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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN DER SPRACHE IM WERK VON<br />

HELMUT HEISSENBÜTTEL<br />

Nicht ohne Grund bezeichnet Helmut Heißenbüttel<br />

den Sprachphilosophen Ludwig<br />

Wittgenstein als seinen Lehrer. Dessen Einfluß<br />

auf das literarische Schaffen von Helmut Heißenbüttel<br />

und auf die experimentelle Literatur<br />

ist durch zwei seiner bekanntesten Werke, dem<br />

Tractatus logico-philosophicus und den Philosophischen<br />

Untersuchungen unschwer zu<br />

erkennen.<br />

"Experimentell meint das Experiment, die Prüfung,<br />

Sondierung, den methodischen Umgang mit Sprache<br />

und ihren Möglichkeiten, die Trennung der festen Fügungen,<br />

die Zerschlagung des Satzklischees, das Hervorlocken<br />

des Weichtiers Sprache aus seinen Verkrustungen,<br />

die Denunziation der bürgerlichen «Botschafts»-Sprache,<br />

sucht die Verfremdung, Neuformung,<br />

Montage, die Kombinatorik der zerlegten Satz- und<br />

Wortteile, ein bewußtes technisches Machen, den<br />

Dichter Schriftsteller als literarisches Ingenieur" 1 .<br />

"Experimentell" besagt im allgemeinsten<br />

Experimentieren mit der Sprache; die Sprache<br />

selbst wird zum Objekt und Thema, sie hört<br />

auf, nur Medium zu sein, in dem man über<br />

Menschen und Dinge redet 2 .<br />

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die<br />

Grenzen meiner Welt" 3 , heißt es im Tractatus;<br />

die Grenzen der Welt - oder besser gesagt: die<br />

Grenzen der möglichen Welten - sind durch<br />

das gegeben, was sich in der Sprache zeigen<br />

kann.<br />

Die Grenzen und Möglichkeiten des Experimentierens<br />

mit Sprache sollen im Folgenden<br />

anhand Heißenbüttels Roman Projekt <strong>Nr</strong>. 1:<br />

D'Alemberts Ende (<strong>19</strong>70) ermittelt werden.<br />

Heißenbüttels Projekt <strong>Nr</strong>. 1 wirft die Frage<br />

auf, ob damit Theorie eingelöst und "sprachimmanente<br />

Organisation der erzählerischen<br />

Großform, eines Romans neuer Art" 4 gelang.<br />

Heißenbüttel ist vor allem durch seine litera-<br />

1 Heinrich Vormweg, Eine andere Leseart. Über neue<br />

Literatur, Neuwied, Berlin <strong>19</strong>72, S. 85.<br />

2 S. J. Schmidt (Hrsg.), Konkrete Dichtung. Texte und<br />

Theorie, München <strong>19</strong>72, S. 9 f.<br />

3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus.<br />

Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.<br />

<strong>19</strong>69, 5.6, S. 89.<br />

4 Helmut Heißenbüttel/Heinrich Vormweg, Briefwechsel<br />

über Literatur, Neuwied, Berlin, <strong>19</strong>69, S. 65.<br />

Delia Esian<br />

turtheoretischen Arbeiten zum führenden Repräsentanten<br />

der experimentellen Literatur geworden.<br />

Sein theoretischer Ansatz kann auch<br />

als Ansatz zur Analyse seiner poetischen<br />

Werke dienen. Konsequenteste Beispiele für<br />

seine experimentellen Formen sind seine Textbücher<br />

1-6. Bezeichnenderweise handelt es<br />

sich bei den überzeugenden Beispielen um<br />

Kleinformen. D'Alemberts Ende ist darum ein<br />

Versuch auf dem Gebiet der Großform, besonders<br />

nachdem Heißenbüttel im Briefwechsel<br />

mit Vormweg über die Möglichkeit<br />

einer 'sprachimmanent' experimentierenden<br />

Großform spekuliert hatte 5 .<br />

Der Roman scheint in seinem Aufbau alles<br />

andere als ein Experiment zu sein, insofern er<br />

einem bewährten Schema folgt; er ist in 3<br />

Teilen aufgebaut, nach traditionellem triadischen<br />

Schema: "Der erste Teil stellt vor und<br />

gibt den Aufriß. Der zweite enthält die Diskussion.<br />

Der dritte führt zu Ende löst Knoten,<br />

löst auf" 6 .<br />

So ist es kaum zufällig, daß er sich auf den<br />

am strengsten gebauten Roman Goethes zurückbezieht.<br />

Das Buch ist aber nicht eine Literatursatire<br />

auf den klassischen Roman, sondern<br />

eine Satire auf außerliterarische zeitgenössische<br />

Wirklichkeit. Heißenbüttel selbst nennt es<br />

eine "Satire auf den Überbau. Durchgeführt am<br />

Beispiel Bundesrepublik Juli <strong>19</strong>68" 7 . Damit<br />

erklärt sich auch die Untergattung 'satirischer<br />

Zeitroman'. "Heißenbüttels eigener Aufriß liest<br />

sich wie die verkürzte Strukturbeschreibung<br />

eines Zeitromans, der mit konventionellen<br />

erzählerischen Mitteln arbeitet". Dieser Befund<br />

führte Hartung zum folgenden Schluß:<br />

"Die Frage nach Großformen, die sich ohne außersprachliche<br />

Fiktionen, also rein aus dem sprachlichen<br />

5 Bodo Heimann, Experimentelle Prosa der Gegenwart,<br />

München <strong>19</strong>78, S. 91.<br />

6 Helmut Heißenbüttel, "Erfundenes Interview mit mir<br />

selbst über das Projekt <strong>Nr</strong>. 1: D'Alemberts Ende". In:<br />

Ders., Zur Tradition der Moderne, Neuwied, Berlin<br />

<strong>19</strong>69, S. 373.<br />

7 Ebd., S. 374.


Grenzen und Möglichkeiten der Sprache im Werk von Helmut Heißenbüttel<br />

Material kreieren lassen, ist, jedenfalls für dieses Exempel,<br />

negativ beantwortet" 8 .<br />

Die Großform geht hier nicht aus dem Experimentieren<br />

mit Sprache hervor, wie das<br />

Heißenbüttel in seinen literaturtheoretischen<br />

Arbeiten forderte. Auch wenn hier mit Zitaten,<br />

Montage, Redensarten und literarischen Versatzstücken<br />

gearbeitet wird, bleibt Heißenbüttel<br />

nicht dabei stehen, sondern versucht, die<br />

Welt seiner Zitate und Anspielungen in einen<br />

größeren fiktiven Zusammenhang zu integrieren<br />

9 .<br />

Betrachtet man die Erzählstruktur dieses<br />

Romans genauer, so stellt man fest, daß Heißenbüttel<br />

sich doch noch an seine Theorie hält.<br />

Das betrifft vor allem die Erzählweise: Da wir<br />

es überall in diesem Buch, offen oder versteckt,<br />

mit Zitaten zu tun haben - Goethe, E. T.<br />

A. Hoffmann, Heine, Joyce, Böll, Marx,<br />

Freud, Marcuse, Adorno u.a. -, wird nirgends<br />

erzählt, sondern Erzählung zitiert. Das gilt<br />

auch für den Erzähler, den es eigentlich nicht<br />

mehr gibt, und für die Personen, denn auch sie<br />

haben Zitatcharakter 10 . Ihre fiktionale Glaubwürdigkeit<br />

und ihr Personencharakter wird<br />

dadurch aufgehoben.<br />

Schon der Anfang des Buches weist darauf<br />

hin. Nur scheinbar beginnt ein auktorialer<br />

Erzähler eine Geschichte, die Goethes Wahlverwandtschaften<br />

in die Gegenwart verlegt:<br />

"Eduard - so nennen wir einen Rundfunkredakteur<br />

im besten Mannesalter - Eduard<br />

hatte im D-Zug München - Hamburg (Ankunft<br />

Hauptbahnhof 21. <strong>19</strong>) die schönsten Stunden<br />

eines Julinachmittags (25.7.<strong>19</strong>68) zugebracht<br />

und betrachtete mit Vergnügen die Gegend<br />

zwischen Lüneberg und Hamburg" 11 .<br />

Der scheinbar auktoriale Erzähler - wir - ist<br />

Bestandteil eines Zitats und nicht der Erzähler<br />

dieser Geschichte. Die erste Aussage des Buches<br />

erweist sich damit schon als uneigentlich.<br />

Die zweite Person wird auch auf eine bezeichnende<br />

Art und Weise eingeführt:<br />

"In Hannover zugestiegen, von Kassel kommend, wo<br />

sie die internationale Kunstaustellung der 4. Documenta<br />

besucht hatte, war eine Kollegin vom Hamburger Fern-<br />

8<br />

Harald Hartung, Experimentelle Literatur und konkrete<br />

Poesie, Göttingen <strong>19</strong>75, S. 87 f.<br />

9<br />

Bodo Heimann, a. a. O., S. 65.<br />

10<br />

Ebd. 67.<br />

11<br />

Helmut Heißenbüttel, Projekt <strong>Nr</strong>. 1 D'Alemberts<br />

Ende, Neuwied, Berlin <strong>19</strong>70, S. 11.<br />

sehen, die dort Filme über Themen der bildenden Kunst<br />

produzierte und die auch für das Ressort, das Eduard<br />

verwaltete (Kulturpolitik im Bayrischen Rundfunk),<br />

eben etwas über die Documenta schreiben wollte. Ihr<br />

Name war Ottilie Wildermuth" 12 .<br />

Die Angaben "Hannover", "Kassel", das<br />

"Hamburger Fernsehen", der "Bayrische Rundfunk"<br />

erstellen zunächst eine Wirklichkeit, die<br />

nicht nur im fiktionalen, sondern auch im außerfiktionalen<br />

Zusammenhang zu stimmen<br />

scheint. Durch den Namen der Person wird<br />

diese Wirklichkeit dann insofern gestört, als<br />

Ottilie allein zu Eduard und Goethe, nicht aber<br />

in die hier beschriebene Landschaft zu passen<br />

scheint 13 . Die nichtfiktiven Ortsnamen kontrastieren<br />

nicht nur die fiktive Person - das wäre<br />

auch im konventionellen Roman nichts besonderes<br />

-, sondern der Personenname hat vor<br />

allem Signalwirkung, insofern er an den obengenannten<br />

Eduard erinnert und die erstellte<br />

Wirklichkeit wieder auf die Ebene des ironischen<br />

Spiels mit dem Zitat zurückführt.<br />

Es sind aber nicht nur die Namen der Personen,<br />

was diese Figuren in Gegensatz zu ihrer<br />

Umwelt bringt, sondern vor allem auch das,<br />

was sie sagen. Mehr noch als der zitierte Erzähler<br />

durch seinen Stil in Widerspruch zu Zeit<br />

und Raum des Romans gerät, zerstören die<br />

Figuren durch den historischen Stil ihrer zitierten<br />

Rede den Eindruck ihrer Authentizität:<br />

"Da wir denn ungestört hier allein sind, sagt eben<br />

Eduard: und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so muß ich<br />

Ihnen gestehen, daß ich schon einige Zeit etwas auf<br />

dem Herzen habe, was ich Ihnen vertrauen muß und<br />

möchte, und nicht dazu kommen kann" 14 .<br />

Auch Plenzdorf übernimmt seine Figurenkonstellation<br />

aus einem Roman Goethes, aber<br />

er versetzt sie nicht nur in eine moderne Umwelt,<br />

sondern läßt sie auch die moderne Sprache<br />

reden. Nicht zuletzt durch diese linguistische<br />

Authentizität und die pointiert ausgespielte<br />

Distanz zu Goethes Werther gewinnen<br />

Die neuen Leiden des jungen W. ihre<br />

Glaubwürdigkeit und ihr eigenes Leben 15 . In<br />

D'Alemberts Ende wird die Glaubwürdigkeit<br />

der Figuren gerade durch die Beibehaltung der<br />

Goetheschen Sprache verhindert. Eduard und<br />

Ottilie können gar nicht im D-Zug von Kassel<br />

nach Hamburg fahren, weil sie gar nicht leben,<br />

12 Ebd.<br />

13 Bodo Heiman, a. a. O., S. 68.<br />

14 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 68.<br />

15 Ebd.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (17-18) / <strong>20</strong>00 141


und sie können nicht leben, weil sie sonst nicht<br />

so sprechen würden:<br />

"Es ist recht schön und liebenswürdig von Ihnen, versetzte<br />

Ottilie, daß Sie D'Alemberts Zustand mit soviel<br />

Teilnahme bedenken; allein erlauben Sie mir, Sie aufzufordern,<br />

auch Ihrer, auch unser zu gedenken" 16 .<br />

Durch ihre Sprache geben sie sich als literarische<br />

Konserve zu erkennen. Sie sind nicht<br />

nur fiktive Figuren, sondern verlieren durch<br />

ihre Versetzung aus Goethes in Heißenbüttels<br />

Welt ihr Leben; da sie einerseits in Zitaten<br />

reden und selber Zitat sind, andererseits als<br />

fiktive Figuren im neuen Roman fungieren,<br />

müssen sie ihre alte Identität verlieren 17 , ohne<br />

eine neue gewinnen zu können.<br />

Ähnlich wie Eduard und Ottilie gewinnt<br />

auch die Titelfigur kein eigenes Profil. D'Alembert<br />

wird in eine reale Umwelt (Hamburg)<br />

eingepaßt und u.a. auch mit realen Personen<br />

(z. B. Bense) verknüpft, aber eine eigene Realität<br />

gewinnt er dabei nicht. Seine Unauffälligkeit<br />

und Durchschnittlichkeit werden deutlich<br />

ausgedrückt:<br />

"Er hat gelegentlich mit Max Bense geredet. Er hat<br />

nie einen Posten gehabt, weder als Beirat noch als Berater,<br />

Korrespondent oder Herausgeber. Er hat niemals<br />

etwas veröffentlicht. Er hat eine Dissertation geschrieben<br />

über das Kolorit bei Januarius Zick, der mit<br />

Goethe befreundet war. Er ist einmal Zeichenlehrer gewesen.<br />

Er hat den Schuldienst aufgeben müssen wegen<br />

Unregelmäßigkeit in dem Gebrauch seiner Kräfte.<br />

Niemand zitiert ihn. Er fällt nicht auf. Er mischt sich<br />

unter die Leute. Er ist der bekannte ortsansässige<br />

Kritiker" 18 .<br />

Die äußere Unauffälligkeit wird bei D'Alembert<br />

nicht durch eine problematisierte Innerlichkeit<br />

ausgegeglichen. Auch darin folgt<br />

Heißenbüttel durchaus seiner Theorie. D'Alembert<br />

hat keine Subjektivität und leidet auch<br />

nicht darunter. Er hat keine Identität, und er<br />

sucht sie auch nicht, und das unterscheidet ihn<br />

von Musils und Frischs problematischen Figuren.<br />

Er erscheint nicht einmal depersonalisiert,<br />

weil er von vornherein keine Person ist <strong>19</strong> .<br />

Gerade weil solche Innenseite Heißenbüttels<br />

Figuren ganz fehlt, gerade weil sie weder eine<br />

Identität haben noch eine suchen, noch eine<br />

16 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 12.<br />

17 Bodo Heimann, a. a. O., S. 69.<br />

18 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 27.<br />

<strong>19</strong> Bodo Heimann, a. a. O., S. 70.<br />

142<br />

Delia Esian<br />

verlorengegangene beklagen, sind sie beliebig<br />

austauschbare Träger von Zitaten. Selbst ihre<br />

Träume sind Zitat. D'Alemberts Traum ist<br />

nicht der erzählte Traum einer Person, sondern<br />

eine Paraphrase von Freuds Traumdeutung:<br />

"Der Traum ist ein Hüter des Schlafs. Triebregungen<br />

finden in ihm eine mit dem Schlafzustand verträgliche<br />

Erfüllung. Über die Gestaltung des Traums wacht eine<br />

Kontrollinstanz der Persönlichkeit, die solche Regungen,<br />

die vom moralischen Wachbewußtsein mißbilligt<br />

werden, namentlich sexueller und agressiver Art, nur in<br />

einer Form zur Darstellung gelangen läßt, welche durch<br />

die sogenannte Traumarbeit unkenntlich gemacht worden<br />

ist. Es ist daher bei jedem Traum zwischen dem<br />

chiffrierten Traum und dem sogenannten latenten<br />

Traumgedanken, dem Klartext der Triebansprüche, zu<br />

unterscheiden" <strong>20</strong> .<br />

Die scheinbare Konstanz fiktionaler Figuren<br />

wird unterlaufen und ausgehöhlt durch den<br />

Collagecharakter des Buches. Die Verbindung<br />

von Personen und Situationen bleibt Vorwand<br />

zur Textcollage, zur Verbindung literarischer<br />

Zitate unterschiedlichster Art, von Goethe,<br />

Marx, Freud, Marcuse, Adorno u.a., versetzt<br />

mit Nachrichten und Wettervorhersagen oder<br />

banalen Redewendungen des Alltags. Während<br />

einerseits die Zitate aus ihren ursprünglichen<br />

Kontexten und Funktionszusammenhängen<br />

gelöst werden, verlieren andererseits die übernommenen<br />

Personen ihre konkreten Züge und<br />

fungieren als Zitatmasken ohne eigene Konsistenz<br />

21 .<br />

Was die Personen konkret treiben, in welche<br />

Beziehungen sie zueinander treten, bleibt<br />

uneigentlich und verfällt dem distanziert ironischen<br />

Spiel mit dem Selbstzitat:<br />

"D'Alembert liebt Ottilie. Andie liebt Liselotte, er ist<br />

vollkommen verrückt. D'Alembert liebt Andie. Ottilie<br />

Wildermuth hat eine Schwäche für D'Alembert. Die<br />

Schildkröte verehrt Andie. Helmut Maria und Bertolt<br />

betreuen ihre Schwester Ottilie. Ottilie liebt Andie. Dr.<br />

Johnson hat das ist nun schon lange her Ottilie gekannt.<br />

[...] Eduard mag Eduard, aber er hat Angst vor ihm.<br />

Eduard flieht vor Ottilie" 22 .<br />

Die uneigentliche Sprache der Sätze repräsentiert<br />

das uneigentliche Leben derer, von<br />

denen die Sätze sprechen. Da die Figuren gar<br />

nicht leben, sondern als Zitatmasken fungieren,<br />

ist nicht zufällig das Gespräch diejenige Form,<br />

<strong>20</strong> Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 48.<br />

21 Bodo Heimann, a. a. O., S. 71.<br />

22 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 130.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Grenzen und Möglichkeiten der Sprache im Werk von Helmut Heißenbüttel<br />

durch die sie zueinander in Beziehung treten,<br />

und zugleich die von diesem Roman bevorzugte<br />

Erzählweise. Es ist schließlich gleichgültig,<br />

was die Figuren überhaupt sagen, beteuern,<br />

vermuten. Die Inhalte sind austauschbar,<br />

die Sprechakte ein leeres Ritual, das<br />

Resumé kann auf Inhalte ganz verzichten.<br />

Die Namengebung "D'Alembert" und die<br />

Titelgebung "D'Alemberts Ende" wirkt auch<br />

repräsentativ. Der Spekulation des Lesers sind<br />

keine Grenzen gesetzt, und die Lektüre des<br />

Buches kann sogar provozieren, sich mit dem<br />

historischen D'Alembert (1717-1783) und<br />

Diderot (1713-1784) und der historischen<br />

Bedeutung ihres gemeinsamen Projekts, der<br />

Encyclopédie, ou dictionaire raisonné des<br />

sciences, des arts et des métiers (1751-1780)<br />

zu beschäftigen. Der Autor sagt: "Der Name<br />

klingt gut. Prägt sich leicht ein." Der Klang<br />

also, nicht die symbolische Bedeutung dieses<br />

Namens zählt. Ganz so einfach ist es nicht.<br />

Auch wenn der Autor den Namen bagatellisiert,<br />

schließt er die Spekulationen nicht aus,<br />

sondern ermuntert sie geradezu: "Man kann<br />

sich was dabei denken, wenn man weiß, aber<br />

auch, wenn man nicht viel weiß" 23 . Dem Leser<br />

steht frei, den Inhalt des Romans samt seiner<br />

Titelfigur ebenso ironisch auf den historischen<br />

D'Alembert und die Enzyklopädisten zurückbeziehen<br />

wie die Form auf die Erzählweise<br />

Goethes 24 .<br />

23 Ders., Zur Tradition der Moderne, S. 369.<br />

24 Bodo Heimann, a. a. O., S. 79.<br />

Eine satirische Spitze gegen aufklärerischen<br />

Zukunftsoptimismus enthält auch<br />

die Figur 'Der kommende Mann' am Ende des<br />

Buches; wie eben der bereits analysierte Anfang<br />

seine satirische Spitze gegen diejenigen<br />

richtet, die sich nach dem allwissenden Erzähler<br />

und dem konventionellen Erzählen zurücksehnen.<br />

Vielsagend und symbolisch deutbar ist<br />

auch das Ende D'Alemberts. Seine Todesursache<br />

ist unbekannt, man findet ihn<br />

"skalpiert wie ein von Indianern überfallenes<br />

Bleichgesicht". Dieser Tod ist rätselhaft und<br />

wenig eindeutig, aber als groteske Metapher<br />

zum Ganzen passend:<br />

"Das verklebte rothaarige Toupet liegt auf dem Teller<br />

des angestellten Plattenspielers und dreht sich gleichmäßig<br />

um sich selbst" 25 .<br />

Mit der Reduktion auf Sprache stellt sich<br />

das Problem, inwieweit aus bloß sprachimmanenten<br />

Impulsen epische Großformen<br />

wie der Roman überhaupt entstehen kann.<br />

Heißenbüttel hat im Briefwechsel mit Vormweg<br />

dieses Problem des Romans aufgeworfen,<br />

aber weder gelöst noch präzise genug gestellt.<br />

Heißenbüttel hegte die Hoffnung, daß das<br />

Experimentieren mit Sprache den Anfang zu<br />

einer neuen Literatur darstellen könnte:<br />

"Und die Grenze, die erreicht wird, ist nicht eine zum<br />

Nichts, zum Sprachlosen, zum Chaos [...], es ist die<br />

Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist" 26 .<br />

25 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 373.<br />

26 Ders.,Über Literatrur, München <strong>19</strong>72, S. 211.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (17-18) / <strong>20</strong>00 143


PATRICK SÜSKINDS PARFUM IN RUMÄNISCHER ÜBERTRAGUNG.<br />

EINE ÜBERSETZUNGSKRITISCHE BETRACHTUNG DER AUTOR- UND<br />

PERSONENSPRACHE<br />

Patrick Süskinds Parfum (<strong>19</strong>85) war ein<br />

Riesenerfolg nicht nur in den Vereinigten<br />

Staaten sondern auch in Europa. Eine der<br />

aufregensten Entdeckungen der letzten Jahre.<br />

Fesselnd. Ein Meisterwerk, behauptete<br />

die San Francisco Chronicle. Kraftvoll und<br />

mitreißend. Seine Wirkung wird lange andauern<br />

stand in der Time Magazine New<br />

York. Grete Tartler übersetzte diesen Roman<br />

ins Rumänische (1. Auflage – Univers Verlag<br />

<strong>19</strong>89, 2. Auflage – Humanitas Verlag<br />

<strong>20</strong>00) und ermöglichte dadurch der rumänischen<br />

Leserschaft, das Buch kennenzulernen.<br />

Der vorliegende Beitrag ist eine Fortsetzung<br />

vorangehender Beschäftigungen mit<br />

der Übersetzung des Romans Das Parfüm<br />

von Patrick Süskind. Die hier unternommene<br />

Übersetzungskritik hat ihre Aufmerksamkeit<br />

insbesondere der mikrostrukturellen Ebene<br />

geschenkt und beschränkt sich auf die Untersuchung<br />

der Stilschichten an einigen Textbeispielen.<br />

Der erste Teil der Analyse hebt<br />

die Bedeutung der unterschiedlichen Sprachregister<br />

in der Übertragung der Autor- und<br />

Personensprache hervor. Der zweite Teil<br />

veranschaulicht die lexikalischen Schwierigkeiten<br />

in der Übertragung der Autorsprache;<br />

der Übersetzung der Autorsprache wird<br />

hiermit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt,<br />

um die Bemühungen der Übersetzerin,<br />

dem Stil der Autorsprache gerecht<br />

zu werden, anzuerkennen.<br />

Nach einer aufmerksamen Lektüre des<br />

AS- und ZS-Textes aus übersetzungskritischer<br />

Perspektive hat sich die Grenzziehung<br />

zwischen Autor- und Personensprache als<br />

notwendig erwiesen. In den folgenden Textstellen,<br />

auf die sich die übersetzungskritische<br />

Betrachtung berufen wird, hat die Übersetzerin<br />

Grete Tartler die Unterschiede bezüglich<br />

der Stilschicht der Autor- und Personensprache<br />

in der Zielsprache nicht markiert<br />

und mehrere inadäquate Entscheidungen getroffen.<br />

Folglich lässt sich eine einführende theoretische<br />

Auseinandersetzung mit den Be-<br />

Delia Anca Şeiculescu<br />

griffen Autor- und Personensprache, bevor<br />

die konkreten Übersetzungavarianten analysiert<br />

werden, nicht ausblenden, da die Terminologie<br />

diesbezüglich in der Fachliteratur<br />

nicht einheitlich gehandhabt wird. Autor-<br />

bzw. Figurenrede, Autor- bzw. Personenstil<br />

sind Bezeichnungen, die sich auf die Sprechweise<br />

des Autors bzw. der Personen beziehen.<br />

Die vorliegende Betrachtung setzt<br />

sich auf eine konsequente Wiederaufnahme<br />

der Bergriffe Autor- und Personensprache<br />

fest.<br />

Unter Autorsprache versteht man die eigentlichen<br />

Stilmerkmale des auktorialen<br />

Sprechens, sichtbar im Autortext. Der Autortext<br />

wird als der eigentliche Berichts–<br />

oder Erzähltext aufgefasst, 1 wie das folgende<br />

Beispiel diese Aussage veranschaulicht.<br />

Im achtzehnten Jahrhundert lebte in<br />

Frankreich ein Mann, der zu den genialsten<br />

und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen<br />

und abscheulichen Gestalten nicht<br />

armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll<br />

hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste<br />

Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz<br />

zu den Namen anderer genialer Scheusale,<br />

wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches,<br />

Bonapartes usw., heute in Vergessenheit<br />

geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil<br />

Grenouille diesen berühmteren Finstermännern<br />

an Selbstüberhebung, Menschenverachtung,<br />

Immoralität, kurz an Gottlosigkeit<br />

nachgestanden hätte, sondern weil sich<br />

sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein<br />

Gebiet beschränkte, welches in der<br />

Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das<br />

flüchtige Reich der Gerüche. (S. 5)<br />

Die Personensprache ist eine Redeweise<br />

einer im Text auftretenden Person im Unterschied<br />

zur eigentlichen Autorsprache. Die<br />

Personensprache wird im personalen Text<br />

sichtbar. Dieser ist der Text, den der Autor<br />

seinen Personen als geäußert oder nur ge-<br />

1 Siehe Krahl, Siegfried/Kunz, Josef: Kleines Wörterbuch<br />

der Stilkunde. Leipzig, <strong>19</strong>79, S. <strong>20</strong>.


Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />

dacht, gefühlt zuschreibt, im Unterschied<br />

zum eigentlichen Autortext. 2 Die Personensprache,<br />

oft in der direkten Rede aktualisiert,<br />

hat die Funktion, die Redeweise der Personen<br />

zu charakterisieren und dadurch Rückschlüsse<br />

auf deren Wesen zuzulassen.<br />

Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht<br />

meht zurück. "Aber sie sind doch alle da, die<br />

man braucht, die Grüche, sind doch alle da,<br />

in diesem Raum" sagte er und deutete wieder<br />

ins Dunkle. "Rosenöl da! Orangenblüte da!<br />

Nelke da! Rosmarin da ...!" (S. 98)<br />

Autorsprache und Personensprache können<br />

bei bestimmten Formen der Rededarstellung<br />

und der Reflexionsdarstellung teilweise<br />

verschmelzen. Zu gemeinsamen Stilmerkmalen<br />

der Redeweise kommt es entweder<br />

durch partielle Identität der<br />

Perspektive von Autor und Person oder in<br />

der erlebten Rede bzw. in der erlebten<br />

Reflexion. Der Autor identifiziert sich stark<br />

mit der Person und zwingt auch den Leser<br />

suggestiv zu einer Betrachtung aus dieser<br />

Perspektive. 3 Der vorliegende Beitrag wird<br />

auf die Übersetzung der Stilmerkmale Autor-<br />

Personen-Sprache nicht näher eingehen,<br />

sondern nur einen Textausschnitt in<br />

deutscher Sprache als Beispiel liefern.<br />

Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren<br />

ohne Geruch, am stinkendsten Ort der Welt,<br />

stammend aus Abfall, Kot und Verwesung,<br />

aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme<br />

menschliche Seele, einzig aus Widerborstigkeit<br />

und der Kraft der Ekels, klein,<br />

gebuckelt, hinkend, hässlich, gemieden, ein<br />

Scheusal innen wie außen - er hatte es erreicht,<br />

sich von der Welt beliebt zu machen.<br />

Was heißt beliebt! Verehrt! Vergöttert! (S.<br />

304)<br />

Die normative Konnotation der Wörter<br />

ist im Rahmen dieser Betrachtung von Bedeutung.<br />

Darunter versteht man die Zugehörigkeit<br />

der lexikalischen Einheiten zu einer<br />

bestimmten Stilschicht bzw. die Normierungen<br />

des Sprachgebrauchs auf unterschiedlichen<br />

Stilhöhen 4 . Die Übersetzung des Stils<br />

der Autorsprache ist gelungen, jedoch treten<br />

Fehler bei der Übertragung der stilistischen<br />

Eingentümlichkeiten der Personensprache<br />

2 Ebd., S. 79.<br />

3 Ebd. S. <strong>20</strong>.<br />

4 Siehe Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft.<br />

München: dtv, <strong>19</strong>78, S. 181.<br />

auf. Diese Inkonsequenzen kann der hier<br />

unternommene übersetzungskritische Versuch<br />

nicht übersehen.<br />

"Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz<br />

leicht zu sagen, weil ... weil, sie riechen nicht überall<br />

gleich, obwohl sie überall gut riechen, Pater, verstehen<br />

Sie, also an den Füßen zum Beispiel, da<br />

riechen sie wie ein glatter warmer Stein – nein eher<br />

wie Topfen ... oder wie Butter, wie frische Butter, ja<br />

genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Körper<br />

riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch<br />

gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem<br />

Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen sie<br />

, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist ... ", und sie<br />

tippte Terrier, der über diesen Schwall detaillierter<br />

Dummheit für einen Moment sprachlos geworden war<br />

und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die<br />

Glatze," ... hier, genau hier, da riechen sie am besten.<br />

Da riechen sie nach Karamel, das riecht so süß, so<br />

wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung!<br />

Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie,<br />

ganz gleich ob es die eigenen oder fremde sind. (S.<br />

16)<br />

- Păi, începu doica, nu e prea uşor de zis, fiindcă...<br />

fiindcă nu miros peste tot la fel, deşi peste tot e ceva<br />

plăcut, înŃelegeŃi, pater, adică de pildă la picioare miros<br />

a piatră netedă calduŃă – nu, mai degrabă a branză<br />

de vaci, sau ca untul, ca untul proaspăt: exact, ca untul<br />

proaspat miros. Iar pe corp parc-ar fi ... un pişcot<br />

înmuiat în lapte. Şi pe cap, aici sus, spre ceafa, unde<br />

face părul vârtej, vedeŃi, pater, aici, unde domniavoastră<br />

nu mai aveŃi nimic... şi pipăi chelia lui Terrier,<br />

care rămăsese o clipa fără grai în faŃa unui asemenea<br />

torent de amănunŃite aiureli, înclinând ascultător<br />

capul, ...aici, chiar aici au mirosul cel mai plăcut. Aici<br />

miros a caramel, atât de dulce, de minunat, nici nu<br />

vă puteŃi închipui, pater! O dată ce i-ai adulmecat<br />

acolo, îi iubeşti, indiferent că sunt ai tăi sau ai altuia.<br />

(S.14)<br />

In dem zitierten Abschnitt spricht eine<br />

Figur des Romans. Es ist offenkundig, dass<br />

es sich um Personensprache handelt, die kurz<br />

von der Autorsprache unterbrochen wird.<br />

Die vom Autor ihr zugeschriebene Sprache<br />

charakterisiert die Amme zugleich: sie ist<br />

ungebildet, wiederholt sich andauernd, verfügt<br />

über keine besondere Sprachfähigkeiten.<br />

In der Übersetzung kommen jedoch Wörter,<br />

wie pater, exact, indiferent, domnia-voastră<br />

vor, die als Übersetzungsfehler zu betrachten<br />

sind. Pater wird kein ungebildeter Mensch<br />

gebrauchen, üblich ist das Wort părinte. Eine<br />

Amme wird wahrscheinlich das Wort exact<br />

nicht benutzen, um die Genauigkeit auszudrücken,<br />

indiferent ist ein Neologismus, der<br />

dieser Frau mit Sicherheit unbekannt ist; sie<br />

wird nach einem anderen Wort greifen, um<br />

die Idee der Gleichgültigkeit (im engen Sinne)<br />

zu vermitteln. Domnia-voastră sollte die<br />

Gestalt als Anredeformel kennen, aber im<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 145


