ZGR Nr. 29-30; 31-32/2006-2007 Partea III
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Eva Parra Membrives<br />
einem beliebten Freudenhaus geführt werden.<br />
Dass die Strafe kaum dazu führen kann, den Sohn an sein Ziel zu führen, braucht<br />
wohl nicht unterstrichen zu werden. Sollte der Wunsch, Agnes zu besitzen, auf Liebe<br />
statt auf sexuelle Leidenschaft fußen, wäre diese von dem Vater erdachte Züchtigung<br />
monströs und würde den Schmerz des abgewiesenen Jünglings zweifellos eher verstärken<br />
als verringern. Dass jener aber sich erwartungsvoll als erster auf den Weg<br />
macht, um seine Unruhe an Agnes Körper zu lindern, zeigt, dass Männer nicht mit<br />
ihrem Herzen, sondern einzig mit einem unterhalb der Gürtellinie gelegenen Organ<br />
lieben können.<br />
In Roswithas letzter Legende wird Agnes’ Keuschheit wundersam durch ein heiliges,<br />
in letzter Minute eingreifendes Licht, beschützt, so dass eine sündhaft befleckende<br />
Strafe ausbleibt. Hingewiesen sei aber auf die innerliche Ruhe, mit der das junge<br />
Mädchen die Drohung einer sexuellen Nötigung von Seiten ihres Peinigers empfängt:<br />
262<br />
Ich halte unverbrüchlich Treue<br />
Nur meinem Meister, der mich leitet,<br />
er wird mit seiner Hand mich schirmen<br />
damit ich, nicht befleckt von Sünde,<br />
des Fleisches Schande überwinde 40<br />
Vor allem die letzten beiden Verse sollen hier näher erläutert werden. Die heilige<br />
Agnes sucht bei Gott die Kraft, die fleischliche Schande unbefleckt zu überwinden,<br />
und nicht – dies sei jetzt besonders zu unterstreichen – ihr zu entgehen. Der Ausgang<br />
der Geschichte, der Agnes makellose, unversehrte Reinheit vorweist, soll an<br />
dieser Stelle keineswegs von der Dichterin vorweggenommen werden. Nicht eine<br />
körperliche Keuschheit – wie später erlangt – scheint Agnes vorzuschweben, sondern<br />
eine seelische. Sollte das Fleisch auch geschändet werden, so Roswitha aus Agnes<br />
Munde, wird Gott doch helfen die Seele unbefleckt zu lassen. Wie kann aber eine<br />
im Bordell sexuell missbrauchte Frau frei von Sünde bleiben? Vor allem, wenn man<br />
bedenkt, dass Frauen, wenn erst erprobt, sich maßlos ihrer Sexualität hingeben?<br />
Wird Agnes, selbst nachdem sie die Sinnlichkeit erkannt hat, weiterhin an der körperlichen<br />
Liebe uninteressiert sein?<br />
40 Roswitha von Gandersheim, a.a.O., 1936, 1<strong>32</strong>. Im Original: “Hinc ego, quae sectando fidem Christi<br />
meliorem / Illum cognosco necnon cognoscor ab illo, / Ipsius dextra me defendente superna / spero delicti<br />
numquam maculis violari, / Carnis spurcitias fragilis sed vincere cunctas” Roswitha von Gandersheim,<br />
Hrotsvithae opera, 1970, 217<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>29</strong>-<strong>30</strong>) / <strong>2006</strong>, 1-2 (<strong>31</strong>-<strong>32</strong>) / <strong>2007</strong>