Kriegsverbrechen gegeben, deren öffentliche
Erörterung in diesen Staaten jedoch bisher tabu ist. 30 Eine Ausnahme bilden
28 F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, a.a.O., S. 434 f.
29 Vgl. H. Heer, K. Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 -
1944, Hamburg 1995; K. Naumann, Was bleibt von der Wehrgemeinschaft?, in: Blätter für
deutsche und internationale Politik, Bonn 1997, Heft 12, S. 1488 ff.
30 So erinnert Sabine Kebir daran, daß z. B. „die Kolonialmacht Frankreich 1946 einen Aufstand
in Madagaskar mit der Abschlachtung von 250 000 Menschen niederschlug“. Vgl. S. Kebir,
20

die vom ehemaligen Justizminister der USA, Ramsey Clark, ins Leben gerufenen
Tribunale zur Untersuchung der im Golfkrieg II und im NATO-Krieg
gegen Jugoslawien von den USA begangenen Kriegsverbrechen, deren Dokumentationen
bisher von der Friedensbewegung noch viel zu wenig genutzt
werden. 31
Gerade angesichts dessen, daß die großen Massenmedien seit dem Ende der
Luftangriffe gegen Jugoslawien über die dort angerichteten Zerstörungen überhaupt
nichts mehr berichten, gewinnt die von Wolfgang Richter ins Leben
gerufene Initiative für ein Internationales Tribunal über den NATO-Krieg
gegen Jugoslawien auch für die Friedensbewegung enorme Bedeutung. Ist
doch allein schon der dokumentarische Nachweis, daß die NATO-
Luftstreitkräfte vorsätzlich und planmäßig vor allem zivile, nichtmilitärische
Ziele bombardiert haben, geeignet, bei immer mehr Menschen eine prinzipielle
Ablehnung derartiger - im Namen der Menschenrechte begangenen -
Kriegsverbrechen hervorzurufen.
Wir werden den Einbruch, den die Verantwortlichen für diesen Krieg in das
Denken und Fühlen sehr vieler Menschen erreicht haben, nur rückgängig machen
können, wenn wir überzeugend nachweisen, daß die von der NATO gegen
die Zivilbevölkerung Jugoslawiens begangenen Kriegsverbrechen keine
Kollateralschäden waren, sondern das von den Politikern und Militärs der
NATO gewollte Ergebnis ihrer Waffenwirkung. Dem Wesen nach handelt es
sich angesichts der angerichteten Zerstörungen um die gleiche, vorwiegend
auf die Vernichtung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung zielende, verbrecherische
Luftkriegsführung, wie sie die USA bereits gegen das vietnamesische
Volk angewandt haben. Wenn sie von ihren Protagonisten heute auch
gern als angeblich sauberer High-Tech-War bzw. Low Intensity Warfare
dargestellt wird, ändert das an ihrem dem Kriegsvölkerrecht Hohn sprechenden
verbrecherischen Wesen nicht das geringste. 32
Nicht zuletzt die nach dem Kriege bekannt gewordenen Kritiken einzelner
führender Politiker und Militärs der NATO an dem, was sie nun - von den
Volksgemeinschaften oder offene Republik? in: Freitag, Berlin, Nr. 13, vom 26.03.1999, Literatur-Beilage,
S. XIV.
31 Vgl. R. Clark, Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf, Göttingen 1993; R. Clark, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Anklageschrift der Unabhängigen Untersuchungskommission
zur Erforschung der Kriegsverbrechen der USA und der NATO gegen das Volk von Jugoslawien.
Teil I, in: junge Welt, Berlin, vom 16. 08. 1999; R. Clark, Kriegführung gegen die Umwelt.
Anklageschrift ...Teil II, in: junge Welt, Berlin, vom 17. 08. 1999.
32 Vgl. E. Woit, Der ideologisch-psychologische Teil des NATO-Krieges, in: Marxistische Blät-
ter, Essen, Heft 37/1999, S. 62.
21

USA durchgesetzte - Fehlentscheidungen in der Kriegführung nennen, erlaubt
einen Einblick in jenen Grad von Skrupellosigkeit und Abenteurertum, mit
dem solche Exponenten des USA-Imperialismus wie Clinton und Albright
Hand in Hand mit solchen aus der europäischen Sozialdemokratie kommenden
Exponenten des kapitalistischen Europa wie Solana und Blair oder
Schröder und Scharping diesen Krieg inszeniert und geführt haben. Tatsächlich
haben wir es mit einer bewußten und planmäßigen Mißachtung des humanitären
Kriegsvölkerrechts durch die NATO zu tun. So erklärte der Südosteuropa-Korrespondent
der ARD, Detlev Kleinert, am 18. April 1999 in
der Sendung Presseclub: „Ich habe nicht geglaubt, daß Milosevic sein Land in
die Steinzeit zurückbomben lassen wird.“ Bundesverteidigungsminister
Scharping schließlich verstieg sich zu einer - im II. Weltkrieg selbst von den
Hitlerfaschisten offiziell vermiedenen - absoluten Infragestellung des gesamten
seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 vereinbarten humanitären
Kriegsvölkerrechts, als er in einem Fernseh-Interview erklärte: „Wenn Sie es
mit einer Diktatur zu tun haben, können Sie schlecht trennen zwischen sogenannter
ziviler und sogenannter militärischer Infrastruktur.“ 33
Dieses Bild rundet sich ab, wenn man weiß, daß die USA bis heute die Zentraldokumente
des modernen Kriegsvölkerrechts, die beiden Zusatzprotokolle
von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949, nicht ratifiziert haben. 34 Es
handelt sich um die gleiche zynische Verletzung des humanitären Kriegsvölkerrechts,
wenn Israels Regierung vor wenigen Tagen erst das Elektrizitätsnetz
des Libanon bombardieren ließ und sich gleichzeitig einseitig von dem
Südlibanon-Abkommen des Jahres 1996 lossagte, „welches gemäß kriegsrechtlichen
Konventionen das Kampfgeschehen in Südlibanon für beide Seiten
bindend auf Uniformierte beschränkte, um die Zivilbevölkerung zu schonen.“
35
Immerhin hatte die betont moralisierende Rechtfertigung der NATO-
Aggression gegen Jugoslawien als Krieg für die Menschenrechte unter den
Menschen unseres Landes erhebliche Verwirrung angerichtet. Man geht wohl
nicht fehl, wenn man in dieser Argumentationslinie, die jeden Gegner dieses
Krieges als Verräter an der Sache der Menschenrechte zu diffamieren suchte,
das übelste und wirksamste aller seitens der NATO-Strategen eingesetzten
33
Nach Chronik eines angekündigten Krieges, ZDF vom 21. 09. 1999.
34
Nach G. Stuby, Der kategorische US-Imperativ, in: Ossietzky, Hannover, Heft 22/1999,
S. 780.
35
Angriffe Israels auf Libanons Elektrizitätsnetz, in: Neue Zürcher Zeitung vom
22
09.02.2000, S. 1.

kriegsideologischen Konstrukte sieht. Hinzu kommt die Wirkung eines tief
verinnerlichten totalitären Antikommunismus (Günter Gaus), der es vor allem
in den alten Bundesländern möglich machte, mit der Verteufelung des jugoslawischen
Präsidenten Milosevic als Hitler von heute massenhaftes Einverständnis
mit dem Aggressionskrieg zu erzeugen. Wie Wolfgang Gehrke
einschätzte, wurde so im Deutschen Bundestag für diesen Krieg „die größtmögliche
Koalition geschaffen“. 36
Die Friedensbewegung war auch in Deutschland darauf nicht vorbereitet. Sie
hat sich - ebenso wie die deutschen Linken - bisher auch viel zu wenig mit der
Menschenrechtsproblematik auseinandergesetzt und sie damit weitgehend jenen
Kräften überlassen, die mit ihrer imperialistischen Politik alles andere, nur
nicht die Durchsetzung der internationalen Menschenrechtsstandards wollen.
Es war Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der im Dezember 1998 feststellte,
„manche westlichen Politiker mißbrauchen den Begriff der ‚Menschenrechte‘
gar als Instrument aggressiver außenpolitischer Pressionen.“ 37
Einen derartigen Mißbrauch der Menschenrechte gibt es allerdings nicht erst
in unserer Zeit. Der in Costa Rica lebende Theologe Franz Hinkelammert
weist nachdrücklich darauf hin: „Die Kolonisierung der ganzen Welt wurde
im Namen der Menschenrechte durchgeführt.“ Er fordert deshalb: „Wir müssen
über die Menschenrechtsverletzungen sprechen, die im Namen der
Durchsetzung der Menschenrechte begangen werden ... Die Menschenrechte
müssen ihren angeblichen Beschützern gegenüber geschützt werden.“ 38
Es ist natürlich nicht so, daß alle Linken in Deutschland die Beschäftigung
mit der Menschenrechtsproblematik versäumt haben. Ich möchte hier nur auf
die grundlegenden Arbeiten dazu von Hermann Klenner verweisen. 39
Zugleich möchte ich bei dieser Gelegenheit doch darauf aufmerksam machen,
daß U.- J. Heuer und G. Schirmer schon 1998 in einer prinzipiellen Auseinandersetzung
mit der das geltende Völkerrecht zerstörenden Wirkung der
von den USA und ihren Verbündeten angestrebten humanitären militäri-
36 W. Gehrke, Nie wieder „Nie wieder“, in: Freitag, Berlin Nr. 31, vom 30.07.1999, S. 11.
37 H. Schmidt, Rechte als Waffe, in: Die Zeit, Hamburg, Nr.52/1998, S.18.
38 F. J. Hinkelammert, Die Umkehrung der Menschenrechte und die Möglichkeit ihrer Rückkehr,
in: Wahrheit, Versöhnung und Neuanfang auch im Westen - oder nur im Süden und Osten?,
in: Junge Kirche, Bremen, Heft 04/1997, Beilage, S. 33 f.
39 Vgl. u.a. H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982; H. Klenner, Idealität und
Realität von Menschenrechten, in: Gemeinschaft für Menschenrechte im Freistaat Sachsen
(Hrsg.), Alle Menschenrechte für alle Menschen! Symposium anläßlich des 50. Jahrestages der
Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, GMS-Schriftenreihe, H. 07,
Dresden 1999, S. 3 ff.
23

schen Interventionen, bei denen es stets die Interventen sind, die die Gründe
für solche Interventionen definieren, den Imperialismus nach dem Ende des
Kalten Krieges als Menschenrechts-Imperialismus bezeichnet haben. 40 Die
US-amerikanische Wissenschaftlerin Ellen Meiksins Wood nennt das unter
dem Eindruck der NATO-Aggression gegen Jugoslawien eine Bezeichnung,
die diesen Krieg treffend charakterisiert hat, bevor er stattfand. 41
Von grundsätzlicher Bedeutung für die Einschätzung der Menschenrechtsproblematik
im Zusammenhang mit der Frage Krieg oder Frieden sind auch
jene Positionen, die Volkmar Deile, damals Generalsekretär der deutschen
Sektion von amnesty international, zum Golfkrieg II mit den Worten bezog:
„Der 2. Golfkrieg ist zwar von alliierter Seite auch mit Menschenrechtsverletzungen
begründet worden. Faktisch aber sind die Menschenrechte
mißbraucht worden ... Der selektive und instrumentalisierende Mißbrauch der
Menschenrechte hat deren Achtungsanspruch schwer geschadet. ... Auch der
2. Golfkrieg lehrt: Menschenrechte sind nicht mit Krieg durchsetzbar. Menschenrechte
haben eine natürliche Nähe zu ihrer gewaltfreien Realisierung.
Die Menschheit muß lernen, Konflikte ohne Kriege zu lösen. Die UNO ist
dazu das Instrument. Interventionen zugunsten bedrohter Menschen und
Völker und für Opfer von Menschenrechtsverletzungen müssen mit Mitteln
ausgeübt werden, die dem angestrebten Ziel des Schutzes von Menschen
nicht widersprechen. Es gilt, Instrumente und Durchsetzungsmechanismen
zu entwickeln, mit denen ‚Einmischung‘ möglich ist, ohne die territoriale Integrität
und Souveränität eines Staates militärisch zu verletzen.“ 42
Die hier von Volkmar Deile bezogene Position deckt sich völlig mit der, die
der Internationale Gerichtshof in Den Haag 1986 zu militärischen Interventionen
der USA gegen Nicaragua mit den Worten bezog: „Die Vereinigten
Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte
in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt
keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen
oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen ist festzustellen,
daß der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar
ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien,
oder ... mit der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung der Contras. Das
40
Vgl. U.-J-Heuer, G. Schirmer, Human Rights Imperialism. In: Monthly Review, New York,
Vol. 49, Nr. 10 (March 1998), p. 5-16.
41
Vgl. E. M. Wood: Kosovo and the new Imperialism, in: Monthly Review, New York, Vol. 51,
Nr. 02 June 1999, p. 5.
42
V. Deile, Frieden und Menschenrechte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem
zweiten Golfkrieg, in: Shalom, Schwerte, Ausg. 02/1992, S. 14 f.
24