Original erscheint Ihre Hoheit nicht, weil<br />

man vermutlich einen Priester nicht mit Ihre<br />

Hoheit anspricht. Die Übersetzerin verwechselt<br />

Autorsprache und Personensprache,<br />

und deshalb ist im Rumänischen die Sprache<br />

der Amme vom gehobenen Stil der Autorsprache<br />

geprägt.<br />

Eine andere Inadäquatheit ergibt sich<br />

beim Übersetzen mancher Präpositionalphrasen:<br />

an den Füßen – la picioare, am Körper<br />

– pe corp. A mirosi la picioare ist auch für<br />

eine ungebildete Frau nicht üblich, denn die<br />

Präposition la hat eine situative Bedeutung,<br />

deshalb in diesem Kontext nicht annehmbar.<br />

Piciorele miros, diese Wortwahl wäre eher<br />

den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

dieser Frau zuzuschreiben. Dasselbe gilt<br />

auch für den Ausdruck am Körper:<br />

Iar corpul [...] (miroase) ca un pişcot înmuiat în<br />

lapte anstatt Iar pe corp parcă – ar fi [...] un pişcot<br />

înmuiat în lapte.<br />

Die Übersetzerin markiert die stilistischen<br />

Unterschiede zwischen Autorsprache<br />

und Personensprache in der Zielsprache<br />

nicht, die Personesprache ist von den stilistischen<br />

Merkmalen des auktorialen Sprechens<br />

gekennzeichnet, und folglich sind die Übersetzungsvarianten<br />

als inadäquat zu betrachten.<br />

Die Übersetzung von Autorsprache<br />

ist jedoch gelungen.<br />

[...] und sie tippte Terrier, der über diesen Schwall<br />

detaillierter Dummheit für einen Moment sprachlos<br />

geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte,<br />

auf die Glatze, [...]<br />

[...] şi pipăi chelia lui Terrier, care rămăsese o clipă<br />

fără grai în faŃa unui asemenea torent de amănunŃite<br />

aiureli, înclinănd ascultător capul.<br />

Die Wortwahl, dem Autorstil entsprechend,<br />

ist gut getroffen. Die rumänische Variante<br />

wird sogar stilistisch aufgewertet: das<br />

deutsche Plusquamperfekt büßt seine Stellung<br />

gegenüber einer Partzipialkostruk-tion<br />

(constructie gerunziala) ein – gesenkt hatte,<br />

înclinând. Sprachlos werden ist mit a rămâne<br />

fără grai übersetzt worden, und nicht mit<br />

a rămâne mut. Die Übersetzerin entscheidet<br />

sich für die Variante, die sich durch einen<br />

gehobenen Stil charakterisiert, und die Entscheidung<br />

wird von der hier unternommenen<br />

Übersetzungskritik auch anerkannt.<br />

Die Geruchsbeschreibungen im ersten<br />

Teil sind adäquat übersetzt worden – der<br />

Übersetzerin gelingt es, dem Stil der Autor-<br />

146<br />

Delia Anca Şeiculescu<br />

sprache gerecht zu werden. Im Fogenden<br />

wird ein Textausschnitt des ersten Kapitels<br />

eingehender betrachtet, um die gelungene<br />

Übersetzung der Autorsprache hervorzuheben.<br />

Die sprachlich anspruchsvolle Stelle<br />

versetzt den Leser in das flüchtige Reich der<br />

Gerüche und bereitet dem Übersetzer<br />

Schwierigkeiten bei den zu treffenden Entscheidungen.<br />

Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den<br />

Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer<br />

Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist,<br />

es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die<br />

Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck,<br />

die Küchen nach verdorbenem Kohl und<br />

Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach<br />

muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken,<br />

nach feuchten Federbetten und nach dem stechend<br />

süßen Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen<br />

stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die<br />

ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das<br />

geronnen Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß<br />

und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund<br />

stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihren Mägen<br />

nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht<br />

mehr ganz jung waren, nach altem Käse und saurer<br />

Milch und nach Geschwulstkrankheiten. (S. 5)<br />

Pe vremea de care vorbim, în oraşe domnea o duhoare<br />

pentru noi, modernii, de neînchipuit. Străzile<br />

trăsneau a gunoi şi bălegar, curŃile dosnice a urină,<br />

casele scărilor a lemn putrezit şi murdărie de şobolan,<br />

bucătăriile a varză stricată şi seu; încăperile neaerisite<br />

duhneau a praf mucegăit, dormitoarele a cearceafuri<br />

unsuroase, a paturi de puf umed şi a mirozna înŃepător-dulceagă<br />

din oalele de noapte. Din cămine trăsnea<br />

pucioasa, din tăbăcării leşiile corozive, din căsăpii<br />

sângele scurs. Oamenii puŃeau a sudoare şi haine nespălate;<br />

gura le duhnea a dinŃi stricaŃi, stomacurile a<br />

zeamă de ceapa, iar corpurile, când nu mai erau prea<br />

tineri, a brânză veche, lapte acru şi bube. (S. 5)<br />

Bei der Lektüre des Ausgangstextes wird<br />

dem Übersetzer die Vielfalt der hervorgerufenen<br />

Empfindungen bewusst, und er ist<br />

bemüht durch die Übersetzung, diese Geruchs-empfindungen<br />

an die ZS zu vermitteln.<br />

Bevor man zur konkreten Übersetzungskritik<br />

vorgeht, sollte der Begriff Geruch erläutert<br />

werden.<br />

Geruch: mit dem Geruchssinn über die<br />

Nase aufzunehmender, wahrnehmbarer, oft<br />

angenehmer oder unangenehmer Duft 5 .<br />

Duft: als angenehm empfundener, zarter<br />

bis intensiver Geruch 6 .<br />

5 Bunting, (Hg.): Deutsches Wörterbuch, <strong>19</strong>96.<br />

6 Drosdowski: Duden - Universalwörterbuch, <strong>19</strong>89.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />

Parfüm: alkoholische Flüssigkeit, in der<br />

Duftstoffe gelöst sind; Flüssigkeit mit intensivem,<br />

langhaltendem Geruch. 7<br />

Teilsynonyme für Duft sind Geruch und<br />

Parfüm, den Begriff Geruch – Duft, Odeur,<br />

Aroma, Arom, Gestank, Bukett. Parfum kann<br />

man auch als Duft, Duftwasser, Duftessenz,<br />

Riechstoff, Toilettenwasser, Duftstoff verstehen<br />

oder wahrhaben. Der Definitionsversuch<br />

veranschaulicht die Komplexität des<br />

sprachlichen Feldes Geruch, die zahlreichen<br />

sprachlichen Möglichkeiten, Geruchsempfindungen<br />

durch Sprache zu benennen.<br />

Der Geruch im Ausgangstext ist durch<br />

folgende Ausdrücke nachvollziehbar: Gestank,<br />

stinken, Mist, Urin, fauliges Holz,<br />

Rattendreck, verdorbener Kohl, Hammelfett,<br />

ungelüftete Stuben, muffiger Staub, fettige<br />

Laken, Schwefel, Laugen, der stechend süße<br />

Duft der Nachttöpfe, Blut, Schweiß, ungewaschene<br />

Kleider, verrottete Zähne, Zwiebelsaft,<br />

alter Käse. Die Arbeit des Übersetzers<br />

wird auch dadurch erschwert, dass<br />

Süskind das sprachliche Feld der Gerüche<br />

bewusst erweitert und dadurch penetrante<br />

Effekte erzielt. Der Geruchsinn des Lesers<br />

wird nicht nur durch den Gestank, den Duft<br />

angeregt, sondern auch durch sprachliche<br />

Bilder, durch das konsequente Einsetzen von<br />

rhetorischen Stilmitteln: die Wiederholung<br />

und die Akkumulation. Im Roman dominieren<br />

unangenehme Düfte, die Wiederaufnahme<br />

des Verbs stinken imprägniert den Leser,<br />

er kann den Abschnitt olfaktiv aufnehmen.<br />

Die Übersetzerin entscheidet sich jedoch<br />

nicht für die konsequente Wiederholung des<br />

Verbs stinken – rumänisch a mirosi urât, a<br />

puti, sondern für die äquivalenten Ausdrücke:<br />

a trăsni, a duhni. Der Prozess von<br />

Monosemierung zu Polysemierung wird<br />

bewusst eingesetzt; durch die Polysemierung<br />

aber wird im Gesamttext ein Ausgleich erreicht.<br />

Die Konnotationssphäre des deutschen<br />

Verbs stinken ist umfangreicher als<br />

diejenige des rumänischen a puŃi. Durch eine<br />

konsequente Wiederaufnahme des Verbs a<br />

puŃi hätte der Text in der rumänischen Leserschaft<br />

nicht dieselbe Pluralität der Geruchsempfindungen<br />

auslösen können, er hätte eine<br />

monotone, sogar vulgäre Auswirkung haben<br />

können.<br />

7 Ebd.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 147<br />

***<br />

Im Folgenden wird sich der Beitrag mit<br />

den lexikalischen Schwierigkeiten in der<br />

Übertragung von Autorsprache eingehender<br />

befassen. Die Begriffe, mit denen der Geruch<br />

assoziiert wird, rufen sprachliche Bilder hervor:<br />

stinken – Mist, im Rumänischen trăsneau<br />

– gunoi şi bălegar. In diesem Fall handelt<br />

es sich wieder um den Vorgang Monosemierung<br />

– Polysemierung. Mit Mist wird<br />

immer ein schlechter Geruch assoziiert, deshalb<br />

auch das Verb stinken. In der rumänischen<br />

Variante wird Mist durch gunoi si balegar<br />

übersetzt, und durch die zusätzliche<br />

Konnotation des Verbs a trasni wirkt die<br />

Aussage intensiviert. Diese Hervorhebung<br />

jedoch wird auf der Ebene des Gesamttextes<br />

einen Ausgleich erfahren.<br />

Nun wird der Begriff Geruch mit Hinterhöfen,<br />

Treppenhäusern, Rattendreck, Hammelfett,<br />

Federbett in Beziehung gebracht. Es<br />

ist schwierig, diese Zusammensetzungen ins<br />

Rumänische zu übersetzen, da diese nicht als<br />

Zusammensetzungen aktualisierbar sind,<br />

deshalb müssen die Komposita aufgelöst<br />

werden. Äquivalent für Hinterhof ist curŃile<br />

dosnice – aber das durch diese Auflösung<br />

erhaltene Ergebnis ist nicht intersubjektiv<br />

überprüfbar; curŃile dosnice erhält eine zusätzliche<br />

Konnotation, denn für dosnic werden<br />

folgende Synonyme angeführt: ascuns,<br />

ferit, dosit, izolat, lăturalnic, retras, singuratic,<br />

tainic, tăinuit, lăturaş (reg.), săcret<br />

(reg.) 8 Im Lexikon steht bei dosnic: (Despre<br />

locuri, străzi, clădiri etc.) Care se afla mai<br />

la o parte, mai ascuns vederii; retras, lăturalniş,<br />

izolat 9 . Dosnic wird mit dunkel, klein<br />

assoziiert, und Hinterhof kann ein einfacher<br />

hinterer Hof darstellen. Eine andere Möglichkeit<br />

für die Auflösung dieser Zusammensetzung<br />

ist der Ausdruck curte interioară,<br />

aber wegen der unterschiedlichen Positionierung<br />

entspricht er auf inhaltlicher Ebene<br />

nicht. Bei der Wortwahl im Rumänischen<br />

muss man auch den historischen Kontext in<br />

Betracht ziehen: die Handlung spielt im 18.<br />

Jahrhundert, die Gebäude und Höfe waren<br />

klein und dunkel. Foglich erfährt die Variante<br />

curŃile dosnice eine stilistische Auf-<br />

8 DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />

9 Dex. Bucureşti, <strong>19</strong>75.


wertung durch die zusätzlichen Konnotationen<br />

des Adjektivs dosnic. Diese Übersetzung<br />

wird von der hier unternommenen Übersetzungskritik<br />

als adäquat betrachtet.<br />

Rattendreck wird mit murdarie de şobolan<br />

und nicht rahat de şobolan übersetzt. Im<br />

Wörterbuch findet man für Dreck folgende<br />

Äquivalente: murdărie, excremente, rahat 10<br />

oder murdărie, noroi, excremente 11 . Das<br />

rumänische Synonymwörterbuch gibt bei<br />

rahat - excrement, fecale und căcat 12 an.<br />

Diese Übersetzungsvariante, murdărie für<br />

Dreck, obwohl das Wörterbuch murdărie als<br />

Äquvalent angibt, könnte als Fehlentscheidung<br />

angesehen werden, da der Begriff<br />

Dreck stark vulgär geprägt ist und murdărie<br />

der Alltagssprache zugeschrieben wird.<br />

Durch diese Wortauswahl jedoch gleicht sich<br />

der rumänische Text aus, die durch die Assoziation<br />

von a trăsni - gunoi, bălegar erreichte<br />

Hervorhebung wird annuliert.<br />

Bei der Übersetzung des Kompositums<br />

Hammelfett lässt sich leicht feststellen, dass<br />

nur ein Teil davon in die ZS übermittelt wurde,<br />

Hammel geht durch die Übersetzung verloren.<br />

Für den Begriff Fett gibt es folgende<br />

Entsprechungen: grăsime, unsoare, untură 13 .<br />

Keines von diesen aber ist im rumänischen<br />

Tex zu finden. Die Übersetzungavariante für<br />

Fett ist seu in diesem Fall, ein optimaler<br />

Ausdruck, denn seu ist umgangssprachlich,<br />

ruft im Leser mehrere Geruchsempfindungen<br />

hervor als die anderen Übersetzungsmöglichkeiten.<br />

Gab es bis jetzt manche Schwierigkeiten<br />

bei der Übersetzung zusammengesetzter<br />

Wörter, sind sie von der Übersetzerin gelöst<br />

worden. Im Falle der Nominalphrase das<br />

feuchte Federbett ist weder eine optimale<br />

noch eine annehmbare Lösung gefunden<br />

worden. Der Begriff Federbett ist ins Rumänische<br />

nicht übersetzbar, pat de puf gibt es<br />

nicht. Man muss sich die Frage stellen, was<br />

pături de puf umed in rumänischen bedeuten<br />

könnte, ob dieser Ausdruck für das rumänische<br />

Leserpublikum auch verständlich ist.<br />

10<br />

Isbăşescu, Mihai: DicŃionar german-român. Bucureşti,<br />

<strong>19</strong>99.<br />

11<br />

DicŃionar german-român. Editura Academiei. Bucureşti,<br />

<strong>19</strong>89 (weiter als DGR angeführt).<br />

12<br />

DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />

13 Isbăşescu, Mihai: a.a.O.<br />

148<br />

Delia Anca Şeiculescu<br />

Das Wörterbuch gibt als Äquivalent das<br />

Nomen pilotă 14 an. Im Lexikon findet man<br />

folgende Erklärung für pilotă: un fel de plapumă<br />

călduroasă, de forma unei perne mari<br />

umflate, umplută cu fulgi sau cu puf 15 . Die<br />

Übersetzerin hat auf das Äquivalent pilota<br />

verzichtet und die Variante pături de puf<br />

vorgezogen. Es stellt sich nun die Frage, ob<br />

das Kompositum durch eine Paraphrasierung<br />

ersetzt werden kann. Vielleicht wäre die Lösung<br />

paturi cu plăpumi jilave angebrachter.<br />

Die aufgelöste Zusammensetzung ist als ein<br />

Übersetzungsfehler zu betrachten, paturi de<br />

puf ist kein äquivalenter Ausdruck für das<br />

deutsche Federbett. Der rumänische Leser ist<br />

verwirrt, der Sinn des Textes kann nicht<br />

richtig erfasst werden.<br />

Diese kontrastive Analyse hat bewiesen,<br />

welche Schwierigkeiten das Übersetzen der<br />

Komposita bereiten kann. Der Grund dafür<br />

ist, dass in der deutschen Sprache das Mittel<br />

der Zusammensetzung sehr produktiv ist,<br />

wobei im Rumänischen das Hauptmittel zur<br />

Erweiterung des Wortschatzes die Ableitung<br />

ist.<br />

Im Folgenden wird der Ausdruck stechend<br />

süßer Duft und dessen Entsprechung<br />

mirozna inŃepător-dulceagă der Übersetzungskritik<br />

unterzogen. Aufgebaut auf das<br />

Stilmittel der Synästhesie, stellt diese Nominalphrase<br />

eine Herausforderung für den<br />

Übersetzer dar. Für den Begriff Duft gibt es<br />

folgende Übersetzungsmöglichkeiten: miros<br />

delicat, parfum, aromă, abur fin, vapori,<br />

mucezeală, jilăveală, îmbâcseală. 16 Süß kann<br />

mit dulce, plăcut, delicios übersetzt werden.<br />

Ein süßer Duft ist dem rumänischen Leser als<br />

miros dulce bekannt. Das Synonymwörterbuch<br />

gibt folgende Kollokationen an: un<br />

miros / aer dulce, o mâncare dulceagă 17 .<br />

Man muss die Wortwahl der Übersetzerin in<br />

Frage stellen, weshalb sie sich für miros dulceag,<br />

wo dulceag für das deutsche süßlich<br />

steht und für mirozna und nicht mireasma<br />

entschieden hat. Mirozna wird den Regionalismen<br />

eingeordnet, hat denselben Bedeu-<br />

14<br />

DGR.<br />

15<br />

Dex. Bucureşti, <strong>19</strong>75.<br />

16<br />

DGR.<br />

17<br />

DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />

tungsinhalt wie der Begriff mireasma 18 , jedoch<br />

durch den Lautkörper und durch die<br />

Kollokation mit dem Adjektiv dulceag wird<br />

in dem Rumänischen eine Intensivierung erreicht.<br />

Für die ätzenden Laugen trifft die Übersetzerin<br />

auch eine gute Wahl – leşiile corozive,<br />

denn überrascht dieser äquivalente Ausdruck<br />

das rumänische Leserpublikum, ergeht<br />

es dem deutschen Leser nicht anders.<br />

Ein weiteres Problem für den Übersetzer<br />

stellt die Pluralform dar: aus ihren Mägen –<br />

stomacurile. Man sollte sich auch über das<br />

Weglassen der Präposition aus Gedanken<br />

machen, denn es heißt nicht ihre Mägen<br />

stanken, sondern aus ihren Mägen. Aus orientiert<br />

die Handlung, vermittelt der Nominalphrase<br />

eine zusätzliche Konnotation, die<br />

in der ZS nicht zu finden ist. Vielleicht wäre<br />

die Variante din stomacurile lor duhnea a<br />

zeamă de ceapă angebrachter, da sie dem<br />

Original inhaltlich näher steht und der rumänischen<br />

Leserschaft nicht verfremdend vorkommt.<br />

Dasselbe gilt für den Ausdruck an den<br />

Körpern – ihre Körper stanken, aber gleichzeitig<br />

haftet der Geruch an ihren Körpern:<br />

die Präposition führt zu einer Intensivierung<br />

der Aussage. Diese zusätzliche Information<br />

geht durch die Übersetzung verloren, sie<br />

kann in die ZS nicht übermittelt werden.<br />

Bei Geschwulstkrankheiten kommt die<br />

Übersetzungskritik in Schwierigkeiten. Für<br />

Geschwulst werden tumoare und umflătură <strong>19</strong><br />

angegeben. Das rumänische bube hat folgende<br />

Synonyme: leziune, plagă, rană; der Begriff<br />

bube / zgaibe dulci <strong>20</strong> wird auch angeführt.<br />

Für die Rückübersetzung bietet das<br />

Wörterbuch folgende Äquivalente an: buboi<br />

- Eiterbeule, Blutgeschwulst, -geschwür,<br />

Furunkel; bubos: beulig, geschwürig, voller<br />

Beulen. 21 Das Adjektiv geschwürig hat als<br />

Äquivalente in der rumänischen Sprache<br />

18 Ebd.<br />

<strong>19</strong> Mihai Isbăşescu: a.a.O.<br />

<strong>20</strong> DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />

21 AnuŃei, Mihai: DicŃionar român-german. Bucu-<br />

reşti, <strong>19</strong>98.<br />

bubos, plin de bube 22 . Folglich ist das Übersetzen<br />

des Nomens Geschwulstkrankheiten<br />

mit bube als eine adäquate Entscheidung zu<br />

betrachten.<br />

Die übersetzungskritische Betrachtung<br />

hat bewiesen, dass die Übersetzerin stets<br />

bemüht ist der Autorsprache gerecht zu werden.<br />

Die ausgewählte Stilschicht der Autorsprache<br />

im Rumänischen ist als äquivalent<br />

zum Original zu betrachten, der rumänische<br />

Text erfährt sogar eine stilistische Aufwertung<br />

durch die optimalen Entscheidungen.<br />

Vorliegender übersetzungskritischer Versuch<br />

wollte hervorheben, dass eine Grenzziehung<br />

zwischen Autorsprache und Personensprache<br />

ein wichtiger Ausgangspunkt im<br />

Rahmen der literarischen Überstzung ist,<br />

denn das Verwechseln der verschiedenen<br />

Stilschichten kann zu inadäquaten Entscheidungen<br />

in der Übersetzung führen.<br />

L i t e r a t u r :<br />

Primäriteratur:<br />

1. Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte<br />

eines Mörders. Zürich: Diogenes <strong>19</strong>85<br />

2. Süskind, Patrick: Parfumul. În româneşte de<br />

Grete Tartler. Bucureşti: Univers <strong>19</strong>93<br />

Sekundärliteratur:<br />

1. AnuŃei, Mihai: DicŃionar român-german.<br />

Bucureşti: Editura ŞtiinŃifică <strong>19</strong>98<br />

2. Bünting, K. (Hg.): Deutsches Wörterbuch.<br />

Schweiz: Iris <strong>19</strong>96<br />

3. DicŃionar german-român. Bucureşti: Editura<br />

Academiei <strong>19</strong>89<br />

4. Drosdowski, G.(Hg.): Duden - Universalwörterbuch<br />

A-Z. Mannheim/Leipzig/Zürich:<br />

Dudenverlag <strong>19</strong>89<br />

5. Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft.<br />

Band 1. München: dtv. Wissenschaftliche<br />

Reihe, <strong>19</strong>78<br />

6. Isbăşescu, Mihai: DicŃionar german-român.<br />

Bucureşti: Teora <strong>19</strong>99<br />

7. Krahl, S. und J. Kunz: Kleines Wöterbuch der<br />

Stilkunde. Leipzig: VEB Bibliographisches<br />

Institut <strong>19</strong>84<br />

8. Seche, Luiza / Seche, Mircea: DicŃionarul de<br />

sinonime al limbii române. Bucureşti: univers<br />

enciclopedic <strong>19</strong>97.<br />

22 Mihai Isbăşescu: a.a.O.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 149


„THEATER AN SICH HAT MICH SCHON IMMER FASZINIERT” – ZU<br />

THOMAS BERNHARDS DRAMATIK<br />

Auf der Deutung der Faszination im<br />

Krankhaften versteht sich vorliegende Arbeit<br />

als Versuch einer Annährerung an die<br />

Dramatik Thomas Bernhards, mit besonderer<br />

Berücksichtigung der Jagdgesellschaft (<strong>19</strong>73;<br />

<strong>19</strong>74 im Wiener Burgtheater uraufgeführt).<br />

Eine Analyse seines dramatischen Schaffens<br />

bis zu diesem Bühnenspiel, das Thomas<br />

Bernhard selbst für sein bestes hält, zeigt,<br />

daß die Jagdgesellschaft auf früheren – aber<br />

auch späteren (Die Macht der Gewohnheit) –<br />

thematischen und sprachlichen Schwerpunkten<br />

seines dramatischen Schaffens aufbaut.<br />

Bernhards Theaterinteresse vor allem seit<br />

<strong>19</strong>70 hat tiefe Wurzeln: „Und Theater an<br />

sich hat mich schon immer fasziniert, von<br />

Kind an“, meint der Autor. 1 Er hat als<br />

Theaterkritiker für die österreichische Wochenzeitschrift<br />

Die Furche gearbeitet, und<br />

als Student eine Arbeit über Brecht und<br />

Artaud geschrieben. Von den kommerziellen<br />

Erwä-gungen abgesehen, bemerkt Thomas<br />

Bernhard:<br />

„Das Theater bringt mir außer viel Geld einfach die<br />

Erhaltung meiner Freundschaften, oder Menschen,<br />

Beziehungen zu Menschen. Weil Sie im Theater<br />

zwangsweise, ob Sie wollen oder nicht, mit Leuten<br />

zusammenkommen.“ 2<br />

Es ist schwer, spürbare Einflüsse in Bernhards<br />

Theaterpraxis zu verfolgen, und er läßt<br />

sich kaum in eine Theatertradition einreihen.<br />

Die Bernhard-Kritik hat die Namen Georg<br />

Büchner, Heinrich von Kleist, Samuel Beckett<br />

und Eugen Ionesco erwähnt, Dramatiker,<br />

denen Bernhard verwandt sein soll.<br />

Die Vernachlässigung der Auseinandersetzung<br />

mit Bernhards Dramen ist der Auffassung<br />

zu verdanken, daß die Stücke genau-<br />

1 Kurt Hofmann, Aus Gesprächen mit Thomas<br />

Bernhard (München: Deutscher Taschenbuchverlag,<br />

<strong>19</strong>88), 89. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />

durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

2 Hofmann, 91.<br />

Roxana Nubert<br />

so seien wie seine Prosa, nur nicht so gut. Es<br />

heißt, Bernhard schreibe seine Dramen nur<br />

zur Entspannung, als „Moment der Erholung.“<br />

3 Man beklagt „Authentizitätsverlust“ 4 ,<br />

eine Veräußerung des einstmaligen utopischen<br />

Horizonts 5 und eine „Trivialisierung<br />

der einstmals großen Inhalte“ 6 .<br />

Christian Klug 7 zeigt, daß Thomas<br />

Bernhard mit den Theaterstücken einen veränderten<br />

Zugang zur Subjektivitätsproblematik<br />

wählt: Die frühen Fluchtmechanismen<br />

werden entzaubert und mit komplementären,<br />

aber ebenfalls defizitären Verhaltensweisen<br />

kontrastiert. Parallel zu diesem Wandel geht<br />

Bernhard von der Reflexionspoetik seiner<br />

frühen Prosa zu einer Art Reduktionspoetik<br />

über. Der Rezipient wird nicht mehr eingeladen,<br />

sich in der Überfülle der Analogien<br />

und Bedeutungsbeziehungen des sprachlichen<br />

Materials zu verlieren; vielmehr wird er<br />

im Sinne der „indirekten Mitteilung“ Kirkegaards<br />

irritationsdramatisch auf seine Wahrheit<br />

aufmerksam gemacht.<br />

Unwillkürlich bestehen deutliche Strukturparallelen<br />

zwischen Thomas Bernhards<br />

epischen und dramatischen Texten. Sie sind<br />

bedingt durch den theatralischen Inszenierungscharakter<br />

seiner Prosa, das szenische<br />

Arrangement aller Schauplätze in den Romanen,<br />

und vor allem durch die Tendenz der<br />

3 Thomas Sorg, Thomas Bernhard (München: Beck<br />

<strong>19</strong>77), 189. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />

durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

4 Erich Jooß, Aspekte der Beziehungslosigkeit. Drei<br />

Studien zum Monolog des Fürsten in Thomas<br />

Bernhards Roman Verstörung (Selb <strong>19</strong>75), 11.<br />

5 Herbert Gamper, Thomas Bernhard (München:<br />

Beck <strong>19</strong>77), 160. Weitere Hinweise auf dieses Werk<br />

werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

6 Sorg, 160.<br />

7 Christian Klug, Thomas Bernhards Theaterstücke<br />

(Stuttgart: Metzler <strong>19</strong>91). Weitere Hinweise auf<br />

dieses Werk werden durch die Angabe der jeweiligen<br />

Seiten angegeben.


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

Mittelpunktsfiguren zum Monolog. Dazu<br />

kommt noch, daß Theater und Schauspielkunst<br />

selbst wichtige thematische Bildkomplexe<br />

als Modelle des Weltbezugs und der<br />

Wirklichkeitserfahrung in der Prosa wie im<br />

Drama darstellen:<br />

„Und wenn man meine Arbeiten aufmacht, ist es<br />

so: Man soll sich vorstellen, man ist im Theater, man<br />

macht mit der ersten Seite einen Vorhang auf, der<br />

Titel erscheint, totale Finsternis – langsam kommen<br />

aus dem Hintergrund, aus der Finsternis heraus,<br />

Wörter, die langsam zu Vorgängen äußerer und<br />

innerer Natur, gerade wegen ihrer Künstlichkeit besonders<br />

deutlich zu einer solchen werden.“ 8<br />

Im Zentrum von Bernhards Dramen steht<br />

nicht das Geschehen, denn in seinen<br />

dramatischen Werken gibt es meistens nur<br />

eine spärliche Folge von Ereignissen. Viel<br />

wichtiger ist die Sprache selbst, und außerhalb<br />

ihrer Sprache hat Bernhard seinen Dramengestalten<br />

wenig Eigenleben einzuflößen<br />

vermocht. Wendelin Schmidt-Dengler spricht<br />

von Bernhards „Sprache der Ausschließlichkeit“:<br />

Kaum wird etwas angedeutet, setzt<br />

schon ein Prozeß der Verabsolutisierung ein,<br />

indem das Gemeinte mit einem Ausdruck der<br />

Totalität oder Ausschließlichkeit bedacht<br />

wird. 9 So befindet sich alles in Extremzuständen,<br />

und zwar dauernd und überall. Alles<br />

menschliche Handeln unterliegt dem zum<br />

Prinzip erhobenen Paradox, das der Maler<br />

Strauch im Roman Frost für sich so zu<br />

beschreiben versucht: „Gerade das muß man<br />

tun, wovor einem immer gegraut hat, gerade<br />

das muß man sein, was einen immer abgestoßen<br />

hat.“ 10 Ob das „muß“ nun dem<br />

Schicksal entspringt oder als eine Aufforderung<br />

aufzufassen ist, bleibt gleichgültig.<br />

Entscheidend ist das Absolute, das in „muß’<br />

zum Audruck kommt.<br />

8 Thomas Bernhard, Drei Tage in Der Italiener<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch <strong>19</strong>89),<br />

83. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden durch<br />

die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

9 Wendelin Schmidt-Dengler, Der Übertreibungskünstler.<br />

Studien zu Thomas Bernhard (Wien: Sonderzahl<br />

<strong>19</strong>86), 7-8. Weitere Hinweise auf dieses<br />

Werk werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten<br />

angegeben.<br />

10 Thomas Bernhard, Frost (Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp <strong>19</strong>63), 154. Weitere Hinweise auf dieses<br />

Werk werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten<br />

angegeben.<br />

Genauso wie seine Prosa bauen<br />

Bernhards Dramen ein Universum der<br />

Dekonstruktion auf. Der Stoff beruht überwiegend<br />

auf Katastrophen und Katastrophenphantasien,<br />

Zerstörungsphobien und Vernichtungswünschen,<br />

wobei eine existenzbedrohte<br />

Welt vorgeführt wird. Offensichtlich<br />

bekennt sich der Autor zur Negation, die seinem<br />

Werk die eigentümliche Kombination<br />

zwischen Faszination und Provokation verleiht.<br />

Er ist ein Vetreter des „reaktionären<br />

Denkens“, wie es Emil Cioran 11 beschrieben<br />

hat, ein treuer Nachfolger von Eugen Ionesco<br />

und Samuel Beckett.<br />

Die Besessenheit vom Tode und die<br />

Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz veranlassen<br />

Thomas Bernhard dazu, keine traditionelle<br />

begriffliche Unterscheidung zwischen<br />

Komödie und Tragödie zu machen.<br />

Der Schriftsteller selbst erläutert diese theoretische<br />

Position in der kleinen Ich-Erzählung<br />

Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie?,<br />

die im Jahre <strong>19</strong>67 in dem Band Prosa<br />

erschienen ist. Hier verdeutlicht der Autor,<br />

daß die alten Kategorien „Komödie“ und<br />

„Tragödie“ nicht mehr zu den heutigen<br />

Dramen passen, eben weil sie – jede für sich<br />

– die heutige tödliche und sinnlose Wirklichkeit<br />

nicht erfassen: Diese Wirklichkeit ist<br />

tragisch und komisch zugleich und doch<br />

keines ganz. In diesem Text kommt es für<br />

den Erzähler, einen jungen Medizinstudenten,<br />

nicht mehr zu dem geplanten Theaterbesuch,<br />

weil ein älterer, das Theater liebender<br />

Mann in Frauenkleidung ihn anspricht<br />

und ihn mit einem Monolog aufhält. Es stellt<br />

sich heraus, daß dieser merkwürdige Herr<br />

vor vielen Jahren seine Frau umgebracht hat,<br />

dafür im Zuchthaus gesessen hat und daher<br />

ihre Kleidung trägt. Im Verlauf seiner Unterredung<br />

versichert der Fremde, es würde in<br />

dem Theater eine Komödie gespielt. Er<br />

schließt dies aus dem Verhalten und der<br />

Verfassung des jungen Mannes, der zwar von<br />

Haß gegen die Welt als Theater erfüllt ist, ihr<br />

aber verhaftet bleibt. Der Kontrast zwischen<br />

Theater und Wirklichkeit ist offensichtlich,<br />

aber nur scheinbar: Während der Ich-<br />

11 Emil Mircea Cioran, Über das reaktionäre Denken<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>80), 43.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 151


Erzähler das Theater eigentlich haßt, liebt es<br />

der Frauenmörder, dessen eigenes theatralisches<br />

Auftreten eine Szene aus einer Komödie<br />

sein könnte, dessen Mord aber an seiner<br />

Frau eher in die Richtung einer Tragödie<br />

weist. Am Schluß bleibt unentschieden, ob<br />

das Leben des Mörders tragisch oder komisch<br />

zu nennen wäre und ob im Theater<br />

eine Tragödie oder eine Komödie gespielt<br />

wird; der Unterschied zwischen den beiden<br />

wird annuliert.<br />

Thomas Bernhards erste Dramen sind auf<br />

die Jahre <strong>19</strong>56 bis <strong>19</strong>69 zurückzufühen (Der<br />

Berg, <strong>19</strong>56; Die Totenweiber; die Libretti<br />

Rosen der Einöde, <strong>19</strong>59; Köpfe, <strong>19</strong>60 und<br />

mehrere Einakter (Frühling; Rosa oder die<br />

Erfundene, <strong>19</strong>60, die Keime künftiger Dramatik<br />

enthalten). Im Mittelpunkt dieser dramatischen<br />

Texte, die mit Samuel Becketts<br />

„Marionettismus“ verwandt sind, steht der<br />

Tod.<br />

Auch das mit Figurentypik verbundene<br />

allegorische Zustandsdrama Ein Fest für<br />

Boris (<strong>19</strong>67; <strong>19</strong>70 in Hamburg uraufgeführt)<br />

setzt dieses Leitmotiv fort: Die Gute, eine<br />

Greisin, die infolge eines Unfalls beide<br />

Beine verloren hat, füllt ihr sinnloses Leben<br />

als Krüppel durch ein grausames Hobby aus;<br />

unter dem Deckmantel duldsamer Güte<br />

tyrannisiert und quält sie zynisch die Pflegerin<br />

Johanna und ihren ebenfalls beinlosen<br />

Gatten Boris. Auf diese Weise möchte sie<br />

ihre Illusion unerfüllter Machtgier durchsetzen.<br />

Die Herrin beherrscht ihre Bediente<br />

Johanna durch unablässige Gegenwärtigkeit<br />

ihrer Sprache, eine Hilflosigkeit, die nicht<br />

Hilfe, sondern Haß hervorruft. Gleichzeitig<br />

spricht sie, in totaler Einsamkeit lebend, in<br />

die Kälte des „leeren Raumes“ hinein, gegen<br />

eine fast stets schweigende Johanna, unfähig<br />

zum Dialog, von einem Gegenstand zum andern<br />

assoziativ springend, sich selbst vorwärtstreibend.<br />

Aber ohne ein Ziel, ohne Hoffnung<br />

mehr auf das Auftauchen eines solchen<br />

Ziels. Deshalb setzt sie immer wieder von<br />

neuem an, scharfsichtig und gleichzeitig<br />

monomanisch beschränkt: Anordnungen für<br />

einen bevorstehenden Ball mit der „feinen<br />

Gesellschaft“ der Stadt und für das Fest der<br />

Asylbewohner wechseln miteinander ab.<br />

152<br />

Roxana Nubert<br />

In dieses Geschehen schieben sich immer<br />

wieder Selbstbeobachtungen, Anklagen, Ausbrüche<br />

von Angst und Haß, die gespenstisch<br />

echohaft klingen, so als würden sie jeden<br />

Tag mit erneuter und doch versiegender<br />

Kraft ausgestoßen. Die Krüppelexistenz führt<br />

die Erfahrungen auf einen engen Kreis<br />

zurück, den die Sprache nachvollzieht, aber<br />

sie weitet den Blick für die Krüppelexistenz<br />

aller, auch der scheinbar Gesunden. Intensiver<br />

als sie durchlebt die Gute ihre Existenz,<br />

intensiver ihre Angst, intensiver ihre Erkenntnis.<br />

Und manchmal, zwischen Demonstrationen<br />

ihrer Herrschaft und der Verzweiflung,<br />

die sie geschwätzig und sprachlos<br />

macht, gibt es Andeutungen eines Einverständnisses<br />

mit ihrem Schicksal, das<br />

verstanden wird als Einübung auf die tödliche<br />

Erstarrung:<br />

„Es ist gut / daß ich Schluß gemacht habe / Schluß<br />

gemacht / (ganz leise) Schluß gemacht.“ 12<br />

Seine makabre Geburtstagsfeier, ein Fest<br />

der Demütigungen, zu dem Boris dreizehn<br />

beinlose Leidesgefährten aus dem nahen<br />

Asyl eingeladen hat, überlebt der Gefeierte<br />

jedoch nicht mehr. Das Fest der Krüppel ist<br />

ein in sich kunstvoll steigernder, absurde und<br />

tragisch-ernste Momente mischender Worttanz<br />

bis hin zum Tode Boris, der von allen<br />

am wenigsten gesprochen, gegen Ende die<br />

fieberhaften, hektischen Sätze der anderen<br />

mit Trommelschlägen begleitet hat bis zum<br />

Zusammenbruch. Die dreizehn Beinlosen sitzen<br />

um den Tisch, essend, trinkend, redend,<br />

singend. Das Tempo der Sätze nimmt immer<br />

mehr zu, ihre Sinnlosigkeit und trostlose Komik.<br />

Die Gute steckt „im Kostüm einer Königin“<br />

(38), die ihren Rollstuhl schiebende<br />

Johanna hat die Maske aufgenommen, die<br />

Gute zwingt sie, sie wieder aufzusetzen: Es<br />

ist ein Schweinskopf. Erschöpft und rauschhaft<br />

zählt die Gute die Teilnehmer des Festes<br />

auf, ihre eigene Rolle als beinlose Königin,<br />

das lächerliche Spiel der Eitelkeiten und der<br />

leeren Geselligkeit: „Die Leute versuchen es<br />

immer wieder / Kostümbälle / Feste Bälle /<br />

12 Thomas Bernhad, Ein Fest für Boris (Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp <strong>19</strong>70), 34. Weitere Hinweise auf<br />

dieses Werk werden durch die Angabe der jeweiligen<br />

Seiten angegeben.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

sind das Traurigste“ (45). Die Herrschaft, die<br />

sie in der Kostümierung als Spiel ausgeübt<br />

hat, erzwingt sie in der Realität: Sie schafft<br />

sich Geschöpfe, die ihrer Macht unterworfen<br />

sein müssen, weil deren Existenz ebenso ausweglos<br />

ist wie ihre. Sie hat Boris aus dem<br />

Asyl geholt, aber die Art und Weise, wie sie<br />

davon spricht, zeigt, daß es ihr von Beginn<br />

an darum geht, einen Willenlosen an sich zu<br />

ziehen.<br />

Die Atmosphäre von Gewalt und Unterdrückung,<br />

die von Anfang um die Gute war,<br />

entlädt sich in wüsten Beschimpfungen auf<br />

das Asyl, die Ärzte, Pfleger, die Asylordnung.<br />

Natürlich handelt es sich um keine<br />

konkrete Sozialkritik. Menschliche Todesbestimmtheit,<br />

mitmenschlicher Zerstörungstrieb<br />

und monomanische Selbstvernichtungssucht<br />

dominieren die langen Monologe der<br />

Guten. „Alles ist jeden Tag tagtäglich / eine<br />

Wiederholung von Wiederholungen.“ (10).<br />

Ein despotischer Herrschaftsmechanismus<br />

charakterisiert ihre verkümmerten Beziehungen<br />

zur Mitwelt durch mißtrauische Angst<br />

und bedrohenden Haß, die sie schließlich<br />

dazu bestimmen, sogar die gesunde Johanna<br />

in einen Rollstuhl zu zwingen, weil sie sich<br />

wegen ihrer körperlichen Verkrüppelung von<br />

ihrem „Machtobjekt“ dennoch abhängig<br />

weiß. Der von der Guten gekaufte Boris<br />

dagegen dient dieser als Betätigungsobjekt<br />

für den unaufhaltsamen Verfall des Menschen.<br />

Helmut Motekat meint, daß eine solche<br />

chaotische Welt „als Modell der heutigen<br />

Menschheit, ihres Zustands und Verhaltens<br />

sowie der in ihr herrschenden Verhältnisse“<br />

aufgefaßt und als eine „absurde<br />

Existenz des unaufhaltsamen Verfalls zum<br />

Tode“ 13 bejaht werden könnte.<br />

Widerspruchvoll ist das „fürchterliche<br />

Gelächter“ (107), in das die Gute kurz nach<br />

Boris’ Tod ausbricht. Dieses Gelächter signalisiert<br />

den Versuch der Guten, ihrer plötzlichen<br />

Verzweiflung und ihrem Schrecken zu<br />

entkommen, eigentlich den Tod mit ihrem<br />

Lachen zu konfrontieren. Bernhards Verflechtung<br />

von Tod und Gelächter mag, aber<br />

13 Helmut Motekat, Sinnlosigkeit als Thema: Das<br />

zeitgenössische Drama des Absurden (Stuttgart:<br />

Metzler <strong>19</strong>77), 131-132.<br />

soll nicht überraschen, denn diese Situation –<br />

die Angst des Menschen vor dem Tode und<br />

seine lächerlichen Versuche, dieser Angst<br />

durch Tabuisierung oder Denkverweigerungen<br />

Herr zu werden – wird in seinen Werken<br />

immer wieder thematisiert. In seiner Rede<br />

zur Verleihung des Büchner-Preises im Jahre<br />

<strong>19</strong>70 betont Thomas Bernhard das schöpferische<br />

Potential dieser menschlichen Grunderfahrung:<br />

„Wir sind (und das ist Geschichte und das ist der<br />

Geisteszustand der Geschichte): die Angst, die Körper-<br />

und die Geistesangst und die Todesangst als das<br />

Schöpferische.“ 14 Er unterstreicht auch die<br />

Doppeldeutigkeit dieser Situation, die seinen Stücken<br />

zugrunde liegt: „ […] es ist ein Theater der Körper-<br />

und in zweiter Linie der Geistesangst und also der<br />

Todesangst […] wir wissen nicht, handelt es sich um<br />

die Tragödie um der Komödie, oder um die Komödie<br />

um der Tragödie willen […] aber es handelt von<br />

Fürchterlichkeit, von Erbärmlichkeit, von Unzurechnungsfähigkeit<br />

[…]." 15<br />

Es ist eine Situation, die das übliche Begriffsverständnis<br />

des Komischen und Tragischen<br />

sprengt.<br />

Die im erzählerischen Werk Thomas<br />

Bernhards immer wiederkehrende barocke<br />

Metapher von der Welt als Bühne, auf der<br />

die Menschen ihre „Todesrolle“ spielen,<br />

wird im Theaterstück Der Ignorant und der<br />

Wahnsinnige (<strong>19</strong>72 bei den Salzburger Festspielen<br />

uraufgeführt) vom Autor inhaltlich,<br />

formal und stilistisch konsequent in das<br />

Medium des Schauspiels transponiert. Auf<br />

den ersten Blick hat dieses Drama wenig<br />

gemeinsam mit Ein Fest für Boris. Nicht von<br />

einer deprimierenden Krüppelwelt ist hier<br />

die Rede, sondern von den Sphären künstlerischer<br />

Perfektion und wissenschaftlicher<br />

Errungenschaften. Die Absage an die Möglichkeit<br />

einer sinnhaften Existenz, ein zentrales<br />

Thema der Gegenwartsliteratur, entwickelt<br />

der Autor auf originelle Weise,<br />

indem er dem Individuum eine energische<br />

Manifestation seines Existenzwillens im „naturgemäß“<br />

scheiternden Versuch, eine Gegen-Welt<br />

zu schaffen, zugesteht. Die Radika-<br />

14 Thomas Bernhard, Büchnerpreisrede in: Bücher-<br />

Preis-Reden: <strong>19</strong>51-<strong>19</strong>71, Stuttgart: Metzler <strong>19</strong>72,<br />

215-216. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />

durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

15 Bernhard, Büchnerpreisrede, 215.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 153


lität dieser pessimistisch-nihilistischen Weltauffassung,<br />

die letztlich auf den Stillstand<br />

der Geschichte zielt, hat für das Drama eine<br />

extreme Reduktion der szenischen Dynamik<br />

zur Folge: Die Figuren sprechen vorzugsweise<br />

in Monologen, in denen sie ihre<br />

Obsession ausbreiten, und die den Stücken<br />

Bernhards den Charakter einer monotonen<br />

Sprechpartitur verleihen. Auch auf diese<br />

Weise haben seine Stücke einen provokatorischen<br />

Effekt. Sie sind Gegenstücke zum<br />

Dialog.<br />

Ein faszinierendes Erlebnis hinter den<br />

Kulissen der Oper, unmittelbar vor Beginn<br />

der Vorstellung von Mozarts Zauberflöte,<br />

das Mit- und Gegeneinanderwirken einer<br />

Koloraturprimadonna, ihres blinden Vaters,<br />

der Garderobiere und des diensthabenden<br />

Arztes als Symbol der Sinnlosigkeit des<br />

Lebens, stellt die Anregung zu diesem Fünfpersonendrama<br />

dar. Den ersten Teil des Geschehens<br />

füllen die ausführlichen Stellungnahmen<br />

des Arztes, während er mit dem<br />

Vater der Sängerin auf diese wartet. Der seit<br />

dem Beginn der künstlerischen Laufbahn<br />

seiner Tochter dem Alkoholismus verfallene<br />

Vater wird zum Opfer des Arztes, einer<br />

weltweit anerkannten Kapazität im Bereich<br />

der Anatomie. Der Arzt (der „Wahnsinnige“<br />

im Titel) vertreibt nämlich den immer nervöser<br />

werdenden Trunkenbold (er ist der<br />

„Ignorant“ im Titel) die Zeit, indem er ihm<br />

detailliert die Sektion einer menschlichen<br />

Leiche erklärt. In seine Ausführungen flicht<br />

er Bemerkungen über Karriere und Kunst der<br />

„Königin der Nacht“ ein. Angestrebt wird die<br />

gleiche Präzision beim Sezieren der Kunst<br />

wie beim Sezieren der Toten. Offensichtlich<br />

begeht das Theater bzw. die Oper nur mehr<br />

noch pompöse Leichenfeiern, in deren Mittelpunkt<br />

eine der Kunst- und Koloraturmaschinen<br />

steht, die in der zweiten Hälfte des<br />

ersten Aktes auftritt, die gerühmte Sängerin,<br />

die Tochter des Säufers, die Königin der<br />

Nacht:<br />

„Die Stimme Ihrer Tochter / die perfekteste einerseits<br />

/ makellos andererseits.“ 16<br />

16 Thomas Bernhard, Der Ignorant und der Wahnsinnige<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>72), 27.<br />

154<br />

Roxana Nubert<br />

Die Ouverture ist bereits intoniert, da<br />

betritt sie, eigentlich eine gefühllose Marionette,<br />

die Garderobe, wird kostümiert und<br />

weiß geschminkt, was die Künstlichkeit<br />

unterstreicht, und enteilt auf die Bühne. Die<br />

Gerühmte repräsentiert für den Arzt die Verkörperung<br />

seiner Überzeugung, daß Kunst,<br />

um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu<br />

werden, radikal künstlich werden muß und<br />

damit den einzig möglichen Ausweg von der<br />

Bedrohung durch das Zerstörerische der<br />

Natur bietet. Ein solcher Zustand äußerster<br />

Entfremdung von den Wonnen der Gewöhnlichkeit<br />

vernichtet notwendigerweise das<br />

künstlerische, künstliche Geschöpf: Dem<br />

Kunstgeschöpf gebricht es an der Möglichkeit<br />

und Fähigkeit zur Reflexion seines Zustandes<br />

und dem der Kunst; dies leistet der<br />

Arzt als Wissenschaftler, Naturwissenschaftler,<br />

der der Kunst in unentrinnbarer Haßliebe<br />

verbunden scheint, ihren Leichnam unter<br />

ständigem Reden auseinandernimmt. Trotz<br />

aller Übereinstimmungen bleiben für ihn<br />

Kunst und Natur getrennt, Natur als minderwertige<br />

Seinsweise, Kunst bei aller Verachtung<br />

gerade wegen ihrer extremen Künstlichkeit<br />

und Unnatürlichkeit der Zufluchtsort vor<br />

der Barbarei. In der Gewißheit der völligen<br />

Erschöpfung am Ende pendelt der Künstler<br />

stets zwischen Ignoranz und Wahnsinn.<br />

Nach der Aufführung nehmen die Figuren<br />

in den Drei Husaren ein Diner ein. Während<br />

des Abendessens ändert die Künstlerin<br />

ihr Verhalten. In einer plötzlichen Aufwallung<br />

des Gemüts beschließt sie, ihre nächsten<br />

Termine in Stockholm und Kopenhagen abzusagen<br />

und in die Berge zu fahren. Wir<br />

erfahren aber nicht, ob die Sängerin die Kraft<br />

zum Abbrechen besitzt, oder durch ihre<br />

Krankheit dazu gezwungen wurde, denn sie<br />

hustet des öfteren, wobei ihr Husten ein<br />

Symptom ihrer tödlichen Erkrankung darstellt.<br />

Der Doktor setzt indessen seine ausführlichen<br />

Erläuterungn zur Leichenöffnung<br />

und seine Reflexionen zum Verhältnis von<br />

Kunst und Natur fort. Nachdem der Arzt<br />

Leben und Kunst seziert hat, senkt sich totale<br />

Finsternis auf die Szene – wie später im<br />

Weitere Hinweise auf dieses Werk werden durch die<br />

Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

Bühnenspiel Die Jagdgesellschaft: Ist endlich<br />

der Leichnam völlig auseinandergenommen,<br />

ist auch mit dem Leben und der<br />

Kunst abgerechnet: Das Schlußwort hat das<br />

Kunstgeschöpf: „Erschöpfung / nichts als Erschöpfung“<br />

(121). Die vollkommene Finsternis<br />

des Schlusses, die über die drei hereinbricht<br />

wie ein Verhängnis, ist mehr als jene<br />

Finsternis, in der sich die Texte Bernhards<br />

nach seiner eigenen Selbstinterpretation abspielen,<br />

aus der sich Figuren und Sätze herauslösen,<br />

nur um wieder in ihr zu versinken.<br />

Es erinnert stärker an die geistige Verfinsterung<br />

der Protagonisten, die die Überhelle<br />

ihres Gehirns, die qualvoll gesteigerte Erkenntnis-<br />

und Leidensfähigkeit, an einem<br />

Punkt nicht mehr ertragen und „in die zweite,<br />

in die endgültige Finsternis vor einem“ 17<br />

hineingehen. Diese Finsternis, im Stück<br />

durch den stets betrunkenen Vater verkörpert,<br />

wird vom Arzt als Ziel dargestellt.<br />

Das Motiv der totalen Finsternis steht für<br />

die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz.<br />

Insofern kann der Skandal anläßlich der<br />

Uraufführung des Bühnenspiels – die Theaterleitung<br />

hat sich geweigert, die Notbeleuchtung<br />

im Zuschauerraum abzuschalten,<br />

das Stück wurde vom Spielplan der Salzburger<br />

Festspiele <strong>19</strong>72 abgesetzt – als<br />

exemplarisch für das weitverbreitete Unverständnis<br />

gegenüber Bernhards Texten gelten.<br />

Daß so ein Stück weniger Theater als<br />

vielmehr Philosophie und Literatur darstellt,<br />

ist offensichtlich: Dieses philosophierende<br />

Drama, das die vollkommen intellektuelle<br />

und künstlerische Existenz beschreibt, bietet<br />

aber dem Intellektuellen wenig Trost. Ignoranz<br />

ist für diesen Menschen keine Alternative,<br />

ebensowenig wie Wahnsinn. Er kann<br />

sich aber auch nicht mit einfachem Zeitvertreiben<br />

trösten, und letzten Endes versagen<br />

sogar alle geistigen Versuche. Eine solche<br />

Lebensphilosophie, oder genauer gesagt,<br />

eine solche Philosophie des Künstlertums ist<br />

düster, aber bei Thomas Bernhard nicht neu.<br />

Die Königin der Nacht personifiziert hier das<br />

Schicksal des Künstlers und die Philosophie<br />

des Arztes. Sie ist durch ihre künstlerische<br />

17 Bernhard, Drei Tage, 161.<br />

Rücksichtslosigkeit zu einer „Koloraturmaschine“<br />

geworden. Sie wird ganz von ihrer<br />

Kunst, von ihren Koloraturen beherrscht<br />

(nicht umgekehrt), und ihre Zauberflötekoloraturen<br />

gehen ihr die ganze Nacht nicht aus<br />

dem Kopf. Deswegen haßt sie ihre Kunst; sie<br />

lebt am Rande des Zusammenbruchs, und<br />

trotzdem fühlt sie sich der Gefahr ausgesetzt,<br />

daß ihre Kunst zur Gewohnheit wird und ihre<br />

Spontaneität verlieren wird, weshalb sie<br />

genötigt ist, immer größere Perfektion anzustreben.<br />

Die Existenz der Königin der Nacht<br />

ist also ein tödlicher Prozeß allmählicher<br />

Auflösung, der einer Leichensektion nicht<br />

unähnlich ist.<br />

Als eine tragische Komödie kann auch<br />

Die Macht der Gewohnheit (<strong>19</strong>73; <strong>19</strong>74 bei<br />

den Salzburger Festspielen uraufgeführt) betrachtet<br />

werden. Den szenischen Hintergrund<br />

des Stückes bilden ein kleiner Zirkus und der<br />

Wohnwagen des Direktors Caribaldi. Täglich<br />

proben der Jongleur und der Spaßmacher,<br />

die Enkelin des Direktors und sein Neffe, der<br />

Dompteur, unter Anleitung Caribaldis Franz<br />

Schubert Forellenquintett – oder besser genauer:<br />

Caribaldi versucht verzweifelt, diese<br />

Musik, die stellvertretend für große Kunst<br />

steht, mit den gelangweilten und gequälten<br />

Mitgliedern seiner Truppe zu üben, die<br />

darauf mit Gleichgültigkeit, Aggressivität,<br />

kleinen Erpressungen (Hinweise auf mögliche<br />

auswärtige Engagements) reagieren. Das<br />

Stück kann nicht gespielt werden und wird<br />

nicht gespielt werden, Caribaldi weiß das<br />

natürlich, hält aber unerschütterlich an dem<br />

Ritual der Probenvorbereitungen und Proben<br />

fest, die zunehmend grotesker, lächerlicher<br />

und tragischer werden. Weniger Caribaldi als<br />

die Macht der Gewohnheit zwingt alle wieder<br />

zusammen. Caribaldis Mitspieler kümmert<br />

freilich weder das eine noch das andere<br />

so recht – am ehesten vielleicht den Jongleur,<br />

in der ersten Szene der Gesprächspartner des<br />

Direktors. Dessen Macht ist eigentlich Macht<br />

über vier gescheiterte Existenzen, die ihm<br />

ausgeliefert sind, die er auf verschiedene Art,<br />

und am schlimmsten mit seiner Idee der<br />

großen Kunst, peinigt und die ihrerseits ihn<br />

peinigen durch ihre Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit<br />

und Brutalität. Die Verhältnisse<br />

von Herrn und Knecht erscheinen offenge-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 155


legt und in ihrer Dialektik entwickelt. Der<br />

Jongleur sagt:<br />

„Sie beherrschen Ihren Neffen / wie Ihre Enkelin /<br />

Der Spaßmacher macht seine Späße nur / weil Sie ihn<br />

dazu zwingen / Alle diese Leute sind Ihnen ausgeliefert.“<br />

18<br />

Dasselbe gilt aber auch für den Direktor,<br />

wie später ebenfalls vom Jongleur angedeutet<br />

wird:<br />

„Aber natürlich leiden Sie auch / und zwar in dieser<br />

Ihnen eigenen / größenwahsinnigen Vorgansweise /<br />

an Ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit“ (33).<br />

Wenn die Enkelin passives Objekt seiner<br />

Ermahnungen und Übungen ist, so fühlt sich<br />

Caribaldi von der stumpfsinnigen Rohheit<br />

des Dompteurs, seines Neffen, angewidert,<br />

der den Onkel beschuldigt, die Enkelin zu<br />

„halten / wie ein Tier“ (69). Die Demütigungen<br />

des Direktors gibt er an den Spaßmacher,<br />

als das schwächste Mitglied des<br />

Quintetts, weiter. Dieser muß die Verachtung<br />

aller herunterschlucken und seine Späße in<br />

der Manege machen.<br />

Leitmotivisch werden von Anfang an bis<br />

Ende die Erbärmlichkeit der Realität und das<br />

sehnsüchtig erweckte Bild vollkommener<br />

Kunst kontrastiert. Wenn zum Beispiel für<br />

Caribaldis Mitspieler die Beschäftigung mit<br />

der Kunst nur Zwang und sinnlose Quälerei<br />

ist, so kommt bei ihm als entscheidendes<br />

Moment der Traum von der Vollkommenheit<br />

hinzu, die ihn andauernd verfolgt:<br />

„Wenn es nur einmal / nur ein einziges Mal gelänge<br />

/ das Forellenquintett / zu Ende zu bringen / ein einziges<br />

Mal eine perfekte Musik“ (21).<br />

Auf diese Weise bleibt die tägliche<br />

Kunstübung zweideutig: einerseits ihres Sinnes<br />

völlig entkleidet, fungiert sie nur noch<br />

als Möglichkeit zu masochistischem Lustgewinn,<br />

andererseits hält Caribaldi im Bewußtsein<br />

des Vergänglichen an ihr fest, so<br />

wie alle, Spieler und Zuschauer, an der Qual<br />

und dem Vergeblichen ihres Lebens festhalten.<br />

Dieses Bühnenspiel beruht, wie die meisten<br />

Stücke von Thomas Bernhard, auf einem<br />

18 Thomas Bernhard, Die Macht der Gewohnheit<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>74), 32. Weitere<br />

Hinweise auf dieses Werk werden durch die Angabe<br />

der jeweiligen Seiten angegeben.<br />

156<br />

Roxana Nubert<br />

Paradoxon. Dem Inhalt - dem künstlerischen<br />

Scheitern und lebenslänglichen Dilletantismus<br />

- entspricht eine sprachlich meisterhafte<br />

Form: Bildlichkeit, gedankliche Präzision,<br />

das Ineinandergreifen von Pantomime und<br />

Sprache, die beziehungsvollen Figurenkonstellationen<br />

prägen die Macht der Gewohnheit.<br />

Bernhards Bühnenwerk Die Jagdgesellschaft<br />

„ist in drei Sätzen“ geschrieben, der<br />

letzte Satz ist der „langsame Satz“ <strong>19</strong> . Eine<br />

Analogie zur Musik also, zur Sonate oder<br />

Sinfonie, bei der jedoch, anders als bei den<br />

klassischen Werken, das Adagio am Ende<br />

steht, „Nach der Jagd“. Durch den Selbstmord<br />

der Hauptfigur wandelt es sich, gleichsam<br />

rückwirkend, in einen Todesmarsch.<br />

In Die Jagdgesellschaft entfaltet Thomas<br />

Bernhard das Motiv der „Todeskrankheit“<br />

als Allegorie eines Identitätszerfalls <strong>20</strong> . In der<br />

Rolle, die der Autor der Literatur und dem<br />

Schriftsteller in diesem Zerfallsprozeß zuweist,<br />

reflektiert er zugleich seine eigene<br />

Ästhetik.<br />

Die Jagdgesellschaft beginnt mit der<br />

Wiedervergegenwärtigung einer Irritation<br />

des Schriftstellers. Von einem Aphorismus<br />

über die Ruhe ist ihm nur der erste Teil eingefallen,<br />

nicht aber dessen Fortsetzung. Er<br />

schildert die Generalin, die durch diesen<br />

Vorfall unruhig geworden ist. Generell vermittelt<br />

der erste Satz des Stücks eine<br />

ambivalente Stimmung: Sie ist bestimmt vom<br />

Wechsel zwischen Ablenkung und Evidenz,<br />

zwischen unwillkürlichen Erinnerungen und<br />

Versuchen, sich dieser zu entledigen. Zu<br />

einem bedeutenden, aber nicht genau bestimmbaren<br />

Anteil wiederholt die aktuelle<br />

Bühnenhandlung frühere Begegnungen im<br />

Jagdhaus. In mehrfacher Hinsicht gleicht das<br />

gegenwärtige Geschehen dem, was Schriftsteller<br />

und General über vergangene Treffen<br />

berichten. Das dramatische Geschehen wird<br />

hier ähnlich aufgebaut wie im Drehbuch Der<br />

Italiener. Das Erzählen springt aus dem<br />

Präteritum ins iterative Präsens und wieder<br />

<strong>19</strong> Thomas Bermhard, Die Jagdgesellschaft (Frankfurt<br />

am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>74), 112. Weitere Hinweise<br />

auf dieses Werk werden durch die Angabe der<br />

jeweiligen Seiten angegeben.<br />

<strong>20</strong> Klug, 260-297.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

zurück. Das Konversationsspiel von Frage<br />

und Antwort ist häufig nur äußerlicher Natur,<br />

denn der Fragende weiß die Antwort selber.<br />

Die gemeinsamen verbrachten Tage während<br />

der Jagden vergangener Jahre müssen sich<br />

ganz ähnlich abgespielt haben. Die Einladung<br />

des Schriftstellers und die umständlichen<br />

Vorbereitungen auf seinen Besuch<br />

sind zur Zeremonie, zum Ritual geworden.<br />

Der Dialog ergänzt die Details. Trotz der<br />

Monotonie der Szenenwiederholung ist der<br />

Ton in der ersten Szene der Jagdgesellschaft<br />

behutsam. Der Schriftsteller widersteht der<br />

Versuchung, sich durch Kartenspiel abzulenken,<br />

und die Sprache beider Figuren<br />

drückt ihre Bereitschaft aus, den Resonanzen<br />

von Worten und Erinnerungen nachzuhorchen.<br />

Die Konversation zwischen Schriftsteller<br />

und Generalin dient also weniger der<br />

Mitteilung von Neuigkeiten, als der Einstimmung<br />

aufeinander, indem man auf Bekanntes<br />

und gemeinsame Erinnerungen nur<br />

kurz verweist. In dieser Stimmung wird die<br />

Vorgeschichte des Stücks bruchstückartig<br />

wiederholt. Die Vorgeschichte umfaßt auch<br />

eine Charakterisierung des Schriftstellers<br />

sowie die Rekonstruktion der Todeskrankheit,<br />

an der der General leidet. Durch diese<br />

Form der Exposition bauen die Figuren mit<br />

Andeutungen und Hinweisen Vergangenes<br />

auf. Man verweist nur auf den symbolischen<br />

Wert von Gegenständen, ohne daß das Erinnerte<br />

selbst näherer Erläuterung bedürfte:<br />

„meine polnische Weste/Der sofortige Gedanke an<br />

Polen natürlich“ (9); „Fortwährend habe ich gedacht/ich<br />

habe ja meine polnische Weste an“ (11).<br />

Die Exposition setzt vor allem Stimmungszeichen,<br />

d.h. es geht um „musikalische“<br />

Stimmigkeit der Ausdrucksmittel. Daß<br />

es normalerweise nicht „klar“ (11) ist, wenn<br />

es „ununterbrochen schneit“ (10), spielt<br />

keine Rolle für das musikalische Zusammenwirken<br />

dieser Stimmungszeichen verwendeten<br />

Angaben zum Wetter. Wetter und Kälte<br />

sind in Bernhards Zeichensystem stereotyp<br />

assoziierte Befindlichkeiten, die keiner<br />

metereologischen Bestätigung bedürfen. 21<br />

21 Klug, 263.<br />

Tod und Verfall dominieren. Der General<br />

leidet an einer tödlichen Krankheit, einer Erkrankung<br />

der Nieren, und am Grauen Star.<br />

Die Minister betreiben den Sturz des Generals,<br />

der ein offenbar bedeutendes politisches<br />

Amt innehat. Der Wald, der in mehrfacher<br />

Hinsicht die Vergegenständlichung seiner<br />

Lebensgeschichte darstellt, ist vom Borkenkäfer<br />

befallen und muß gefällt werden. Dem<br />

körperlichen Verfall und der Bedrohung<br />

seiner gesellschaftlichen Stellung entspricht<br />

seine „Todeskrankheit“, eine Erkrankung des<br />

Geistes, des Gemüts. Seit der Schlacht bei<br />

Stalingrad, wo er seinen linken Arm verloren<br />

hat, verfolgen ihn Bilder des Todes. Die<br />

Gespräche zwischen Schriftsteller und Generalin<br />

sowie die Äußerungen des Generals<br />

über sich selbst deuten bruchstückhaft den<br />

Konflikt an, der sich in der ambivalenten<br />

Figur des Generals zuträgt: Die immer unausweichlicher<br />

ihn bedrängenden Erinnerungen<br />

und Erfahrungen des Todes bedrohen<br />

seine zwanghaft verteidigte Rollenidentität,<br />

die er weder preisgeben kann noch will . Der<br />

Schriftsteller spricht sehr oft vom Sterben.<br />

Mit seiner scharfen Intelligenz erinnert er an<br />

den Doktor in Der Ignorant und der Wahnsinnige,<br />

und er benutzt sein Wissen über den<br />

General dazu, um ihn zu vernichten. Am<br />

Ende des Stückes, während der Schriftsteller<br />

noch mit der Jagdgesellscahft (Generalin,<br />

Minister, Prinzen und Prinzessin) Konversation<br />

führt, geht der General wortlos aus<br />

dem Zimmer und erschießt sich. Draußen, im<br />

Morgengrauen, beginnen die Holzfäller ihre<br />

Arbeit. Der Schriftsteller, in der Auffassung<br />

der Generalin der „rücksichtsloseste Mensch<br />

/ den ich kenne“ (64), behält das letzte Wort,<br />

so wie er das erste Wort hatte und den größten<br />

Teil des Textes. Die Distanz, die seine<br />

Rolle und seine Intelligenz ihm ermöglichen,<br />

erlaubt ihm nicht nur die schneidende Beschreibung<br />

des hinfälligen privaten und<br />

kollektiven Zustands, der ohne jede Hoffnung<br />

auf Verbesserung ertragen werden muß,<br />

sondern verschafft ihm auch die Fähigkeit,<br />

sich das Schicksal des Generals und seines<br />

Besitztums als Komödie vorzustellen, nicht<br />

ohne Hinweis auf den Unterschied zwischen<br />

der Realität und der beschriebenen, als<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 157