Gericht kommt zu dem Ergebnis, daß das Argument, das von der Wahrung
der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung
für das Verhalten der USA liefern könne.“ 43
Greifen wir also in der Friedensbewegung die Menschenrechtsproblematik in
diesem Sinne auf, und setzen wir uns offensiv mit deren Mißbrauch durch die
NATO-Ideologen auseinander!
Ein weiteres wesentliches Moment der Irritation ergibt sich aus der fortschreitenden
Personalisierung von Politik. Diese, heute vor allem durch das Fernsehen
produzierte, Personalisierung erzeugt eine auf Personen fixierte und
mehr auf Sympathie bzw. Antipathie als auf Analyse beruhende emotionale
Einstellung zu politischen Vorgängen und Ereignissen. Sie betrifft die Identifikationsfiguren
für die eigene Seite ebenso wie den Feind für die Gegenseite.
Bei der Aggression gegen Jugoslawien spielte die Tatsache eine erhebliche
Rolle, daß dieser erste NATO-Krieg in Europa von Politikern inszeniert wurde,
die - nun in Regierungsverantwortung stehend - durchweg aus der Sozialistischen
Internationale bzw. der Bewegung der Grünen kommen und sich
während der 80er Jahre im Kampf gegen den NATO-Doppelbe-schluß sowie
für nukleare Abrüstung Ansehen und Popularität erworben hatten. Es war
wohl gerade dieser Bonus als frühere Kriegsgegner, der es ihnen - vor allem in
Deutschland - ermöglichte, nun die Mehrheit der Bevölkerung so von der
Notwendigkeit dieses Krieges zu überzeugen, daß die Kriegsgegner weitgehend
macht- und wirkungslos blieben.
Als Friedensbewegung werden wir uns noch länger gründlich damit auseinanderzusetzen
haben und das um so mehr, da Politiker wie Joseph Fischer, Gerhard
Schröder und Rudolf Scharping seit diesem Krieg an Popularität in der
Gesamtbevölkerung eher noch gewonnen haben. 44
Nicht weniger wirksam war die Personifizierung des Feindes. Die systematische
Verteufelung des jugoslawischen Präsidenten Milosevic als blutrünstigen
Schlächter und Hitler von heute wurde - durchaus erfolgreich - auf die Spitze
getrieben mit der größten regierungsamtlichen Lüge des Jahres 1999, „die
NATO führt diesen Krieg nicht gegen das jugoslawische Volk, sondern allein
gegen Milosevic“. So entblödete sich Bundeskanzler Schröder nicht, dem chinesischen
Ministerpräsidenten Zhu Rongij nach der Bombardierung der chinesischen
Botschaft in Belgrad eine persönliche Botschaft überreichen zu lassen,
in der er wörtlich erklärte: „Der bedauerliche und selbstverständlich nicht
43 Nach N. Paech, Die Moral der Legalität, in: Ossietzky, Hannover, Nr. 16/1999, S. 547.
44 Vgl. u.a. Der Spiegel, Hamburg, Nr. 32/1999, S. 58 ff.
25

eabsichtigte Vorfall ist tragische Folge einer menschenverachtenden Politik
der Belgrader Führung ... .“ 45
Wir werden nicht umhin können, uns noch intensiver und einfallsreicher mit
derart hirnrissigen Behauptungen auseinanderzusetzen. Dabei sollten wir uns
auch jene Argumente genauer ansehen, mit denen Politiker wie Helmut
Schmidt, Henning Voscherau, Manfred Dregger oder Peter Scholl-Latour, die
eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind, den NATO-Krieg öffentlich
kritisiert haben.
Aber Persönlichkeiten, mit denen sich viele Menschen identifizieren können,
braucht auch die Friedensbewegung. Und wenn sich in Deutschland Gerichte
finden, die Friedensaktivisten wie Elke Steven, Professor Wolf-Dieter Narr
oder den Chemnitzer Studentenpfarrer Hans-Jochen Vogel mit hohen Geldstrafen
belegen wollen, weil sie während des Krieges Soldaten der Bundeswehr
aufgefordert haben, die Mitwirkung an diesem völkerrechtswidrigen
Krieg zu verweigern, oder Professor Siegwart-Horst Günter, der die toxische
Wirkung der von den USA eingesetzten radioaktiven Munition nachgewiesen
hat, in die Psychiatrie einweisen wollen, 46 dann müssen wir für diese unsere
Mitstreiter all das an Solidarität entwickeln, wozu wir fähig sind.
Vor allem aber müssen wir uns in der Friedensbewegung mit dem auseinandersetzen,
was seit dem Aggressionskrieg der NATO gegen Jugoslawien in
der deutschen Justiz gelaufen ist und läuft. Offenkundig zielt die Strafverfolgung
der Unterzeichner des Aufrufs, nicht an einem Angriffskrieg mitzuwirken,
darauf, diejenigen aufrechten Demokraten einzuschüchtern, die ihre im
Grundgesetz verankerten Grundrechte und das in Artikel 26 GG festgeschriebene
Verbot des Angriffskrieges ebenso wie dessen strafrechtliche Untersetzung
in § 80 StGB wörtlich nehmen und verteidigen. Der Kriminalisierung
von Gegnern des Angriffskrieges durch Teile der deutschen Justiz entspricht
die gleichzeitige Verhinderung der Strafverfolgung derjenigen, die in
Deutschland mit ihrer politischen Entscheidung für den Aggressionskrieg der
NATO gegen Jugoslawien für den Bruch des Völkerrechts und des Grundgesetzes
verantwortlich sind, was auf die faktische Legalisierung eines Verbrechens
hinausläuft, das laut § 80 StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder
mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu bestrafen ist. Das ist z.B. der
Fall, wenn der Generalbundesanwalt die Strafanzeige von 41 Hamburger
45
Nach Presse- u. Informationsamt der Bundesregierung, Stichworte zur Sicherheitspolitik,
Bonn, Nr. 05 (Mai 1999), S.37.
46
H. Ulrich, Was wäre der Staatsschutz ohne Psychiatrie? in: Leipzigs Neue, Leipzig, Nr. 17,
26
vom 20.08.1999, S. 7.

Rechtsanwälten gegen Bundeskanzler Schröder, Bundesverteidigungsminister
Scharping und andere wegen deren Verantwortung für einen Angriffskrieg
u. a. mit der Behauptung zurückweist, daß es am Tatbestandsmerkmal eines
Angriffskrieges fehle und im übrigen habe „sich die Auslegung des § 80 StGB
nicht nur an dessen Wortlaut, insbesondere nicht allein am militärisch verstandenen
Begriff des Angriffskrieges auszurichten“.
Wenn wir die Frage beantworten wollen, warum es angesichts der NATO-
Aggression gegen Jugoslawien kein größeres Friedensengagement gab, können
wir sicher auch an der einfachen Tatsache nicht vorbeigehen, daß jene
Mitmenschen, die den II. Weltkrieg selbst noch bewußt erlebt haben, inzwischen
- schon aus biologischen Gründen - nur noch eine Minderheit der erwachsenen
Bevölkerung sind. Die jüngeren Generationen aber haben angesichts
der heutigen weltpolitischen Situation - und vor allem der Unwahrscheinlichkeit,
selbst von einem Krieg bedroht zu sein - mehrheitlich eine relativ
unbedarfte Einstellung zu Krieg und Frieden. Die jetzt wahrscheinlichen
Kriege werden weit weg geführt und führen angesichts der haushohen militärtechnischen
Überlegenheit der eigenen Streitkräfte - bisher jedenfalls - zu so
wenig eigenen Opfern, daß das sehr viele unserer Mitmenschen einfach kalt
läßt. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek hat diese Erscheinung kürzlich treffend
als die Gleichgültigkeit des Ungefährdeten bezeichnet. 47 Karl Bredthauer
kritisiert die massenhafte Existenz „lebensgefährlich guter Gewissen“. 48
Zugleich ist jedoch die Zahl der Kriegsdienstverweigerer unverändert hoch
bzw. hat sich nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien noch erhöht. Ebenso
war es z.B. eine Tatsache, daß mehr als die Hälfte jener 10.000, die in
Dresden am 16. April 1999 - einem Freitagabend - bei strömendem Regen
gegen die NATO-Aggression demonstriert haben, junge Menschen waren.
Ich denke deshalb, daß wir uns mit dieser Erscheinung in der Friedensbewegung
noch sehr gründlich beschäftigen müssen, dabei voreilige und pauschale
Urteile vermeiden sollten, um schließlich über Diskussionen nicht so sehr über
die Jugend von heute, sondern mit ihr einen besseren Zugang zum Denken
und Fühlen jener Mitmenschen zu finden, die künftige Kriege nicht führen,
sondern verhindern sollen. In unserem Kampf gegen die Vorbereitung
neuer Kriegsabenteuer bleibt die personelle Seite, z. B. in Gestalt der Kriegsdienstverweigerung,
sicher wichtig. Prinzipiell sollten wir denen entgegentreten,
die aus ihrem feministischen Fundamentalismus heraus glauben, nun die
47 Nach PAX-Report, Berlin, Nr. 09, September 1999, S. 13.
48 K. D. Bredthauer, Lebensgefährlich gute Gewissen, in: Blätter für deutsche und internationale
Politik, Bonn 1999, Nr. 08, S. 903 ff.
27

Wehrpflicht auch auf Frauen ausdehnen zu müssen. Statt dessen sollten wir
prinzipiell für die Abschaffung der Wehrpflicht, die Beschränkung des Auftrages
der Bundeswehr auf Landesverteidigung und eine dementsprechende
Reduzierung ihrer personellen und waffentechnischen Stärke eintreten.
Angesichts der gegenwärtigen strategischen Orientierung der NATO auf
weltweite militärische Interventionen nach dem Muster von Golfkrieg II und
Krieg gegen Jugoslawien kommt der mit dem Faktor Militärtechnik verbundenen
Kostenentwicklung absolute Priorität zu. Um welche Größenordnungen
es dabei geht, wurde z.B. auf dem von der Welt am Sonntag Anfang Juli
1999 veranstalteten 10. Forum Bundeswehr & Gesellschaft ziemlich offen besprochen.
Bundeswehrminister Scharping forderte dort z.B. für künftige Einsätze
nachdrücklich den forcierten Ausbau europäischer Transport- und Aufklärungskapazitäten,
die Verbesserung der Führungs- und Informationssysteme
und den erheblichen Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie. Aufschlußreich
war, wie Scharping dabei vor 180 führenden Vertretern aus Politik,
Militär, Wirtschaft und Medien die Rüstungsaufwendungen der USA zum
Maßstab auch für die europäischen NATO-Staaten erklärte: „Die Amerikaner,
die etwa drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben,
wenden pro Soldat 270 000 Dollar im Jahr für Investitionen auf. Die
Europäer, die 1,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts, also deutlich weniger
für Verteidigung ausgeben, geben pro Soldat an Investitionen etwa 90 000
Dollar im Jahr her. Wenn diese Entwicklung noch einige Jahre anhält, dann
können wir alle schönen Ziele der Gleichberechtigung im Bündnis schlicht in
den Schornstein der Illusionen schreiben. Denn dann öffnet sich eine Lücke,
die von niemandem mehr geschlossen wird.“ 49
Die Friedensbewegung ist also gut beraten, wenn sie nicht müde wird, gerade
diesen Rüstungskurs immer wieder öffentlich zu thematisieren, und zwar einschließlich
derer, die daran profitieren, - bis hin zum Nachweis, wieviel mehr
Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, wenn die Milliardenbeträge nicht in
die Rüstung, sondern z.B. in die Sanierung unserer Umwelt oder in den sozialen
Wohnungsbau fließen würden.
Autor: Prof. Dr. Dr. Ernst Woit, Dresdener Studiengemeinschaft
SICHERHEITSPOLITIK e.V.
49 Bundeswehr & Gesellschaft, Beilage zur Welt am Sonntag, Berlin, vom 11.07.1999, S. 1.
28

Wolfgang Scheler
Friedensbewußtsein im Widerstand gegen Krieg und
Militarisierung
Beim vorangegangenen Dresdner Friedenssymposium hatten wir in den Mittelpunkt
gestellt, daß wir in der Friedensbewegung unseren Blick wieder mehr
auf bevorstehende Kriege richten sollten. Wir machten uns klar, daß die Kriege
des 21. Jahrhunderts schon vorbereitet werden, geostrategisch und rüstungstechnisch,
militärisch und mental. Aber weil das weitgehend unbemerkt
vor sich geht und es den meisten Menschen verborgen bleibt, stellten wir uns
die Aufgabe, es ans Licht zu ziehen und uns selbst, so wie die Öffentlichkeit,
darüber aufzuklären. Es schien uns notwendig, die Menschen, die sich arglos
im ungefährdeten Frieden glauben, rechtzeitig zu warnen, damit sie sich gegen
die ihnen zugemutete Ungeheuerlichkeit wehren können. Wir debattierten
darüber, wie die Formen des Widerstandes dem veränderten Charakter künftiger
Kriege gerecht werden können.
Sechs Wochen später war Krieg und Deutschland zum erstenmal nach einer
langen Periode des Nichtkrieges wieder dabei. Urplötzlich stürzte die Friedensbewegung,
die in der Nachkriegszeit in unterschiedlichen Konstellationen
dafür gewirkt hat, daß Deutschland nie wieder Krieg führt, in eine noch nicht
erlebte Situation. Deutschlands Wiedereintritt in die Kriegsgeschichte bedeutet
nicht nur einen Umbruch in der Sicherheitslage, er verändert auch gravierend
die Lage der Friedensbewegung. Wir stehen vor der Aufgabe, uns klar zu
machen, was sich für uns ändert, welche neuen Bedingungen und Erfordernisse,
aber auch welche neuen Möglichkeiten, sich für unser Wirken ergeben.
Die Menschen, an die wir uns in den letzten Jahren wendeten, lebten schon
seit zwei oder drei Generationen im Frieden. Der Krieg war für die meisten
ferne Vergangenheit oder ein vages Abstraktum geworden. Wer nicht älter als
60 ist, hat ihn nie bewußt erfahren. Seit dem Ende der gefährlichen Blockkonfrontation
hatte die Kriegsgefahr ihre Konturen verloren. Deutschland schien
sicher vor Krieg. Selbst wir in der Friedensbewegung richteten unsere Anstrengungen
mehr auf die Machbarkeit des Friedens und auf das Wahrnehmen
der Chancen für Abrüstung und Entmilitarisierung als auf die Abwendung
eines unmittelbar drohenden Krieges.
Vom Krieg fühlten sich die Menschen am wenigsten bedroht, sehr viel mehr
von Gefährdungen ihrer sozialen Existenz. Sie hatten andere Sorgen als die
um Frieden Besorgten und hörten nicht hin, wenn wir ihnen vermitteln wollten,
was sich in der bundesdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
29

Bedrohliches tut. So blieben wir meistens unter uns. Unsere Kassandrarufe
konnte die Öffentlichkeit gar nicht wahrnehmen, denn nur was in den Medien
ist dringt ins öffentliche Bewußtsein. Die einflußreichen Medien - ganz zu
schweigen vom beherrschenden Massenmedium Fernsehen - nahmen aber
keine Notiz von dem, was wir, die Ergebnisse von Friedensforschern aufnehmend,
in den zahllosen Friedensgruppen taten und dachten. Und ihre
sträfliche Ignoranz logen die Meinungsmacher um in den Schlaf der Friedensbewegung.
Wieviele der Dresdner Bürger beispielsweise kennen denn die Sächsische
Friedensinitiative, und wer, außer den hundert Teilnehmern, erfuhr je, was wir
auf unseren Friedenssymposien mitzuteilen hatten? Wir, die wir drin sind in
der Friedensbewegung, wissen aus unserem langjährigen Zusammenwirken
und unserer selbst entwickelten Kommunikation, wieviele Friedensgruppen,
Initiativen, Trägerkreise, Vereinigungen und Kampagnen es in der Bundesrepublik
gibt und wieviele Menschen sich in ihnen gegen Kriegsrüstung und militärische
Gewalt tatkräftig engagieren. Vor allem aber kennen wir das Friedensdenken
in seiner heutigen Ausprägung, die Konzepte für eine alternative
Sicherheitspolitik der Abrüstung und zivilen Konfliktaustragung. Wir wissen,
daß eine vielfältige und beweiskräftige geistige Auseinandersetzung mit dem
Militarismus und der Kriegsideologie in ihren heutigen Erscheinungsformen
geführt wird. Aber wer weiß es außer uns, wenn nahezu die gesamte Presse
und die öffentlich-rechtlichen Medien ihrer Informationspflicht nicht nachkommen
und das nach wie vor vitale Friedensdenken totschweigen?
„Reißen wir die Menschen aus dem Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert!
Wir wissen doch, was Krieg ist. Malen wir sie an die Wand, die Schrecken
künftiger Kriege, damit wir ihnen entgehen!“ Das war meine Aufforderung
am Schluß unseres Siebenten Friedenssymposiums im Vorkriegsmonat
des Jahres 1999. Sie dramatisierte nichts. Das Dramatische war in der Situation
begründet: Der Aktivierungsbefehl für den NATO-Angriff war gegeben,
bestätigt vom neu gewählten Bundestag. General Klaus Naumann, Vorsitzender
des Militärausschusses der NATO, hatte gerade erst hier in Dresden an
der Offizierschule des Heeres Klartext geredet über die Diplomatie mit gewaltsamen
Mitteln. Unwidersprochen durfte General a.D. Kielmannsegg im
Deutschlandfunk fordern, die NATO solle nicht ihre Politik der Nadelstiche
fortsetzen, sondern der Kosovo-Konflikt sei nur lösbar mit massiven Luftangriffen
und Bodentruppen. Das konnte jeder hören, der es hören wollte. Und
jeder konnte wissen: Das ist die Gewöhnung der Öffentlichkeit an Krieg. Das
ist die Rückkehr des gewöhnlichen Militarismus.
30