Komödie veränderten Realität (104 – 105).<br />

Das ahnt der General:<br />

„Der Vorhang geht auf / Da sitzen wir / und sind<br />

eine Komödie“ ( 96).<br />

Im Grunde genommen gibt es hier nichts<br />

zu lachen, oder allerdings ein Lachen, wie<br />

das der Guten im Ein Fest für Boris. Die Gesellschaft<br />

bereitet sich auf den Tod vor, aber<br />

nur der Schriftsteller ist in der Lage, die<br />

Kostüme als Leichenkleider und die Geschäftigkeit<br />

als Bestattungsinstitut zu durchschauen.<br />

Wie des öfteren in der Kritik hingewiesen<br />

wurde 22 , dürfte die Grundidee zu<br />

Die Jagdgesellschaft durch einen Gedanken<br />

des Philosophen Blaise Pascals beeinflußt<br />

worden sein, den Thomas Bernhard neben<br />

Michel de Montaigne und Arthur Schopenhauer<br />

als einen seiner Lehrer nennt. Pascal<br />

konstruiert das Beispiel eines bedeutenden<br />

Mannes des politischen Lebens, der den<br />

ganzen Tag durch seine Geschäfte und durch<br />

Menschen abgelenkt ist, und der plötzlich in<br />

die Situation versetzt wird, an sich selbst<br />

denken zu müssen. Bernhards General und<br />

Präsident haben politische Macht nur im<br />

Dienste poetischer Deutlichkeit: Ihre Fallhöhe<br />

motiviert erst das Gefühl, um eine errungene<br />

Position befürchten zu müssen.<br />

Einerseits erfordern politisches Amt und<br />

militärischer Rang in besonderem Maße<br />

Disziplin und Unterordnung unter Rollenzwängen,<br />

andererseits verschafft dem Bedrohten<br />

seine Machtposition aber auch einzigartige<br />

Möglichkeiten, innere wie äußere<br />

Irritationen mit der größten „Rücksichtslosigkeit“<br />

gewaltsam zu beseitigen. Der General<br />

existiert in radikaler Abschirmung von<br />

der Außenwelt. Wie die meisten Bernhardschen<br />

Figuren, mit Ausnahme der Intellektuellen<br />

wie dem Schriftsteller, hat der General<br />

die für autoritäre Charaktere typische,<br />

äußerst geringe „Ambiguitätentoleranz“ 23 . Er<br />

duldet nicht die geringste Irritation.<br />

22 Klug, 264-265.<br />

23 Lothar Krappmann, „Neuere Rollenkonzepte als<br />

Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse“, in<br />

Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>76), 3<strong>20</strong>.<br />

158<br />

Roxana Nubert<br />

Was den General am Schriftsteller und<br />

am „Theater hoher Kunst“ (94) irritiert, ist<br />

die ihm durch bloße Verdoppelung auf der<br />

Bühne aufgezwungene Reflexion seiner Existenz.<br />

Der Schriftsteller ist ein „Kommentator“<br />

aus „einer anderen Welt“ (79), der<br />

das, was er beobachtet, auf die Bühne bringt.<br />

Er hat bereits die letzte Begegnung mit dem<br />

General dramatisiert und aufgeführt. Der<br />

General muß den Anblick des Spiegels<br />

fliehen, den ihm die bloße Anwesenheit des<br />

Schriftstellers und erst recht die Dramatisierung<br />

seiner Existenz vorhalten. Die Bedrohung<br />

durch bloße Widerspiegelung wird<br />

dadurch noch potenziert, daß sein gelebtes<br />

Leben in der Optik des Schriftstellers als<br />

Komödie erscheint. Der General weigert<br />

sich, seine Existenz als Reflexion wie von<br />

außen zu sehen. Das Komische ist aber in<br />

Bernhards Gattungstheorie gerade die<br />

Außenperspektive aufs Tragische. Der<br />

General unterliegt ohnehin schon Irritationen,<br />

die aus ihm selbst kommen. Seine<br />

Selbstgewißheit droht, an inneren Widersprüchen<br />

zu zerbrechen. Die Kriegserlebnisse<br />

holen ihn in Träumen, Halluzinationen<br />

und paradoxen Zwangshandlungen immer<br />

wieder ein. Bei jeder Gelegenheit erzählt er<br />

die Geschichte, wie ihm der Arm abgerissen<br />

wurde. Wie eine Reliquie bewahrt er auf dem<br />

Dachboden den Soldatenmantel und die Uniform<br />

auf, die er damals in Stalingrad getragen<br />

hat (61).<br />

Der große, nun vom Borkenkäfer befallene<br />

Wald steht in einer besonderen Beziehung<br />

zur Lebensgeschichte des Generals.<br />

Nach dem Kriege haben sich der General<br />

und seine Frau im Wald versteckt. Wären sie<br />

im Jagdhaus geblieben, hätte man sie gefunden<br />

und umgebracht (38-39). Der Wald<br />

erinnert ihn sowohl an den Schutz, den er<br />

einst gespendet hat, als auch an die in ihm<br />

durchlittene Todesangst. Für den General ist<br />

der Wald gleichsam die Materialisation seiner<br />

Lebensgeschichte. Er ist nicht nur Stätte<br />

wichtiger Erfahrungen, sondern symbolisiert,<br />

neben der Mutter des Generals (59) und<br />

seiner Kriegsverletzung (58), die das weitere<br />

Leben determinierende Instanz.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

Wann immer bei Thomas Bernhard vom<br />

Wald die Rede – und dies gilt vor allem für<br />

die bis <strong>19</strong>75 erschienenen Werke – fungiert<br />

dieser als allegorischer Ort. Überwiegend<br />

nachts, in der Finsternis, ist der Wald Stätte<br />

von Selbsterfahrung, unwillkürlicher Erinnerung<br />

und Wesensschau, aber auch von<br />

Orientierungsverlust und existentieller Bedrohung.<br />

Eine heillose und oft tödliche Verwirrung<br />

ist die Folge, mitunter auch Selbstevidenz<br />

und mystische Klarheit. Auch wenn<br />

der Wald nicht zur komplexen Allegorie<br />

ausgearbeitet wird, weist die übertragene<br />

Bedeutung des Waldes eine klare Beziehung<br />

zu einem Ort der Transzendenzerfahrung auf.<br />

Aus dieser Funktion des Waldes als Erfahrungs-<br />

und Erkenntnisbezirk erklären sich<br />

auch seine allegorischen und kausalen Korrespondenzen<br />

zur „Finsternis“-Metapher. Im<br />

Wald ist die Abenddämmerung nämlich kürzer,<br />

die Finsternis tritt „plötzlich“ ein, wie in<br />

Die Jagdgesellschaft immer wieder hervorgehoben<br />

wird.<br />

Der Wald ist Erinnerungsstätte und als<br />

solche Inbegriff der rückblickenden Erfahrung<br />

von Geschichtlichkeit. Der Tod,<br />

dessen Chiffren der General überall im Wald<br />

sieht, ist ein im doppelten Sinne geschichtlicher<br />

Tod: erstens in seinem Erscheinungsbild,<br />

denn seine konkrete Gestalt ist durch<br />

den Krieg gesellschaftlich produziert; zweitens<br />

in seiner determinierenden Wirkung für<br />

die Lebensgeschichte des Generals. Darüber<br />

hinaus ist der Wald in Die Jagdgesellschaft<br />

Projektionsrahmen und Aktionsraum paradoxer<br />

Verrichtungen, die Blaise Pascals<br />

„verworrenem Trieb“ entsprechen: In all<br />

diesen paradoxen Verrichtungen und Besetzungen<br />

vertritt der Wald keine bestimmten<br />

Inhalte oder Aussagen von Bernhards poetischer<br />

Metaphysik, sondern ist Vollzugsraum<br />

für das Verhalten seiner Protagonisten<br />

zu sich selbst und ihrer Existenz. Die paradoxen<br />

Überdeterminationen, die die affektive<br />

Beziehung der Hauptfigur zum Wald darstellen,<br />

erklären sich nicht als diese oder jene<br />

Besetzung, sondern nur als Konkretisationen<br />

im Horizont einer Dialektik des Selbstbewußtseins.<br />

So ist der Wald in diesem Stück<br />

in dem Sinne paradox überdeterminiert, als<br />

er zur Bühne widersprüchlicher, symboli-<br />

scher Aktionen des Generals wird. Bezogen<br />

auf die Existenz und Todeskrankheit des<br />

Generals hat der Wald nach Klug 24 folgende<br />

Funktionen: Stätte der Erinnerung an die<br />

Schlacht von Stalingrad; Versteck während<br />

des Krieges, als das Jagdhaus ein „Schlachthaus“<br />

war; Ort, an dem der General Motivation<br />

schöpft und Gedanken entwickelt; Ort,<br />

an dem der General seiner Ablenkung, der<br />

Jagd, nachgeht; Ursache für das abrubte Eintreten<br />

der Finsternis; durch das Fenster sichtbarer<br />

Szenenhintergrund für das Geschehen<br />

im Jagdhaus; vom Borkenkäfer angefressen<br />

und schließlich gefällte Materialisation der<br />

Lebensgeschichte des Generals.<br />

Die paradoxe Weise, in der der General<br />

den Wald symbolisiert besetzt, zeigt sich zunächst<br />

in der Einheit von Todesangst und<br />

Schutz, wie sie der General und seine Frau in<br />

der unmittelbaren Nachkriegszeit, sich im<br />

Wald versteckend, erfahren haben. Ein wieterer<br />

Widerspruch besteht zwischen dem<br />

Aufwand, den der General für die Pflege des<br />

Waldes treibt, und der Angst, von den zu<br />

diesem Zwecke angestellten Holzknechten<br />

hintergangen zu werden. Der Besitzende lebt<br />

in fortwährender Angst um seinen Besitz.<br />

Schon vor dem Ausbruch der Todeskrankheit<br />

und bevor die Generalin vom Borkenkäfer<br />

des Waldes erfahren hat, hat bereits der<br />

General – offenbar in Angst um die Gesundheit<br />

seines Waldes – vom Borkenkäfer gesprochen<br />

(23-24). In mehrfacher, tatsächlicher<br />

wie symbolischer Hinsicht ist das<br />

Vermögen, das der Wald repräsentiert, ein<br />

„ungeheures Vermögen“ (38).<br />

Der Wald ist auch Schauplatz von<br />

Fluchtbewegungen wie die Jagd, zu der der<br />

General eingeladen ist. Mit diesem Motiv<br />

spielt Thomas Bernhard auf einen Gedanken<br />

Blaise Pascals an, der am Exempel der Jagd<br />

das Wesen der Zerstreuung und deren dialektischen<br />

Bezug zur Beunruhigung erläutert:<br />

Die spezifische Dynamik der Zerstreuung<br />

besteht darin, die Tätigkeit und nicht deren<br />

Effekt, die Jagd und nicht die Beute zu<br />

suchen. Die Jagd stellt für den österreichischen<br />

Autor eine typische Form der Zer-<br />

24 Klug, 269-270.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 159


streuung dar, sie vermeidet den Anblick von<br />

Tod und Elend, während sie gleichzeitig,<br />

paradoxerweise, den Tod bringt.<br />

Im Zusammenhang mit der Jagdgesellschaft<br />

des Generals erhält auch seine Augenkrankheit<br />

eine besondere Bedeutung. Das<br />

Schießen ist trotziges Aufbegehren gegen<br />

Augen- als Todeskrankheit, denn der General<br />

schließt und zielt wie „durch einen Schleier“<br />

(62). Indem er den sehbehinderten General<br />

auf die Jagd schickt, betont Bernhard einmal<br />

mehr, daß es seiner Figur bei dieser Form der<br />

Ablenkung um die Handlung und nicht um<br />

die Beute geht. Der General regeneriert sich<br />

bei der Jagd. Die Zerstreuung, die die Jagd<br />

ihm bietet, ist nicht Ablenkung von etwas,<br />

sondern „Ablenken auf die Konzentration“ 25 .<br />

Sie wehrt Irritation ab und bestätigt Rollenidentitäten.<br />

Für den General ist das Jagen<br />

nicht nur eine beliebige Form der Ablenkung<br />

unter anderen, sondern zugleich zwanghafte<br />

Wiederholung Stalingrads.<br />

Allegorischer Wert weist auch die<br />

Motorsäge auf, mit der der vom Borkenkäfer<br />

befallene Wald gesägt werden muß. Auch in<br />

Ein Fest für Boris wurde ein Wald niedergelegt.<br />

Die Gute hat ihn abholzen lassen, um<br />

Boris den Blick auf seine Herkunft, das<br />

Krüppelasyl, zu ermöglichen. Die Besetzung<br />

des Waldes ist in Die Jagdgesellschaft demgegenüber<br />

komplexer. Der symbolische Versuch<br />

des Generals, die Chiffren seiner Lebensgeschichte<br />

als einer Geschichte erlittener<br />

und verübter Gewalt umzusägen, wird in seiner<br />

Selbstwidersprüchlichkeit gestaltet. Der<br />

Wunsch, die eigene Geschichte zu annullieren,<br />

löscht sich selbst als Resultat dieser Geschichte<br />

logisch mit aus. Deshalb gerät der<br />

symbolische Akt zur tatsächlichen Selbstverstümmelung:<br />

Der General sägt sich ins Bein.<br />

In diesem Stück gruppiert der Autor zwei<br />

komplementäre Männerfiguren um eine<br />

weibliche Mittlergestalt. Der Schriftsteller,<br />

eine Art philosophierender Hausfreund und<br />

Damenunterhalter, gehört zu den Gleichgültigen<br />

und Relativisten, während der General<br />

den Typus des Bernhardschen Apokalyptikers<br />

verkörpert, der in ständiger, bewußter<br />

Verzweiflung existiert, ohne Distanz<br />

dazu gewinnen zu können. Er spricht immer<br />

„von zwei Welten“:<br />

25 Klug, 273.<br />

160<br />

Roxana Nubert<br />

„ […] die eine ist hinter dem Rücken / in welche<br />

plötzlich geschaut werden muß / wie er sagt / überraschend“<br />

(27).<br />

Während der Schrifttsteller Verzweiflung<br />

als quasi-ontologische Voraussetzung versteht,<br />

erfährt der General seine Krankheit<br />

zum Tode als Skandal, als permanente Entwertung<br />

des Lebens. Der Schriftsteller ist ein<br />

Beobachter, während der General den unverhüllten<br />

Anblick seiner Abgründlichkeit nicht<br />

erträgt und darum in symbolische Ersatzhandlungen<br />

flüchtet. Der Kontrast zwischen<br />

den beiden Typen wird um so deutlicher<br />

dadurch, daß beide ähnliche Erlebnisse<br />

hinter sich haben. Beide haben nur zufällig<br />

überlebt, beide existieren seither im Bewußtsein<br />

der Allgegenwart des Todes. Die<br />

Aussicht auf den eigenen Tod wird dem<br />

Schriftsteller zur einzigen Gewißheit, wie er<br />

mit einem Abschnitt aus Lermontovs Ein<br />

Held unserer Zeit andeutet, den er der<br />

Generalin bereits vor der Jagd vorliest.<br />

Während der Schriftsteller ähnlich Lermontovs<br />

Petschorin eher fatalistisch eingestellt<br />

ist, läßt sich vom General nicht mit Bestimmtheit<br />

sagen, welcher Art seine Beschäftigung<br />

mit dem Tod ist. Der Schriftsteller<br />

hat eine abstraktere Perspektive auf<br />

den Tod als der General, der eine viel unmittelbarere<br />

Anschauung des Todes als der<br />

Schriftsteller aufweist. Die Stalingrader<br />

Todeserfahrungen sind von so unterschiedlicher<br />

Qualität, daß man sie nur bedingt vergleichen<br />

kann: Während der General vor<br />

Stalingrad „beinahe verblutet“ wäre (57, 58),<br />

hat der Schriftsteller in Warschau nur mit<br />

angesehen, wie ein herunterfallender Eiszapfen<br />

eine sechs oder sieben Schritte vor<br />

ihm gehende Frau tötete. Die Ursachen für<br />

die Unterschiede der existentiellen Haltungen<br />

hält Thomas Bernhard dadurch in der<br />

Schwebe zwischen individueller Disposition<br />

und blindem Schicksal.<br />

Schriftsteller und General hassen einander,<br />

wie die beiden Konkurrenten selber zugeben<br />

(60). Der General meint, indem er sich<br />

auf den Schriftsteller bezieht:<br />

„Sehen Sie diese Innenwände in seinem Gehirn /<br />

schreibt er voll / ein vollgeschriebenes Gehirn / ein<br />

gänzlich vollgeschriebenes / und dadurch völlig verfinstertes<br />

Gehirn / mit einer solchen Geschwindigkeit<br />

vollgeschrieben / daß schon alles übereinandergeschrieben<br />

ist / wie ein Wahnsinniger / Die ganze<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

Innenseite seines Gehirns / die er selber schon nicht<br />

mehr lesen kann.“ ( 97)<br />

Dem General erscheint der Schriftsteller<br />

als ein freier Mensch, was dieser mit lautem<br />

Lachen quittiert (77). Sie begegnen einander<br />

nur notgedrungen. Die Generalin, die gleichermaßen<br />

Ekel und Angst vor ihrem Mann<br />

empfindet, lädt sich den Schriftsteller ein,<br />

um während der von ihr verabscheuten Jagd<br />

(80) nicht allein im Jagdhaus bleiben zu<br />

müssen (62). Auch in Die Jagdgesellschaft<br />

ist eine „Dreiecksgeschichte“ Grundmodell<br />

der Interaktion. Wie beispielsweise der Doktor<br />

in Der Ignorant und der Wahnsinnige so<br />

ist auch hier der philosophierende Typus, der<br />

eine bestehende Beziehung zweier Personen<br />

bedroht:<br />

„Mein lieber Schriftsteller / Sie betreiben eine verabscheuungswürdige<br />

Kunst / meine Frau bewundert<br />

Sie“ (94-95).<br />

Es sind immer wieder die gleichen drei<br />

Typen von Figuren, die in Thomas Bernhards<br />

Dreiecksgeschichten die Hautprollen<br />

spielen: der erfolgreiche Zwangsneurotiker;<br />

die in Ansätzen reflektierende, aber entschlußunfähige<br />

Mittlerfigur; und der intellektuelle<br />

Freigeist. Der Logik dieser Dreiecksgeschichten,<br />

mit denen Bernhard identitäts-<br />

und subjektphilosophische Probleme<br />

poetisiert, zufolge ist das Leben ein Nullsummenspiel,<br />

in welchem für alle Anpassungsleistungen<br />

und Erfolge mit Neurosen<br />

und Ängsten bezahlt werden muß. Die Mächtigen<br />

haben unter anderem damit zu zahlen,<br />

daß konspirative Schriftstellerfiguren in ihre<br />

Ehen eindringen, die naturgemäß hausgemachte<br />

Privathöllen sind.<br />

Im Stück kommt es zu keiner direkten<br />

Kommunikation zwischen Schriftsteller und<br />

General. Beide reden nur über einander und<br />

erläutern den Umstehenden den Charakter<br />

des jeweils anderen, und zwar auch während<br />

dessen Anwesenheit. Der Schriftsteller tut<br />

dies auf eine zunächst indirekte Weise. Sein<br />

Vortrag über Todeskrankheit und prinzipielle<br />

Andersheit ist offenkundig, aber unausdrücklich<br />

auf diesen augerichtet. Beide Männer<br />

verachten die vom anderen jeweils<br />

bevorzugte Form der Ablenkung. Der General<br />

haßt das Kartenspiel (62) und überhaupt<br />

alle Einflüsse des Schriftstellers auf seine<br />

Frau (80). Kartenspiel, Nichtstun und<br />

Schreiben sind ihm gleichermaßen widerlich<br />

(96). Umgekehrt fühlt sich der Schriftsteller<br />

von der Jagd abgestoßen. Doch während der<br />

General die Anwesenheit und den Zeitvertreib<br />

des anderen als eine Bedrohung empfindet,<br />

deren Abschaffung er fordert, liefert<br />

sich der Schriftsteller dem Abstoßenden<br />

gleichsam zu Studienzwecken aus. Auch die<br />

Generalin ist sich einer ähnlich gespaltenen<br />

Affektstruktur bewußt, denn sie schätzt<br />

gerade dessen Entsetzlichekeit und Rücksichtslosigkeit.<br />

In der Beurteilung des<br />

Schriftstellers unterscheidet sich die Generalin<br />

also gar nicht so sehr von ihrem Mann.<br />

Die Differenz liegt im Verhalten zu des<br />

Schriftstellers Bedrohlichkeit. Doch während<br />

der General den Kontakt mit dem Schriftsteller<br />

am liebsten vermeiden würde, ist die<br />

paradoxe Einstellung seiner Frau am treffendsten<br />

mit dem Terminus „Angstlust“ zu<br />

bezeichnen – eine Einstellung, welche die<br />

Beziehung aller Bernhardschen Frauenfiguren<br />

zu ihren geistlichen oder philosophierenden<br />

Hausfreunden charakterisiert. Der<br />

symmetrische Widerspruch zeigt sich noch in<br />

einer weiteren Hinsicht: Der General interpretiert<br />

die Kunst des Schriftstellers existentiell,<br />

während der Schriftsteller die Stalingrad-Erfahrung<br />

des Generals ästhetisch aufnimmt,<br />

als „[s]eine beste Geschichte“ (57).<br />

Das komplementäre Verhalten der Figuren<br />

veranschaulicht ein anderes wesentliches<br />

Prinzip von Bernhards dramatischen Texten,<br />

die Aufhebung der Gegensätze. Dieses Verfahren<br />

fördert die Unsicherheit des Zuschauers:<br />

In jedem Satz wird der vorangehende<br />

aufgehoben, um wiederum im nächsten<br />

seinen Widerruf zu erfahren.<br />

Am Ende des Bühnenspiels erfahren wir<br />

nicht die „wirklichen“ Ursachen der Todeskrankheit<br />

des Generals. Thomas Bernhard<br />

präsentiert die allegorischen Zusammenhänge<br />

nicht als Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit<br />

für den Rezipienten. Am Schluß ist<br />

der Schuß unsicher. Mit dem Abholzen des<br />

Waldes wird der Schauplatz der Existenzkomödie<br />

gleichsam abgebaut wie Kulissen eines<br />

Theaterstücks. Der theatralische Aspekt,<br />

den alle Mittel und die Existenz selbst annehmen,<br />

dominiert das Drama: Umwelt wird<br />

zur Kulisse und Welt zum Theater. Die Figuren<br />

werden zu Kunstfiguren, deren Künstlichkeit<br />

es einem verbietet, sie mit kritischem<br />

Maß an der Realität unmittelbar zu messen.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 161


Selbst dort, wo der Aktualitätsgrad Verschlüsselung<br />

nahelegt, verwehrt die radikale<br />

Stilisierung die provokant angestrebte Identifikation<br />

mit einer historischen Persönlichkeit.<br />

26<br />

In Jagdgesellschaft wird ein Vorgang<br />

dargestellt, dem die Beteiligten fassungslos<br />

und behext zusehen:<br />

„Bernhards Werk endet meist dort, wo der Leser<br />

das Ende noch nicht ansetzen möchte, da er die<br />

Ursache der fortwährenden Irritation nicht geklärt<br />

sieht […] Die Möglichkeit, mit seinem Werk den<br />

Verdacht eines vollkommenen Kunstwerkes, das es in<br />

der Tat nicht geben kann, zu erwecken, unterläuft<br />

Bernhard dadurch, daß er das Fragment zum Prinzip<br />

erhebt […] Auf der anderen Seite insistiert Bernhard,<br />

konsequent die Forderung nach dem stets Fragmentarischen<br />

aufhebend, auf dem Kunstwerk, dessen<br />

Vollendung alles andere als bloß fragmentarisch<br />

erweist.“ 27<br />

Die poetische Theorie Thomas Bernhards<br />

entspricht einer „Poetik der Künstlichkeit“,<br />

in der er den Versuch unternimmt, die<br />

„Figuren, Ereignisse und Vorkommnisse“ in<br />

ein Jenseits sozialer Existenz zu befördern,<br />

wo sie ihre befremdende dinglich-requisitenhafte<br />

Gestalt offenbaren können:<br />

„In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt,<br />

alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich<br />

auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total<br />

finster. Auftretende Figuren auf einem Bühnenraum,<br />

in einem Bühnenviereck, sind durch ihre Konturen<br />

deutlicher zu erkennen, als wenn sie in der natürlichen<br />

Beleuchtung erscheinen wie in der üblichen<br />

uns bekannten Prosa. In der Finsternis wird alles<br />

deutlich. Und so ist es nicht nur mit den Erscheinungen,<br />

mit dem Bildhaften – es ist auch mit der<br />

Sprache so.“ 28<br />

Die Finsternis, als poetisches Prinzip der<br />

Abtrennung von lebendigen sozialen Beziehungen,<br />

vom Leben „in der natürlichen<br />

Beleuchtung“, steht stellvertretend für die<br />

„end-gültige Finsternis“ des Todes, dem<br />

Bezugspunkt, von wo aus die Welt als<br />

künstliche Szene erscheint, als Schauspiel<br />

und Maske:<br />

„Der Österreicher Thomas Bermhard ist der deutschen<br />

Literatur düsterster Poet und bitterster Prophet.<br />

An ihm, dem hartnäckigen Sänger der Krankheit und<br />

der Auflösung des Untergangs und des Todes, dem<br />

26 Schmidt-Dengler, 107-108.<br />

27 Schmidt-Dengler, 109.<br />

28 Bernhard, Drei Tage, 150-151.<br />

162<br />

Roxana Nubert<br />

unerbittlichen Dichter dieser finsteren Wollust,<br />

scheiden sich nach wie vor die Geister. Die einen<br />

empfinden sein Werk als unerträglich und abstoßend,<br />

die anderen halten es für unvergeßlich und hinreißend.<br />

Während ihm die einen ermündende Geschwätzigkeit<br />

und außergewöhnliche Monotonie vorwerfen,<br />

rühmen die anderen seine virtuose Beredsamkeit<br />

und irritierende Suggestivität. Verurteilen die<br />

einen seine Grausamkeit und Bestialität, so preisen<br />

die anderen seine Unbedingtheit und Radikalität.“ 29<br />

Thomas Bernhard selbst spricht von der<br />

Faszination des Leeren und Leblosen, aus<br />

dem der Künstler als Beobachter und Gestalter<br />

die „ungeheure Bewegung“ der Dinge<br />

herauszuarbeiten aufgefordert wird:<br />

„Wenn man eine weiße Wand anschaut, stellt man<br />

fest, daß sie ja nicht weiß, nicht kahl ist […] An einer<br />

Wand entdeckt man Risse, kleine Sprünge, Unebenheiten,<br />

Ungeziefer. Es ist eine ungeheure Bewegung<br />

an den Wänden.“ 30<br />

Seine Theaterstücke sind unmittelbar als<br />

eine Herausforderung aufzufasssen.<br />

„Die Unsicherheit, die Bernhards Werk vermittelt,<br />

ist nicht negativ zu werten, schon gar nicht, um sein<br />

Werk zu verurteilen. Sie auch nicht leichtfertig aufzulösen<br />

als Spiel, das innerhalb der Sprache gespielt<br />

werden darf, sondern zu betrachten als ein Mittel, das<br />

den Erkenntnisprozeß fördert, indem es auf Glättung<br />

im herkömmlichen Sinne verzichtet, auf eine Glättung,<br />

die erreichbar ist durch Finalisierung und die<br />

Ergebnisse vortäuscht, die den Anschein der Abrundung<br />

vermitteln und dadurch nur die Scheinhaftigkeit<br />

des Kunstwerks unterstreichen. Das Kunstwerk<br />

löst keine Widersprüche, sondern verschärft sie.<br />

Unter diese Widersprüchlichkeit hat Bernhard sein<br />

Schaffen gestellt. Indem er sich dem Publikum verweigert,<br />

insinuiert er sich diesem nur umso unwiderstehlicher.“<br />

31<br />

Die Erfahrung der paradoxen Situation<br />

als Schriftsteller ist für Bernhard eine<br />

schmerzhafte:<br />

„Nur weil ich mich gegen mich stelle und tatsächlich<br />

immer gegen mich bin, bin ich befähigt, zu<br />

sein.“ 32<br />

29<br />

Marcel Reich-Ranicki, Thomas Bernhard (Zürich:<br />

Ammann <strong>19</strong>90), 45.<br />

30<br />

Bernhard, Drei Tage, 152.<br />

31<br />

Schmidt-Dengler, 111.<br />

32<br />

Thomas Bernhard, Der Keller. Eine Entziehung<br />

(München: Deutscher Taschenbuchverlag <strong>19</strong>90), 73.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


ZU EINIGEN ASPEKTEN DER DRAMENTHEORIE IN DER DEUTSCHEN<br />

LITERATUR<br />

Die Urform des Theaters hat eigentlich<br />

sehr wenig mit dem zu tun, was wir heute<br />

unter diesem Begriff verstehen. Theater war<br />

ursprünglich weniger Kunst, sondern eher<br />

soziales Verhalten und läßt sich auf jeden<br />

Fall mit der natürlichen Gabe des Menschen<br />

zur Nachahmung in Verbindung bringen.<br />

Dies ist leicht zu demonstrieren, indem man<br />

die Tierspiele der verschiedenen Eingeborenen<br />

Sippen anführt, die nicht nur dazu<br />

gedacht waren, der täglichen Unterhaltung<br />

zu dienen, sondern eher ein magisches Ritual<br />

darstellten. Es ging in der Urform eigentlich<br />

um den Versuch der Steinzeitmenschen, die<br />

Kraft der Tierfelle auf sich zu übertragen,<br />

denn "das Urdrama der Menschheit ist der<br />

Kampf mit dem Tier" 1 .<br />

Der Wendepunkt in der Geschichte des<br />

Dramas erfolgte im alten Griechenland, wo<br />

man damit beschäftigt war, für den neuen<br />

Gesellschaftstypus auch eine neue Art von<br />

Mensch heranzubilden. So kam es dazu, daß<br />

"das Festspiel um Fruchtbarkeit und Totenkult<br />

zur politischen Festversammlung umfunktioniert<br />

und verweltlicht" 2 wurde. Hier<br />

begann sich Theater nicht mehr zwischen<br />

Schauspieler und Gottheit zu bewegen,<br />

sondern es wurde nun an das Publikum gerichtet,<br />

das von nun an eine passive aber gut<br />

determinierte Rolle spielte. So kam es dazu,<br />

daß sich Aristoteles, der größte Theoretiker<br />

der Antike mit der Beziehung zwischen<br />

Theater und Publikum beschäftigte, um<br />

daraus auch die Rolle des Theaters herauszuarbeiten:<br />

Das, was Aristoteles von seinem<br />

Zuschauer verlangt, ist die Identifikation mit<br />

dem Helden durch Mitempfinden, er spricht<br />

in seiner Poetik von den inzwischen allbekannten<br />

Begriffen von Mitleid und Furcht:<br />

"Die Tragödie ist die Nachahmung einer<br />

edlen und angeschlossenen Handlung, von<br />

einer bestimmten Größe in gewählter Rede,<br />

derart, daß jede Form solcher Rede in ge-<br />

1 Gronemeyer, Andrea Theater, Köln, Du Mont<br />

Buchverlag, <strong>19</strong>95, S. 9.<br />

2 ebd., S. 13.<br />

Daniela Ionescu<br />

sonderten Teilen erscheint und daß gehandelt<br />

und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe<br />

von Mitleid und Furcht eine Reinigung von<br />

eben derartigen Affekten bewerkstelligt<br />

wird." 3 . Das Schema nach dem die Funktion<br />

des Theaters erfolgt, ist nach Aristoteles also<br />

ganz einfach: Zuerst empfindet man einen<br />

Schrecken durch die Bedrohung des Helden<br />

(phobos) und dieser Schrecken wird dann,<br />

nach dem Wendepunkt des Dramas durch<br />

Jammer abgearbeitet (eleos), damit der Zuschauer<br />

am Ende des Stückes kathartisch<br />

(gereinigt) das Theater verläßt.<br />

Diese Auffassung wird lange Zeit die<br />

Theorie des Dramas beherrschen, und die<br />

Neuerungen erfolgen praktisch nur im Bereich<br />

des Aufbaus und des Stoffes und nicht<br />

im Bereich der Wirkung auf den Zuschauer.<br />

Im Mittelalter wurde das Theater als Unterhaltung<br />

verbannt, ja sogar als Sünde angesehen.<br />

In diesem Sinne ist die Aussage des<br />

heiligen Augustinus anzuführen, der in<br />

seinen Bekenntnissen schrieb:<br />

"Und doch sündigte ich mein Herr und mein Gott,<br />

nicht in der Absicht, Besseres…zu erwählen, war ich<br />

ungehorsam, sondern aus Liebe zu Spielereien, und<br />

aus Begierde nach stolzen Siegen in Wettspielen, um<br />

durch erdichtete Märlein meine Ohren zu reizen, daß<br />

sie immer lüsterner wurden und mir dieselbe Neugierde<br />

immer mehr und mehr aus den auf die Schauspiele<br />

und die Spiele der Alten gehefteten Augen<br />

leuchtete." 4<br />

Das Theater wurde aber in derselben Zeit<br />

auch als erzieherisches Kirchenwerk verstanden<br />

(wie z.B. die Passionsspiele). Damit<br />

gelagen wir zur Aufklärung, in der das neue<br />

Menschenideal auch nach neuen Formen des<br />

Theaters verlangte. Erst im 18. Jahrhundert<br />

kam es dann dazu, daß die Gelehrten das<br />

Bedürfnis verspürten, das Theater zu verteidigen,<br />

so Gottsched in seiner Rede von<br />

1729:<br />

3 siehe auch Staehle, Ulrich (Hrsg) Theorie des<br />

Dramas, Stuttgart, Phillip Reclam jun., <strong>19</strong>92, S. 9.<br />

4 siehe auch Gronemeyer, Andrea Theater, Köln, Du<br />

Mont Buchverlag, <strong>19</strong>95, S. 35.