Aber wie immer schon: Erst als der Krieg entfesselt war, wurde er ernst genommen.
Schlagartig veränderte sich auch die geistige Situation. Das Krieg-
Frieden-Thema, zuvor fast vollständig aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt,
besetzte sofort den ersten Platz im Meinungsstrom und Medieninteresse.
Deutschland im Krieg - die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache erregte
die Gemüter. Krieg war nicht mehr bloß geschichtliche Erinnerung, theoretische
Erwägung oder fernes Geschehen irgendwo in der weiten Welt. Es blitzte
auf, daß da etwas geschah, was persönlich berührt und das gesellschaftliche
Leben aus den gewohnten Bahnen wirft. Scharf polarisierten sich das politische
Denken und die öffentliche Meinung. Lautstark auf der einen Seite das
Kriegsgeschrei und die Rechtfertigungsmythen der höheren Moral und der
Menschenrechte, kraß gezeichnet das Feindbild, das den Rechtsbruch vernebelt
und dem kriegerischen Morden die Weihe der Verteidigung menschlicher
Werte verlieh. Spontaner Protest und demonstratives Aufbegehren aus den
verschiedensten Kreisen der Gesellschaft auf der anderen Seite.
Wir erlebten hier in der Stadt und ihrem Umkreis einen neuen Aufbruch von
Frauen und Männern, Jungen und Alten in der Antikriegsbewegung. Sie gingen
auf die Suche nach Gleichgesinnten, und sie drängten zur gemeinsamen
Aktion. Sie riefen nach kompetenten Ansprechpartnern aus der Friedensbewegung,
entdeckten uns und verlangten Aufklärung über die Hintergründe
des Krieges, wollten Argumente für die Begründung der eigenen widerständigen
Position und wollten wissen, wie der Protest öffentlich gemacht werden
kann. Es mußte sofort gehandelt werden, aber die organisatorischen Möglichkeiten
der kleinen Dresdner Friedensgruppen waren dem nicht gewachsen.
Einem Aufruf der PDS folgten Zehntausend zu einem beeindruckenden
Schweigemarsch, der von den Medien nicht übergangen werden konnte. Um
die Kräfte zu bündeln, bildete sich ein Aktionskreis aus Menschen verschiedener
Milieus und Anschauungen. Trotz vorhandener Berührungsängste und
Bedenken parteipolitischer Vereinnahmung konnte er eine gemeinsame Demonstration
zuwege bringen und Kontakte knüpfen, die es ermöglichten, in
einer ganzen Reihe weiterer Aktionen, Kundgebungen und Veranstaltungen
der Stimme von Kriegsgegnern Gehör zu verschaffen.
Auf einmal war das Thema Krieg-Frieden in den Mittelpunkt des Interesses
getreten, und es gab großen Andrang zu den Veranstaltungen. Aufmerksame
Zuhörer fragten jetzt die Kenntnisse ab, die zuvor kaum über den engen
Kreis der Friedensinitiative und anderer Friedensgruppen hinaus gedrungen
waren. Es erwies sich, daß es bei uns - wie anderswo - nicht vergebens war,
daß auch in Zeiten der Flaute in kleinen Zirkeln die friedens- und sicherheitspolitischen
Themen tiefgehend erörtert und weiter gedacht worden waren.
Weil es einen Schatz an sofort abrufbarem Wissen und reflektierter Erfahrung
31

auf diesem Politikfeld gab, zeigten sich die lokalen Friedensgruppen der Herausforderung
gewachsen, das Geschehen eigenständig zu beurteilen und das
Informationsbedürfnis der Kriegsgegner in Wort und Schrift zu befriedigen.
Der NATO-Krieg mit deutscher Beteiligung hat die geistige Situation nicht
nur akut, sondern nachhaltig verändert. Kriegsbefürworter wie Kriegsgegner
werden sich klar darüber, welche neue Ausgangslage der Krieg für die Verfolgung
ihrer Interessen geschaffen hat. Nach dem anfänglich massiven medialen
Trommelfeuer der Rechtfertigungsideologie sind mehr und mehr auch kritische
und nachdenkliche Stimmen zu hören. Der Glaube an die Wahrhaftigkeit
der Kriegsberichterstattung und an das vorgestanzte Freund-Feind-Bild
wird durch die Nachkriegserfahrungen erschüttert. Für die erhobenen Vorwürfe
des Völkermords, des massenweisen Abschlachtens an die Adresse der
einen Kriegspartei werden der Öffentlichkeit keine Beweise geliefert. Mit ihrem
ethnischen Haß und ihrem exzessiven Verhalten unter der Oberaufsicht
ihrer Schutzmacht stößt sich die andere Kriegspartei selbst von dem Podest,
auf das die interessierte westliche Wertegemeinschaft sie als Opfer und
Kämpfer für die Menschenrechte gestellt hatte.
Inzwischen ist eine ganze Reihe von Büchern und Schriften erschienen, die
sich mit den wahren Ursachen und Hintergründen des NATO-Krieges, mit
dem von der NATO begangenen Bruch des Friedensvölkerrechts wie des
Kriegsvölkerrechts und mit seinen Folgen für die sicherheitspolitische Entwicklung,
befassen. Sie zerstören nicht nur die Kriegslegenden, sondern analysieren,
welche Gefahren für den europäischen und den Weltfrieden entstehen,
wenn die Politik, die mit diesem Krieg in Gang gesetzt worden ist, nicht
gestoppt wird. In einem Buch mit dem beziehungsreichen Titel Vor dem
Krieg ist nach dem Krieg heißt es dazu: „Die Lehre aus dem NATO-Krieg
gegen Jugoslawien besteht für alle Staaten, die einmal in Konflikt mit der
NATO geraten könnten, darin, daß man sich nur durch Aufrüstung gegen
unerwünschte NATO-Militäraktionen wappnen kann.“ 1 So ist es: Der erste
Krieg der Neuen NATO wird, wenn der Widerstand gegen diese unverantwortliche
Politik des Westens sich nicht durchsetzt, tatsächlich das Fanal zu
einem neuen Wettrüsten.
Die Versuche aber, sich durch Gegen-Rüstung zu wappnen und die militärische
Überlegenheit der einzigen globalen Supermacht zu kompensieren, führen
auf den Weg, der schon einmal in der Sackgasse militärischer Abschreckung
und Selbstabschreckung endete und aus der es nur einen Ausweg gibt,
1 U. Cremer, Der erste Krieg der neuen NATO, in: U. Cremer, D. S. Lutz (Hrsg.), Nach dem
32
Krieg ist vor dem Krieg, Hamburg 1999, S. 75.

nämlich die Umkehr. Wir sollten daran erinnern, daß am Ende dieser Sackgasse
der atomare Abgrund lauerte. Allzu weit haben wir uns seitdem noch
nicht von diesem Endpunkt menschlichen Daseins entfernen können. Die
Overkill-Kapazität, also die Fähigkeit, alles menschliche Leben auf dem Erdball
auszulöschen, ist nach wie vor vorhanden. Die neue NATO-Strategie, die
einen neuen Rüstungsschub - sowohl innerhalb der Allianz wie bei ihren geopolitischen
Gegenspielern - auslöst, gibt das Kommando zu einer erneuten
Kehrtwende. Wir bewegen uns nicht mehr auf dem vor einem Jahrzehnt eingeschlagenen
Weg heraus aus der Sackgasse, sondern wir laufen weiter hinein
und wieder auf den Abgrund zu.
Auf diese Weise steuern wir geradewegs in einen neuen Kalten Krieg. Dieser
wird ein militarisierter Konflikt, diesmal nicht der bipolare zweier Gesellschaftssysteme,
sondern ein multipolarer zwischen mehreren Weltzentren um
ihre regionale und globale Großmachtposition sein, ausgelöst und vorangetrieben
durch die Entscheidung der NATO-Staaten, Sicherheitspolitik militärisch
zu definieren und Außenpolitik mit Waffen und Soldaten zu betreiben.
Die getroffene Wahl hat den Balkan-Konflikt erzeugt und den Krieg gegen
Jugoslawien, und wie der Fluch der bösen Tat, die fortan Böses muß gebären,
folgte der Tschetschenienkrieg. Vor kurzem überraschte Die Zeit mit der
Schlagzeile: Willkommen im Kalten Krieg. Der Autor des Artikels wirft ein
grelles Licht auf die sicherheitspolitische Situation und ihre Grundtendenzen,
wenn er schreibt: „Der neue Kalte Krieg - Tschetschenien ist nur die Spitze
des Eisbergs - bringt das alte multipolare System der früheren Großmachtkonflikte
zurück ... Der Tschetschenienkrieg ist nicht zuletzt Moskaus Antwort
auf Washingtons Strategie seit Mitte der neunziger Jahre. Sie war darauf
angelegt, Rußlands Südflanke nach Art des Kalten Krieges zu umgreifen und
die Routen für die russischen Pipelines zu destabilisieren.“ 2
Vom Ost-West-Konflikt, schreibt er weiter, werde sich die neue geostrategische
Auseinandersetzung wesentlich unterscheiden: „Rußland wird künftig
nur noch einer von vier Hauptakteuren sein und ist von diesen am schlechtesten
für das 21. Jahrhundert gerüstet. Hinter Amerika werden China und die
Europäische Union zu Weltmächten aufsteigen.“ Zwar sei die Europäische
Union als Weltmacht eine Vorstellung, die noch Fantasie verlange. „Dennoch:
Europas Institutionen und staatliche Insignien, vom gemeinsamen
2 Ch. Schmidt-Häuer, Willkommen in Kalten Krieg, in: Die Zeit, Hamburg, vom 02.12.1999,
S. 10.
33

Rechtsbestand bis zur Währung, werden der kommenden Großmacht auf
Dauer Statur verleihen.“ 3
Es erhellen sich sogleich die tieferen Zusammenhänge gegenwärtigen Geschehens
in der europäischen Sicherheitspolitik und bei der Rekonstruktion
der Streitkräfte, wenn der Autor anschließend genauer erklärt, was das sicherheitspolitisch
zu bedeuten hat: „Die Amerikaner, die den Abstieg Rußlands
und den Aufstieg Chinas zu kontrollieren versuchen, haben schon begonnen,
die Europäer in dieses Schema einzubeziehen. Die wachsenden Spannungen
um die europäische Verteidigungsinitiative, Washingtons plötzliche Warnungen
vor Alleingängen, belegen das. Angesichts der veränderten geostrategischen
Ausgangslage zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird es den Europäern
nicht erspart bleiben, eine eigene, von der NATO separate Sicherheitsidentität
zu entwickeln.“ 4 Rüstungswettlauf und Konkurrenz um militärische Fähigkeiten
und ihre eigenständige Anwendung leben also auch innerhalb der Atlantischen
Allianz auf und verstärken den Militarisierungsdrang in Europa.
In die gleiche Richtung denken und drängen auch Militärstrategen in
Deutschland. In einem Vortrag über die Erfahrungen aus dem Kosovo-
Einsatz, überschrieben mit dem Titel Der nächste Konflikt wird kommen betont
General a.D. Klaus Naumann, wichtiger noch als die Konsequenzen für
die NATO seien die Konsequenzen für Europa: „Wir müssen Änderungen
im Streitkräftedispositiv der europäischen NATO-Nationen herbeiführen.
Der Unterschied zwischen der militärischen Leistungsfähigkeit der europäischen
NATO-Staaten und der der USA ist im Kosovo-Konflikt in einer
Deutlichkeit zu Tage getreten, die dem politischen Verantwortlichen in Europa
wohl endgültig gezeigt haben muß, daß es um weit mehr geht als um Diskrepanzen
in der militärischen Leistungsfähigkeit. Es geht um die eigenständige
Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.“
Und damit klar ist, wofür die Europäische Union diese eigenständige militärische
Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit braucht, setzt er
dem hinzu, „die Europäische Union muß endlich auch begreifen, daß sie eine
globale Macht ist und nicht nur im Hinterhof agieren kann.“ 5
Es ist nicht zu überhören, deutsches Großmachtstreben meldet im neuen
Gewand seine Ansprüche an, diesmal nicht gegen Frankreich und England,
sondern mit ihnen und in konkurrierender Partnerschaft mit den USA. Wenn
3 Ebenda.
4 Ebenda.
5 K. Naumann, Der nächste Konflikt wird kommen. Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, in:
34
Europäische Sicherheit, Heft. 11/1999, S. 13.