"Die Tragödie ist […] ein Bild der Unglücksfälle,<br />

die den Großen dieser Welt begegnen und von ihnen<br />

entweder heldenmütig und standhaft ertragen oder<br />

großmütig überwunden werden. Sie ist eine Schule<br />

der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu<br />

Trübsal, eine Aufmunterung zur Tugend, eine<br />

Züchtigung der Laster. Die Tragödie belustiget, indem<br />

sie erschrecket und betrübet. Sie lehret und<br />

warnet in fremden Exempeln; sie erbauet, indem sie<br />

vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit<br />

klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause." 5<br />

Gotthold Ephraim Lessing ist hier der<br />

Name der angeführt werden muß, da er sich<br />

nicht nur aktiv vorgenommen hatte, durch<br />

seine Theaterstücke eine neue Art der<br />

Dramaturgie zu gestalten, sondern auch<br />

theoretisch, in der Hamburgischen Dramaturgie,<br />

neue Maßstäbe setzte. Das, was<br />

Lessing eigentlich macht, ist Kritik an der<br />

bisherigen Art der Dramendichtung zu üben,<br />

vor allem an den Modellen und der Manier,<br />

in der sie übernommen wurden. Inhaltlich<br />

wendet er sich sowohl gegen die strenge<br />

Einhaltung der drei Einheiten, die seiner<br />

Meinung nach bei den Franzosen nicht nur<br />

als Anweisung galt, sondern mechanisch<br />

erfolgte, als auch gegen die Vorschriften<br />

bezüglich der Helden. Hier, in diesem letztgenannten<br />

Punkt, tritt die erste bahnbrechende<br />

Neuerung auf: Lessings Meinung<br />

nach, können wir uns mit Helden, die uns<br />

persönlich und ranggemäß näher stehen, eher<br />

identifizieren als mit Göttern und alten<br />

Heldengestalten:<br />

"Die Namen von Fürsten und Helden können einem<br />

Stücke Pomp und Majestät geben, aber zur Rührung<br />

tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren<br />

Umstände den Unsrigen am nächsten kommen, muß<br />

natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen;<br />

und wenn wir mit Königen mitlitten, so haben wir es<br />

mit ihnen als mit Menschen. Macht ihr Stand schon<br />

öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum<br />

nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker<br />

darein verwickelt werden; unserer Sympathie erfordert<br />

einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein<br />

viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen."<br />

6 .<br />

Mit diesen Worten besiegelt Lessing<br />

praktisch das Entstehen des bürgerlichen<br />

Trauerspiels. Der Aufklärung kam also die<br />

5 siehe auch Fischer-Lichte, Erika Kurze Geschichte<br />

des deutschen Theaters, Tübingen, Francke, <strong>19</strong>93.<br />

6 Lessing, Gotthold Ephraim Hamburgische<br />

Dramaturgie - 14. Stück in Lessing, Schriften,<br />

Frankfurt am Main, Insel, <strong>19</strong>67, S. 176-180.<br />

164<br />

Daniela Ionescu<br />

Rolle zu, auch im Drama die Gesellschaft so<br />

darzustellen, wie sie ist, jedoch die kritische<br />

Auseinandersetzung damit sowie mit den<br />

menschlichen Trieben und Gefühlen war das<br />

Attribut der folgenden bedeutenden<br />

dichterischen Strömung, des Sturm und<br />

Drang.<br />

Im Sturm und Drang spielte das Theater<br />

bekanntlich eine sehr wichtige Rolle. Es galt<br />

um Entfessellung der Kräfte, um Genie, und<br />

wer konnte da ein besseres Beispiel geben<br />

als Shakespeare, der von Herder und Goethe<br />

selbst als das Genie schlechthin dargestellt<br />

wurde. In seinen Anmerkungen über das<br />

Theater nahm Lenz ebenfalls das Genie<br />

Shakespeare als Vorbild und forderte das<br />

Originelle:<br />

"Da ein eisernes Schicksal die Handlungen der<br />

Alten bestimmte und regierte, so konnten sie als<br />

solche interessieren, ohne den Grund in der menschlichen<br />

Seele aufzusuchen und sichtbar zu machen.<br />

Wir aber hassen solche Handlungen, von denen wir<br />

die Ursache nicht einsehen, und nehmen keinen Teil<br />

dran. Daher sehen sie die heutigen Aristoteliker, die<br />

bloß Leidenschaften ohne Charaktere malen (und die<br />

ich übrigens in ihrem anderweitigen Wert lassen<br />

will), genötigt, eine gewisse Psychologie für alle ihre<br />

handelnden Personen anzunehmen, aus der sie darnach<br />

alle Phänomene ihrer Handlungen so geschickt<br />

und ungezwungen ableiten können und die im Grunde<br />

mit Erlaubnis dieser Herren nichts als ihre eigene<br />

Psychologie ist. Wo bleibt aber da der Leser, Christlicher<br />

Leser! Wo bleibt die Folie? Große Philosophen<br />

mögen diese Herren immer sein, große allgemeine<br />

Menschenkenntnis, der Gesetze der menschlichen<br />

Seele Kenntnis, aber wo bleibt die individuelle?…<br />

Für den mittelmäßigen Teil des Publikums wird<br />

Rousseau (der göttliche Rousseau selbst) unendlichen<br />

Reiz mehr haben, wenn er die feinsten Adern der<br />

Leidenschaften seines Busens entblößt und seine<br />

Leser mit Sachen anschaulich vertraut macht, die sie<br />

alle vorhin schon dunkel fühlten, ohne Rechenschaft<br />

davon geben zu können, aber das Genie wird ihn da<br />

schätzen, wo er aus den Schlingen und dem Graziengewebe<br />

der feinern Welt Charaktere zu retten weiß…<br />

. […] Was heißen die drei Einheiten? Hundert Einheiten<br />

will ich euch angeben, die alle immer doch die<br />

eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache,<br />

Einheit der Religion, Einheit der Sitten,- ja was wird's<br />

denn nun? Immer dasselbe, immer und ewig dasselbe.<br />

Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit<br />

fühlen, aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins<br />

in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch<br />

sein, wie groß oder klein sein Wirkungskreis auch<br />

immer sein mag. Aber fort mit dem Schulmeister, der<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Zu einigen Aspekten der Dramentheorie in der deutschen Literatur<br />

mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger<br />

schlägt." 7<br />

Mit diesem plastischen Bild wird die<br />

Kritik am unüberlegten strengen Einhalten<br />

der Regeln dargestellt. Es ist äußerst klar,<br />

daß eine neue Form des Theaters angestrebt<br />

wird, in der Gesellschaft und Individuum<br />

naturgetreu und frei, unmittelbar dargestellt<br />

werden sollen. Schiller maß dem Theater<br />

eine erzieherische Wirkung zu in seinem<br />

Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische<br />

Anstalt betrachtet:<br />

"Die Schaubühne ist mehr als jede andere<br />

öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der<br />

praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das<br />

bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den<br />

geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. […]<br />

Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in<br />

welchem von dem denkenden besseren Teil des Volks<br />

das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus<br />

in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.<br />

Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze,<br />

reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des<br />

Volkes; der Nebel der Barbarei, des finstren Aberglaubens<br />

verschwindet, die Nacht weicht dem<br />

siegenden Licht." 8<br />

Jedoch war das Publikum nicht ganz von<br />

diesem Gedanken begeistert und so wurde er<br />

von den Klassikern Goethe und Schiller aufgegeben.<br />

Sie entfernten sich von den Ideen,<br />

die sie in ihrer Jugend geprägt hatten und<br />

schrieben klassische Musterstücke für das<br />

"Weimarer Hoftheater", in denen statt der<br />

moralischen Erziehung des Publikums, die<br />

ästhetische den Vorrang hatte. Wichtig wird<br />

jedoch zur Zeit der Klassik ein Konzept, das<br />

auch schon von den Aufklärern angestrebt<br />

wurde, das des Nationaltheaters. Es geht<br />

nicht nur um den lehrenden Wert des<br />

Theaters, sondern auch um die Tatsache, daß<br />

Theater durch Mit-leiden und Mit-fürchten<br />

die Menschen verbrüdern kann, in einem<br />

mystischen Sinn:<br />

"Und dann endlich - welch ein Triumph für dich,<br />

Natur - so oft zu Boden getretene, so oft wieder aufstehende<br />

Natur - wenn Menschen aus allen Kreisen,<br />

Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der<br />

7 Lenz, Jakob Michael Reinhold Anmerkungen übers<br />

Theater in Glaser (Hrsg.) Wege der Deutschen<br />

Literatur-Ein Lesebuch, Ullstein Verlag, Frankfurt<br />

am Main, <strong>19</strong>75, S. 51.<br />

8 Schiller, Friedrich Die Schaubühne als eine<br />

moralische Anstalt betrachtet in Friedländer (Hrsg.)<br />

Schiller Ein Lesebuch unserer Zeit, Weimar,<br />

Thüringer Volksverlag, <strong>19</strong>53, S. 236-237.<br />

Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem<br />

Drange des Schicksals, durch eine allwebende<br />

Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst<br />

ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem<br />

himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder einzelne<br />

genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert<br />

aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, uns<br />

seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum - es<br />

ist diese: ein Mensch zu sein." 9<br />

Nach der klassischen Periode folgen<br />

einige neue Anschauungen des Dramas, die<br />

auf die tiefgreifenden Änderungen der<br />

Theorie im <strong>20</strong> Jh. hinausdeuten. Die ersten<br />

Unterschiede erwiesen sich schon bei der<br />

romantischen Anschauung, von August<br />

Wilhelm Schlegel in seinem Aufsatz über<br />

dramatische Kunst und Literatur. Hier finden<br />

wir eigentlich schon den zugrundeliegende<br />

Unterschied zwischen der klassischen Kunst<br />

und der neuen, in diesem Fall romantischen<br />

Kunst: Schlegel charakterisiert die alte Kunst<br />

als "rhythmischen Nomos, eine harmonische<br />

Verkündigung der auf immer festgestellten<br />

Gesetzgebung einer schön geordneten und<br />

die ewigen Urbilder der Dinge in sich abspiegelnden<br />

Welt" 10 und die romantische<br />

Kunst als "Ausdruck des geheimen Zuges zu<br />

dem immerfort nach neuen und wundervollen<br />

Geburten ringenden Chaos, welches<br />

unter der geordneten Schöpfung, ja in ihrem<br />

Schosse sich verbirgt" 11 .<br />

So gut begründet ihre theoretischen<br />

Grundlagen auch waren, nahmen die<br />

Romantiker jedoch keinen direkten Einfluß<br />

auf das Drama. Die Neuerungen, die sich zu<br />

der Zeit ereignen, beziehen sich lediglich auf<br />

das Aufblühen der Regisseur-Funktion, beziehungsweise<br />

betrifft hauptsächlich die Inszenierungen.<br />

Auch später im Anschluß an<br />

die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft<br />

und die Historienwidmung, begann<br />

man auch in der Inszenierung der klassischen<br />

Stücke möglichst naturgetreu<br />

vorgehen zu wollen. Die immer komplizierteren<br />

ästhetischen Ansichten richteten<br />

sich auf die Dramentheorie aus. So beschäftigte<br />

sich zum Beispiel im Jahre 1844<br />

Friedrich Hebbel in seinem Aufsatz Mein<br />

9 ebd. S. 238.<br />

10 Schlegel, August Wilhelm Über dramatische Kunst<br />

und Literatur in Staehle, Ulrich (hrsg.) Theorie des<br />

Dramas, Stuttgart, Philipp Reclam jun., <strong>19</strong>92, S. 53.<br />

11 ebd. S. 54.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 165


Wort über das Drama mit den Unterschieden<br />

zwischen Kunst und Leben und der neuen<br />

Aufgabe der darstellenden Kunst. Seiner<br />

Auffassung nach ist Kunst "des Lebens<br />

reinste Form und sein höchster Gehalt" 12 .<br />

Aber das Leben selbst ist Hebbels Auffassung<br />

nach etwas zwischen Sein und<br />

Werden, demnach müssen für die Kunst<br />

Gegenwart und Zukunft gleichbedeutend<br />

sein. Das Drama soll also den Lebensprozeß<br />

als Gegenüberstellung Individuum/Ganzes<br />

auffassen. Es soll sowohl das Veränderliche<br />

um den Menschen herum darstellen,<br />

während die Natur dieselbe bleibt, als auch<br />

das, was ewig so bleibt, die "ewige Wahrheit"<br />

13 . Das Drama braucht die Geschichte,<br />

weil sie die Atmosphäre der Zeit mitveranschaulicht.<br />

Georg Büchner nimmt auch diesen<br />

Aspekt in seinen Brief an die Familie auf<br />

und erkennt die erzieherische Rolle der im<br />

Drama abgebildeten Geschichte. Schiller<br />

greift er in seinen erzieherischen Absichten<br />

an, denn Büchners Meinung nach seien seine<br />

Charaktere keine wirklichen gewesen. Diese<br />

sollten wirklichkeitsgetreu dargestellt werden,<br />

und dem Zuschauer kommt die Rolle<br />

zu, aus deren Beobachtung zu lernen wie aus<br />

dem Studium der Geschichte.<br />

Mit Absicht lasse ich an dieser Stelle<br />

andere Theoretiker aus (Georg Kaiser,<br />

August Strindberg, u.a.), die durch ihre<br />

Werke auch zur Entstehung des modernen<br />

Theaters beitrugen, um einen Sprung zu dem<br />

Namen zu wagen, der es als erster schaffte,<br />

das Drama völlig neu zu betrachten: Bertold<br />

Brecht. Wenn wir heute, als moderne Leser,<br />

uns mit Brechts Texten befassen, erscheinen<br />

uns seine Schlußfolgerungen so logisch und<br />

selbstverständlich, als daß wir fast geneigt<br />

wären dabei zu vergessen, was es für die<br />

damalige ästhetische Auffassung bedeutete.<br />

Brecht selbst führt die Gründe an, die zur<br />

Entstehung des epischen Theaters beigeführt<br />

haben: die technischen Errungenschaften,<br />

komplexe menschliche Beziehungen, da die<br />

Psychoanalyse aufblüht, das Auftauchen des<br />

neuen Begriffs der Umwelt. Alles im Ganzen<br />

wird das Leben der Menschen komplexer<br />

und verlangt nach neuen, komplizierteren<br />

12 Hebbel Friedrich Mein Wort über das Drama, in<br />

Staehle Ulrich (Hrsg.) Theorie des Dramas, Stuttgart,<br />

Reclam, Universal Bibliothek, <strong>19</strong>92, S. 58.<br />

13 ebd. S. 59.<br />

166<br />

Daniela Ionescu<br />

Formen der Kunst. Der moderne Mensch<br />

denkt über sich selbst und seine Umwelt<br />

nach, demnach muß ihm keine Kopie<br />

menschlicher Gestalten oder Begebenheiten<br />

vor die Augen geführt werden, sondern nur<br />

Schauspieler, die all dies darstellen. Anstelle<br />

von Mitleid und Furcht treten nun Hilfsbereitschaft<br />

und Wissensbedürfnis, an die<br />

des Helden, der das Schicksal in sich trägt,<br />

treten nun solche auf, bei denen nichts<br />

bekannt oder einleuchtend ist und bei denen<br />

deshalb die Einfühlung nicht mehr möglich<br />

ist, sondern nur Beobachtung.<br />

Diese Verwandlung läßt sich auch nicht<br />

nur alleine durch die Evolution der Menschheit<br />

rechtfertigen, sondern auch noch mit der<br />

großen Konkurrenz: das Kino.<br />

"Die Menschheit hatte nicht auf das Kino gewartet.<br />

Es entsprang keinem kommunikativen Bedürfnis und<br />

keinem Kultus, wie das Theater, die Musik oder die<br />

Malerei. Das Kino war Zufallsprodukt des technischen<br />

Fortschritts und wäre wohl ohne das Profitstreben<br />

der sich gleichzeitig entwickelnden<br />

Filmindustrie nur eine technisch-wissenschaftliche<br />

Spielerei geblieben. Das filmische Kunstwerk mußte<br />

sich seine spezifische Öffentlichkeit und seine eigenständige<br />

künstlerische Sprache erst schaffen. So ist es<br />

kaum verwunderlich, daß die Theaterwelt - wie<br />

übrigens die gesamte Kulturszene - dem neuen Medium<br />

zunächst keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Als<br />

technisches Kuriosum hatte es seinen Platz auf<br />

Rummelplätzen und in Kneipen und zog ein fast<br />

ausschließlich plebejisches Publikum an." 14<br />

Doch die Entwicklung erfolgte rasch und<br />

die Filmgesellschaften erkannten frühzeitig<br />

die Zeichen der Zeit. Von hier und bis zum<br />

Übergriff auf das kulturelle Besitztum des<br />

Theaters war es nur noch ein kleiner Schritt.<br />

Beim Kino blieb es nicht dabei, denn schon<br />

bald entdeckte man, daß nicht Theaterverfilmungen<br />

die Publikumsrenner sind.<br />

Im <strong>20</strong>. Jahrhundert wurde "Kommunikation"<br />

zum Schlagwort:<br />

"Wir leben im Zeitalter der neuen Medien. Film,<br />

Fernsehen und Computer haben das Freizeitverhalten<br />

der Menschen auf der ganzen Welt entscheidend verändert<br />

und die alten Medien - Literatur, Malerei und<br />

Theater -, wenn auch nicht verdrängt, so doch in ihrer<br />

Eigenschaft als Vermittler zwischen Mensch und<br />

Umwelt zu einem kostspieligen (aber zum Glück auch<br />

oft genug noch köstlichen) Luxus gemacht. Jahrhundertelang<br />

hatten in Europa Schauspieler, Theaterunternehmer<br />

und Dramatiker gegen kirchliche und<br />

14 Gronemeyer, Andrea Theater, Du Mont<br />

Buchverlag, Köln, <strong>19</strong>95, S. 128-129.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Zu einigen Aspekten der Dramentheorie in der deutschen Literatur<br />

staatliche Zensur für ihre Kunst und die gesellschaftliche<br />

Anerkennung ihres Berufstandes gekämpft.<br />

Zu Beginn des <strong>20</strong>. Jahrhunderts erfuhr das<br />

Theaterwesen tatsächlich die lang ersehnte Würdigung<br />

sowohl als autonome Kunstform. Wie auch als<br />

Medium, mit dem man verändernd in die gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit einzugreifen können glaubte.<br />

Das künstlerische und politische Avantgarde Theater<br />

des frühen <strong>20</strong> Jahrhunderts setzte große Erwartungen<br />

in seine Fähigkeit, bei der Schaffung einer neuen,<br />

dem gesellschaftlichen Wandel entsprechenden Kultur,<br />

maßgeblich mitzuwirken. Doch in der Konkurrenz<br />

mit den Massenmedien Film und Fernsehen<br />

geriet das Theater, vormals beliebteste Unterhaltungsform<br />

aller sozialen Schichten, Hoffnungsträger der<br />

emanzipatorischen Bewegung und Statussymbol der<br />

bürgerlichen Gesellschaft scheinbar ins Abseits." 15<br />

Die Form des Theaters geriet sodann<br />

immer wieder in Verwandlungen, die bis<br />

heute auf immer komplexere Darbietungen<br />

ausgerichtet sind. Das Avantgarde Theater<br />

oder das folgende Absurde Theater bilden<br />

Kapitel für sich, die nur zu wenig in ein paar<br />

Worten dargestellt werden können. Sie entspringen<br />

einer auf den Kopf gestellten<br />

Logik, falschen Schlußfolgerungen und<br />

freien Assoziationen. Im neuen Theater gibt<br />

es keine nennenswerte Handlung oder<br />

Intrigen mehr, es gibt keine Figuren, die man<br />

als Charaktere bezeichnen könnte, sondern<br />

eher als Marionetten, es gibt weder Anfang<br />

noch Ende und die Stücke selbst scheinen<br />

Spiegelbilder von Träumen oder Angstvorstellungen<br />

zu sein. Das einzige was bleibt ist<br />

ein, auf den ersten Blick, zusammenhangloses<br />

Geschwätz. Diese Art von Theater ist<br />

auf jeden Fall Exponent unserer Evolution,<br />

Produkte des neuen, modernen rationalen<br />

Menschen, über den Freud sagte:<br />

"Die Lust am Unsinn hat ihre Wurzeln in dem Gefühl<br />

der Freiheit, das uns überkommt, wenn wir die<br />

Zwangsjacke der Logik ablegen können" 16 .<br />

Der Impakt dieser Neuerungen ist so<br />

groß, daß inzwischen nicht nur die neuen<br />

Texte modern auf der Bühne aufgeführt<br />

werden, sondern auch Klassiker wie zum<br />

Beispiel Shakespeare. Und ich möchte diesbezüglich<br />

meinen Vortrag mit einem Zitat<br />

von Simon McBurney, dem Regisseur des<br />

Londoner Ensembles "Théâtre de Complicité",<br />

beenden:<br />

15 ebd. S. 132-133.<br />

16 Freud, Sigmund in Esslin Theater des Absurden, S.<br />

260.<br />

"Theater passiert immer in der Gegenwart, nicht in<br />

der Zukunft, wie der Film, wo es nur wichtig ist, was<br />

als nächstes passiert. Theater passiert jetzt in diesem<br />

Moment, und dann ist es vorbei und kann nicht festgehalten<br />

werden- außer in unserer Erinnerung. Das ist<br />

das Altmodische und das Großartige am Theater, daß<br />

es die Gegenwart behauptet und wichtig nimmt in<br />

einer Gesellschaft, die die Gegenwart abgeschafft hat.<br />

Unsere Gesellschaft kennt nur die Vergangenheit und<br />

die Zukunft - meine Investition von gestern wird mir<br />

morgen Profit bringen -, und deshalb will eine Gesellschaft,<br />

die nur ein einziges Ziel kennt, nämlich das<br />

Kapital und seine Vermehrung, nichts mehr vom<br />

Theater wissen. Aber dieser extreme Materialismus<br />

hat eine soziale Wüste geschaffen, und die Menschen<br />

mit ihrem Bedürfnis, zusammen zu sein und etwas zu<br />

erleben, brauchen das Theater dringender denn je.<br />

Theater ist wie Wasser und Brot." 17<br />

L i t e r a t u r ( e i n e A u s w a h l ) :<br />

1. FRIEDLÄNDER, Paul (Hrsg.), Schiller Ein<br />

Lesebuch unserer Zeit, Weimar, Thüringer<br />

Volksverlag, <strong>19</strong>53<br />

2. ESSLIN, Martin, Das Theater des Absurden,<br />

Frankfurt am Main, Athenäum Verlag, <strong>19</strong>65<br />

3. FISCHER-LICHTE, Erika, Kurze Geschichte<br />

des deutschen Theaters, Tübingen, Francke<br />

Verlag, <strong>19</strong>93<br />

4. GLASER, Hermann (Hrsg.) Wege der<br />

Deutschen Literatur-Ein Lesebuch, Ullstein<br />

Verlag, Frankfurt am Main, <strong>19</strong>75<br />

5. GRONEMEYER, Andrea, Theater, Köln,<br />

DuMont, <strong>19</strong>95<br />

6. LESSING, Gotthold Ephraim, Schriften, Bd.<br />

1-3, Frankfurt am Main, Insel, <strong>19</strong>67<br />

7. STAEHLE, Ulrich Theorie des Dramas,<br />

Stuttgart, Philipp Reclam jun., <strong>19</strong>92<br />

17 Gronemeyer, Andrea Theater, Du Mont<br />

Buchverlag, Köln, <strong>19</strong>95, S. 171.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 167


ICH, KÖRPER, HIRN, TIER, TOD, STADT, MASSE, WENDE, ZEIT – ZUR<br />

LYRIK DURS GRÜNBEINS<br />

In dieser barocken Titelzeile sind die<br />

wichtigsten lyrischen Themen des heute<br />

38jährigen Dichters versammelt, der im<br />

Jahre <strong>19</strong>95 mit dem Georg-Büchner-Preis<br />

ausgezeichnet wurde. All diese Themen sind<br />

in Grünbeins dichterischem Werk derart<br />

enggeführt, daß sie sich in zahlreichen Gedichten<br />

wechselseitig intensivieren und in<br />

ihnen nicht selten als Themencluster zur<br />

Sprache kommen. Wenn sich die folgenden<br />

Ausführungen nun auf das Thema der Großstadt<br />

in Grünbeins Lyrik konzentrieren, so ist<br />

dies nicht restriktiv, sondern vielmehr inklusiv<br />

zu verstehen: im Großstadtthema<br />

spiegeln sich die Zentralmetaphern von<br />

Grünbeins Lyrik und gestalten dieses zugleich<br />

durch ihre jeweils unterschiedliche<br />

Fokussierung. Im Gedicht In Tunneln der U-<br />

Bahn 1 beispielsweise finden sich Formulierungen,<br />

die - ohne im folgenden eigens<br />

kommentiert zu werden - diese thematisch<br />

intensivierende Engführung gleichwohl<br />

bestätigen: „und wer war ich: / ein genehmigtes<br />

Ich“; „Eine träge Masse war ich, /<br />

ein Passagier, / unter Tiermasken flüchtig“;<br />

„Fleisch tätowiert von Tabus“; „Schwitzendes<br />

Fleisch in Kolonnen“; „auf dieser<br />

Fahrt / unterm Nachtrand / an leeren Stationen<br />

vorbei, / Mit dem Suchbild der Toten“;<br />

„Passagen durchgeistert vom Taucherblick /<br />

eines schläfrigen Fahrgasts“; „So beruhigt,<br />

so verwirrt / hinter vermauerter Stirn“; „Ortlos,<br />

zeitlos, / als seist du / verdammt durch<br />

Geschichte / Zu eilen“; „Und siehst dich<br />

geschlagen / im Graubrotstaub / des enteigneten<br />

Alltags / Eines kleinen Mannes in<br />

Deutschland“ (Sch 113-117).<br />

1 Durs Grünbein, Von der üblen Seite. Gedichte<br />

<strong>19</strong>85-<strong>19</strong>91, Frankfurt am Main <strong>19</strong>94, S. 113-117. In<br />

der bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ‘Von der<br />

üblen Seite’ sind die beiden ersten Gedichtbände Grünbeins<br />

‘Grauzone morgens’ (<strong>19</strong>88) und ‘Schädelbasislektion’<br />

(<strong>19</strong>91), die jeweils erstmals bei Suhrkamp publiziert<br />

wurden, enthalten. Diese beiden Gedichtbände<br />

werden im Text mit den Seitenzahlen aus ‘Von der<br />

üblen Seite’ zitiert, und zwar mit folgenden Abkürzungen:<br />

‘Grauzone morgens’ = Gm; ‘Schädelbasislektion’ = Sch.<br />

Markus Fischer<br />

In seinem <strong>19</strong>94 erstmals in der FAZ erschienenen<br />

Essay Vulkan und Gedicht 2<br />

bringt Durs Grünbein sein poetisches Initiationserlebnis<br />

mit einer Großstadt in Verbindung,<br />

genauer gesagt mit seiner Heimatstadt<br />

Dresden, dem „Barockwrack an der<br />

Elbe“ (Sch <strong>19</strong>4), wo er <strong>19</strong>62 geboren worden<br />

war und aufwuchs. Der Müll- und<br />

Schuttberg vor den Toren Dresdens wird<br />

dem jungen Dichter zur lyrisch-historischen<br />

Fundgrube:<br />

"Mit siebzehn stieg ich zum letztenmal auf den<br />

Müllberg, der nun auch meinem Unbewußten ein<br />

Synonym geworden war für Dreck, Ungeziefer,<br />

Krankheit und Tod. Unter den Schichten jahrzehntelang<br />

aufgeschütteten Mülls, so besagte die Chronik,<br />

lag das Alte Dresden, im Weltkrieg zerstört, ein<br />

barockes Pompeij. Hier am nördlichen Stadtrand<br />

hatte man seine Trümmer zu einem riesigen Tafelberg<br />

aufgetürmt, die gestürzten Kirchenportale über die<br />

leeren Balkone, die Emporen zerbombter Theater<br />

über Rümpfe brandgeschwärzter Statuen. Und als<br />

hätte der glorreiche Schutt alles spätere nach sich gezogen,<br />

war seither sämtlicher Müll aus den Wohnhäusern<br />

hierher geschafft worden, abgelagert auf dem<br />

Ruinenkehricht einer untergegangenen Stadt.<br />

Damals hatte ich angefangen, mir Notizen zu<br />

machen, kleine emphatische Schreibereien, die wie<br />

Gedichte aussahen und nur im engsten Kreis vorzeigbar<br />

waren." 3<br />

Vulkan und Stadt, die in der Antike als<br />

Vesuv und Pompeij noch geschieden waren,<br />

werden in Grünbeins postmoderner Sichtweise<br />

identisch und gleichsam austauschbar.<br />

Dresden wird zum Vulkan und speit seine<br />

Trümmer in die Umgebung, verschüttet seine<br />

Geschichte schließlich unter seinem eigenen<br />

Müll. Der Müllberg seinerseits wird zur<br />

Stadt, der unter den Auswürfen der Industrie<br />

und den Ausstößen der Warenwelt, unter<br />

dem niedergehenden Ascheregen der Zivilisation<br />

Geschichte, Leben, Erinnerung birgt.<br />

Der Archäolyriker Grünbein wendet sich<br />

2 Wieder abgedruckt in: Durs Grünbein, Galilei vermißt<br />

Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen.<br />

Aufsätze <strong>19</strong>89-<strong>19</strong>95, Frankfurt am Main <strong>19</strong>96, S. 35-<br />

39.<br />

3 Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, (Anm. 2), S. 38f.


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

dieser unter zivilisatorischer Lava begrabenen,<br />

konservierten und versiegelten Wirklichkeit<br />

zu:<br />

„Das wenige, worauf später die Spitzhacke stößt,<br />

der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers,<br />

dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte<br />

sind.“ 4<br />

So wie sich im Bilde jenes Müllberges<br />

Ausgeworfenes und Verschüttetes bis zur<br />

Ununterscheidbarkeit vermengen, so ist auch<br />

die Sprache und die Poetik des postmodernen<br />

Lyrikers notgedrungen jener Ambiguität<br />

unterworfen. Mit Blick auf die antike<br />

Poetik unter den Bedingungen der Postmoderne<br />

kommt Grünbein denn auch zu folgendem<br />

Schluß:<br />

„Das Horazische decorum wäre dann beides, der<br />

zivilisatorische Auswurf und jene Lava, in der die<br />

Ersten Augenblicke, Dinge und Gesten, Szenen und<br />

Gedanken konserviert sind gleich überraschten<br />

Lebewesen.“ 5<br />

Für den politisch und zeitdiagnostisch<br />

aufmerksamen wie kritischen poeta doctus<br />

Durs Grünbein stellt die antike Tradition,<br />

namentlich Horaz, Lukrez und Juvenal, einen<br />

unauslöschlichen Bezugsrahmen seines Werkes<br />

dar. Heiner Müller hat dies in seiner<br />

Laudatio auf Durs Grünbein anläßlich der<br />

Verleihung des Georg-Büchner-Preises <strong>19</strong>95<br />

noch einmal betont:<br />

„Es ist keine Koketterie, wenn Grünbein behauptet,<br />

daß Juvenal ihm näher steht, der Autor einer anderen<br />

Endzeit mit dem kalten Blick auf einen barbarischen<br />

Neubeginn, auf die teuren Toten und die billigen<br />

Tode.“ 6<br />

So trägt denn auch der jüngste, <strong>19</strong>99 erschienene<br />

Gedichtband Grünbeins nicht von<br />

ungefähr den Titel Nach den Satiren. 7 Er<br />

4<br />

Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, (Anm. 2), S.<br />

39.<br />

5<br />

Ebd.<br />

6<br />

Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />

Grenzhund. Laudatio auf Durs Grünbein, in: Deutsche<br />

Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch <strong>19</strong>95,<br />

Darmstadt <strong>19</strong>96, S. 174-176; hier: S. 175.<br />

7<br />

In seinen Anmerkungen zu diesem Gedichtband<br />

gibt Grünbein folgende Erläuterung des Titels: „Nach<br />

den Satiren, das war, wenn alles gesagt und durchgekaut<br />

war, der Heimweg, der Katzenjammer, die Zeit der<br />

Gedankenspiele und der Verdauung. Während der Magen<br />

arbeitete, kehrten die mit vollem Munde ver-spotteten<br />

Dämonen langsam zurück. Die meisten Todesfälle<br />

unter den reichen Römern traten während der Nacht<br />

oder am Morgen nach solcher fetten Mahlzeit ein. Nach<br />

stellt einen bewußten Rückgriff auf die<br />

Satiren des Juvenal dar, und zwar in einem<br />

mehrfachen Sinne: er kennzeichnet zum<br />

einen die Situation des Nachgeborenen, der<br />

sich zeitlich später auf die vorhandene Tradition<br />

bezieht; er kennzeichnet außerdem die<br />

Situation dessen, der sich über die Zeiten<br />

hinweg mit dem spät- und endzeitlichen Denken<br />

eines anderen Dichters identifiziert und<br />

nach, d.h. gemäß dessen Satiren zu dichten<br />

sich anschickt; er kennzeichnet schließlich<br />

die Situation des postmodernen Dichters, der<br />

auch nach den Nihilismen der Moderne noch<br />

nach lyrischen Worten sucht, er kennzeichnet<br />

- mit den Worten Heiner Müllers - „die<br />

Generation der Untoten des kalten Krieges,<br />

die Geschichte nicht mehr als Sinngebung<br />

des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur<br />

noch als sinnlos begreifen kann.“ 8<br />

In seinen Satiren hat Juvenal das Gift<br />

maßloser Verdammung über alle Bereiche<br />

der damaligen Zivilisation ausgegossen. Insbesondere<br />

die Ewige Stadt, die er allerdings<br />

selten verließ, bildete die immerwährende<br />

Zielscheibe seines beißenden Spotts und<br />

zugleich die ubiquitäre Kulisse für sein<br />

ceterum censeo, es sei difficile saturam non<br />

scribere. Vor allem in Juvenals dritter Satire,<br />

der Grünbein das Motto 9 für seine eigene<br />

erste entnommen hat, kommt die Verachtung<br />

des Großstadtlebens ungehemmt zur Sprache.<br />

Es heißt da bei Juvenal:<br />

„Welcher Ort ist so elend, so einsam, daß nicht<br />

schlimmer wäre die ständige Angst vor Bränden, vor<br />

dauerndem Einsturz von Häusern, vor den tausend<br />

Gefahren der grausamen Stadt und vor Dichtern, die<br />

im August öffentlich vortragen?“ 10<br />

Mehrmals wird Juvenal von Grünbein in<br />

seiner ersten Satire namentlich genannt, und<br />

zwar in identifikatorischer Absicht: Juvenalis<br />

erscheint dem lyrischen Ich als der Ahnherr<br />

den Satiren, - kamen die üblen Schatten zurück, die<br />

Sarkasmen, Grund für die Schlaflosigkeit. Überall<br />

Knochen und Rülpser, und die schöne Zeit war vorbei.“<br />

(Durs Grünbein, Nach den Satiren, Frankfurt am Main<br />

<strong>19</strong>99, S. 223). ‘Nach den Satiren’ wird im Text mit der<br />

Sigle ‘NdS’ abgekürzt.<br />

8 Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />

Grenzhund, (Anm. 6), S. 174.<br />

9 Es lautet: „In der Stadt zu schlafen kostet viel Geld,<br />

/ Davon rühren alle Übel her.“ (NdS 93).<br />

10 Juvenal, Satiren, Stuttgart <strong>19</strong>94, S. 27.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 169


„urbaner Widergänger“ 11 (NdS 95), „Hunderte<br />

Leben seit Juvenalis“ (NdS 96) steht<br />

das lyrische Ich nun selbst inmitten des Getriebes<br />

der modernen Großstadt und registriert<br />

die in ihr waltenden und von ihr ausgehenden<br />

Gefahren.<br />

Nicht nur Juvenal, sondern eine ganze<br />

Ahnenreihe von Dichtern begleitet Grünbeins<br />

lyrisches Ich durch die Labyrinthe der<br />

Metropolen. Das Gedicht Grauzone morgens<br />

aus Grünbeins gleichnamigem erstem Lyrikband<br />

wendet sich mit seinen Anfangszeilen<br />

„Grauzone morgens, mon frère, auf dem /<br />

Weg durch die Stadt / heimwärts / oder zur<br />

Arbeit (was macht das schon)“ (Gm 10) an<br />

den Leser wie einst Baudelaire in seinem<br />

Widmungsgedicht zu Les Fleurs du Mal mit<br />

dem berühmten Schlußvers: „- Hypocrite<br />

lecteur, - mon semblable, - mon frère!“ 12<br />

Neben Baudelaire sind es vor allem Edgar<br />

Allan Poe, Walt Whitman, Ezra Pound,<br />

James Joyce, Thomas Stearns Eliot und<br />

William Seward Burroughs, die in der<br />

Sekundärliteratur 13 als literarische Vorbilder<br />

Grünbeins - nicht zuletzt in Bezug auf die<br />

Großstadtthematik - zu Recht immer wieder<br />

genannt werden. So findet sich im gesamten<br />

Werk Grünbeins eine Fülle von Zitaten, Anspielungen<br />

und intertextuellen Bezügen, die -<br />

vergleichbar etwa der wissenschaftlichen Beschäftigung<br />

mit der Dichtung Paul Celans -<br />

den Kommentar zur unabdingbaren Voraussetzung<br />

der Interpretation und der Kritik<br />

machen. In Grünbeins oben bereits erwähnter<br />

erster Satire beispielsweise identifiziert sich<br />

das die Großstadtwelt registrierende lyrische<br />

Ich unter anderem mit einem, der „Verse auf<br />

eine Banknote schrieb“ (NdS 98): diese<br />

Wendung spielt auf Hugo von Hofmannsthals<br />

Gedicht Verse, auf eine Banknote ge-<br />

11 Im Wort „Widergänger“ schwingt freilich auch der<br />

Revenant, der Wiedergänger mit.<br />

12 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, übers. v.<br />

Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart <strong>19</strong>80, S. 8.<br />

13 Vgl. z.B.: Verleihung des Bremer Literaturpreises<br />

<strong>19</strong>92. Ror Wolf, Durs Grünbein, Laudationes und Dankesworte,<br />

Bremen <strong>19</strong>92; Franz Josef Czernin, Falten<br />

und Fallen. Zu einem Gedichtband von Durs Grünbein,<br />

in: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, <strong>Nr</strong>. 45, Mai<br />

<strong>19</strong>95, Essen <strong>19</strong>95, S. 179-188; Durs Grünbein, Kurzer<br />

Bericht an eine Akademie, in: Deutsche Akademie für<br />

Sprache und Dichtung, Jahrbuch <strong>19</strong>95, Darmstadt<br />

<strong>19</strong>96, S. 185-188.<br />

170<br />

Markus Fischer<br />

schrieben an und ruft insbesondere dessen<br />

dritte Strophe ins Gedächtnis:<br />

Doch manchmal, ohne Wunsch, Gedanke,<br />

/Ziel,<br />

Im Alltagstreiben, mitten im Gewühl<br />

Der Großstadt, aus dem tausendstimmigen<br />

/Chor,<br />

Dem wirren Chaos, schlägt es an mein<br />

/Ohr<br />

Wie Märchenklang, waldduftig, nächtig<br />

/kühl,<br />

Und Bilder seh ich, nie geahnt zuvor. 14<br />

Inwieweit dieses intertextuelle Spiel in<br />

Grünbeins Lyrik - wie noch in der Dichtung<br />

der Moderne - semantische Strukturen zu<br />

transportieren und geistige Horizonte wachzurufen<br />

in der Lage ist, oder ob Tradition,<br />

wie etwa Franz Josef Czernin 15 kritisch anmerkt,<br />

bei Grünbein zum bloßen Verfahren<br />

degradiert und zur postmodernen Designer-<br />

Droge umfunktioniert wird, mag sich am<br />

einzelnen Gedicht erweisen. Für uns steht<br />

zunächst jedoch nicht diese literaturkritische<br />

Frage im Vordergrund der Betrachtung, sondern<br />

die Großstadtthematik und damit<br />

zusam-menhängend die Frage der Einordnung<br />

des Grünbeinschen Oeuvres in die Tradition<br />

deutscher Großstadtlyrik.<br />

Vor allem drei Großstädte sind es, die in<br />

Grünbeins lyrischem Werk eine zentrale<br />

Rolle spielen: seine Heimatstadt Dresden,<br />

seine Wahlheimatstadt Berlin, in die er <strong>19</strong>85<br />

übergesiedelt war, und New York, für den in<br />

der DDR geborenen Poeten in potenziertem<br />

Maße Inbegriff einer westlichen Megalopolis.<br />

Alle drei Städte hat Grünbein mit<br />

Essays 16 bedacht: die Stadt seiner Kindheit<br />

und Jugend mit dem Essay Chimäre Dresden,<br />

die Stadt seines poetischen Werkes 17<br />

14 Hugo von Hofmannsthal, Gedichte. Dramen I<br />

(1891-1898), hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit<br />

Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main <strong>19</strong>79, S. 94.<br />

15 Vgl. Anm. 13.<br />

16 Wieder abgedruckt in dem in Anm. 2 erwähnten<br />

Essayband (S. 129-151).<br />

17 In ‘Transit Berlin’ bezeichnet Grünbein es als<br />

unsinnig, angesichts der ubiquitären Transitorik noch<br />

von einem Werk zu sprechen: „Sprachlich hat es, gerade<br />

wegen seiner Polyvalenz, jeglichen Zusammenhang<br />

verloren, doch als Fragment, Ereignis, Willkürakt,<br />

Durchsage einer Einzelstimme im Gewirr beansprucht<br />

es den ganzen Stellenwert eines ‘moment juste’“ (Anm.<br />

16, S. 143).<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

mit dem Essay Transit Berlin und mit seinem<br />

Essay Manhattan Monolog die Stadt, in und<br />

mit der er den Osten wie den Westen gleichermaßen<br />

zu überwinden sich vorgenommen<br />

hatte. Freilich kommen auch andere<br />

Städte in seinen Gedichten zur Sprache, Los<br />

Angeles beispielsweise, Moskau, Paris, Rom<br />

und vor allem Venedig in seinem an die<br />

große Tradition deutscher Venedig-Dichtung<br />

anknüpfenden Zyklus Veneziana aus Nach<br />

den Satiren. Zahlreiche Gedichte lassen sich<br />

zudem keiner bestimmten Stadt zuordnen, sie<br />

haben einfach die Großstadt als solche zum<br />

Gegenstand mit ihrem ganzen Arsenal an<br />

Themen, die seit dem Ausgang des <strong>19</strong>.<br />

Jahrhunderts in die deutsche Literatur Einzug<br />

gehalten haben. Die Industrie- und Sozialkritik<br />

des Naturalismus, ergänzt durch die<br />

zeitgenössische ökologische Komponente, ist<br />

in Grünbeins Gedichten ebenso präsent wie<br />

die eskapistische und dadurch gleichwohl bedeutsame<br />

Tradition des Ästhetizismus, man<br />

denke beispielsweise an das Einer Gepardin<br />

im Moskauer Zoo (NdS 55) gewidmete<br />

Poem, das eine lyrische Antwort auf Rilkes<br />

Der Panther darstellt, oder auch an die Fünf<br />

Impromptus (NdS 133-141), von denen das<br />

Yoni betitelte zweite ebenfalls auf ein Gedicht<br />

Rilkes, das Sonett Die Fensterrose,<br />

antwortet. Die Blüte der deutschen Großstadtlyrik,<br />

die expressionistische Großstadtdichtung,<br />

manifestiert sich bei Grünbein<br />

nicht nur in der Wiederaufnahme der Motive<br />

des Todes, des Verfalls, des Untergangs und<br />

des Weltendes, sondern auch im Rückgriff<br />

auf die Topoi der existenziellen Einsamkeit<br />

und der Anonymität in der Masse, wie diese<br />

vor allem in seinen zahlreichen U-Bahn-Gedichten<br />

in Erscheinung treten. Die Stadt als<br />

Ort der Vergnügung und der Verführung, wie<br />

sie aus der Großstadtlyrik der zwanziger<br />

Jahre bekannt ist, kommt bei Grünbein<br />

ebenso zur Geltung wie das schon im Expressionismus<br />

übliche Ensemble städtischer<br />

Treffpunkte und Begegnungsräume wie zum<br />

Beispiel Cafés und Hotels. Die Großstadtdichtung<br />

der Kriegs- und Nachkriegszeit mit<br />

ihrer Trümmer- und Ruinenthematik ist insbesondere<br />

in Grünbeins Gedichten auf und<br />

über Dresden präsent. Vor allem die Großstadtlyrik<br />

der sog. Alltagsdichter 18 , nament-<br />

18 Darauf weist u.a. auch Kurt Drawert in seiner<br />

Rezension zu ‘Schädelbasislektion’ hin; vgl. dazu: Kurt<br />

lich Nicolas Born, Jürgen Theobaldy und<br />

allen voran Rolf Dieter Brinkmann, stellt<br />

dann wieder einen literarhistorischen Fixpunkt<br />

in Grünbeins Oeuvre dar. Schließlich<br />

ist Grünbeins Großstadtdichtung ohne die<br />

politische Lyrik der Wendezeit, ohne den<br />

Prenzlauer Berg und die Reflexion auf die<br />

Problematik des posttotalitären Menschen <strong>19</strong><br />

schlechthin nicht denkbar.<br />

Nach diesem kurzen Überblick über die<br />

Großstadtdichtung Durs Grünbeins, ihre<br />

Themen, Vorbilder und literarischen Traditionen,<br />

wollen wir uns nun in einem zweiten<br />

Teil anhand von exemplarischen Interpretationen<br />

einzelnen ausgewählten Gedichten zuwenden.<br />

Im Vordergrund wird dabei neben<br />

der Großstadtthematik auch die literarische<br />

Entwicklung, die literaturkritische Wertung<br />

und die literaturgeschichtliche Bedeutung<br />

des viel geehrten und hoch gepriesenen jungen<br />

Dichters stehen. Die Anfänge Durs<br />

Grünbeins stehen im Zeichen der sog.<br />

Alltagslyrik. Sein Gedicht Eine einzige silberne<br />

Büchse (Gm 26) aus seinem ersten<br />

Lyrikband, das eine weggeworfene Sardinenbüchse<br />

zum Gegenstand hat, ist ganz im Ton<br />

dieser literarischen Strömung der siebziger<br />

Jahre gehalten. Während aber Rolf Dieter<br />

Brinkmann beispielsweise in seinem Gedicht<br />

Die Konservendose <strong>20</strong> auf jede Poetisierung<br />

des alltäglichen Dinges verzichtet - „[...] was<br />

// hat das zu be- / deuten, fragte / er, sie gab<br />

ihm / darauf keine Ant- // wort [...]“ 21 -,<br />

steigert Grünbein die Realität dieses weggeworfenen<br />

Müllobjekts, das er zunächst als<br />

„ziemlich / bedeutungsarm“ (Gm 26)<br />

charakterisiert, durch die ästhetisch über-<br />

Drawert, Die leeren Zeichen, in: neue deutsche literatur,<br />

40. Jg., 474. Heft, 6/92, Berlin, Weimar <strong>19</strong>92, S. 132-<br />

137.<br />

<strong>19</strong> Sibylle Cramer spricht in ihrer Laudatio anläßlich<br />

der Verleihung des Bremer Literaturpreises <strong>19</strong>92 an<br />

Durs Grünbein von der „Krise des Subjekts nach dem<br />

Zerfall des totalitären Staates und beim Eintritt in die<br />

mediale Kommunikationsgesellschaft des Westens“<br />

(Anm. 13, S. 29); der posttotalitäre Mensch ist einerseits<br />

dem Zugriff der Politik entzogen und andererseits<br />

noch nicht Beutetier der Medien geworden, oder, anders<br />

ausgedrückt, er ist noch kein „kapitalistischer Idiot und<br />

sozialistisches Staatstier“ (ebd.) nicht mehr!<br />

<strong>20</strong> In: Rolf Dieter Brinkmann, Künstliches Licht.<br />

Lyrik und Prosa, hg. v. Genia Schulz, Stuttgart <strong>19</strong>94, S.<br />

36.<br />

21 Ebd.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 171


höhenden Schlußverse: „sie allein / unter<br />

sovielem Strandgut / im Landesinneren hält<br />

schon // was dieser Morgen an Schönheit<br />

verspricht“ (Gm 26). Die Sardinenbüchse,<br />

idiomatisch bereits Metapher für Massenhaftigkeit,<br />

Eingesperrtsein und Enge, wird durch<br />

die Kennzeichnung als „Strandgut im Landesinneren“<br />

ein zweites Mal personifiziert:<br />

die Menschen in Grünbeins großstädtischer<br />

Grauzone - „eingesperrt in // überfüllte<br />

Straßenbahnen, gepanzert auf / engstem<br />

Raum“ (Gm 15) - sind Gefangene „unten am<br />

Schlammgrund der Straßen“ (Sch 109) auf<br />

ihren Wegen durch das Labyrinth der Großstadt.<br />

Allein die Sardine evoziert durch ihre<br />

Farbe (nicht grau, sondern silbern) und durch<br />

ihren natürlichen Lebensraum, das Meer,<br />

etwas, das diese Grauzonenlandschaft durchbricht:<br />

Schönheit und Weite. So wird das<br />

Alltagsgedicht über eine weggeworfene Konservenbüchse<br />

bei Grünbein zu einem Poem<br />

auf die Schönheit der Freiheit.<br />

Dieselbe Tendenz der Beerbung der Alltagslyrik<br />

im Ton bei gleichzeitiger Überwindung<br />

dieses Genres durch Semantisierung<br />

und Poetisierung wird auch in dem Gedicht<br />

Was alles klar wird (Gm 22) deutlich:<br />

172<br />

Was alles klar wird an so einem Morgen. Du<br />

bist noch immer<br />

derselbe wie gestern<br />

oder<br />

jedenfalls scheint es so, ganz<br />

egal was<br />

du selbst von dir hältst. (‘Lieber erstickt<br />

als erfroren’, sagen die<br />

Leute hier, aus Erfahrung.) In dieser<br />

Grauzonenlandschaft am Morgen<br />

ist vorerst alles ein<br />

toter Wirrwarr abgestandener Bilder, z.B.<br />

etwas Rasierschaum im<br />

Rinnstein, ein Halsband<br />

oder im Weitergehn ein Verbotsschild. Du<br />

fliegst nicht auf. Vor den letzten Ruinen<br />

haften Eltern für ihre<br />

Kinder (was hier so<br />

Brauch ist). Und schon<br />

bist du eingeschlossen<br />

geduldig im Leib des Tausendfüßlers, der<br />

seinen Gang geht.<br />

Entlang der Straßen tobt<br />

architektonischer Kalter Krieg, stalineske<br />

Fassaden, an denen noch immer<br />

Markus Fischer<br />

kein Riß sichtbar wird<br />

(Traum oder Trauma)<br />

schattenlos -<br />

wie der idiotische alte Zeppelin schwarz<br />

über ‘Europas Balkon’.<br />

Der unscheinbare Anfang des Gedichts<br />

läßt sogleich das Thema der Selbstvergewisserung<br />

des lyrischen Ichs anklingen. Die<br />

Identität dieses Ichs wird nicht von innen her<br />

konstituiert, sondern von außen aufgezwungen,<br />

was durch die sächsisch-humorvolle<br />

Redewendung „lieber erstickt als erfroren“<br />

und die durch sie evozierte drangvolle Enge<br />

in einer Masse auch bildhaft noch unterstrichen<br />

wird. Allein über die selektive Wahrnehmung<br />

von Details (Rasierschaum, Halsband,<br />

Verbotsschild) gelingt dem lyrischen<br />

Ich die indirekte und vermittelte Selbstaussage,<br />

die zudem gesellschaftlich verborgen<br />

bleibt: „Du // fliegst nicht auf“ heißt es in der<br />

exakten Mitte des Gedichts! Der Hiatus<br />

zwischen Vers 15 und 16, der das Gedicht<br />

dichotomisch gliedert, symbolisiert die leere<br />

Mitte, die fehlende Vermittlung von Ich und<br />

Gesellschaft. Der Doppelsinn des Wortes<br />

‘auffliegen’ bringt den Schutz des lyrischen<br />

Ichs durch seine Anonymität in der Masse,<br />

aber zugleich auch seine Unfreiheit zum<br />

Ausdruck, was im Bild des Tausendfüßlers<br />

zusätzlich hyperbolisch verdichtet wird. Das<br />

an jeder Baustelle angebrachte Verbotsschild<br />

‘Eltern haften für ihre Kinder’, ein alltäglicher<br />

Gegenstand, erhält durch seine spezifische<br />

Montage in diesem Gedicht einen<br />

anderen, zudem historischen Sinn: die ältere<br />

Generation haftet hier nicht dafür, was die<br />

jüngere anstellt, sondern sie haftet umgekehrt<br />

zum Wohle der jüngeren dafür, was sie selbst<br />

angestellt hat! Die historischen Details evozieren<br />

markante Punkte der Geschichte des<br />

<strong>20</strong>. Jahrhunderts: Zweiter Weltkrieg, Stalinismus,<br />

Sozialismus und Kalter Krieg. So wie<br />

in der Gegenwart dieses Gedichts Eltern<br />

immer noch nicht für ihre Kinder haften, so<br />

sind auch die Fassaden der Vergangenheit<br />

noch intakt. Vergangenheitsbewältigung findet<br />

nicht statt, nur als Traum erscheint das<br />

Trauma, Schattenlosigkeit als Schicksal.<br />

Über der Brühlschen Terrasse, dem ‘Balkon<br />

Europas’ schwebt wie ein Menetekel der<br />

Geschichte ein alter Zeppelin und zeigt<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

durch seine schiere Präsenz im Gedicht an,<br />

was alles klar wird an so einem Morgen in<br />

Dresden.<br />

Bereits in Grünbeins frühen Gedichten<br />

zeigt sich eine weitere Tendenz deutscher<br />

Gegenwartslyrik, die literaturgeschichtlich<br />

betrachtet bisher kaum eine Verbindung mit<br />

der Alltagsdichtung eingegangen ist, ja diese<br />

vielmehr auszuschließen schien: die auf<br />

Gottfried Benn fußende Tendenz zur bis ins<br />

Manieristische gehenden Sprachartistik. So<br />

hebt beispielsweise Hans-Jürgen Heise Grünbeins<br />

„Faible für die Wortkunst“ 22 hervor. Er<br />

bezeichnet außerdem Grünbeins Denken als<br />

kopflastig, hypertroph und solitär – Vorurteile,<br />

die man auch Benn gegenüber vorbrachte<br />

- und sieht in Grünbeins Vorliebe für<br />

Fremdworte und medizinische Fachbegriffe<br />

sowie im Zerebralen seiner Dichtung eine<br />

große Nähe zu Gottfried Benn. 23 So ist beispielsweise<br />

das Gedicht Singende Hirne (Sch<br />

218) ganz im Bennschen Ton abgefasst:<br />

Singende Hirne, mein Freund, verkapselt<br />

wie Mohn,<br />

Hoch montiert auf Stativen: Das sind wir -<br />

(O helles Walnußmark)<br />

Innen so fruchtfleischweich<br />

Außen so knochenstark;<br />

Antenne, Höhlung, Traumration.<br />

Benns „armer Hirnhund“ 24 ist in Grünbeins<br />

lyrischem Selbstbildnis, dem Portrait<br />

des Künstlers als junger Grenzhund (Sch<br />

175), ebenso gegenwärtig wie Benns Nachtcafé<br />

25 in Grünbeins Gedicht Zerebralis (Sch<br />

216; vgl. Gm 15), wo die Bennsche Synekdoche<br />

im Bild der bloßgelegten Gehirne<br />

kulminiert:<br />

Stell dir vor: Ein Café voller Leute, alle<br />

22 Hans-Jürgen Heise, S-Bahn-Surfing oder stilles<br />

Betrachten?, in: die horen. Zeitschrift für Literatur,<br />

Kunst und Kritik, 41. Jg., 3. Quartal <strong>19</strong>96, Heft 183, S.<br />

<strong>19</strong>3.<br />

23 Ähnlich auch Peter Hamm in seiner Lobrede auf<br />

Durs Grünbein mit dem Titel ‘Vorerst - oder: Der<br />

Dichter als streunender Hund’ in: manuskripte. Zeitschrift<br />

für Literatur 122/93, Graz <strong>19</strong>93, S. 103-106.<br />

24 Gottfried Benn, Untergrundbahn, in: Ders., Das<br />

Hauptwerk, Bd. 1: Lyrik, hg. v. Marguerite Schlüter,<br />

Wiesbaden, München <strong>19</strong>80, S. 31.<br />

25 Anm. 24, S. 18f.<br />

Mit abgehobenen Schädeldecken, Gehirn<br />

Bloßgelegt<br />

(Dieses Grau!) und dazwischen<br />

Nichts mehr was eine Resonanz auf den<br />

Terror ringsum<br />

Dämpfen könnte.<br />

Zahlreiche Kritiker 26 haben auf das große<br />

und schillernde Spektrum der lyrischen<br />

Redeweisen im Werk Durs Grünbeins hingewiesen.<br />

Da finden sich Strophengedichte,<br />

Oden, Lieder, freier Vers, reine Prosa, Gereimtes<br />

und Ungereimtes, kurze und lange<br />

Gedichte, verschiedenste Metra, Montagen,<br />

flächenhafte und zyklische Kompositionen.<br />

Tendenzen zur Hermetik und Abstraktion<br />

sind bei Grünbein ebenso zu beobachten wie<br />

eine starke poetologische Komponente. So<br />

heißt es beispielsweise in dem Fast ein Gesang<br />

(Gm 62-64) betitelten Gedicht: „Dann<br />

geht plötzlich alles / schief / du bist nur noch<br />

/ aufgelegt zu geduldigen / Elegien / montierst<br />

lustlos / ein bißchen an diesen /<br />

verbogenen Mobiles aus / Tele- / graphendrähten<br />

und altem / Gitterwerk“ (Gm 62);<br />

„Klar daß / fast jedes Gedicht dir / vor<br />

Müdigkeit schlaff wie / ein loses Spruchband<br />

zum / Hals heraushängt: / dieser Vers / so gut<br />

wie ein anderer / hier / auf einer Grautonskala“<br />

(Gm 62). Aber auch in anderen Gedichten<br />

Grünbeins, etwa im MonoLogische<br />

Gedichte überschriebenen Zyklus aus Grauzone<br />

morgens (Gm 71-81), der seinerseits<br />

wiederum auf Benns Diktum von der Monologizität<br />

der Lyrik verweist, wird die Reflexion<br />

auf das Entstehen und Verfertigen von<br />

Gedichten Teil des poetischen Prozesses.<br />

Manieristische Tendenzen zeigen sich<br />

bei Grünbein nicht nur im Alltagsgedicht,<br />

sondern auch in seiner politischen Lyrik. In<br />

seinen Sieben Telegrammen aus Schädelbasislektion<br />

beispielsweise, die sich allesamt<br />

auf die Wendemonate in der DDR vom Sturz<br />

Erich Honeckers im Oktober <strong>19</strong>89 bis zur<br />

Volkskammerwahl <strong>19</strong>90 beziehen, findet<br />

sich auch das Gedicht 12/11/89 (Sch 143),<br />

das die Tage nach der Maueröffnung reflektiert:<br />

Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist<br />

/offen jetzt.<br />

Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels<br />

26 Vgl. Anm. 13.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 173


174<br />

/Schmalland<br />

Vorbei wie das stählerne Schweigen...Heil<br />

/Stalin.<br />

Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern<br />

/verschanzt.<br />

Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede<br />

/geht anders.<br />

Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser<br />

/abgesackt.<br />

Revolutionsschrott en masse, die Massen<br />

/genasführt<br />

Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt<br />

/ein Gebet:<br />

Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs, bitt<br />

/für uns.<br />

Wie die Maueröffnung den Deutschen<br />

die Möglichkeit gab, zu einander und zu sich<br />

zu finden, so ist auch das Berlin-Gedicht, das<br />

seit fast einem halben Jahrhundert ein Gedicht<br />

über das geteilte Deutschland - um es<br />

mit den Worten Hans Magnus Enzensbergers<br />

zu sagen: ein Gedicht über „ein aufgetrenntes,<br />

inwendig geschiedenes herz“ 27 - zu<br />

sein verurteilt war, in diesem historischen<br />

Moment dazu aufgerufen, zu sich zu kommen,<br />

und zwar in einem doppelten Sinne: im<br />

Sinne des Austausches zwischen sozialistischem<br />

und kapitalistischem System, zwischen<br />

östlicher und westlicher Lebensart,<br />

aber auch im Sinne des Aufwachens aus<br />

einem Zustand der Bewußtlosigkeit und<br />

Lethargie. Der programmatische Anfang des<br />

Gedichts, der Aufbruchsstimmung und neue<br />

Horizonte verheißt, findet aber in Vers 3 ein<br />

jähes Ende an den drei Punkten, die eine<br />

Auslassung, einen Bruch, vielleicht aber<br />

auch nur ein blasiertes „und so weiter“<br />

markieren. „Heil Stalin“, Ausruf der Regression<br />

und Restauration, leitet die Wende<br />

im Gedicht ein: die bislang nur sparsam eingesetzten<br />

Alliterationen und Assonanzen<br />

werden in den folgenden Versen in manieristischer<br />

Weise potenziert. Die Sprache verselbständigt<br />

sich bis zum Stilbruch („die<br />

Uhren auf Touren“), die Phonetik gebiert die<br />

Semantik! Die im Brackwasser räubernden<br />

Kopffüßler sind abgesackt, die Nomenklatura<br />

auf Tauchstation gegangen, dennoch bleiben<br />

die Massen genasführt, obwohl die Tatsache,<br />

daß nun jede Uhr anders geht, auf den<br />

27 Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Gedichte,<br />

Frankfurt am Main <strong>19</strong>69, S. 11.<br />

Markus Fischer<br />

Gewinn von Individualität hindeutet. Statt<br />

revolutionärem Neubeginn und Vorwärtsdrang<br />

Revolutionsschrott und bankrotter<br />

Trott in Rotten. Die Anrufung Kim Il Sungs,<br />

des Inbegriffs kommunistischer Diktatur<br />

nach dem Ende des Kommunismus, in der<br />

Schlußzeile des Gedichts knüpft an das „Heil<br />

Stalin“ in Vers 3 an und vollendet mit einer<br />

Mixtur aus christlicher Fürbitte und antiker<br />

Erneuerungssymbolik das revolutionäre Potpourri,<br />

in dem sich Wende und Ende, Befreiung<br />

und Knechtschaft, Individualität und<br />

Masse manieristisch amalgamieren. Der<br />

Manierismus ist in diesem Gedicht Grünbeins<br />

jedoch Programm: er zeigt, wie sich in<br />

dieser Zeit des Übergangs und der Wende<br />

Inhalte noch nicht herauskristallisiert haben,<br />

semantische Strukturen noch diffus sind, und<br />

wie Gleichklang Differenzen verräterisch zudeckt<br />

wie auch verratend aufzudecken<br />

vermag.<br />

Ein weiteres Berlin-Gedicht aus<br />

Schädelbasislektion, das Durs Grünbein auch<br />

in seine <strong>19</strong>94 erschienene Sammlung von<br />

Epitaphen Den Teuren Toten aufgenommen<br />

hat, folgt ebenfalls der Logik des Manierismus.<br />

Das Gedicht Berlin (Sch 1<strong>20</strong>) 28 beschreibt<br />

den in Großstädten immer wieder<br />

auftretenden Fall, daß Menschen bei laufendem<br />

Programm vor ihrem Fernsehgerät sterben<br />

und infolge ihres isolierten Daseins erst<br />

lange nach ihrem Ableben bei immer noch<br />

laufendem Programm entdeckt werden. Dieses<br />

makabre Sinnbild anonymer Großstadtexistenz<br />

wird nun von Grünbein durch einen<br />

manieristischen Kunstgriff entpathetisiert<br />

und veralltäglicht: der Sprachlaut „och“ bzw.<br />

„ochen“, der sich in unterschiedlicher phonematischer<br />

Realisation durch das ganze<br />

Gedicht zieht, zeigt an, daß in der modernen<br />

Großstadtwelt Zynismus wie moralische Betroffenheit,<br />

Sarkasmus wie Entrüstung gleichermaßen<br />

ihr Recht verloren haben, daß in<br />

diesem Habitat alles egal und einerlei geworden<br />

ist. Die distanzierte Neutralität einer<br />

Pressemeldung, die das Gedicht eröffnet und<br />

die im drittletzten Vers litaneiartig wiederholt<br />

wird, zeugt von der postmodernen Attitüde<br />

eines „anything goes“ wie von einem<br />

denkbar unaufgewühlten und entspannten<br />

„don’t worry be happy“!<br />

28 Auch in: Durs Grünbein, Den Teuren Toten. 33<br />

Epitaphe, Frankfurt am Main <strong>19</strong>94, S. 8.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen<br />

Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick<br />

Gebrochen. Im Fernsehn gab ein<br />

/Fernsehkoch<br />

Den guten Rat zum Kochen.<br />

Verwesung und Gestank im Zimmer,<br />

Hinter Gardinen blaues Flimmern, später<br />

Die blanken Knochen.<br />

Nichts<br />

Sagten Nachbarn, die ihn scheu beäugten,<br />

/denn<br />

Sie alle dachten längst dasselbe: „Ich hab’s<br />

/Gerochen.“<br />

Ein Toter saß an dreizehn Wochen...<br />

Es war ein fraglos schönes Ende.<br />

Jahrhundertwende.<br />

Ernst Osterkamp hat in seiner Nach dem<br />

Glückskind 29 betitelten Rezension zu Nach<br />

den Satiren die Tendenz zur Zyklusbildung<br />

in Grünbeins gesamtem Werk konstatiert und<br />

diese folgendermaßen gedeutet: „Dahinter<br />

steht der Wille, die Erscheinungsfülle der<br />

Welt in sich aufzunehmen, ohne sich von ihr<br />

überwältigen zu lassen. Zur poetischen Organisation<br />

der Vielfalt der Phänomene bieten<br />

sich zyklische Strukturen an. Auf Durs Grünbeins<br />

Formbewußtsein ist Verlaß.“ 30 Nicht<br />

nur der Wille zur Reduktion von Komplexität,<br />

sondern auch der Wille zur Polyperspektivität<br />

und der Wille zur Form, der sich<br />

als poetisches Prinzip der Variation manifestiert,<br />

bilden bei Grünbein die Basis und den<br />

inneren Grund für die Tendenz zur Zyklizität.<br />

Bezeichnenderweise finden sich deshalb<br />

im Hinblick auf die Großstadtthematik<br />

bei Grünbein nicht nur Einzelgedichte, sondern<br />

auch und gerade Zyklen. In den Lyrikband<br />

Nach den Satiren beispielsweise sind<br />

ein elf Gedichte umfassender Dresden-Zyklus<br />

mit dem Titel Europa nach dem letzten<br />

Regen (NdS 143-153), ein fünf Gedichte umfassender<br />

Berlin-Zyklus mit dem Titel<br />

Berliner Runde (NdS 159-163) und ein<br />

Nachbilder betitelter und aus elf Gedichten<br />

bestehender Sonett-Zyklus aufgenommen,<br />

der das Phänomen Großstadt aus der Perspektive<br />

dessen schildert, der im Einschlafen,<br />

Träumen und Aufwachen die Tagesreste und<br />

die Nachbilder des Wachzustandes, die<br />

Wahrnehmungsschocks und Erlebnissplitter<br />

29 In: FAZ vom 23. März <strong>19</strong>99, Seite L 5.<br />

30 Ebd.<br />

erinnert, wiederholt und durcharbeitet. Wir<br />

wollen uns im folgenden mit diesen drei Zyklen<br />

detailliert interpretierend wie motivisch<br />

summierend näher auseinandersetzen.<br />

Schon in Grauzone morgens hatte Grünbein<br />

seiner Heimatstadt verschiedene Gedichte<br />

(z.B. Gm 22 oder Gm 35f.) gewidmet.<br />

Auch in seinen Lyrikband Schädelbasislektion<br />

hat er ein seinem Künstlerfreund Via<br />

Lewandowsky gewidmetes Gedicht über<br />

Dresden (Sch <strong>19</strong>4) aufgenommen. Darin sind<br />

bereits zahlreiche Motive enthalten, die<br />

Grünbeins Dresden-Bild charakterisieren.<br />

Als „Barockwrack an der Elbe“ verkörpert<br />

die sächsische Großstadt Höhepunkte der<br />

Kunst wie der Zerstörung gleichermaßen.<br />

Als „Werk des Malerlehrlings / Mit dem in<br />

Wien verstümperten Talent / Der halb Europa<br />

seinen Stilbruch aufzwang“ erinnert sie an<br />

den Zweiten Weltkrieg und die furchtbare<br />

Bombennacht im Februar <strong>19</strong>45 und stellt<br />

damit gleichsam „die anglo-sächsische Version<br />

von nevermore“ dar. „Groß im Verfall“<br />

besitzt sie „Ruinenwert“, die „Schönheit der<br />

Ruinen“ erzeugt dabei Melancholie und<br />

Nostalgie. „Ein Gesamtkunstwerk / Singt unter<br />

Trümmern noch in höchsten Tönen“:<br />

diese Verse spielen einerseits auf Richard<br />

Wagner an, den Königlich Sächsischen Hofkapellmeister,<br />

der nach seiner Teilnahme am<br />

Dresdner Mai-Aufstand 1849 ins Exil gehen<br />

mußte und über ein Jahrzehnt nicht mehr in<br />

das geliebte Elbflorenz zurückkehren konnte;<br />

zum anderen knüpfen diese Verse an Walter<br />

Benjamins Trauerspiel-Buch und an seine<br />

Deutung der Ruine und damit zusammenhängend<br />

der barocken Allegorie an. 31 Im Gegensatz<br />

zum barocken Gesamtkunstwerk jedoch,<br />

das „nichts als dauern“ 32 will und sich mit<br />

allen Organen ans Ewige klammert, betont<br />

Grünbein die Zeitlichkeit und Endlichkeit<br />

auch des „Ruinenwerts“. So lautet denn auch<br />

der letzte Vers des Gedichts: „Im Futur <strong>II</strong><br />

wird alles still geworden sein“.<br />

31 Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen<br />

Trauerspiels, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am<br />

Main <strong>19</strong>78, S. 155-160; vgl. insbes. den Satz: „Was da<br />

in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende<br />

Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der<br />

barocken Schöpfung“ (S. 156); vgl. auch die dortigen<br />

Ausführungen zum barocken „Gesamtkunstwerk“ (S.<br />

158).<br />

32 Anm. 31, S. 158.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 175


Der Dresden-Zyklus Europa nach dem<br />

letzten Regen (NdS 143-153), entstanden<br />

von August bis Oktober <strong>19</strong>96, erweitert nun<br />

den bereits aufgezeigten Motivfundus. Das<br />

erste Gedicht (I) schildert, ebenso wie X, die<br />

Heimkehr 33 in eine unerwartete Fremde, das<br />

Fremdgewordensein der Heimat, aus der die<br />

Erinnerung, aber auch die Hoffnung „evakuiert“<br />

sind. <strong>II</strong> evoziert, wie übrigens auch VI<br />

und IX, den Fliegerangriff auf Dresden in<br />

der Nacht vom 13. auf den 14. Februar <strong>19</strong>45,<br />

durch den die historische Altstadt nahezu<br />

völlig zerstört wurde: „Taghell für eine<br />

Nacht, / Ist das dieselbe Stadt im Tal, dieselbe<br />

/ (Im Anflug ein Las Vegas an der<br />

Elbe) / Wie der Pilot sie sah in Phosphorpracht?“<br />

(NdS 144). <strong>II</strong>I übersetzt den von<br />

Grünbein in seinem Essay Vulkan und Gedicht<br />

34 entfalteten Zusammenhang von Müll,<br />

Stadt und Tod ins lyrische Medium: „Die am<br />

Stadtrand begrabene Stadt. / Wo ein Müllberg<br />

sich breitmacht, der lokale Vesuv /<br />

Schwarzen Rauch ausstößt überm Kiefernwald<br />

[...] // Unter Schuttbergen sinkt, unter<br />

Null, alles Gestern / Aus Terrassen und<br />

Kuppeln, barocker Bau“ (NdS 145). Das<br />

Umweltthema, das in <strong>II</strong>I in der Formulierung<br />

„Italienische Luft / Heißt hier Smog um<br />

Pompeij“ (ebd.) anklingt, wird dann in IV<br />

weitergeführt: „Willkommen, Elbe. / In dieser<br />

trägen, gelblich braunen Brühe / Ist meine<br />

Mutter noch als Kind geschwommen. / Da<br />

lag kein Ölglanz auf dem Haar“ (NdS 146;<br />

vgl. auch Gm 35). Der umgekippte Fluß, die<br />

ökologische Katastrophe korrespondiert mit<br />

der historischen: „Ein Fluß, was ist das,<br />

wenn die Stadt versinkt / Vor seinen Wellen,<br />

die den Großbrand spiegeln“ (ebd.). V rückt<br />

die „Nachkriegsdschungelstadt“ (NdS 147)<br />

Dresden in ein verfremdend-exotisches<br />

Licht: ausgehend von der Zigarettenfabrik<br />

Yenidze, einem historistisch-orientalischen<br />

Bauwerk aus den Jahren <strong>19</strong>07-<strong>19</strong>12 am Ostrand<br />

der Friedrichstadt, die als „Phantasie-<br />

33 Vgl. Franz Kafkas gleichnamiges Prosastück, das<br />

ebenso wie X auf die Parabel vom „verlornen Sohn“<br />

(NdS 152) anspielt!<br />

34 Vgl. Anm. 2.<br />

176<br />

Markus Fischer<br />

Moschee“ (NdS 147) Dresden zu einem<br />

„Islamabad im Elbtal“ (ebd.) verwandelt,<br />

wird das Venedig des Ostens in diesem Gedicht<br />

zum mythischen Xanadu und zum<br />

monumentalen Angkor Vat, zu einem „Blauen<br />

Wunder“ (ebd.), dessen Doppelsinn sich<br />

auch in der Gebrochenheit der stilistischen<br />

Ebenen manifestiert. V<strong>II</strong> thematisiert die<br />

Vorstellung von einem Atombombenabwurf<br />

auf Dresden, mithin „die Vision, wie stilvoll<br />

hier die legendäre / Finale Wolke aufgegangen<br />

wäre“ (NdS 149). V<strong>II</strong>I hat den kriegsbedingten<br />

Verlust von Kulturgütern zum Gegenstand:<br />

der Dresdner Fürstenzug an der<br />

Außenseite des Langen Ganges, der auch in<br />

<strong>II</strong>I erwähnt wird, wird zum Symbol der<br />

historischen Auslöschung: „Gepflügt wird<br />

hier mit Bomben, und kein Bauer / Kennt<br />

sich mehr aus. Der Löwenzahn / Nimmt den<br />

Figuren auf dem Fries die Dauer. / Was geht<br />

Zerstörung, oben, einen Maulwurf an?“ (NdS<br />

150). XI schließlich, das den Zyklus vollendet,<br />

zitiert den Zeppelin aus Gm 22 und<br />

mit ihm das Motiv der Schwärze und Schattenlosigkeit,<br />

das auf die nicht geleistete<br />

Vergangenheitsbewältigung hindeutet. Die<br />

Haltung der Stadt gegenüber ist emotionslos,<br />

„ohne Tränen“ (NdS 153), „als sei gar nichts<br />

geschehn“ (ebd.). Die Frage, ob man angesichts<br />

dieser Stadt, deren Stadtbild „etwas<br />

abgenommen“ (NdS 146) hatte, melancholisch<br />

werden solle, wird mit einem achselzuckenden<br />

„was soll’s“ (NdS 153) abgetan:<br />

„Niemand, nach hundert Jahren, ließe sich<br />

soweit gehn“ (ebd.). In den ersten drei<br />

Worten dieses Gedichts, in der Anrede „Im<br />

Ernst, Max“ (ebd.), findet sich schließlich<br />

ein kryptischer Hinweis auf ein Gemälde von<br />

Max Ernst, das die Unfähigkeit zu trauern<br />

auch optisch unterstreicht: es handelt sich um<br />

das in Manchester aufbewahrte Bild des<br />

großen Surrealisten mit dem Titel ‘Versteinerte<br />

Stadt’, das auch schon andere Dichter<br />

deutscher Sprache zu Bildgedichten inspirierte.<br />

35<br />

35 Vgl. dazu: Deutsche Bildwerke im deutschen<br />

Gedicht, hg. v. Gisbert Kranz, München <strong>19</strong>75, S. 68-71.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

Nicht nur seine Heimatstadt Dresden,<br />

sondern auch seine Wahlheimatstadt Berlin,<br />

in die er <strong>19</strong>85 übergesiedelt war, nimmt eine<br />

markante Position in Grünbeins gesamtem<br />

poetischen Werk ein. In allen seinen bisher<br />

erschienenen Lyrikbänden finden sich Gedichte<br />

auf und über Berlin. Besonders ausgeprägt<br />

ist diese Fokussierung auf Berlin in<br />

Nach den Satiren, sowohl im Satiren-Zyklus<br />

als auch in einem eigenen Berlin-Zyklus. In<br />

der dritten Satire beispielsweise werden nicht<br />

nur einzelne Berliner Örtlichkeiten wie der<br />

Wannsee, Unter den Linden oder die Karl-<br />

Marx-Allee 36 erwähnt, sondern Berlin als<br />

ganzes wird thematisiert, das Berlin des<br />

Dritten Reichs („Mit Schaum / Vorm Mund<br />

war hier ein Gnom die Attraktion gewesen. /<br />

Und seine Nummer war der Haßtanz zwischen<br />

Eintopf-Tellern. / Vom Bierzelt führte<br />

ihn sein Weg in Sportpalast und Oper, / Bevor<br />

sein Publikum verstummte in Ruinenkellern“,<br />

NdS 106) wie auch das Berlin der<br />

Gegenwart (ebd.):<br />

Und man sah Mauern wachsen, untertunnelt,<br />

/Mauern fallen,<br />

Die Stadt, den Riesenspielplatz, unter den<br />

/Vier Mächten<br />

Zerstückelt und auf hellem Sand verhärten<br />

Zu transsibirischem Beton.<br />

Berlin, das letzte,<br />

Sah man verschwinden, wiederkehren und<br />

/erneut verschwinden<br />

Mit jeder Sprengung, wenn vorm Grau die<br />

/Staubwand fiel.<br />

Wenn unter halben Himmeln, auf den<br />

/Kellern, nie geräumt,<br />

Die neuen Häuser ihre Reihen schlossen, die<br />

/zerfetzten<br />

Platanen wieder Blätter trieben und die<br />

/Busse unter Linden<br />

Für Sozialismus warben und Persil.<br />

Die vierte Satire erwähnt neben dem Berliner<br />

Bahnhof Zoo auch den Zoo 37 selbst,<br />

einen wichtigen Gegenstandsbereich der<br />

36 „Eine kahlgeschlagene Allee / Heißt nach dem<br />

bärtigen Propheten“ (NdS 104).<br />

37 Vgl. auch Durs Grünbeins Essay ‘Bevor der<br />

Mensch mit sich allein ist. 150 Jahre Zoologischer Garten<br />

Berlin’ in: Anm. 2, S. 229-236.<br />

Grünbeinschen Großstadtlyrik. 38 Die enorme<br />

Bautätigkeit im Berlin der Nachwendezeit<br />

(„Baugruben sind hier Sammelplätze für Gespenster,<br />

/ Die aus dem Sickerwasser trinken“,<br />

NdS 110) kommt ebenso zur Sprache<br />

wie die Glitzerwelt der Einkaufspassagen,<br />

die vor allem im Berliner Osten in den neunziger<br />

Jahren neu entstanden (NdS, 113):<br />

In den Passagen machte, unter S-Bahn-<br />

/Bögen, unser Schritt<br />

Im Nachhall ein Geräusch, das uns vergessen<br />

/ließ,<br />

Daß wir die letzten auf den Beinen waren<br />

/weit und breit.<br />

So gingen wir vorbei an Grill,<br />

/Bestattungsfirma, Reisecenter,<br />

Und an Vitrinen, wo zu Stapeln aufgebahrt,<br />

/in bunter Eintracht<br />

Die Prosa der Saison auf Kundschaft wartete.<br />

/„So viele Bücher,<br />

Die keinen brauchen, der sie liest, weil sie an<br />

/nichts erinnern.<br />

So viele Seiten ohne Eigenschaften...“, raunte<br />

/er<br />

Mir hinterm Rücken mit der Stimme, die wie<br />

/meine klang.<br />

Der Zyklus Berliner Runde mit seinen<br />

fünf Einzelgedichten I / Tauentzienstraße), <strong>II</strong><br />

/ Anhalter Bahnhof), <strong>II</strong>I / Am Friedrichshain),<br />

IV / Potsdamer Platz) und V / Epilog<br />

hebt nun explizit markante und geschichtsträchtige<br />

Berliner Orte in die einzelnen Titelüberschriften<br />

und ins Zentrum des jeweiligen<br />

Gedichts. In I wird der urbane Mittelpunkt<br />

des Westberliner Lebens, Kurfürstendamm<br />

und Tauentzienstraße und dazwischen am<br />

Breitscheidplatz die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche,<br />

lyrisch inszeniert: „Eine Kirche<br />

steht hier, die erinnert streng an Bunker,<br />

/ Seit ihr Turm, ein abgebrochner Flaschenhals,<br />

plombiert ist / Mit demselben Baustoff<br />

der im Parkhaus höllisch von Motoren<br />

dröhnt“ (NdS 159); „Stecken Zähne im<br />

Asphalt, sind sie von Fahrradboten, / Die<br />

beim Slalom stürzten oder Fensterputzern,<br />

vom Gerüst gefallen. / Grün der Mittelstrei-<br />

38 Es sei nur an das bereits erwähnte Gedicht Einer<br />

Gepardin im Moskauer Zoo (NdS 55) erinnert!<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 177


fen wird zum Sprungtuch“ (ebd.). Die Ruine<br />

des Portals des Anhalter Bahnhofs am Askanischen<br />

Platz in Kreuzberg mit ihren mannigfaltigen<br />

historischen Assoziationen wird<br />

in <strong>II</strong> zum Thema wie in <strong>II</strong>I die strengen<br />

Kriegswinter am Friedrichshain im Stadtteil<br />

Prenzlauer Berg.<br />

Das vierte Gedicht des Zyklus, (IV /<br />

Potsdamer Platz), kehrt wieder zur Gegenwart<br />

zurück und stellt sich gleichzeitig in die<br />

große Tradition bedeutender Gedichte über<br />

den ehemals verkehrsreichsten Platz Europas,<br />

von denen hier nur Paul Boldts Auf der<br />

Terrasse des Café Josty oder René Schickeles<br />

Der Potsdamer Platz erwähnt seien. 39 In<br />

seinem Essay über Ilya Kabakow in Berlin 40<br />

hat Durs Grünbein diese leere Mitte Berlins,<br />

wie sie auch Wim Wenders in seinem Film<br />

Der Himmel über Berlin meisterhaft in Szene<br />

gesetzt hat, in ihrer historischen Entwicklung<br />

beschrieben:<br />

Einstmals Ort von Großstadtverkehr und Verwaltungsterror,<br />

bedrohlicher Urbanität und einer in<br />

Hochtouren rotierenden Presse, steht er nach dem<br />

Krieg für totale Verlorenheit, ausradiert Architektur<br />

und Gedächtnis, durch alle Feuer gegangen und am<br />

anderen Ende des Extrems angelangt, ein Nicht-Ort,<br />

Konsequenz seiner eigenen Geschichtsmächtigkeit.<br />

Die leere Mitte der Stadt, das Zentrum, von dem aus<br />

die Auslöschung des alten Europa so erfolgreich betrieben<br />

wurde, nun selbst ausgelöscht, nicht mehr in<br />

Trümmern und noch nicht neu maskiert, stand es<br />

lange im Zeitdepot, versiegelt unter der Rubrik Niemandsland.<br />

41<br />

Das vierte Gedicht der Berliner Runde<br />

(NdS 162) beschreibt nun die monströse<br />

Bautätigkeit - ein wichtiges Grundmotiv der<br />

meisten Großstadtgedichte Grünbeins - auf,<br />

an, um und unter dem Potsdamer Platz:<br />

Um und um wird die Erde gewühlt für die<br />

/Hauptstadt in spe.<br />

Der nächtlichen Menschenleere gehn Raupen<br />

/vorweg.<br />

Germania im Bunker, auf preußischem<br />

/Kanapee,<br />

39 Beide Gedichte sind in die Anthologie ‘Berlin!<br />

Berlin!. Eine Großstadt im Gedicht, hg. v. Hans-<br />

Michael Speier, Stuttgart <strong>19</strong>87’ aufgenommen: vgl. S.<br />

143 und 141f.<br />

40 Anm. 2, S. 210-218.<br />

41 Anm. 2, S. 215.<br />

178<br />

Markus Fischer<br />

Von Baggern im Schlaf gestört, wälzt die<br />

/Hüften im Dreck.<br />

Downtown Berlin hilft der Diva den Gürtel<br />

/zu lösen.<br />

Und schmachtend macht sie, Walküre, die<br />

/Schenkel breit.<br />

Das Gehirn, in den hellsten Momenten, den<br />

/bitterbösen,<br />

Wittert etwas, das nach Zerstörung schreit.<br />

Der Potsdamer Platz, der von den weltweit<br />

agierenden Konzernen Sony und Daimler<br />

Chrysler „neu maskiert“ und zu einer<br />

„Downtown Berlin“ stilisiert wird, soll das<br />

ökonomische Pendant zur politischen Neuinszenierung<br />

Berlins als „Hauptstadt in spe“<br />

werden. Er wird jedoch aus der Perspektive<br />

dieses Gedichts, was an den Downtowns<br />

amerikanischer Metropolen bereits sichtbar<br />

ist, ein Zentrum ohne Leben bleiben, ein Ort<br />

globaler Wirtschaft und lokaler Unwirtlichkeit.<br />

Wie Kaiser Friedrich Barbarossa im<br />

Kyffhäuser, so schläft auch Germania und<br />

träumt von einem neuen Reich: sie ruht allerdings<br />

- in Anspielung auf Historiographie<br />

und Topographie des Potsdamer Platzes -<br />

„im Bunker, auf preußischem Kanapee“ und<br />

wird zudem „von Baggern im Schlaf gestört“.<br />

Als keusche Diva 42 , die wie die Walküre<br />

Brünnhilde hinter einer schützenden<br />

Waberlohe schläft, bis Siegfried Wotans<br />

Speer zerschlägt und mit seinem Schwert auf<br />

Brünnhilde zudringt, schmachtet sie nun -<br />

einmal aufgeweckt - dem Liebesakt entgegen,<br />

der freilich durch den intertextuellen<br />

Bezug auf Wagners Oper Siegfried in destruktivem<br />

Licht erscheint. So ruft Brünnhilde<br />

am Ende des dritten und letzten Aufzugs von<br />

Siegfried vor der endgültigen Vereinigung:<br />

„Zerreißt, ihr Nornen / das Runenseil! /<br />

Götterdämmrung / dunkle herauf! / Nacht der<br />

Vernichtung, / neble herein!“ 43 Das Gehirn,<br />

Synonym des lyrischen Ichs, wittert also am<br />

Schluß des Gedichts in der Vereinigung von<br />

„Germania“ mit „Downtown Berlin“ den<br />

Anfang vom Ende, das Zulaufen auf die Zer-<br />

42 Im Kontext diese Gedichts ist der Bezug auf<br />

Wagners Ring-Tetralogie und die ‘Operndiva’ Brünnhilde<br />

offenkundig! Vgl. außerdem dazu das Gedicht<br />

‘Casta Diva’ (Sch <strong>19</strong>7-<strong>19</strong>9).<br />

43 Richard Wagner, Die Musikdramen, München<br />

<strong>19</strong>78, S. 737f.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

störung. In V / Epilog), dem letzten Gedicht<br />

der Berliner Runde, wird dann noch einmal<br />

auf den Potsdamer Platz aus der Zeit des<br />

Kalten Krieges zurückgeblickt: „Eben war da<br />

noch ein Brachfeld, Sand und etwas abgebrannte<br />

Wiese, / Die im Stadtplan fehlten.<br />

Daß dort Goyas Koloß saß, / Wartend auf die<br />

Wiederkehr der Steppe, glaubt dir keiner<br />

mehr“ (NdS 163). Das Gedicht schließt mit<br />

dem Ausblick auf eine videoüberwachte<br />

Welt, in der der Einzelne zum gläsernen<br />

Subjekt degradiert ist: „Einestags entdeckt<br />

man, hoch an Glasfassaden festgeschraubt,<br />

Reptile, // Die neutralen Augs den Kehraus<br />

überwachen“ (ebd.).<br />

In allen Lyrikbänden Durs Grünbeins<br />

finden sich zahlreiche Gedichte, in denen<br />

von der Großstadt als solcher, im allgemeinen<br />

und überhaupt die Rede ist, mit allen<br />

ihren spezifischen Phänomenen, Charakteristika<br />

und Eigenschaften, auch wenn diese<br />

keiner bestimmten Großstadt in besonderer<br />

Weise zugeordnet werden können. Die Stadt<br />

selbst, als Moloch, Monster und Morast,<br />

wird im Gedicht zum Protagonisten und zum<br />

proteischen Partner des lyrischen Ichs. Angefangen<br />

von Grauzone morgens, wo Umweltschmutz,<br />

Vermassung, Vereinsamung und<br />

Anonymität dominieren, über Schädelbasislektion,<br />

wo traumatische U-Bahn-Fahrten,<br />

Verkehrskollaps und Großstadttod poetisch<br />

inszeniert werden, über Falten und Fallen<br />

und Den Teuren Toten bis hin zu Nach den<br />

Satiren - überall bildet die Großstadt die<br />

Kulisse, die sich machtvoll in den Vordergrund<br />

schiebt und das lyrisch-dramatische<br />

Geschehen beherrscht. Im achten der Dreizehn<br />

Fantasiestücke untertitelten Zyklus<br />

Asche zum Frühstück aus Nach den Satiren<br />

beispielsweise, das den Halbsatz „Robinson<br />

in der Stadt“ (NdS 79) zum Motto hat,<br />

erscheint der moderne Großstädter als „tief<br />

im Landesinnern gestrandet[er]“ (ebd.; vgl.<br />

auch Gm 26) Schiffbrüchiger, als Robinson<br />

Crusoe der Postmoderne, dem nicht einmal<br />

mehr ein Freitag 44 zu Gebote steht und dem<br />

die Rückkehr in die Heimat in eine imaginäre<br />

Ferne gerückt ist. Die Stadt wandelt sich<br />

dabei selbst zum Meer, aber nicht zum<br />

44 Das Gedicht schließt süfissant mit den beiden Versen:<br />

„Wenn am Freitag zum Beispiel, auf hohem Absatz,<br />

genug zum Träumen, / Ein Chanson mit den Hüften<br />

schwenkt: ‘La mort vient et je suis nu...’“ (NdS 79).<br />

Rettung und Rückkehr verheißenden, sondern<br />

zum versteinerten, anti-utopischen Ozean<br />

par excellence: „Aus den Segeln wurde<br />

die Leinwand der Kinos. Was draußen brandet,<br />

/ Ist nur der Autoverkehr. Kein Mast, der<br />

ihm nicht droht ‘Dich leg ich flach’. /<br />

‘Verpiß dich!’ schallt es von jedem Friedhof,<br />

den die Bulldozer räumen, / Weil die Liegezeit<br />

um ist, verjährt sind die Abos für morsche<br />

Gebeine“ (NdS 79). Der gesamte Satiren-Zyklus<br />

in Nach den Satiren, insbesondere<br />

die erste Satire, können als Kompendium<br />

und Summe postmoderner deutscher<br />

Großstadtlyrik angesehen werden.<br />

Wir wollen uns jedoch abschließend mit<br />

einem anderen Zyklus aus Nach den Satiren,<br />

mit dem Zyklus Nachbilder. Sonette (NdS<br />

184-<strong>19</strong>4) näher befassen, weil in ihm weniger<br />

die objektive Seite - der zeitgenössische<br />

„Schild des Achill“ (NdS 93) 45 , auf dem der<br />

postmoderne ‘Kosmos’ detailliert und umfassend<br />

registriert ist - zur Sprache kommt, sondern<br />

vielmehr die subjektive Seite thematisiert<br />

wird, die Wirkung der Großstadt auf die<br />

Psyche, die Verarbeitung der Wahrnehmungsschocks<br />

46 und Erinnerungsbilder im<br />

Traum oder in den Übergangszuständen zwischen<br />

Wachheit und Schlaf. 47 „Dann wirst du<br />

müde, und dein Mund bricht ein / In ein<br />

Gebiet, das Greinen nicht erreicht. / Schlaf<br />

sucht die Wege, die du tags allein / Nicht finden<br />

konntest“ (NdS 184) - so eröffnet Grünbein<br />

mit dem Anfangsgedicht (I) programmatisch<br />

seinen Nachbilder-Zyklus. Unter den<br />

Bedingungen des Schlafes verwandelt sich<br />

der Mensch zu einem morpheisch-proteischen<br />

Doppelwesen, das in seiner Zwitterhaftigkeit<br />

als „Parasit“ und als „ein Anderer“<br />

gerade die Authentizität der menschlichen<br />

45 Vgl. den 18. Gesang in Homers ‘Ilias’!<br />

46 Vgl. dazu auch Walter Benjamins Ausführungen in<br />

seinem Essay ‘Über einige Motive bei Baudelaire’ in:<br />

Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im<br />

Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. von Rolf Tiedemann,<br />

Frankfurt am Main <strong>19</strong>74, S. 101-149, insbes. S.<br />

108ff.<br />

47 Das Motiv des Schlafs ist ein Leitmotiv in Grünbeins<br />

Lyrik: man könnte aus seinem Gesamtwerk spielend<br />

eine Anthologie morpheischer Gedichte zusammenstellen!<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 179


Erfahrung verbürgt und steigert: „Ein<br />

Mensch, der höflich seine Zähne bleckt, /<br />

Gewöhnt an Städte, Blutgerinnsel, Staus - /<br />

Das bist du, und kein Traum hält dich heraus“<br />

(NdS 184). <strong>II</strong> deutet die rastlose Bautätigkeit,<br />

wo „Haus / Verdrängt wird bald von<br />

Haus, auch ohne Bomben“ (NdS 185), als<br />

mißlungene Form der Vergangenheitsbewältigung,<br />

als Unfähigkeit zu trauern, etwa um<br />

Familien, von denen „nicht ein Goldzahn<br />

blieb“ (ebd.): „Asche“ und „Staub“, als Symbole<br />

der Vergänglichkeit wie der wenngleich<br />

schmerzhaften Erinnerung, verschwinden<br />

hinter Bauzäunen und gehen auf den<br />

Baustellen in den gewaltigen Erdbewegungen<br />

unter. <strong>II</strong>I, IV, V<strong>II</strong>I und IX thematisieren<br />

den Tod und das Sterben, bedeutsame Leitmotive<br />

der Grünbeinschen Großstadtlyrik:<br />

„Psyches Stimme“ (NdS 187), die „noch im<br />

dominanten / Rauschen des Stadtverkehrs“<br />

(ebd.) hörbar bleibt, verweist mythologisch<br />

auf die Entdeckung des Ersehnten im Schlaf<br />

und historisch auf das Gedächtnis und Gedenken<br />

dessen, „was aus den Kellern stöhnt,<br />

im Stein rumort“ (ebd.). V und X richten den<br />

Blick ins Weltall als Fluchtraum der<br />

Menschheit, aber auch als Projektionsraum<br />

für denjenigen, der den engen und einschnürenden<br />

menschlichen Verhältnissen wenigstens<br />

zeitweise entkommen möchte. Auch<br />

VI thematisiert die Weite des Kosmos, rückt<br />

ihn jedoch - aus der Perspektive des aus dem<br />

Schlaf Aufschreckenden - in ein bedrohliches<br />

Licht: „Der wahre Alptraum ist, es gibt nur<br />

Ferne. / Kein Trost ist die prekäre Nähe /<br />

Des Körpers zu sich selbst. So falsch vertraut<br />

/ Führt das Gehirn aus seiner Deckung diese<br />

Ehe“ (NdS 189). Die Einsamkeit des Großstädters<br />

wird dann in V<strong>II</strong> zum Gegenstand.<br />

Sie wiederholt und intensiviert die Einsamkeit<br />

des Kindes, mit dem Unterschied, daß<br />

der „aus langem Schlaf verstört“ (NdS <strong>19</strong>0)<br />

erwachte Erwachsene keinen Zuhörer mehr<br />

hat und keine Rückzugsmöglichkeit in die<br />

Welt der Grimmschen Märchen und der<br />

Gute-Nacht-Geschichten: „Der Wald ist leer,<br />

das Einhorn fort und von den Drachen /<br />

Blieb nur der Städtehimmel, dieser kolossale<br />

Rachen, / Dem er entgegenlebt. Schlaflos auf<br />

180<br />

Markus Fischer<br />

weiter Lichtung, / Erschrickt er, angelangt,<br />

wo vor ihm jeder war“ (ebd.). XI, das<br />

Schlußgedicht des Zyklus Nachbilder.<br />

Sonette, resümiert noch einmal die subjektive<br />

Rezeptionshaltung des lyrischen Ichs,<br />

das sich, wahrnehmend und erinnernd, registrierend<br />

und reflektierend, durch die Großstadt<br />

bewegt, auf der Jagd nach dem gelebten<br />

Leben und auf der Suche nach der verlorenen<br />

Zeit. „Dein Flüchtlingsbild in Fenstern,<br />

Kühlerhauben, Pfützen, / Treibt mit dem<br />

Bauch nach oben“ (NdS <strong>19</strong>4), d.h. das im<br />

einzelnen Augenblick der Wahrnehmung<br />

schockartig aufgenommene Momentbild des<br />

lyrischen Ichs von sich selbst ist bereits in<br />

actu nichts als abgestorbenes, ausgehauchtes<br />

Leben: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit, -<br />

gelebt, und gleich entfernt. / Zu fürchten,<br />

nein, zu wissen, daß der letzte Blick, die<br />

Frage, / Nicht auf die Sterne, auf Gerümpel<br />

fällt, erträgt man das? / Nachbilder sind es,<br />

Netzhautskizzen, die man lesen lernt, / Die<br />

Augen schliessend, wenn der Tag sich legt<br />

wie alle Tage“ (ebd.).<br />

Zahlreiche Kritiker haben den inzwischen<br />

mit einer Vielzahl von Preisen 48<br />

bedachten Dichter Durs Grünbein auf dem<br />

Parnaß der deutschen Literatur emphatisch<br />

bewillkommnet. Gustav Seibt 49 hat ihn als<br />

„hinreißenden Götterliebling“ bezeichnet,<br />

wie es ihn „seit den Tagen des jungen<br />

Enzensberger, ja, vielleicht seit dem ersten<br />

Auftreten Hugo von Hofmannsthals“ in der<br />

deutschsprachigen Lyrik nicht mehr gegeben<br />

hat. In das bewundernde Lob mischt sich bei<br />

manchen Kritikern aber auch ein gewisses<br />

Unbehagen, das sich gerade an der Virtuosität<br />

und ästhetischen Perfektion der Grünbeinschen<br />

Lyrik entzündet. Ernst Osterkamp 50<br />

bezeichnet manche von Grünbeins Gedichten<br />

als „Virtuosen-Poesie“ und in Anspielung<br />

auf das ‘Wunderkind’ Hofmannsthal Teile<br />

von Grünbeins Lyrik als „marmorglatt, zart<br />

48 Dabei sind neben dem bereits erwähnten Georg-<br />

Büchner-Preis (<strong>19</strong>95) auch der Bremer Literatur-<br />

Förderpreis (<strong>19</strong>92) und der Peter-Huchel-Preis (<strong>19</strong>95)<br />