die Ambitionen, nach einer Weltmachtrolle für die Europäische Union zu
greifen, sich realisieren, dann wird die Hoffnung auf ein Europa der Einheit
und des Friedens begraben. Damit stellt sich der Teil Europas, der die
NATO- und die EU-Staaten umfaßt, dem anderen Teil Europas als Militärmacht
gegenüber. Das hatten wir schon, bloß daß diesmal die Konfrontationslinie
weiter im Osten verläuft. Eine solche Großmacht mit dem Schwergewicht
Deutschland begibt sich, das muß man sich klar vor Augen halten, in
militärische Rivalität zuerst und vor allem zu der, wenn auch absteigenden,
Globalmacht in ihrer Nachbarschaft, zu Rußland. Das ist eine äußerst beunruhigende
Perspektive für Sicherheit und Frieden in Europa, wenn man die
Geschichte des Jahrhunderts, das wir gerade hinter uns gelassen haben, nicht
schon vergessen hat.
Wie tief die Politik der Atlantischen Allianz schon wieder den Verhaltensmustern
des Kalten Krieges verfallen ist, hat sich bereits im Krieg gegen Jugoslawien
gezeigt. Rücksichtslos setzte der Westen sich über die Interessen Rußlands
hinweg, verletzte die Rechte Rußlands und Chinas als ständige Mitglieder
des Sicherheitsrates, provozierte Rußland zum Einfrieren der Kooperation
mit der NATO und zur demonstrativen Warnung des russischen Präsidenten,
daß Rußland eine Atommacht ist. Die USA verstiegen sich sogar zu einem
Raketenangriff auf die Botschaft der Weltmacht China, und US-General
Clark befahl, dem Handstreich russischer Schutztruppen im Kosovo, mit dem
Rußland sich dem Versuch widersetzte, in eine Randposition gedrängt zu
werden, bewaffnet entgegen zu treten. Daß der britische General Jackson mit
Rückendeckung seiner Regierung den Befehl verweigerte und das mit den
Worten begründete, er werde für Clark nicht den dritten Weltkrieg auslösen,
macht deutlich, welche gefährlichen Spannungen und kritischen Situationen
der Rückgriff auf Methoden des Kalten Krieges erzeugt.
Als einflußreicher Protagonist der neuen NATO-Strategie bewertet General
a.D. Klaus Naumann, vor und während des Krieges gegen Jugoslawien
noch Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, die Tatsache, daß der
Westen der Russischen Föderation das ihr laut UN-Charta zustehende Recht
verwehrt hat, über militärische Maßnahmen gegen Völkerrechtssubjekte nach
dem Konsensprinzip mit zu entscheiden, als ein positives Ergebnis des Kosovo-Konfliktes.
„Wir haben ihnen gezeigt, daß sie keine Chance haben, Interventionen
der NATO durch ein Veto Rußlands zu behindern. Und ich
hoffe, Moskau hat das verstanden.“ 6 Die antirussische Spitze der Selbstermächtigung
der NATO zu militärischen Interventionen ist unverkennbar. Der
6 Ebenda.
35

nächste Akt, der den Konflikt mit Rußland verschärft und uns tiefer in einen
Kalten Krieg stößt, wird die zweite Phase der Ostexpansion der NATO sein,
mit der sich das westliche Militärbündnis direkt an die Grenzen der Russischen
Föderation vorschiebt.
Man kann angesichts dieser bedrohlichen Aussichten Dieter S. Lutz, wissenschaftlicher
Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
an der Universität Hamburg, nur zustimmen, wenn er schreibt: „ Gemessen
an der Jahrhundertchance des Epochenbruchs von 1989/90 ist die Fortführung
der NATO ein grundlegender Fehler. Diese Feststellung muß um so
mehr für die Ausweitung der NATO nach Osten gelten. Militärbündnisse wie
NATO oder WEU umschließen - mit oder ohne Osterweiterung - immer nur
einen Teil des europäischen Kontinents. Sie führen die Spaltung Europas in
sichere und unsichere, stabile und instabile Zonen fort. Konflikte außerhalb
ihrer Grenzen können sie nicht präventiv bearbeiten, wie das Beispiel des
vormaligen Jugoslawien zeigt. Sie haben anders als ein System kollektiver Sicherheit
nicht die Mittel und Mechanismen hierfür.“ Aber nicht nur das, sie
fördern geradezu ein politisches und militärisches Verhalten, wie wir es aus
dem Kalten Krieg kennen, denn, wie Dieter S. Lutz weiter schreibt, „sind Militärbündnisse
selbst ein latenter Faktor für Isolierungs- oder gar Bedrohungswahrnehmungen
der von der Mitgliedschaft ausgeschlossenen Staaten.
Gegen-Bündnisse, Rüstungseskalationen und Abschreckungsdenken können
die Folge sein. Und wie die Realität zeigt: immer wieder Krieg.“ 7
Die richtigen Erkenntnisse sind also durchaus vorhanden und werden von
renommierten Instituten und Persönlichkeiten öffentlich vertreten. Widerstand
gegen die eingeschlagene verhängnisvolle Entwicklung in der Lebensfrage
von Frieden und Sicherheit formiert sich zuerst geistig und muß im
Ringen um Einfluß auf die öffentliche Meinung ausgefochten werden. Wir
sollten die Kraft der Friedensbewegung nicht so sehr daran messen, wieviele
Menschen sie auf die Straße bringt, wieviele sich an Ostermärschen und anderen
Aktionen beteiligen. Die Friedensbewegung ist in erster Linie Träger einer
geistigen Strömung. Sie ist existent, indem sie einen Platz besetzt im gesellschaftlichen
Bewußtsein. Die Bewegung für den Frieden ist gebunden an die
Präsenz von Friedensbewußtsein. Dieses muß in den Köpfen sein als Bedürfnis
und als ein Komplex von Werten, Wissen und Wollen. Je mehr Köpfe es
erfaßt, je mehr es die Meinung von vielen prägt, um so stärker ist die Friedenskraft,
die Einfluß auf Politik auszuüben vermag. Nur über ihren Einfluß
auf die Politik kann sie etwas ausrichten für den Frieden.
7 D. S. Lutz, Friedensdienst als Sonderweg, in: Freitag, Berlin, vom 17.10.1999, S. 12.
36

Das Friedensdenken muß den Platz zurückgewinnen, den es in der öffentlichen
Meinung schon einmal eingenommen hatte. Es muß gegen die ideologische
Rechtfertigung von völkerrechtswidrigen Militärinterventionen das
Recht einfordern, das auf seiner Seite ist und verteidigt werden muß. Was uns
auf diesem Weg voranbringen kann, ist schon in der Geburtsstunde der Vereinten
Nationen als geschichtliche Lehre aus dem II. Weltkrieg gezogen worden
und hat in der Klarheit des Gedankens bis heute volle Gültigkeit behalten.
In seiner Eröffnungsrede zu den Nürnberger Prozessen sagte der amerikanische
Chefankläger Robert H. Jackson: „Die allergeringste Folge der Verträge,
die den Angriffskrieg für ungesetzlich erklären, ist, jedem, der dennoch einen
solchen Krieg anstiftet oder entfesselt, jeglichen Schutz zu nehmen, den das
Gesetz je gab, und die Kriegstreiber einem Urteilsspruch nach den allgemein
anerkannten Grundregeln des Strafrechts zu überantworten. ... Aber der letzte
Schritt, periodisch wiederkehrende Kriege zu verhüten, die bei internationaler
Gesetzlosigkeit unvermeidlich sind, ist, die Staatsmänner vor dem Gesetz verantwortlich
zu machen. Und lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses
Gesetz wird hier zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber
ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation
verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen.“ 8 Genau
dahin müssen wir kommen.
Autor: Prof. Dr. Wolfgang Scheler, Dresdener Studiengemeinschaft
SICHERHEITSPOLITIK e.V.
Der Beitrag wurde schriftlich eingereicht.
8 R. H. Jackson, Eröffnungsrede vor dem Nürnberger Tribunal am 20. November 1945, in: Der
Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof,
Nürnberg, 14. November 1945 - 01. Oktober 1946. Veröffentlicht in Nürnberg, Deutschland
1947, Bd. 2, S. 173 u. 182.
37

Volker Bialas
Der Gewalt widerstehen - für eine Kultur des Friedens
Zu den erweiterten Aufgaben der Friedensbewegung
Sicherheit - eine andere Form von Gewaltandrohung
Die Münchner Tagung für Sicherheitspolitik Anfang Februar 2000 signalisiert
die Einleitung einer neuen Runde von Militarisierung und Hochrüstung in
Europa. Denn nun wird die nächste Stufe der NATO-Osterweiterung vorbereitet,
und zudem sollen von der EU eigene Interventionstruppen (ESDI)
aufgestellt werden. Dazu hat der neue NATO-Generalsekretär George Robertson
lakonisch angemerkt, die „teuren Wehrdienstarmeen“ müßten abgebaut
werden und es sei nun „klüger zu investieren, um unsere Schlagkraft zu
stärken.“ 1 Diese militärische Art der Identitätsstiftung deutet Robertson dann
in Art der NATO-Logik mit der Bildung eines neuen Euphemismus, einer
neuen Sprachverbiegung, indem er noch hinzufügt: „Die Kollektiv-
Verteidigung bleibt ein bestechendes Konzept. Die neuen Mitglieder schätzen
die Stabilität, welche die NATO garantiert. Und schließlich erfordert jede
Diplomatie eine glaubwürdige Militärmacht. Wir strahlen eine Kultur der Sicherheit
aus.“ 2
Sicherheit klingt gut. Im Zeitalter der inszenierten Verunsicherungen und der
berechtigten Lebensängste klingt Sicherheit ganz positiv und beruhigt
sogleich jeden Argwohn. Und doch müssen wir nach den Erfahrungen des
Jugoslawien-Krieges fragen: Gegen wen soll denn eines Tages die militärische
Sicherheit ausgestrahlt werden? Diese Art von Sicherheit steht doch unvermindert
in der unheilvollen Tradition einer Kultur der Gewalt. Sie soll uns
doch seit einigen Jahren mit der Behauptung nahegebracht werden, wir hätten
weltweite Interessen zu verfolgen, jedoch nicht etwa bei Lösung der großen
Menschheitsprobleme, sondern bei der Sicherung des wirtschaftlichen Reichtums
des Nordens auf Kosten der armen Länder.
Gewalt und nicht Sicherheit ist das Signum des Militärischen gegenüber dem
Zivilen, d.h. gegenüber einer der Gewaltanwendung sich widersetzenden zivilen
Gesellschaft. In diesem Sinne ist auch die Einladung zum Achten Dresdner
Friedenssymposium zu verstehen, wenn es heißt, Friedensarbeit müsse
1 SZ-Interview, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.02.2000, S. 11.
2 SZ-Interview, a.a.O.
38

kriegsverhindernd wirken, vorbeugend, was die Aufdeckung der Kriegsursachen
betrifft, und aufklärerisch, was die Information der Öffentlichkeit betrifft.
Wenn wir den Begriff des Krieges präzisieren müssen, dann ist der Begriff
der Gewalt in die Erörterung unbedingt mit einzubeziehen. Gewalt gilt es
zu entschleiern, und - was die konkrete Friedensarbeit in ihrer Glaubwürdigkeit
und Außenwirkung anbelangt – es sind auch positive Gegenkonzepte zu
entwickeln, um das Gewaltdenken schließlich zu überwinden.
Zur Frage der verursachenden Gewalt
In dem vereinfachten Geschichtsbild, wie es seit den 80er Jahren von den
westlichen Verbündeten propagiert wird, ist Geschichte als ein Kampf zwischen
dem Guten und dem Bösen dargestellt. Dabei ist das Gute die westliche
Wertegemeinschaft, die - mit der Fahne der individuellen Menschenrechte
voran - für die Freiheit des Marktes und des uneingeschränkten Konsums
gewissermaßen im Gleichschritt marschiert. Dem Bösen werden alle davon
grundsätzlich abweichenden Konzepte zugeordnet. Zur Zeit des Kalten Krieges
war das die zentrale Planwirtschaft und nun, nachdem die Globalisierung
von Finanzkapital, Produktionsabläufen und Marktgeschehen in Gang gekommen
ist, wird die regulierte soziale Marktwirtschaft hintertrieben. Als ein
besonderes schwerwiegendes Sakrileg wird noch immer die Verfolgung eines
eigenen politischen Weges, bei dem etwa auch von einem umfassenderen
Verständnis der Menschenrechte - im Sinne ihres sozialen und entwicklungsspezifischen
Gehalts - Gebrauch gemacht wird, betrachtet und entsprechend
geahndet.
Abweichungen vom westlich-kapitalistischen Weg werden also traditionell
sanktioniert, bestraft - und sei es mit militärischer Gewalt. Diese Gewalt wird
seit den Zeiten des Kalten Krieges durch Propaganda und Einstimmung der
Öffentlichkeit auf Kriegseinsätze ritualisiert in der Gewöhnung. Die sprachlichen
Euphemismen sollen sie als rechtmäßig erscheinen lassen, so daß die im
Zeitalter der Massenvernichtungsmittel wiederbelebte Mumie gerechter Krieg
wieder das Denken der Menschen beherrschen und vernebeln soll. Und, wie
gehabt, ist dann jede davon abweichende Gewaltausübung, wie die Gewalt
Jugoslawiens im Kampf gegen die Sezession der Teilrepubliken, eine regelwidrige
Gewalt.
Im Verständnis des Pazifismus ist Gewalt grundsätzlich abzulehnen. Gewalt
ist hier nicht teilbar und läßt sich nicht rechtfertigen. Gewiß, dann kommt
von den Gewaltbefürwortern das berüchtigte Beispiel von Herrn H. aus dem
Reich des Bösen, so als ob Herr H. ohne jede Vorgeschichte direkt der Hölle
39

entstiegen sei und sogleich ohne längere Vorbereitung den II. Weltkrieg entfesselt
habe.
Derartige Vorgeschichten müssen auch den Pazifismus näher beschäftigen.
Er muß deutlicher als bisher wahrnehmen, daß die Gewalt des Krieges nicht
die einzige Form der Gewalt ist, welche die Völker ausrottet und versklavt.
Die primäre Gewalt ist die strukturelle oder institutionalisierte Ungerechtigkeit
als die verursachende Gewalt, in der die verelendeten Menschen auch
ohne militärische Gewalt der Vernichtung preisgegeben sind.
In diesem Zusammenhang ist besonders auf Erfahrungen und theoretische
Konstrukte der Befreiungstheologie aufmerksam zu machen. So hat der lateinamerikanische
Befreiungstheologe Jon Sobrino, die Ausplünderung Afrikas
und Lateinamerikas vor Augen, daran erinnert, daß diese Menschen für
den reichen Norden gleichsam in-existent sind, weil sie für den ökonomischen
Produktionsapparat nicht existieren. Er nennt das den Fundamentalismus
des Kapitals.“ 3 Gewalt überwinden heißt letztlich, die verursachende
Gewalt überwinden. In dieser Konsequenz sind sich Befreiungstheologie und
der radikale Pazifismus einig.
Die Verwischung von zwischenstaatlicher und innerstaatlicher
Gewalt
In den seit 1990 in Europa wahrnehmbaren, scheinbar gegeneinander laufenden
großräumigen Prozessen von ökonomischer und politischer Integration
auf der einen und von Kleinstaatenbildung in der Sezession ehemaliger Bundesstaaten
auf der anderen Seite dominiert zweifellos der von den Konzernen
bestimmte und von den westeuropäischen Regierungen politisch umgesetzte
Integrationsprozeß. Frühere Außenpolitik, verstanden als zwischenstaatliche
Politik von mehr oder weniger souveränen Staaten, verwandelt sich immer
mehr in europäische oder - allgemein gesagt - regionale Innenpolitik. Jugoslawien
war ein militärischer Präzedenzfall der Einmischung, wenn auch noch
unter der Führung der Vereinigten Staaten, in die inneren Angelegenheiten
3 J. Sobrino, Die Gewalt der Ungerechtigkeit, in: concilium. Int. Zeitschrift für Theologie,
33(1997), H. 4, S. 477-485. Zum Verständnis der Position von Sobrino ist von besonderem Interesse:
O. König, G. Larcher (Hrsg.), Theologie der gekreuzigten Völker. J. Sobrino im Gespräch,
Graz 1992.
40

eines europäischen Mitgliedsstaates der UNO. Österreich könnte der politische
Präzedenzfall sein. 4
In dieser Entwicklung, den Staaten ihre letzte Souveränität zu nehmen, liegt
auch für die Gewaltfrage eine gefährliche Tendenz. Militärische Aufrüstung
und Ausrüstung betrifft nun nicht mehr nur potentielle Kriegseinsätze im
Außenbereich von Staaten und Staatengruppen, sondern auch den möglichen
Feind im Innern.
Diese Verwischung der Grenze zwischen Außen und Innen wird auf militärischem
Gebiet begünstigt durch die Entwicklung neuer Waffen, von sogenanntem
nichttödlichem Kriegsgerät. Sie sind seit Beginn der 90er Jahre in der
etwas seltsam anmutenden Zusammenarbeit des US-Verteidigungs- und Justizministeriums
mit amerikanischen Science-fiction-Autoren, wie Chris und
Janet Morris, und dem Futurologen Alvin Toffler entwickelt worden. 5 Die
eine fiktive Schreckenswelt beschreibende Phantasie geschäftiger Sciencefiction-Autoren
und ihre in Buch und Film gekochten Elaborate sind also
hinsichtlich ihrer Ideologie und in den vorgeführten Szenarios für die Umsetzung
in eine menschenverachtende militärische Strategie in der realen Welt
nicht zu unterschätzen.
Zu dem Kriegsgerät gehören kriegsrelevante Waffen, wie z.B. Graphitfaserbomben,
die von der NATO im Jugoslawienkrieg gegen die Stromversorgung
der Bevölkerung eingesetzt wurden. Ebenso sind Waffen einbezogen, die
nach der Haager Landkriegsordnung für Kriegseinsätze verboten sind. Das
sind nicht-tödliche Waffen, sogenannte Soft-kill-Waffen wie Wuchtgeschosse,
Blendschockgranaten und einschläfernde Chemikalien, die den Gegner
kampfunfähig machen, ihn jedenfalls nicht sofort töten. Die Niederschlagung
einer Rebellion in einem Land, aber auch die Auflösung einer Großdemonstration,
würde sich dann derselben Kriegsmittel bedienen, wie sie bei der Eroberung
eines fremden Gebietes angewandt werden.
Für die Friedensarbeit bedeutet das: Gegen militärische Gewalt und Rüstung
sich einsetzen muß daher auch heißen, sich gegen alle Aktivitäten von Politikern
und Militärs zu wenden, durch die die Grenze zwischen Armee und Polizei
aufgehoben wird. Anders gesagt, muß auch der Begriff des Friedens umfassender
verstanden werden: Der Frieden im politischen Außenbereich, also
4 Die Wachsamkeit gegenüber den rechten Entwicklungen in Österreich ist damit keineswegs in
Frage gestellt, jedoch ist sie auch gegenüber den übereifrigen Reaktionen von EU-Staaten und
ihren Motiven geboten.
5 St. Wright, Krieg light gegen Zivilisten, in: Le Monde diplomatique, Januar 2000.
41

zwischen den Staaten, ist nur zu erreichen, wenn die Konflikte im politischen
Innen- und Nahbereich gelöst werden. Dieser Zusammenhang zwischen Außen
und Innen, zwischen dem Großen und dem eher Kleinen, leitet zum letzten
zu erörternden Punkt dieser Bemerkungen über, zur Kultur des Friedens.
Für eine Kultur des Friedens
Über die traditionellen Formen des Protestes und des Widerstandes gegen
Krieg und militärische Rüstung hinaus müssen in der Friedensarbeit auch positive
Konzepte entwickelt werden, um resignative Stimmungen in der Friedensbewegung
zu überwinden und verstärkt auf die jüngeren Generationen
zugehen zu können. Ein derartiges Programm liegt als Kultur des Friedens
seit einigen Jahren vor und wurde der internationalen Öffentlichkeit von der
UNESCO, der Unterorganisation für Kultur, Wissenschaft und Bildung der
UNO, für die Jahre 1996 - 2001 präsentiert. 6
Auf den wesentlichen Punkt gebracht, stellt die Kultur des Friedens ein positives
Gegenkonzept zur traditionellen Kultur der Gewalt dar. Sie verfolgt keinen
abstrakten Pazifismus, sondern bedeutet konkrete gesellschaftliche Praxis
unter der Prämisse der Humanität entsprechend dem Heinemann-Wort: Der
Frieden ist der Ernstfall. Ihre leitenden Prinzipien sind soziale Gerechtigkeit,
aktive Toleranz und Partizipation, d.h. in der Kultur des Friedens geht es
letztlich um die Verwirklichung aller Menschenrechte und damit um die Überwindung
der ursächlichen, strukturellen Gewalt.
Ihre Faszination gewinnt diese Konzeption vor allem auch dadurch, daß sie
den gesellschaftlichen Mikrobereich des Alltäglichen mit den großen Problemen
im gesellschaftlichen Makrobereich, den großen Problemlagen, verbindet.
Beeindruckend ist sie auch deswegen, weil sich das Große im Kleinen widerspiegelt
und in anderer Form wiederfindet. Zudem muß im Alltäglichen
entwickelt und eingeübt werden, was erst die Welt im Großen zum Positiven
zu verändern hilft: soziales Engagement und partnerschaftliches Verhalten,
gewaltfreies Handeln bei der Lösung von Konflikten und eine das Naturverhältnis
des Menschen miteinbeziehende Ethik, deren Prüfstein für eine
Glaubwürdigkeit auch unser eigenes Tun und Denken sein muß.
Autor: Prof. Dr. Volker Bialas, Wissenschafts- und Philosophiehistoriker,
München.
6 Nunmehr wurde das Jahr 2000 als Jahr der Kultur des Friedens proklamiert.
42

Lorenz Knorr
Primat des Militärischen contra Volkssouveränität
Der High-Tech-Krieg der NATO gegen Jugoslawien zeigte zum wiederholten
Male - und zwar dramatischer als bei vorausgegangenen nichtkriegerischen
Fällen -, daß der vielgerühmte Primat der Politik bzw. die Dominanz von gewählten
Regierungen vor der Generalität tiefgreifend verändert ist. Diese
Transformation unter den neuen Bedingungen der elektronischen und medialen
Entwicklung berührt eine Grundfrage der Demokratie und der Volkssouveränität.
Es geht um die prinzipielle Frage, ob die vom Volk gewählten Regierungen
- bei aller Problematik von Wahlversprechen und praktischer Politik
- instrumentalisierte Organe von Krieg und Militarisierung sind oder nicht.
Die NATO ignorierte mit ihrer Aggression 1999 nicht nur das Völkerrecht.
Dominierende Politik oder Dienstleistung für Krieg?
Bekanntlich weist die klassische Kriegstheorie von Clausewitz dem Krieg -
und damit den Streitkräften - instrumentalen Charakter zu. Die absolute Dominanz
der Politik sei geboten. Der Zweck ist die Politik, das Mittel sind
Krieg und Streitkräfte. 1 Dagegen wies der preußisch-deutsche General und
Nazikriegspromoter Ludendorff der Politik eine dienende Rolle zu als Magd
des Krieges. Dieser sei höchste Selbstentfaltung eines Volkes, deshalb wären
auf ihn alle verfügbaren personellen und materiellen Potenzen zu konzentrieren.
Der Feldherr sollte zugleich Staatslenker sein. Die innere Geschlossenheit
des Volkes als Garant des Sieges dulde keinen innenpolitischen Widerstand.
2 Die NS-Diktatur realisierte dieses Konzept weitgehend.
Clausewitz entwickelte seine stringente Kriegswissenschaft als Reflexion militärischer
Praxis in der napoleonischen Zeit. Die Wirtschaft war damals noch
kein wesentlicher politischer Faktor; die Industrialisierung befand sich noch
im Frühstadium. Wie alle preußischen Heeresreformer dachte und wirkte
Clausewitz als Kind der Aufklärung und der Klassik. Er erkannte den Krieg
als historische und gesellschaftliche Erscheinung, die den jeweils wirkenden
Bedingungen folgt. Die Politik erkannte Clausewitz - der idealistischen Philosophie
folgend - als die des Staates, nicht als die der jeweils herrschenden
Klasse. Sie sollte historisch Notwendiges durchsetzen. Jedoch wirkte damals
1 Vgl. C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Berlin 1957.
2 Vgl. E. Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935.
43

das alte ius ad bellum, das von den Monarchen beanspruchte Recht auf
Krieg. 3
Ludendorff präsentierte - eingeschränkt - die Kriegserfahrungen des um die
Jahrhundertwende und danach im Kaiserreich dominierenden Generalstabs.
Damals erreichte die konzentrierte kapitalistische Produktion eine hohe technische
Stufe. Die Verflechtung von Ökonomie und Politik nahm zu. 4 Das
Bündnis von Krone, Altar und Finanzkapital orientierte sich zu Lasten der
Völker auf aggressive Expansion. 5 Ludendorff verkörperte den Drang des
deutschen Imperialismus, wirtschaftliche und politische Streitfragen durch
Krieg zu entscheiden. Das Schwert als Schiedsrichter galt als Maxime. Überschätzung
eigener Möglichkeiten und Unterbewertung der des Gegners blieben
deutsche Besonderheit. Den Zeitgeist beeinflußte maßgeblich der Friedens-
und Demokratiegegner F. Nietzsche. Dessen Herrenmenschen- und
Übermenschen-Phantasien wirkten ebenso auf die Militärpolitik wie der historische
Rückschritt von der Erkenntnis zum Mythos und zum Instinkt. 6
Höchste technische Rationalität und politischer Irrationalismus lösten abenteuerliches
Verhalten in der internationalen Arena mit riskanten Folgen aus.
Die Aufholjagd des zurückgebliebenen Deutschland setzte primär auf eine
schlagkräftige Armee und auf Rüstungspotenz.
Die katastrophalen Ergebnisse dieses Strategieverständnisses zeigten sich
1918 und 1945. Nach der totalen Kapitulation des faschistischen Deutschland
schien Ludendorffs totale Kriegslehre mit dem Primat des Militärischen absolut
passe´ .Aber es schien nur so.
Ignorierte Verpflichtung zum Frieden und zum Recht
Die geschichtlichen Lehren und die Schrecken des II. Weltkrieges mit einmaligen
Verbrechen wirkten bei manchen nicht einmal in der Zeit der nuklearen
Blockkonfrontation. Die BRD war das einzige Land in Europa, das die Ergebnisse
des II. Weltkrieges mit einer Politik der (militärischen) Stärke zu
revidieren trachtete. 7 Die Infragestellung der Nachkriegsgrenzen und die auf
neue militärische Macht gestützte Expansionsbereitschaft prägte eine Politik,
3 Vgl. E. Engelberg und O. Korfes, Einleitung zu C. v. Clausewitz, a.a.O.
4 Vgl. R. Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1910.
5 Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961.
6 Vgl. G. Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1953; MES, Bruder Nietzsche?, Düsseldorf 1988.
Zu Ludendorff: D. Senghaas, Abschreckung und Frieden, Frankfurt a.M. 1969, 1. Abschnitt.
7 Vgl. G. Heinemann, Verfehlte Deutschland-Politik, Frankfurt a.M. 1966; S. Thomas, Der Weg in die
44
NATO, Frankfurt a.M. 1978.

die das atomare Vernichtungsrisiko in Kauf nahm. In der NATO, die die
BRD einbinden und bändigen sollte, wirkten die herrschenden Kräfte als
Scharfmacher. Hitlergenerale und weitere Kriegsverbrecher bestimmten die
revanchistische Politik maßgeblich mit. 8
Der Kalte Krieg war keinesfalls ein humanes Ereignis. Das Auftürmen von
Vernichtungspotentialen behinderte nicht nur den Wiederaufbau und erforderliche
soziale Leistungen. Das Gleichgewicht des Schreckens trieb die parasitäre
Rüstungsspirale und erzeugte existentielle Angst. Die Disziplinierung
innerhalb der Blöcke hemmte die individuelle und kollektive Selbstentfaltung.
Erst durch den Entspannungsprozeß, dessen Gipfelpunkt die KSZE 1975 mit
der Schlußakte von Helsinki war, konnte intersystemare Verständigung und
Kooperation eingeleitet werden, wenn auch mit ambivalenten Wirkungen. 9
Nach der Epochenwende und der skrupellosen Einverleibung der DDR
durchbrachen die Bonner Spitzenmilitärs mit General Naumann als Initiator
sowohl den Primat der Politik als auch völker- und verfassungsrechtliche
Schranken. Mit dem sogenannten Stoltenbergpapier zur Neustrukturierung
der Bundeswehr (1991) sollten deutsche Streitkräfte fortan im offenen Widerspruch
zum grundgesetzlich fixierten Verteidigungsauftrag an Militäreinsätzen
out of area teilnehmen und auch in eigener Regie deutsche Interessen weltweit
durchsetzen. Diese provozierende Ignoranz von UNO-Charta und Grundgesetz
erinnerte an das total diskreditierte Konzept Ludendorffs. Es scheiterte
zunächst am Veto des damaligen Ministers Genscher. 1992 akzeptierte das
Kohl/Kinkel-Kabinett im Schnellverfahren die rechtswidrigen politischen
Vorgaben der Bonner Spitzengeneralität. Die sogenannten Verteidigungspolitischen
Richtlinien normierten wirtschaftliche und internationale Festlegungen
von Militärs. Diese erklärten sich nun zuständig für alle eventuellen Risiken,
samt deren Bewältigung, auch mit kriegerischen Mitteln. Die Bundesregierung
gab ureigenes Terrain der Politik preis, obwohl die Generalität eine
Maßregelung verdient hätte. 10
Sieht man von der Existenz der DDR ab, so erreichte in Deutschland - traditionell
bedingt - die Generalität einen größeren Einfluß auf die Politik, als dies
in Staaten mit langer demokratischer Vergangenheit der Fall ist. Erhält die
8
Vgl. L. Knorr, Rechtsextremismus in der Bundeswehr, Frankfurt a.M. 1998; ders., NATO-Geschichte,
Strategie, Atomkriegsplanung, Frankfurt a.M. 1985, bes. Kap. 2.
9
Vgl. D. Horowitz, Kalter Krieg, Berlin 1969; J. F. Dulles, Krieg oder Frieden, Stuttgart 1950. Zur
KSZE: A. P. Schitikow, Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit, Moskau 1978. Europa-Archiv,
KSZE, Beiträge und Dokumente, Bonn 1976.
10
Hektographierter Text des BMdV, 26.11.1992; L; Knorr, Rechtsextremismus ... a.a.O., S. 186 ff.;
E. Schmähling, Kein Feind, kein Ehr, Köln 1994, S. 75 ff.
45

deutsche Generalität diesen Einfluß nicht legal, dann arbeitet sie - wie nicht
nur das Beispiel Seeckts in der Weimarer Republik zeigt - auch mit illegalen
Methoden, um ihre revanchistischen Ziele der Realisierung näher zu bringen.
11
Es liegt keinesfalls allein an der ungebrochenen personellen Kontinuität im
militärischen Bereich 12 sowie an der stets angepaßten expansionistischen Strategieplanung
vom Kaiserlichen Generalstab über die Weimarer Zeit und die
NS-Diktatur bis zur Bundeswehrführung, daß der Ludendorffsche Primat des
Militärischen weitergeführt und jeweils aktualisiert werden konnte. Zweifellos
ist der subjektive Faktor bedeutend. 13 Es sind jedoch primär die gleichen Besitzverhältnisse
seit der Monarchie, die eine stärkere Gewichtung des militärischen
Faktors zu Lasten ziviler Praktiken erheischen und verwirklichen.
Selbst wenn Teile des Finanzkapitals ihre Expansionsziele langfristig sicherer
mit nichtkriegerischen Mitteln zu realisieren trachten, bleibt als Haupttendenz
das Bestreben, potentielle Widerstände beim Kampf um neue Absatzmärkte,
Rohstoffe, strategisch wichtige Einflußzonen und Kapitalanlagesphären mit
militärischer Gewalt zu liquidieren. Um bei der Neuaufteilung der Welt eine
entsprechend profitable Beute zu erreichen, stärkt man das eigene Rüstungspotential
und die militärische Expansionsplanung auch gegen völkerrechtliche
Gebote, die als Ergebnisse leidvoller Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und
Faschismus entstanden. 14 Da existiert eher eine Interessenidentität der Großbanken
und der Großwirtschaft mit der Generalität als mit Politikern, die
trotz aller Meinungsmanipulation ihre Legitimierung immer noch durch den
Souverän, das Volk, beziehen. Es dominiert die Tendenz, auf der Basis
höchstkonzentrierter finanzkapitalistischer Macht, den Primat der Politik zu
reduzieren - obwohl er öffentlich gefeiert wird - und den militärischen Faktor
ungleich stärker zu gewichten. Damit erhält die Generalität eine - verfassungswidrige
- maßgebliche Rolle bei der Strategieplanung im Interesse der
privilegierten Minderheit, die selbst mit der proklamierten Volkssouveränität
kollidiert. Das ist Ausdruck veränderter Machtverhältnisse.
11 Vgl. K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1955, IX. Kap.
12 1945 faßte der US-Generalstab ca. 200 (hochbelastete) Hitler-Generale zur Auswertung des
II. Weltkrieges zusammen, womit zugleich Vorarbeiten für die Bundeswehr im alten Geist erfolgten.
Vgl. L. Bezymenski, Generale ohne Maske, Berlin 1963, S. 407 ff. Es gab also 1945
keine Unterbrechung, sondern Kontinuität.
13 Vgl. G. W. Plechanow, Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, Frankfurt a.M. 1976.
14 Z.B. UNO-Charta, Potsdamer Abkommen und Grundgesetz der BRD.
46

Machtkartell gegen Frieden, Demokratie und Volkssouveränität
Die eingangs referierte prinzipielle Diskrepanz zwischen Clausewitz und Ludendorff
läßt also den dritten wesentlichen Machtfaktor außer acht, das akkumulierte
Finanzkapital. Bei Clausewitz konnte das nicht anders sein, weil es
zu seiner Zeit die konzentrierte ökonomische Macht als wesentlichen Faktor
noch nicht gab. Bei Ludendorff hatte die Umsetzung wirtschaftlicher Macht
in politischen Einfluß bereits einen hohen Rang erreicht. Zu fragen ist, ob angesichts
einer strukturellen Veränderung in den USA als Vormacht der
NATO die Rolle von Frieden, Demokratie und Volkssouveränität erheblich
reduziert wurde - mit riskanten politischen Wirkungen.
Alle Untersuchungen über den Militärisch-industriellen Komplex (MIK) der
USA und der BRD belegen eine enge Interessenverflechtung von Rüstungswirtschaft,
Generalität und jenen Teilen des Staatsapparates, die mit der Militarisierung
von Gesellschaft und internationalen Beziehungen befaßt sind. 15
Die Rolle der Medienkonzerne sowie die Indienstnahme beachtlicher Teile
der Wissenschaft thematisierten viele Forscher. Unzureichend untersucht und
offengelegt ist dagegen der unkontrollierte Einfluß der Geheimdienste auf die
Verschärfung der das Rüstungsgeschäft fördernden Konfrontation oder das
Schüren von Kriegen. 16
Prüfen wir die Potenz der Politik im Rahmen des MIK, so ist zu konstatieren,
daß andere Machtinstitutionen dominieren, auch wenn ein Kooperationsverhältnis
zwischen Rüstungskonzernen, Generalität, Geheimdiensten und besonderen
Staatsorganen besteht. Der US-Wissenschaftler J. K. Galbraith stellte
zum MIK fest: “Die militärische Macht hat die Vorschriften unserer Verfassung
umgedreht: sie hat der Öffentlichkeit und dem Kongreß Gewalt entzogen
und sie dem Pentagon übertragen“. Vor der Politik rangieren vor allem
die Rüstungskonzerne: “Das Problem heißt unkontrollierte Herrschaft und
Macht. Und weil ihre Herrschaft nicht kontrolliert wird, spiegelt sie auch
nicht die nationalen Belange wider, nicht das, was für die Vereinigten Staaten
wirklich am besten ist, sondern was Luftwaffe, Heer, Marine, was General
Dynamics, North American Rockwell, Grumman Aircraft, Repräsentanten
des Außenministeriums, Nachrichtendienste, Medell Rivers und Richard Russell
gerade für das Beste halten“. Und weiter Galbraith, so „... stellen wir fest,
15
K. Engelhardt, K.-H. Heise, Der militärisch-industrielle Komplex, Köln 1974; F. Schmid, Der Militär-
Industrie-Komplex der BRD, Frankfurt a.M. 1972.
16
Vgl. A. Charisius, J. Mader, Nicht länger geheim, Berlin 1980; H. Höhne, Der Krieg im Dunkeln, Mün-
chen 1985.
47

daß die Streitkräfte und die Rüstungskonzerne über die Dinge entscheiden
und den Kongreß und die Öffentlichkeit danach unterrichten.“ 17
Es dauerte lange, bis die erste Warnung des US-Präsidenten D. Eisenhower,
selbst Fünf-Sterne-General, von 1961 von der Wissenschaft aufgegriffen
wurde. In seiner Abschiedsrede erklärte der Präsident: „... müssen wir besonders
vor einem - gewollten oder ungewollten - übermäßigen Einfluß des Militärisch-industriellen
Komplexes auf der Hut sein. Die Möglichkeit eines unheilvollen
Ansteigens falsch plazierter Macht existiert und wird auch in Zukunft
existieren.“ 18 Die Gewichtsverlagerung zu den demokratisch nicht legitimierten
Machtinhabern ist deutlich. Abhelfende Reaktionen blieben aus.
Der ehemalige Präsidentenberater R. E. Lapp belegt in seinem Buch Kultur
auf Waffen gebaut, daß der MIK wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft
der USA wuchert und daß viele Parlamentarier in Gebieten mit voluminösen
Rüstungskonzernen von diesen völlig abhängig sind. 19 Die Fülle sicherheitspolitischer
Fehlentscheidungen des MIK präsentiert auch der Ex-
Präsidentenberater R. J. Barnet in seinem Buch Der amerikanische Rüstungswahn.
Auch er zeigt den parasitären Charakter des MIK der USA. 20
Ein parasitäres Machtkartell ist auch in der BRD wirksam
Der Einfluß des MIK der NATO-Staaten, vor allem der der USA, ist auch
nach der Epochenwende von 1990 keineswegs geschrumpft, obwohl er ein
Produkt des Kalten Krieges war. Dies zeigt, daß der MIK die Feinde, die er
zur Rechtfertigung seiner unkontrollierten Macht und seiner laufenden Rüstungseskalation
braucht, stets neu hervorbringt. Wenn der bisherige Feind
verschwindet, muß ein neuer her, ob er Feind sein will oder nicht. 21
Auf deutschem Boden zeigten sich Vorläufer des MIK bereits im I. Weltkrieg;
deutlicher noch im faschistischen Deutschland. Aber erst 1970 initiierte der
damalige Bundesminister H. Schmidt den Arbeitskreis Rüstungswirtschaft,
der sich auf der Basis einer hochentwickelten Produktivkraftentfaltung, finanzkapitalistischer
Konzentration und enger Zusammenarbeit der beteiligten
17 J. K .Galbraith, Wie man Generale bändigt, Hamburg 1970, S. 33; 41; 85.
18
Zitiert nach R. E. Lapp, Kultur auf Waffen gebaut, Hamburg 1969, S. 17; R. J. Barnet, Der amerikanische
Rüstungswahn, Hamburg 1971, S. 12.
19
Wie Fußnote 20. Im Vorwort schildert R. Jungk Wesentliches zum Entstehen des MIK der
USA.
20
Vgl. R. J. Barnet, a.a.O.
21
Vgl. HSFK, Feindbilder, Frankfurt a.M. 1975; D. Senghaas, a.a.O., S.78 ff.
48

Kräfte schnell zum einflußreichen MIK der BRD herausbildete. 22 Schon vorher
agierten Ex-Hitlergenerale oder frühzeitig pensionierte hohe Militärs der
Bundeswehr - mit gleicher diskreditierter Vergangenheit - als Produktionsberater
von Rüstungskonzernen bzw. als Verbindungsleute zur Bundeswehrführung
und zum Beschaffungsamt. Ihr gemeinsames Interesse an Hochrüstung
ergab sich aus dem revanchistischen Bestreben, zur Durchsetzung wirtschaftlicher
und politischer Expansionsziele über eine starke Armee zu verfügen.
Weil ein befriedetes Europa eine neue deutsche Hochrüstung nicht benötigt
hätte, heizte man die Spannungen zwischen USA und UdSSR an. 23 Von US-
Rüstungsimporten und Lizenzproduktionen wollte man unabhängig werden
und eine eigene Rüstungsforschung und -produktion aufbauen. Der Öffentlichkeit
vermittelte man ein schreckliches Feindbild, um rapid steigende Militärkosten
und eine schlagkräftige Armee gegen alle Widerstände und gegen alle
geschichtlichen Lektionen durchpeitschen zu können. Allen Bestrebungen
für einen gesicherten Frieden wurde entgegengewirkt. 24
Obwohl längst nicht so voluminös wie der MIK der USA, drängte dieses parasitäre
Machtkartell in der BRD intensiv auf die Militarisierung von Gesellschaft
und internationalen Beziehungen sowie auf das Minimieren oder Ausschalten
friedenspolitischer und demokratisch-emanzipatorischer Kräfte.
Dem sozialen Fortschritt setzte man sozialstrukturelle und mentale Barrieren
entgegen. 25 Die Stärkung des militärischen Faktors zu Lasten politisch-ziviler
Potenzen blieb das Ziel, bis letztendlich 1992 mit den Verteidigungspolitischen
Richtlinien der Primat des Militärischen vor der Politik demonstriert
war. Die aufschlußreiche Selbstkastrierung der vom Volk gewählten Gremien
korrespondierte mit der Machtexpansion des MIK. Die an Ludendorff orientierten
Traditionalisten in der Bundeswehr erreichten schon vorher einen
Durchbruch, als sie den rechtlich gebotenen Staatsbürger in Uniform sabotiert
und die Orientierung auf die alte deutsche Militärtradition durchgesetzt
hatten. 26
22
Vgl. F. Schmid, a.a.O., S. 143 ff.
23
Vgl. U. Albrecht, Die Wiederaufrüstung der BRD, Köln 1980; G. Heinemann, o.a.O.; P. Sethe,
Zwischen Bonn und Moskau, Frankfurt a.M., 1950.
24
Vgl. G. Kade, Die Bedrohungslüge, Köln 1979; H. W. Kahn, Die Russen kommen - nicht! München
1969.
25
Zur Kriminalisierung von Friedensstreitern vgl. H. Hannover, Die Republik vor Gericht, 2 Bde., Berlin
1998 und 1999.
26
Vgl. W. v. Bredow, Der Primat des militärischen Denkens, Köln 1969; Heye, In Sorge um die
Bundeswehr, München 1964; J. Knab, Falsche Glorie, Berlin 1995.
49

Ludendorff als Pate der NATO-Aggression gegen Jugoslawien?
Der völkerrechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien zeigte eher das
ihm zugrunde liegende Ludendorffsche Konzept als das des Clausewitz. Der
Deutsche Bundestag gab am 16.10.1998 auf Betreiben von konservativen
Kräften und der Generalität einen Blankoscheck für einen Krieg gegen Jugoslawien.
Zwei Tage später drängte der MIK der USA auf die Aktivierungsorder,
d.h. auf den Beginn tatsächlicher Kriegsvorbereitungen. Es war der Tag,
an dem das Holbrooke-Milosevic-Abkommen zu einer Beruhigung im Kosovo
führte und die OSZE-Vertreter ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit begannen.
Nachdem die NATO-Regierungen den Startschuß für den Krieg gegeben hatten,
lag die Macht bei der Generalität. Der NATO-Oberbefehlshaber Clark
entschied generell nicht nur über militärische Fragen, sondern auch über primär
politische. Er stützte sich vor allem auf die computerproduzierten Vorgaben
des NATO-Militär-Ausschusses unter Vorsitz des deutschen Generals
Naumann, auf denselben, der 1992 in der BRD den Primat des Militärischen
demonstrierte. Ausschlaggebend für die folgende Strategie war das output der
Computer, deren input General Naumann veranlaßte.
Nur der MIK der USA übte Einfluß auf das input Naumanns aus. Wie schon
beim Golfkrieg 1991 diente die Aggression auch zur Erprobung neuester Zerstörungsmittel
und brachte zusätzliche Erfahrungen für die Entwicklung gesteigerter
Vernichtungspotenz, die man verharmlosend Waffen nennt. Im Interesse
des MIK der USA liegt es, in weiteren Staaten neue Absatzmärkte für
Tötungsgerät zu finden. Dabei interessiert nicht, daß manche Käufer von US-
Rüstungsgütern diese gegen Feinde einsetzen, die für soziale Gerechtigkeit
und für die Achtung der Menschenrechte wirken, wie das Beispiel Türkei
zeigt.
Während in der früheren Eskalationsstrategie der NATO bewußt Pausen für
eventuelle. politische Verhandlungen eingeplant waren, um je nach Lage das
Vernichtungswerk im gegenseitigen Interesse zu beenden, sieht die neue
Eskalations-Strategie der NATO prinzipiell keine Verhandlungspausen vor. 27 .
Die NATO-Computer sind auf Sieg programmiert. Der politische Irrationalismus
zeigte sich schon darin, daß der Bombenüberfall auf Jugoslawien zunächst
auf drei Tage konzipiert war. Dann würde das Milosevic-System zusammenbrechen.
Die Umstellung auf eine längere Dauer des Krieges enthielt
27 Vgl. H. Kahn, Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale, Berlin 1965; J. Link, Der diskrete
50
Krieg der Profis, FR-Dokumentation, 18.06.1999.

keine Antworten auf die Zukunft des Balkan, die dabei involviert war. Nur die
Liquidierung des Staates, der nicht NATO-Mitglied werden und der seine
Wirtschaft nicht total privatisieren wollte, war als input vorgegeben. Für dieses
Ziel plante man alle Mittel ein.
Der Einwand, daß die NATO-Generalität von der US-Politik abhängig war,
wenn schon nicht von den europäischen NATO-Regierungen, läßt außer
acht, daß die US-Politik generell den Vorgaben und Interessen des MIK der
USA folgt. Der Nationale Sicherheits-Rat der USA gibt dem Präsidenten die
strategischen Richtlinien der Außenpolitik allgemein vor. Im NSR gibt jedoch
die große Mehrheit der MIK-Repräsentanten den Ton an.
Diese Kräfte gaben auch die neuen Ziele der NATO zum 50. Jahrestag vor:
Entgrenzung der geographischen Kompetenz, Selbstmandatierung ohne
UNO-Auftrag, Befreiung vom Verteidigungsauftrag. Dazu US-Kriegsminister
Cohen auf der NATO-Rats-Tagung September 1999 in Toronto: „Die politische
Führung der NATO muß mehr Kompetenzen an die militärische Führung
übertragen, was eine Konsequenz des Krieges gegen Jugoslawien ist.“ 28
Dieser Krieg war also kein Ausnahmefall, sondern der Präzedenzfall, das
Muster für künftige militärische Interventionen der NATO. In wessen Interesse?
Um das langfristige Ziel der NATO zu erreichen, mußte der Feind permanent
in Zugzwang gebracht werden. Da er auf der hohen Stufe des elektronisierten
Krieges nicht mithalten konnte - was vorauszusehen war -, vermochte er nur
auf dem Boden mit gesteigerter Brutalität zu reagieren. Diese durch die
NATO verschärfte Barbarei diente ihr zur Rechtfertigung eigener Barbarei.
Etwas anders war es nicht, was die westliche Werte-Gemeinschaft gegen unbeteiligte
Zivilisten bot.
In das NATO-Computer-Programm, das nach Durchspielen von x Varianten
seine praktizierte Form erhielt, durften keine fremden Programme eingemischt
werden, etwa mit politischem oder gar mit ethischem Inhalt. 29 Auch
insofern hatte die Politik kein Mitspracherecht, als die politisch höchst brisante
Bombardierung rein ziviler Ziele Belgrads oder die Zerstörung von Chemiewerken
mit hochgradiger und langwirkender Umweltschädigung erfolgte.
Massenmord an Frauen und Kindern, die fernab vom Konfliktgebiet und unbeteiligt
an Kämpfen lebten, erkannten die Militärs als eigene Kompetenz.
Erst als die Existenz der NATO riskiert wurde, weil einige Regierungen die
28 Vgl. Bulletin der Bundesregierung, 03.05.1999; 50. Jahrestag der NATO; in UZ, Essen, 01.10.1999.
29 J. Link, a.a.O.
51

Mitverantwortung an den Kriegsverbrechen ablehnten, lenkten die Militärs
der NATO ein. Das galt auch, als Rußland, Finnland und die UNO zur Lösung
der aufgestauten Probleme in Verhandlungen mit Milosevic einbezogen
werden mußten. Es zeigte sich, die NATO kann Kriege führen, zum Frieden
taugt sie nicht. Dazu sind andere Kräfte erforderlich.
Tatsächlich verkam die Politik zum Instrument des Krieges, als sie offenkundige
Kriegsverbrechen mit Lügen und Irreführungen der Öffentlichkeit rechtfertigte.
Die Minister Scharping und Fischer ließen sich für Krieg, Verbrechen
und Bagatellisierungen von den Militärs instrumentalisieren. Die neue Art der
Auschwitzlüge eskalierte zum Höhepunkt der eingeleiteten totalen Desorientierung
der Menschen. Auch die sachlich unmögliche Gleichsetzung von Milosevic
und Hitler lag auf dieser Ebene. 30 Der fatale Eindruck wurde zu erwecken
versucht, als sei die Mitwirkung deutscher Soldaten an diesem völkerrechtswidrigen
Krieg und an offenkundigen Kriegsverbrechen eine Art Wiedergutmachung
faschistischer Verbrechen, womit ein Schlußstrich unter die
deutsche Geschichte möglich würde. 31
Die Frage, ob mit einem seinem Wesen nach gegen die Humanität gerichteten
Krieg die Menschenrechte zu schützen seien und ob man Völkerrecht contra
Menschenrechte ausspielen darf, ist in unserem Zusammenhang nicht zu diskutieren.
Dieser Krieg war nicht die Fortsetzung der Moral mit anderen Mitteln,
wie manche zu suggerieren versuchen. 32 Der Friede degenerierte zur
Vor- und Nachkriegszeit, den Sonderinteressen der MIK entsprechend. Zu
fragen bleibt, was es politisch bedeutet, wenn Ludendorffs Theorem vom
Krieg in der NATO zu dominieren beginnt bzw. bereits begann. In Ludendorffs
Konzept sind nicht nur der Friede und die Wahrheit die Opfer, sondern
auch die bürgerliche Demokratie und die Volkssouveränität.
Produziert das High-Tech-Zeitalter neuen Militarismus?
Krieg und Militarismus produzieren im High-Tech-Zeitalter neue Erscheinungsformen.
Ihr Wesen bleibt dennoch unverändert. Der instrumentale
Charakter von Krieg und Militarismus zur Absicherung der sogenannten
Marktwirtschaft, die nunmehr dereguliert und globalisiert ist, bleibt im Prinzip
30 Vgl. P. Gingold, U. Sander, Die neue Auschwitz-Lüge, Frankfurt a.M. 1999.
31 Diese Aussage des Kanzlers zum 3. Überfall deutscher Soldaten auf Serbien in diesem Jahrhundert verrät
ein Geschichtsbewußtsein und eine politische Moral, die den qualitativen Abstieg der SPD-Führung
seit W. Brandt belegt.
32 So der Soziologe U. Beck. Vgl. J. Habermas, in: Die Zeit vom 29.04.1999. Antworten dazu von
R. Merkel, in: Die Zeit vom 12. 05.1999 und E. Altvater, FR-Dokumentation vom 08.07.1999.
52

erhalten. Gleichwohl erheischen die veränderten Formen von Krieg und Militarismus
angemessene wirkungsvolle Antworten bzw. Gegenstrategien.
Zwar rüstet man quantitativ ab; qualitativ wird jedoch mit gesteigerten Kosten
aufgerüstet. 33 Die Rüstungsspirale - einst der militärischen Konfrontation
zwischen NATO und Warschauer-Vertrags-Organisationen als Verursacher
spiegelsymmetrisch zugeschrieben - bringt nun modernes Vernichtungsgerät
mit höchst präziser Wirkung hervor. Mehr als bisher vergeudet man wertvolle
menschliche und materielle Energie für parasitäre Zwecke. Die High-Tech-
Rüstung erfordert zudem einen ungleich höheren Forschungsaufwand, der
nur durch seine duale Verwendung in seinem unproduktiven Charakter gemildert
wird.
Was die deregulierte und globalisierte Wirtschaft bereits vollzog, nämlich die
Politik der Regierungen samt vernünftigen Regelungen des Zusammenlebens
von Menschen und Völkern auszuhebeln, vollzieht sich nun auch durch die
Militarisierung von Gesellschaft und zwischenstaatlichen Beziehungen unter
maßgeblicher Aktivität der Militärs. Wie die Global-Players setzen die Generalität
und ihre Stäbe ihre Sonderinteressen für die politischen und das Zusammenleben
regulierenden Maßstäbe vor das Frieden gebietende Völkerrecht
und die UNO-Charta. Beim Krieg gegen Jugoslawien ignorierte man
sogar die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 bzw. die ergänzenden
Genfer Protokolle. Das Recht des Stärkeren triumphiert über die gebotene
Stärke des Rechts. Neue Abenteuerlichkeit tritt an die Stelle der politischen
Vernunft. Eine Art historisches roll back ist wirksam - falls die an
Frieden und Abrüstung orientierten Kräfte das verlorene Terrain nicht zurückgewinnen.
Alles, was 1945 aus den leidvollen Erfahrungen von zwei
Weltkriegen und Faschismus in politische und rechtliche Regeln umgesetzt
wurde, stellen nun Großwirtschaft und Generalität auf den Kopf - oft unterstützt
von abhängig gewordenen Politikern.
Die Verdinglichung des Menschen, d.h. seine Enthumanisierung, steht vor einem
neuen Höhepunkt. Es sind die fremdbestimmten und mißbrauchten
Menschen selbst, die ihre Selbstbestimmung in einer friedensorientierten Basisdemokratie
erobern müssen.
Früher benötigten die Kriegsherren große Heere, das sogenannte Kanonenfutter,
um ihre expansiven Ziele zu realisieren. Millionen Menschen krepierten
auf den Schlachtfeldern. Im Krieg gegen Jugoslawien agierten relativ wenige
33 Vgl. U. Cremer, D. S. Lutz, Nach dem Krieg - ist vor dem Krieg, Hamburg 1999; T. Pflüger, Die neue
Bundeswehr, Köln 1997.
53

fliegende Vernichtungsexperten in Uniform, die - offenbar skrupellos, zu erkennen
an vielen Interviews - primär zivile Ziele bombardierten. Eine relativ
kleine Zahl von Helfern auf den Flugplätzen unterstützte sie. Sie verwendeten
für ihr Tötungswerk das, was Rüstungsarbeiter schufen.
Wäre hier ein wichtiger Ansatzpunkt? Wenn kein Vernichtungsgerät produziert
wird, kann man es nicht gegen andere Menschen einsetzen. Inwieweit
die vielen Beschäftigten der Rüstungsbetriebe, gleich ob IngenieurInnen oder
ArbeiterInnen, dazu gebracht werden können, durch Konversion reine Friedensproduktion
durchzusetzen, hängt von den jeweiligen Bedingungen ab, ist
aber auch eine Sache der Macht der Gewerkschaften. Das irreführende Argument,
daß Abrüstung und Konversion Arbeitsplätze gefährde, ist längst
schlüssig widerlegt. 34
Für eventuelle Bodenkriege ist das AirLand-Battle-Konzept des 20. Jahrhunderts
längst Vergangenheit. Eine heute viel exaktere Aufklärung mittels Weltraum-Satelliten
minimiert den Faktor Zeit. Die Kriegsherren erhalten zeitgenaue
Bilder vom Kriegsverlauf und treffen viel schneller als vor Jahren ihre
Entscheidungen für das weitere Vernichtungswerk. Geplant ist bereits der
computergerüstete Soldat, der in direkter Verbindung mit seinen höheren
Vorgesetzten steht und sofort auf neue Befehle reagieren kann. Das Deep-
Battle-Konzept der Bundeswehr ist zwar an die veränderten Bedingungen,
d.h. an militärische Interventionen mit Krisenreaktionskräften (KRK) angepaßt.
Gleichwohl bleibt es hinter den Planungen und Entwicklungen der US-
Kräfte weit zurück, was kein Anlaß sein sollte, die USA rüstungstechnologisch
und militärstrategisch einholen zu wollen. Gefragt sind humane Alternativen
und zivile Konfliktregelung. 35
Konform zu sekundenschnellen Bewegungen von Spekulationskapital, das
ganze Regionen in Krisen stürzt ohne Rücksicht auf Menschen und soziale
Bindungen, bewegt der High-Tech-Krieg seine ferngesteuerten und zielsuchenden
zerstörerischen Instrumente von Kontinent zu Kontinent. Vom
Schaltpult bedienende white-collar-killer sollen den traditionellen Soldaten
ablösen. Im Plan ist die globale Kontrolle der Völker mittels Militarisierung
des Kosmos - im Interesse der privilegierten Minderheit. 36
34 Vgl. W. Fabian, Vorschläge zur Abrüstung, Düsseldorf 1980; J. Huffschmid, Von der Kriegs- zur Frie-
densproduktion, Köln 1980.
35 Also kein neues Wettrüsten zwischen WEU und USA!
36 Vgl. P. Lock, FR-Dokumentation, vom 20.04.1999.
54

Die computergeschulten Vernichtungsexperten werden, soweit dies die Ellenbogengesellschaft
noch nicht ausreichend vermittelt, zur absoluten Rücksichtslosigkeit
gegenüber den zu Schurkenstaaten erklärten Kräften gebracht,
gegen jene, die, eigenen Interessen folgend, das Diktat der NATO nicht akzeptieren.
High-Tech-Gewalt und High-Tech-Militarismus richten sich auch
gegen Menschen und Sozialgruppen, die für Frieden und Emanzipation demonstrieren
oder gar streiken. Die Ankündigung des CDU-Politikers Schäuble,
mehrfach wiederholt, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen, weist
in diese Richtung. 37
Welche Funktion übt im High-Tech-Zeitalter das Volk aus, der Souverän der
Demokratie, wenn im Krieg kein Kanonenfutter erforderlich ist und in den liquidierten
Schurkenstaaten nur eine begrenzte Zahl von Arbeitssklaven benötigt
wird? Im Produktionsprozeß sind große Teile des Volkes durch die elektronisierten
Abläufe längst überflüssig. Die US-Zukunftsforscher Kahn
und Wiener fanden bereits 1967 in ihrem futurologischen Werk Ihr werdet es
erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahr 2000 einige Antworten:
„So könnten z.B. politische und intellektuelle Eliten empfängnisverhütende
Mittel in die Massennahrungsmittel geben, deren Wirkung nur durch
Gegenpillen aufgehoben werden könnte, die allein den Eliten zur Verfügung
stünden ... Die Bevölkerung könnte beschränkt werden, da sie keine nützliche
Funktion zu erfüllen hat.“ 38
Diese Zukunftsprognose führender Futurologen läßt die totale Enthumanisierung
erkennen, falls die Gegenkräfte nicht wirkungsvoll eingreifen und den
Prozeß umkehren.
Wer aufgibt, hat schon verloren. Deshalb - eingreifen!
Die Dominanz von Wirtschaft und Militär betrifft, wie bereits angemerkt,
nicht nur Regierungen und Parlamente. Diese Problematik reicht über Militarisierung
und ferne Kriege hinaus. Volkssouveränität oder Obrigkeitsstaat,
Selbstentfaltung oder Fremdbestimmung, demokratische Emanzipation oder
Entmündigung durch eine privilegierte Minderheit, das alles hängt mit unserer
Fragestellung zusammen.
Das sogenannte Informationszeitalter, das durch neue technische Entwicklungen
möglich sein könnte, ist durch die auf Profit, Sensation und Quotensteigerung
ausgerichtete Medienlandschaft schon längst zu einem Zeitalter der
37 Vgl. W. Schäuble, Und der Zukunft zugewandt, Berlin 1994, S. 30.
38 H. Kahn, A. Wiener, Ihr werdet es erleben, München 1967, S. 345.
55

Ablenkung vom Wesentlichen oder der Manipulation degeneriert - von wenigen
Ausnahmen abgesehen. Die sogenannte Berichterstattung über den
NATO-Krieg 1999 war teils fahrlässige, teils vorsätzliche Irreführung der Öffentlichkeit.
Längst spricht man vom Informations-Imperialismus. 39
Gewiß läßt sich das Internet nützen, um Aufrufe zu plazieren und Informationen,
die in den alten Medien kaum unterzubringen sind. Die Vernetzung der
Friedensinitiativen ist eine bereits wahrgenommene Aufgabe. Um jedoch den
Rang zurückzugewinnen, den die gesellschaftlichen Kräfte innerstaatlich und
international bereits erreichten, ist die Arbeit mit konventionellen Methoden
immer noch wichtig, unermüdlich aufklären und politisch mobilisieren. Das
heiß auch, das eigene Wissen ständig zu erweitern.
Wenn militärische Gewalt nach innen und außen zurückgedrängt werden soll,
muß man sich vergegenwärtigen, daß sie aus institutioneller bzw. aus struktureller
Gewalt erwächst. Beide verstärken sich dann gegenseitig. Strukturelle
Gewalt 40 ist der Nährboden, der auszutrocknen ist. Eine Kultur des Friedens,
wie sie von der UNESCO vorgeschlagen ist, bedarf der planmäßigen und gezielten
Durchsetzung. 41 Die permanente und zunehmende Bedrohung durch
die Anwendung des Ludendorffscher Konzepts wäre ständig bekannt zu machen,
ebenso die realen Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktregelung. Für letztere
sollten die Friedenskräfte Vorschläge ausarbeiten, unterbreiten und einfordern.
Neben kurzfristig notwendigen Aktionen bleibt eine langfristig angelegte
Aufklärungsarbeit und Aktionsplanung geboten. Denn es sind progressive
Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein, die Transformationen in
der Zivilgesellschaft, in der Sozialstruktur und letztendlich in den Machtverhältnissen
realisieren. Es ist ein weiter Weg zur kriegs- und ausbeutungsfreien
Gesellschaft der Freien und Gleichen. Aber dieses Ziel bleibt.
Autor: Lorenz Knorr, Publizist, Frankfurt a.M.
39 Der finnische Präsident U. Kekkonen warnte Anfang der 70er Jahre vom US-Informations-
Imperialismus, der alle Länder mit US-spezifischen Interpretationen von Ereignissen überschwemme.
40 Vgl. J. Galtung, Strukturelle Gewalt, Hamburg 1975.
41 Vgl. W. R. Vogt u.a., Kultur des Friedens, Darmstadt 1997.
56

Viktor Maximow
Das XXI. Jahrhundert ohne Waffen und Kriege
Erklärung des Präsidenten des Fonds zur Hilfe für russische Veteranen
des II. Weltkrieges und von Mitgliedern der deutschen Gesellschaft zur
Hilfe für Kriegsveteranen in Rußland e.V.
Das XX. Jahrhundert wird in die Weltgeschichte durch eine noch nie dagewesene
Anzahl von Kriegen eingehen, in denen über hundert Millionen Menschen
ihr Leben verloren, unzählige Kriegsversehrte, Witwen und Waisen,
viel menschliches Leid und erlittene Qualen zurückblieben. Unsere gemarterte
Erde ist von radioaktiven Abfällen, von nicht entsorgten Massenvernichtungswaffen
und Minen verseucht. Dem Erdball droht eine biologische Katastrophe.
Kriege sind ohne Waffeneinsatz nicht möglich. Mit dem Geld aus der Herstellung
von Waffen und deren Verkauf werden politische Strukturen der
Macht aufgebaut, wobei die Interessen vieler Politiker, Industrieller und Militärs
übereinstimmen.
Die Aufrüstung des XXI. Jahrhunderts wird vorbereitet. Eine Politik der militärischen
Aufrüstung bereichert einige wenige, führt aber zur Verarmung von
Menschenmassen und Steuerzahlern, mit deren Geld Waffen entwickelt und
Kriege geführt werden, wobei diese selbst zu Gefangenen bzw. zu Opfern derer
werden, die sich als Politiker an der Macht befinden.
Die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen, z.B. in Rußland, bedroht die
Sicherheit der Menschen schon deshalb, weil diese Regierung so gut wie keine
Mittel besitzt, um Voraussetzungen für deren Lagerung und Vernichtung zu
schaffen. Generäle berichten von ultramodernen Raketen, die für Kampfeinsätze
bereitgestellt sind.
Die Welt ist mit Waffen übersättigt. Solange letztere existieren, wird es auch
Kriege geben, und es wird Menschen geben, die versuchen, mit Waffengewalt
Kriege auszutragen.
Jeglicher Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Die Politiker beginnen
Kriege, ziehen die Völker in diese hinein, so daß diese ungewollt zu Teilnehmern
an Vergehen werden, wie es mit dem deutschen Volk im II. Weltkrieg,
mit dem russischen Volk in lokalen Kriegen in Afghanistan, in Tschetschenien
geschah. Es ist nicht zu erklären, warum die Organisatoren und Befehlshaber
letzterer bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt straffrei ausgingen.
57

Die Völker sind durch Kriege erschöpft und möchten in Frieden und Eintracht
unter der Respektierung von Menschenrechten leben, hoffnungsvoll in
die Zukunft blicken. Wir Veteranen des II. Weltkrieges waren bei Kriegsschluß
überzeugt, daß dies der letzte Krieg im Leben der Menschen gewesen
sei. Aber unsere Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Die Kriege dauern an
und nehmen Menschen in vielen Ländern das Leben, ohne daß ein Ende abzusehen
ist. Die Zeit ist dafür reif, daß die Völker um das Recht auf ein Leben
ohne Kriege kämpfen, sich dabei aber bewußt sind, daß ihnen Kräfte vieler
Politiker und der Rüstungsindustrie entgegenwirken.
Wir wenden uns an Kriegsveteranen, an die Verbände von Kriegsveteranen
aller Länder, an alle Menschen guten Willens, unabhängig von ihren politischen
oder religiösen Glaubensanschauungen, an die Regierungen und Repräsentanten
von Staaten, an die Organisationen der Vereinten Nationen, eine
internationale Konferenz unter Schirmherrschaft der UNO einzuberufen und
ein Programm zu folgendem Thema zu erarbeiten:
58
Das XXI. Jahrhundert - ein Jahrhundert ohne Kriege und Waffen!
In ihm sollten vorrangig folgende Probleme behandelt werden:
Verbot der Produktion jeglicher Art von Waffen und Übergang zu deren
Liquidierung.
Vervollkommnung des Aufbaus internationaler vereinigter friedensschaffender
Kräfte und Kontrolleinrichtungen für das Einhalten gefaßter Beschlüsse
und Vermeidung militärischer Konflikte.
Autor: Viktor Maximow, Präsident des Fonds zur Hilfe russischer Veteranen
des II. Weltkrieges, Jekaterinburg.

Jan Sumavski
Der Medienkrieg - definitiver Bestandteil des
heißen Krieges
Man sagt, in jedem Kriege stirbt zuerst die Wahrheit. Meiner Meinung nach
gilt das nicht mehr. War das überhaupt jemals gültig ? In dem Augenblick, in
dem der Krieg heiß ausbricht, ist die Wahrheit schon tot. Große Schuld daran
haben die Massenmedien. Wenn schon nicht von Anfang an, so spielen sie
jedoch von dem Moment an eine wichtige Rolle, an dem sich die Probleme
verschärfen, wenn wir also beginnen, von einem kalten Krieg zu sprechen.
Im Zusammenhang mit den zwischenstaatlichen und internationalen Problemen
gilt das um so mehr. Die Rolle der Massenmedien ist heute schon so
groß, daß man allgemein von einem Medienkrieg oder von einem Informationskrieg
sprechen kann. Deswegen behaupte ich, daß die Wahrheit schon in
diesem kalten Krieg stirbt. In seinem heißen Stadium wird sie von den Massenmedien
nur noch geschändet.
Der kalte Medienkrieg
Bei jeder Weltkrise stellt sich immer die Frage, ob die Politik eines jeden Staates
der Wirklichkeit gerecht wird oder ob sie nur eigene nationale oder andere
Interessen widerspiegelt. Zur Rechtmäßigkeit der Politik muß man nicht beweisen,
daß mehrere Staaten oder eine Staatengruppe dieselbe Politik ausüben.
Die Einigkeit oder die Zustimmung ist jeweils durch fragliche Mittel erreicht
worden, zum Beispiel beim Ja im Falle des NATO-Angriffs auf Jugoslawien.
Die tschechische Regierung bekam angeblich nur eine Stunde und
Gerhard Schröder nur fünfzehn Minuten Zeit.
Nach der Entscheidung zum Krieg wird die Gewalt genutzt, besonders die
Militärmacht. Die Politiker suchen alle Möglichkeiten, sie zu rechtfertigen.
Zur Überzeugung der Öffentlichkeit ist die Medienunterstützung unerläßlich,
besonders dann, wenn man ihre positive Stellung erwarten kann. Im Fall Kosovo
drohte den NATO-Ländern keine Gefahr, und der Krieg sollte sogar
auch wieder von deutschem Boden ausgehen.
Jeder Krieg braucht einen Feind. Wenn das Feindbild für die Öffentlichkeit
nicht genügend klar ist, muß man es verschärfen. Man schafft ein Ungeheuer,
das aus moralischen Gründen vernichtet werden muß. Bereits der Golfkrieg
wurde als ein Kampf des Guten gegen das Böse dargestellt. Um den Krieg
gegen Jugoslawien zu rechtfertigen, wurde Irak durch den serbischen Teil Jugoslawiens
ersetzt und Hussein durch Milosevic.
59

Die Medienkampagne wurde aber schon vor dem Bosnienkrieg gestartet. Die
westlichen Massenmedien brachten zahllose ungeprüfte Nachrichten über die
serbischen Greueltaten in Umlauf. Im Fernsehen wurden sie mit schockierenden,
natürlich auch ungeprüften Videomaterialien illustriert. Ja, die Serben
haben - leider - in Bosnien viele Verbrechen begangen, aber sie waren nicht
die einzigen. Ebenso benahmen sich die Kroaten und die Muslime. Am
14. Januar d.J. verurteilte z.B. das internationale Gericht in Den Haag fünf
kroatische Teilnehmer an dem Massenmord in Ahmici, wo 116 Menschen in
der niedergebrannten Gemeinde ermordet wurden. Für solche Verbrechen
waren damals die großen Medien aber nicht zugänglich.
Die Erfahrungen aus Bosnien nutzten die westlichen Massenmedien in der
Kosovo-Kampagne aus. Sie wurde bestimmt von den mit den Albanern sympathisierenden
Journalisten. In Kosovo arbeitende Berichterstatter lieferten einseitig
wirkende Materialien und nährten den Haß gegen die jugoslawische Polizei
und Armee. Diese waren leider auch nicht unschuldig. Aber von Schuld
der albanischen Extremisten und der UCK wollten die Westpolitiker nichts
hören. Die Tschechische Republik bildete keine Ausnahme. Die meisten Politiker
mit dem Präsidenten-Humanisten Vaclav Havel in der ersten Reihe und
fast alle Journalisten unterstützten bedingungslos den Krieg. Die Tschechische
Republik sei doch neues Mitglied der NATO, und in der ersten Prüfung
könne man nicht enttäuschen. Jede Kritik, und auch nur eine andere Meinung,
wurden deswegen scharf abgelehnt und als schädlich, sogar als landesverräterisch,
bezeichnet. In den Massenmedien war dafür keine einzige Zeile
Platz oder Minute Zeit.
Der heiße Medienkrieg
Mit den ersten abgefeuerten Raketen öffnete die NATO gleichzeitig auch den
heißen Medienkrieg. Der militärische Angriff beginnt immer mit der Vernichtung
der feindlichen Verteidigung. Der Medienkrieg der NATO begann also
mit der Zerstörung der jugoslawischen Informationsstruktur. Jamie Shea, der
NATO-Sprecher, erklärte am 12. April, die NATO werde nur die Rundfunk-
und Fernseheinrichtungen vernichten, die einen Bestandteil der militärischen
Objekte bilden. Schon neun Tage später, am 23. April, bombardierte die
NATO das Fernsehgebäude in Belgrad. Auf Veranlassung der BRD wurde
das Übernehmen der jugoslawischen Fernsehnachrichten für den Satellit
EUTELSAT mit der Begründung gestoppt, daß diese nur Propagandazwecken
diene.
Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Informationen von jugoslawischer Seite
kontrolliert und manipuliert wurden. Wie war es aber mit den Meldungen des
NATO-Informationsprogramms, welches sofort in serbischer Sprache und in
60

kyrillischer Schrift ausgestrahlt wurde? Die Nachrichten dieses Programms
wurden dann für die erweiterten Programme in serbischer und albanischer
Sprache und von anderen Stationen wie Deutsche Welle, Die Stimme Amerikas,
BBC, Radio Free Europe und Radio France Internationale übernommen.
Als einzige Informationsquelle dienten die tagtäglichen Pressekonferenzen
von Jamie Shea und sein simples Freund-Feind-Schema. Die
Kriegsberichterstatter verwandelten sich in Agitatoren, deren Nachrichten
nicht überprüft waren.
Das einzige Ziel des Informationskrieges war, den Krieg zu legitimieren und
besonders die die zivile Bevölkerung nicht schonenden Luftangriffe. Das
Hauptmotto war: Die internationale demokratische Öffentlichkeit kann der
humanitären Tragödie in Kosovo nicht mehr weiter zusehen. Die Weltöffentlichkeit
wurde jetzt manipuliert. Nach der Beschuldigung der jugoslawischen
Regierung für den Verhandlungsmißerfolg in Rambouillet gab es schockierende
Informationen über den serbischen Genozid gegen die Albaner, bestialische
Verbrechen, Völkermord, Konzentrationslager, Hunderte von Massengräbern
und anderes mehr. NATO-Generalsekretär Solana erklärte: “Wir
führen keinen Krieg gegen Jugoslawien!“ Außenminister Fischer wiederholte
das. Er untersagte Journalisten sogar das Wort Kriegsflüchtlinge und forderte
von ihnen Ausdrücke wie Vertriebene bzw. Deportationen.
Zugleich wurden neue euphemistische Termini massiv in Umlauf gebracht
wie NATO-Kampagne und humanitäre Intervention. Vaclav Havel erfand
sogar einen genialen Superbegriff, die humanitäre Bombardierung. Kurz und
gut, die NATO-Führung bildete ein Pool-System. Die sorgfältig ausgewählten
Journalisten bekamen die sorgfältig vorbereiteten Informationen. Zudem
wurden alle üblichen Informationsmöglichkeiten und Informationen blockiert.
Anstatt objektive Informationen zu bekommen, wurde die Weltöffentlichkeit
so der heftigen militärpolitischen Propaganda ausgeliefert. Die Informationen
waren nicht nur einseitig, sie waren oft falsch und lügnerisch. Jamie Shea
mußte schon während des Krieges einige Male seine Informationen berichtigen
oder sie sogar dementieren. Am 6. Januar d.J. brachte die Frankfurter
Rundschau die Nachricht, daß die Bombardierung des Personenzuges im April
durch die NATO mittels verfälschtem Videomaterial als ein unglücklicher
Zufall gerechtfertigt werden sollte.
Schlußbemerkung
Die Entwicklung der Beziehung zwischen der Politik und den Massenmedien
erreichte während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien seinen Höhepunkt.
Der Medienkrieg wurde ein definitiver Bestandteil des heißen Krieges. Die
61

Massenmedien wurden die vierte Waffengattung neben den Landstreitkräften,
den Luftstreitkräften und der Kriegsmarine.
Durch die gegenwärtige Globalisierung und die Zentralisation der Massenmedien
in den Händen einer machthabenden, entscheidenden, engen, supranationalen
Schicht entsteht eine große Gefahr für die Demokratie und den Frieden
in der ganzen Welt.
Autor: PhDr. Jan Sumavski, Tschechische Friedensgesellschaft, Prag.
62