zu nennen!<br />

49 Vgl. den vorderen Klappentext der Lyrikedition<br />

‘Von der üblen Seite’ (Anm. 1).<br />

50 Vgl. Anm. 29.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

und traurig“: „Entzücken wechselt mit Befremden.<br />

Der Leser wird von der Musikalität<br />

der Gedichte Grünbeins, ihrem Formenreichtum<br />

und ihrer Bildintensität hingerissen, von<br />

ihrer Sensibilität und ihrem Ernst bewegt.<br />

Dazwischen aber: Passagen des routinierten<br />

Leerlaufs.“ Thomas Mann hat in seiner<br />

Erzählung Das Wunderkind diese polare<br />

Spannung zwischen Virtuosität und Hingabe,<br />

Routine und Inbrunst, Artifizialität und<br />

Authentizität im Typus des Künstlers mit<br />

folgenden Worten zum Ausdruck gebracht:<br />

„Als Einzelwesen hat er noch ein Ende zu<br />

wachsen, aber als Typus ist er ganz fertig, als<br />

Typus des Künstlers. Er hat in sich des Künstlers<br />

Hoheit und seine Würdelosigkeit, seine Scharlatanerie<br />

und seinen heiligen Funken, seine Verachtung<br />

und seinen heimlichen Rausch.“ 51<br />

51 Thomas Mann, Das Wunderkind, in: Musik-<br />

Erzählungen, hg. v. Stefan Janson, Stuttgart <strong>19</strong>90, S.<br />

<strong>19</strong>5.<br />

Vieles, ja nahezu alles in Grünbeins<br />

Oeuvre ist gekonnt, aber weil manches auch<br />

oder womöglich nur gekonnt wirkt, ‘gemacht’<br />

erscheint, wie eine Formetüde oder<br />

eine Fingerübung, ist Behutsamkeit und Vorsicht<br />

geboten, für den Leser und für den<br />

Kritiker und nicht zuletzt für den Dichter<br />

selbst. In welche Richtung Grünbeins Werk<br />

weisen wird, ob Artifizialität oder Unmittelbarkeit<br />

dominieren werden, ob kapriziöse<br />

Virtuosität möglicherweise die spezifische<br />

Sageweise von Authentizität bei Grünbein<br />

werden wird, mag dahingestellt bleiben.<br />

Eines jedenfalls ist im Hinblick auf dieses<br />

Werk gewiß: „man wird lange daran zu lesen<br />

haben.“ 52<br />

52 Anm. 29.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 181


PARADIGMENWECHSEL IN DER RUMÄNIENDEUTSCHEN<br />

ERZÄHLLITERATUR DER NACHKRIEGSZEIT<br />

Im Bemühen, die Fülle der inhaltlichen<br />

Aspekte und des diskursiven Umfeldes der<br />

deutschsprachigen Regionalliteraturen aus<br />

Rumänien übersichtlich zu machen, mußte<br />

die Dominanz mehrerer Erzähldiskurse<br />

hervorgehoben werden, von denen jeder<br />

meines Erachtens ein Sammelbecken für die<br />

unterschiedlichsten Texte repräsentiert. In<br />

meinem Vortrag soll anhand der dominanten<br />

Erzähldiskurse der Nachkriegszeit die Analyse<br />

des Paradigmenwechsels vorgenommen<br />

werden, mit dem sich der Wandel inhaltlicher<br />

Schwerpunkte und des formalästhetischen<br />

Instrumentariums der Erzählliteratur<br />

vollzog.<br />

In der rumäniendeutschen Erzählliteratur<br />

beherrschen Mitte der sechziger Jahre zwei<br />

Erzähldiskurse die thematische und gestalterische<br />

Erzählproduktion: der Überzeugungsdiskurs<br />

und der Berichtigungs-<br />

oder Rechtfertigungsdiskurs, den letzteren<br />

kann man auch mit dem Begriff Versicherungsdiskurs<br />

verallgemeinernd überschreiben.<br />

Der Wandel, der Mitte der<br />

sechziger Jahre einsetzt, bewirkt meines Erachtens<br />

die Herausbildung eines dritten<br />

Erzähldiskurses, der neben den ersten beiden<br />

die literarische Landschaft bereichert.<br />

Der Überzeugungsdiskurs gehört der<br />

Vergangenheit an und bezeichnet die Grundeinstellung<br />

jener Erzählungen, die sich der<br />

sozialistischen Weltsicht anpaßten. Diese<br />

Literatur setzte sich als Überzeugungsmittel<br />

ein und sollte durch die Darstellung idealer<br />

Zustände, wie es sie in der Wirklichkeit gar<br />

nicht gab, den Leser zum Umdenken bewegen.<br />

Mit dem propagandistisch-aufklärerischen<br />

Anliegen standen formale Forderungen<br />

im Zusammenhang, auch wenn diese als<br />

zweitrangig abgetan wurden. Durch die<br />

Klarheit und Eindeutigkeit der Sprache,<br />

welche unausweichlich in sprachliche Sterilität<br />

mündeten, wurden die Herausbildung<br />

Olivia Spiridon<br />

von Erzählklischees, von thematischer<br />

Armut 1 und von psychologischem Schematismus<br />

geradezu vorprogrammiert. Diese<br />

Literatur als Produktionsstätte von gesellschaftlichen<br />

Wunschbildern mit universalistischem<br />

Anspruch ist eigentlich als unrealistisch<br />

zu bezeichnen, auch wenn sie den Anspruch<br />

auf realitätsgetreue Darstellung der<br />

Wirklichkeit erhebt, und ist als Folge der<br />

Anpassung der Autoren, deren Namen hier<br />

nicht unbedingt nennenswert sind, an den<br />

Kanon des sozialistischen Realismus<br />

entstanden.<br />

Versicherungsdiskurse hingegen haben in<br />

der rumäniendeutschen Literatur eine beträchtliche<br />

Vergangenheit. Versicherungsdiskurse<br />

führen jene literarischen Zeugnisse,<br />

die in der Tradition des bürgerlichen Realismus<br />

entstanden sind und welche dominante<br />

oder gar regressive Institutionen oder Verhaltensweisen<br />

durch die Handlungslogik der<br />

Texte bestätigen. Versicherungsdiskurse<br />

„versichern“, daß Altes und Bewährtes im<br />

existenziellen Umfeld der „Nation“ oder im<br />

Umgang mit den anderen Nachbar-Nationen<br />

weiterhin lebenstauglich ist. Kritische Bemerkungen<br />

haben innerhalb der Versicherungsdiskurse<br />

nicht die Rolle, das erzählte<br />

System in Frage zu stellen oder gar abzulehnen,<br />

sondern erziehend kleine Korrekturen<br />

vorzunehmen.<br />

In der Nachkriegszeit erscheinen die<br />

Versicherungsdiskurse in der besonderen<br />

Form, die als Berichtigungs- oder Rechtfertigungsdiskurs<br />

bezeichnet werden kann.<br />

In den in Rumänien erschienenen deutsch-<br />

1 Die Themen sind allzu bekannt, auch wenn sie bloß<br />

für die Literaturgeschichte von Interesse sind: die<br />

Aufgabe der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung,<br />

die Darstellung der Bemühungen um die<br />

Entwurzelung der archaischen Gewohnheiten, die<br />

Einführung der fortgeschrittenen Agrotechnik, die<br />

sozialistische Umwandlung der Landwirtschaft und<br />

die Darstellung der Umdenkens der Menschen, damit<br />

verbunden die Entstehung neuer Beziehungen zwischen<br />

den Menschen.


Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />

sprachigen Texten verdeckt, in jenen aus der<br />

Bundesrepublik offenkundig, gibt es die<br />

Tendenz, Historisches, besonders Ereignisse<br />

des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsjahre<br />

ins richtige Licht zu rücken.<br />

Diese Einstellung setzt bei den Autoren<br />

voraus, daß sie an die Möglichkeit der „Berichtigung“,<br />

implizit der Darstellung der<br />

Wahrheit, an Sinnstiftung durch das literarische<br />

Werk glauben. Die beeindruckende<br />

Anzahl der Werke, die sich stofflich und<br />

thematisch auf geschichtliches Geschehen<br />

festlegen 2 , belegen die innere Notwendigkeit<br />

der Autoren durch ihre Stoffwahl die durch<br />

das kommunistische Regime verbreiteten<br />

historischen Lügen und das schematischverschönernde<br />

Wirklichkeitsbild der Werke<br />

des Sozialistischen Realismus oft in episch<br />

breit angelegter Form zu widerlegen. Der<br />

Wahrheitsanspruch dieser Texte hat nicht<br />

nur thematische Konvergenzen bewirkt,<br />

sondern auch die Herausbildung bestimmter<br />

Erzählformen begünstigt, zum Beispiel des<br />

Bekenntnisromans, der Kindheits-, Kriegs-<br />

oder Nachkriegserinnerungen (Hans Liebhardts<br />

Weißkircher-Geschichten, Lillins<br />

Jodokus-Romane, Bergel „Der Tanz in<br />

Ketten“, „Wenn die Adler kommen“, Klaus<br />

Günther: „Der Regentänzer“, Schlattner<br />

„Der geköpfte Hahn“, Erwin Wittstock<br />

„Januar 45“ u. a.). Gerhard Csejka 3 zeichnet<br />

2 Andreas Birkner („Aurikeln“, <strong>19</strong>57; „Die<br />

Tatarenpredigt“, <strong>19</strong>73; „Das Meeresauge“, <strong>19</strong>76),<br />

Hans Bergel („Fürst und Lautenschläger“, <strong>19</strong>57; „Der<br />

Tanz in Ketten“, <strong>19</strong>72; „Wenn die Adler kommen“,<br />

<strong>19</strong>96), Klaus Günther („Der Regentänzer“, <strong>19</strong>73;<br />

„Geständnisse einer Drehorgel“, <strong>19</strong>77; „Spiel der<br />

bangen Jahre“, <strong>19</strong>83), Franz Heinz („Ärger, wie die<br />

Hund‘“,<strong>19</strong>91), Hans Wolfram Hocks („Regina unsere<br />

Mutter“, <strong>19</strong>82 u.v.a.), Hansjörg Kühn („Masken und<br />

Menschen“, <strong>19</strong>65), Heinrich Lauer („Kleiner Schwab,<br />

großer Krieg“, <strong>19</strong>87), zum Teil Hans Liebhardt, zum<br />

Teil Georg Scherg, Robert Schiff („Zither-Elegie“,<br />

<strong>19</strong>87), Eginald Schlattner („Der geköpfte Hahn“,<br />

<strong>19</strong>98), die Kriegserzählungen von Ludwig Schwarz,<br />

die Erzählungen und Romanfragmente Erwin Wittstocks,<br />

die nach <strong>19</strong>45 entstanden sind („Die Schiffbrüchigen“,<br />

„Das letzte Fest“, „Das jüngste Gericht in<br />

Altbirk“, „Januar 45 oder die höhere Pflicht“, <strong>19</strong>98),<br />

Joachim Wittstock („Ascheregen“, <strong>19</strong>85, aber auch<br />

andere kürzere Prosastücke), um einen Teil der Texte<br />

zu nennen, die in den Versicherungsdiskurs konvergieren.<br />

3 Gerhard Csejka: „Der Weg zu den Rändern, der Weg<br />

der Minderheitenliteratur zu sich selbst. Siebenbür-<br />

den sozialpsychologischen Prozeß nach, der<br />

zum Teil den Hintergrund der Versicherungsdiskurse<br />

bildet, indem er den Konservativismus<br />

der siebenbürgischen Schriftsteller<br />

als Abwehrhaltung gegen die Realität der<br />

Minderheitenexistenz erklärt. Der Rechtfertigungs-<br />

oder Berichtigungsdiskurs ist Ausdruck<br />

des nie aufgegebenen Bezugs zur<br />

Wirklichkeit, (diese Tatsache wurde oft<br />

hervorgehoben), und die Texte dieser Grundeinstellung<br />

sind demnach meistens regional<br />

verwurzelt.<br />

Die Entstehung eines neuen Erzählparadigmas<br />

ist sicherlich im Zusammenhang mit<br />

der Liberalisierungsphase zu sehen, die<br />

Mitte der sechziger Jahre eingeleitet wurde,<br />

als im Februar <strong>19</strong>65 an der Landeskonferenz<br />

des Rumänischen Schriftstellerverbandes<br />

Forderungen nach einer differenzierten und<br />

weniger dogmatischen Literatur gestellt<br />

wurden 4 .<br />

Es stellt sich die Frage, welche außergewöhnlichen<br />

Leistungen diese hier zu behandelnden<br />

Werke erbringen: Franz Storch:<br />

„Die Trompetenschnecke“ (<strong>19</strong>66), Arnold<br />

Hauser: „Der fragwürdige Bericht Jakob<br />

Bühlmanns“ (<strong>19</strong>68), Georg Scherg: „Der<br />

Mantel des Darius“ (<strong>19</strong>68), Paul Schuster<br />

„Vorwort. (Ein Fragment)“ (<strong>19</strong>68).<br />

In den unterschiedlichsten Formen<br />

erfolgt die Verabschiedung des Sozialistischen<br />

Realismus 5 : Storch gibt die Darstellung<br />

des Typischen, also des Nachahmenswerten<br />

durch den Verzicht auf den positiven<br />

Helden auf. Stattdessen tritt eine Frau mit<br />

ihrer gescheiterten Emanzipationsgeschichte<br />

in den Vordergrund 6 . Gesellschaftliches wird<br />

gisch-sächisische Vergangenheit und rumäniendeutsche<br />

Gegenwartsliteratur“. <strong>19</strong>93, S. 59f.<br />

4 Kegelmann (<strong>19</strong>95) S.23.<br />

5 Ähnliches bemerkt Georg Aescht, <strong>19</strong>89, bezüglich der<br />

Entwicklung der Kurzprosa.<br />

6 Franz Storchs Frauengeschichte erhält ihre Bedeutung<br />

im Kontext der zahlreichen Geschichten über Frauen,<br />

die in den siebziger Jahren in der DDR erschienen<br />

sind: Wolfs „Christa T.“ (<strong>19</strong>69), Irmtraud Morgners<br />

„Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach<br />

Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ (<strong>19</strong>74), Brigitte<br />

Reimann (<strong>19</strong>33-<strong>19</strong>73): „Franziska Linkerhand“ (<strong>19</strong>74,<br />

posthum erschienen), Gertie Tetzners Roman „Karen<br />

W.“ (<strong>19</strong>74), die Protokolle „Die Pantherfrau“ von<br />

Sarah Kirsch (<strong>19</strong>73, enthält 5 Tonbandgespräche),<br />

Maxie Wander: „Guten Morgen, du Schöne“ (<strong>19</strong>77,<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 183


ausgespart, der optimistische Erzählton<br />

aufgegeben. Hauser signalisiert schon im<br />

Titel mit der Spezifizierung „Kurzroman“<br />

die Distanzierung von dem im sozialistischen<br />

Realismus beliebten breit angelegten<br />

Gesellschaftspanorama in Romanform. 7 Statt<br />

dessen verschärft sich der Blick auf ein<br />

Detail, auf einen „Fall“. 8 Inhaltlich zeichnet<br />

sich die Erzählung durch das Brechen des<br />

Tabus der „Fehler der Anfänge“ aus, auf<br />

dieser Ebene wird demnach ein Berichtigungsdiskurs<br />

geführt. 9<br />

Paul Schuster parodiert die Ästhetik des<br />

sozialistischen Realismus in Autorenkommentaren,<br />

die sich nicht etwa auf die<br />

Handlung, sondern auf die Produktionsseite<br />

der Texte beziehen 10 , durch die Verwendung<br />

von Neologismen, die wegen ihres Schwierigkeitsgrades<br />

gegen die Forderung nach<br />

Schlichtheit verstießen und demnach verpönt<br />

waren 11 , durch die Darstellung der Einmischung<br />

politischer Kader in den<br />

Literaturbetrieb 12 , durch ironische Bemerkungen<br />

über die Multifunktionalität der<br />

Person im kommunistischen Zeitalter: der<br />

Schwager des Erzählers ist „Kommunist und<br />

enthält 17 Tonbandgespräche), Verena Stefan<br />

„Häutungen“ (<strong>19</strong>75).<br />

7 Eine Entkrampfung der Romanform gelingt auch Hans<br />

Liebhardt, der nach Gerhardt Csejka einen „Roman in<br />

Kurzprosaform“ schreibt. Zit. aus Aescht, <strong>19</strong>89, S.<br />

1<strong>20</strong>.<br />

8Am Beispiel Adolfs, einem <strong>19</strong>29 geborenen Siebenbürger<br />

Sachsen, wird der Weg eines Jugendlichen<br />

beschrieben, der schuldlos aufgrund seines Namens<br />

und seiner Herkunft, der Zuweisung verallgemeinerter<br />

Schuld aus der Gesellschaft hinausgejagt wird.<br />

9 In Hausers Kurzroman gehört Sommers Journalisten-<br />

Beruf, seine Mühe, die eigene Unschuld durch Taten<br />

zu beweisen, wie auch die Forschungen der beiden<br />

Erzählinstanzen Bühlmann und Micu in den semantischen<br />

Raum der Wahrheitssuche.<br />

10 „Ich muß mir schnellstens einen positiven Helden<br />

erfinden, wozu wäre ich denn sonst Schriftsteller?“<br />

(16)<br />

11 Zum Bespiel Chronaxie (37), Parorexie (32). Das<br />

ganze wird dadurch noch dicker aufgetragen, da sich<br />

der Autor demonstrativ für den Leser bemüht, in<br />

einem Wörterbuch nachzuschlagen um die Bedeutungserklärung<br />

gleich mitzuliefern.<br />

12 „Als Schriftsteller freut man sich natürlich über jede<br />

lobende Kritik; die Presse hat was Gutes gesagt, der<br />

Genosse sowieso, der möglicherweise nichts von<br />

Literatur versteht, aber eine sehr bedeutende, sehr<br />

einflußreiche Position innehat, hat öffentlich ein<br />

anerkennendes Wort von sich gegeben“ (34).<br />

184<br />

Olivia Spiridon<br />

Poet, Kesselschmied, Scherbensammler und<br />

Exmeister im Fechten“ (123).<br />

Kurzum: Schusters Text gestaltet einen<br />

Erziehungsprozeß, der sich gleichermaßen<br />

an den innerfiktionalen Sohn, als auch an<br />

den Leser richtet. Der Erziehungsprozeß<br />

demontiert sich aber selbst während des<br />

Lesens, da der Erzähler sich intensiv darum<br />

bemüht, die Fiktion dauernd als unrealistisch<br />

zu entlarven, das Konzept wiederholt für gescheitert<br />

erklärt (z.B.125), sich am Ende<br />

selbst aufhebt und den Leser gleich mit, indem<br />

er dominante Verhaltensstandards als<br />

reine Fassade anprangert 13 . Indem in<br />

Schusters Text an der Zerstörung des aufklärerischen<br />

Anliegens gearbeitet wird 14 , wie<br />

auch bei Franz Storch, der die Erziehung als<br />

Ursache weiblichen Scheiterns sieht, und bei<br />

Scherg, der sich in „Der Mantel des Darius“<br />

auch an aufklärerische Traditionen des<br />

didaktisch-philosophischen Romans anlehnt<br />

(siehe die Hinweise auf Wieland:<br />

„Geschichte der Abderiten“ und „Nachlass<br />

von Diogenes von Sinope“), wird auch die<br />

erzieherisch-propagandistische Aufgabe der<br />

sozialistischen Literatur demontiert (der<br />

Entwicklungsroman war eine der beliebtesten<br />

Gattungen). Dies geschieht in<br />

einer Zeit, in der Literatur als Mittel der Erziehung<br />

und des Umdenkens in der<br />

Resolution der Generalversammlung der<br />

Schriftsteller, (siehe NL 11/<strong>19</strong>68, S, 8)<br />

weiterhin in ihrer Aufgabe bekräftigt wurde.<br />

Wie es auch im Exkurs zu Paul Schuster<br />

deutlich geworden ist, arbeiten diese Werke<br />

intensiv an der Rehabilitierung des Subjekts,<br />

an der Verunsicherung gegenüber der konventionellen<br />

Realitätsdarstellung, und dies<br />

gelingt ihnen auch durch die Modifizierung<br />

der gängigen Erzählinstanz: Franz Storch<br />

bricht die Realität durch die Perspektive der<br />

weiblichen Subjektivität 15 , Hauser fragmen-<br />

13 Siehe Ende der Erzählung, die Geschichte um<br />

Tudorica.<br />

14 Man denke an den didaktischen Roman der Aufklärung,<br />

Schuster kannte sicherlich das rumänische<br />

Werk der Aufklärung: „InvăŃăturile lui Neagoe<br />

Basarab către fiul său Teodosie“.<br />

15 Statt der Wirklichkeit in typisierender Zeichnung<br />

werden entgegengesetzte innere Realitäten in symbolischer<br />

Sprache poetisch verdichtet. Das Erzählte besticht<br />

durch die Suggestionskraft der Bilder in<br />

mytholgischer Verkleidung. Der persönliche Raum<br />

der Ichsuche und Selbsterkenntnis wird motivisch<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />

tiert die dargestellte Wirklichkeit, indem er<br />

das auktoriale Erzählen durch dreifache<br />

Perspektivierung variiert, auch wenn ihm<br />

dies wenig gelingt 16 und er den sonst für die<br />

Zeit und die Umstände scharfen Konflikt<br />

wesentlich entschärft 17 . Dies wird zum Teil<br />

durch das Paradoxon, oder gar das Oxymoron<br />

aus dem Titel „fragwürdiger Bericht“<br />

wiedergutgemacht 18 .<br />

Die einzelnen Charakteristika des traditionellen<br />

Erzählens: Fabel, Handlung, Personen<br />

und Erzähler werden in Schergs „Der<br />

Mantel des Darius“ und in Paul Schusters<br />

„Vorwort“ ansatzweise abgebaut. Scherg<br />

wechselt mitten im Roman mehrmals die<br />

Erzählinstanz, läßt die Gattungsunterschiede<br />

durch das Bild der Windungen im Inneren der<br />

Muschel, der Treppenwindungen in der großen<br />

Moschee in Constanta dargestellt. Die sterile Welt der<br />

routinierten, abgestumpften Ehe suggeriert die Betontreppe<br />

im Wohnhaus bei der Rückkehr der Ich-Erzählerin<br />

aus dem Urlaub. Der Geliebte Wulf erscheint ihr<br />

in Anlehnung an den griechischen Meeresgott Triton<br />

schön und unheimlich zugleich, sie glaubt ihn auch in<br />

den antiken Skulpturen der ehemaligen griechischen<br />

Handelsstadt Tomis zu erkennen.<br />

16 Der geradlinige Stoff wird etwas gekünstelt in den<br />

drei Perspektiven gebrochen, so daß das Zusammenspiel<br />

zwischen den drei Erzählerstimmen oft inszeniert<br />

erscheint und der Eindruck der erzählerischen Polyphonie<br />

nicht vermittelt wird, sondern eher der<br />

Eindruck, daß das Erzählte von einer einzigen Erzählinstanz<br />

stammt. Ähnliche Einwände erhebt auch<br />

Gerhardt Csejka in: „Vor allem ein nützliches Buch“,<br />

Neue Literatur 4/<strong>19</strong>69.<br />

17 Der Konflikt wird allerdings durch die Distanz<br />

zwischen erzählter und Erzählzeit wesentlich<br />

entschärft, so daß offiziell zugelassene Interpretationen<br />

geradezu gefördert werden. So Valentin Lupescu,<br />

der die zeitliche Distanz zwischen der erzählten<br />

und der Erzählzeit in der Nachbemerkung der Berliner<br />

Ausgabe von <strong>19</strong>74 (Volk und Welt, DDR) beschwichtigend<br />

deutet: „Denn im Jahre <strong>19</strong>67, als die<br />

Romanhandlung endet, stehen die Probleme eines<br />

Adolf Sommer nicht mehr zur Debatte“. (<strong>19</strong>6) An<br />

solchen Interpretationsmöglichkeiten schließt auch<br />

teilweise berechtigt die scharfe Kritik der Erzählung<br />

in den Südostdeutschen Vierteljahresblättern (Lutz<br />

Tilleweid, <strong>19</strong>72, S. 289).<br />

18 Gerhardt Csejka („Vor allem ein nützliches Buch“)<br />

unterstreicht das Anliegen der Autoreninstanz,<br />

Sachliches zur Sprache zu bringen, deshalb auch die<br />

Wahl des „Berichts“ als Gattung. Doch es ist ein<br />

„fragwürdiger Bericht“, und so werden auf einem<br />

Schlag die möglichen Interpretationen, daß die Fehler<br />

der Vergangenheit in der Erzählgegenwart nicht<br />

wiederholt werden können, ins Ungewisse katapultiert.<br />

ineinanderfließen <strong>19</strong> , zerstört die Handlung <strong>20</strong> ,<br />

kreiert Ambivalenzen und wertet, wie auch<br />

Paul Schuster, den Kommentar der Erzählinstanz<br />

auf 21 . Der Erzählerkommentar verselbständigt<br />

sich gegen die wirklichkeitsabbildende<br />

Sinnstiftung und verunsichert den<br />

Leser über die Glaubwürdigkeit des Erzählten.<br />

22 Die Entwicklung in Richtung Reha-<br />

<strong>19</strong> Das Kapitel 47 von Schergs „Der Mantel des Darius“<br />

ist als ein Drama gestaltet, mit dem Titel „Die gläserne<br />

Maske“. Inhaltlich wird an der vagen Romanhandlung<br />

angeknüpft: Der Tod Theodoras wird hier in<br />

„trochäischen Versen“ dargestellt.<br />

<strong>20</strong> Bei Scherg registriert man den Rückgang der<br />

Erzählung, die Fabel wird zu einem zerredeten Irrweg.<br />

Im Roman werden Fragen nach Freiheit, Wahrheit<br />

aufgeworfen und gleichzeitig auf der Ebene der Stils<br />

die Ursachen für das Unbehagen des Individuums in<br />

der Gesellschaft verbildlicht. Der fehlende Zusammenhang<br />

der Handlung, die barocken Sprachwucherungen<br />

verweisen auf die Unmöglichkeit der Identifikation<br />

mit der institutionalisierten Wahrheit, so daß<br />

ein Verunsicherungsdiskurs gegenüber dem herrschenden<br />

Machtdiskurs geführt wird.<br />

21 Bei Paul Schuster fasziniert die Reflexion literarischer<br />

Gattungen: in manchen Passagen spielt er mit<br />

den spezifischen Wahrnehmungsmögichkeiten der<br />

Kurzgeschichte, die keine Charakterbildung und<br />

psychologische Introspektion mehr zuläßt, spricht sich<br />

über die Krise des Romans aus, der das Erzählen<br />

ablehnt. Schusters Gestaltung ist dialogisch, äußerst<br />

undogmatisch. Er läßt sich auf Gesprächen mit dem<br />

Leser ein, den er gelegentlich wegen seiner Unbildung<br />

auch beleidigt.<br />

22 Beispiele am Text: Scherg: „Ich will kurz sein und<br />

das Thema nicht von allen Seiten beleuchten,<br />

geschweige denn durchleuchten, weder in seiner<br />

monistischen noch dualistischen, existenzialistischen<br />

oder nihilistischen Problematik, um etwa die<br />

Dimensionen schlechthin abzustecken, wozu das Licht<br />

meiner Laterne keineswegs ausreichen würde, sondern<br />

nur die rein empirische Folgerung festhalten, von der<br />

alle übrigen Problemstellungen ausgehen, um letztlich<br />

im gewaltigen Kuppelbau einer mir – ich gestehe es<br />

neidlos - völlig unzulänglichen und daher unfaßlichen<br />

Hieroglyphe zu gipfeln (...) In Klammer: Hergott, was<br />

für ein Satz. Ich bin ordentlich stolz drauf. Ich hätte<br />

mir das gar nicht zugetraut. Besonders gefällt mir der<br />

gewaltige Kuppelbau der Hieroglyphe. Klammer zu.“<br />

(„Der Mantel des Darius“, 238). Wie auch im Falle<br />

Schergs, kann man bei Paul Schuster zahlreiche<br />

Beispiele finden. Im „Vorwort“ gibt es neben der an<br />

den Sohn gerichteten Erziehungsrede, Kommentare<br />

des Vaters und zahlreicher Freunde, welche die Rolle<br />

haben, die Glaubwürdigkeit des Erzählten ins<br />

Schwanken zu bringen: „(Nein, nein, Paul, das geht<br />

nicht, das glaubt dir niemand, sagt kopfschüttelnd<br />

mein Vater, also Dein Großvater, Sohn...)“(18) oder<br />

„(nein, Paul, das ist aber doch zu stark aufgeschnitten,<br />

sagt mein Vater)“ (22). Die Kommentare der Freunde<br />

über einen möglichen Schuß der Geschichte Lutz‘<br />

Schusters artet in einem Streit zwischen dem<br />

innerfiktionalen Erzähler und seinen Freunden über<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 185


ilitierung der Subjektivität erfolgt parallel<br />

zum Streben nach genauer, objektiver Darstellung<br />

von Gedankengängen, Empfindungen<br />

oder Begebenheiten. 23 Diese Tendenzen,<br />

die scheinbar auseinandergehen, laufen<br />

eigentlich auf das Gleiche hinaus, darauf hat<br />

auch Georg Aescht in seinem Aufsatz zur<br />

Kurzprosa der Jahre <strong>19</strong>62-<strong>19</strong>73 hingewiesen.<br />

24 Aescht schließt berechtigt auf den<br />

Prozeß des Mündigwerdens der im Regionalen<br />

verhafteten Literatur, also auf die<br />

„Emanzipation von Diktaten und Vorgaben<br />

jeglicher Faktur“ (S. 1<strong>20</strong>).<br />

Die formalästhetischen Erneuerungen in<br />

der zweiten Hälfte des sechsten Jahrzehnts<br />

deuten auf die Rezeption der Welle<br />

experimenteller Literatur, die Anfang der<br />

sechziger Jahre unter anderem mit Helmut<br />

Heißenbüttel (sein erstes „Textbuch“) und<br />

Peter Weiss („Der Schatten des Körpers des<br />

Kutschers“) einsetzt 25 , aber auch auf die<br />

Rezeption Brechts und der Konkreten<br />

Poesie, auf die Peter Motzan in seinem Beitrag<br />

„Von der Abneigung zur Abwendung.<br />

Der intertextuelle Dialog der rumäniendeutschen<br />

Lyrik mit Bertolt Brecht“ hinweist<br />

26 . Außerdem werden frühere literarische<br />

Strömungen wie Surrealismus und<br />

Avantgarde als Vorbilder wahrgenommen.<br />

Die DDR-Literatur geht in der zweiten<br />

Hälfte der sechziger Jahre ebenfalls durch<br />

den Liberalisierungskurs auf moderne<br />

formale Positionen und wechselt zu neuen<br />

thematischen Schwerpunkten. 27<br />

Auch in der DDR werden nicht hauptsächlich<br />

Fragen inhaltlicher Art und nach<br />

politischer Tabus gestellt, sondern auch<br />

Probleme der Schreibpraxis verhandelt. Es<br />

geht um Bücher, die ästhetisches Neuland<br />

eroberten: Fritz Rudolf Fries: „Der Weg<br />

die Autorenschaft des Textes aus, wonach sie der Ich-<br />

Erzähler kurzum aus der Erzählung ausschaltet.<br />

23 Paul Schuster zitiert die Hure Doda in Originalsprache,<br />

mit umgangssprachlich-regionalem Kolorit (41).<br />

24 Die Bestrebungen nach objektiver Realitätsbewältigung<br />

und subjektiver Entgrenzung „überschneiden<br />

sich und kongruieren sogar“. So Georg Aescht, <strong>19</strong>89.<br />

25 Hage, <strong>19</strong>82, S. 8f.: Literarische Collagen, Protokoll-<br />

Literatur und Reportagen häuften sich. Parallel dazu,<br />

werden Erzähldiskurse zurückgenommen.<br />

26 Vgl. Peter Motzan, <strong>19</strong>99, S. 139-165.<br />

27 Siehe Durzak, <strong>19</strong>76, DDR–Kapitel und Peter Weisbrod:<br />

<strong>19</strong>80, Teil I., Inovationserscheinungen.<br />

186<br />

Olivia Spiridon<br />

nach Oobliadooh“ (<strong>19</strong>66), Günter Kunert:<br />

„Im Namen der Hüte“ (<strong>19</strong>67), Christa Wolf:<br />

„Nachdenken über Christa T.“ (<strong>19</strong>69), Ulrich<br />

Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen<br />

W.“ (<strong>19</strong>72 in „Sinn und Form“), Jurek<br />

Beckers Roman „Jakob der Lügner“ (<strong>19</strong>69).<br />

Die Autoren der DDR nehmen in der<br />

Liberalisierungsphase, die <strong>19</strong>71 eingeleitet<br />

wurde, auch eine doppelte Abstandnahme<br />

vor, aber nicht von regionalen Stoffen wie in<br />

der rumäniendeutschen Literatur (die Mitte<br />

der fünfziger Jahre in Rumänien rehabilitiert<br />

wurden 28 ), sondern vom heiliggesprochenen<br />

literarischen Erbe. So wie der sozialistische<br />

Realismus Aktualität und reale gesellschaftliche<br />

Konditionen unterschlägt, stellt sich die<br />

Frage, ob nicht die deutlich idealisierende<br />

Theorie der Tradition das gleiche tut. 29 Die<br />

DDR-Autoren haben das Erbekonzept<br />

revidiert und die Doktrin des sozialistischen<br />

Realismus relativiert: Irmtraud Morgner:<br />

„Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz<br />

nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“<br />

(<strong>19</strong>74), die Experimente Heiner Müllers wie<br />

die z.B. <strong>19</strong>77 gedruckten Stücke: „Leben<br />

Gundlings Friedrich von Preußen Lessings<br />

Schlaf Traum Schrei bzw. Germania Tod in<br />

Berlin“. Mitstreiter eines neuen Erbeverständnisses<br />

werden auch Ulrich Plenzdorf:<br />

„Die neuen Leiden des jungen W.“ (<strong>19</strong>73),<br />

Künter Kunert: „Pamphlet für K.“ (Kleist<br />

steht im Mittelpunkt), Christa Wolf: „Kein<br />

Ort. Nirgends“ (<strong>19</strong>79). Der Weg in Richtung<br />

schärferer Kritik und wirklichen Realismus<br />

entpuppt sich als Sackgasse, und er wird in<br />

der Zeit von <strong>19</strong>73-<strong>19</strong>76 gewaltsam gestoppt<br />

30 . Der Ausweg in die Innerlichkeit<br />

wird der einzige bleiben. 31<br />

Eine Erklärung für die Wiederkehr der<br />

Individualität im literarischen Werk in der<br />

Phase des Nachklangs des sozialistischen<br />

28 Peter Motzan, <strong>19</strong>93, S. 53: Mit dem „kleinen Tauwetter“<br />

<strong>19</strong>54 nimmt die gezielte „Pflege des literarischen<br />

Erbes“ Konturen an.<br />

29 Heinrich Vormweg, <strong>19</strong>80, S. 17.<br />

30 Einen Rückschlag für das kulturpolitische Konzept<br />

des V<strong>II</strong>I. Parteitags (15.-<strong>19</strong>. Juni <strong>19</strong>71) brachte die 9.<br />

Tagung des ZK im Mai <strong>19</strong>73, wo man mehrere neue<br />

Kunstwerke ungewohnt scharf kritisierte. Nach Oktober<br />

<strong>19</strong>76 (Ausschluß Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband)<br />

und November <strong>19</strong>76 (Ausbürgerung<br />

Wolf Biermanns) wird die „Tauwetterphase“ als<br />

beendet gesehen. Vgl. Weisbrod, <strong>19</strong>80, S. 185-<strong>19</strong>8.<br />

31 Heinrich Vormweg, <strong>19</strong>80, S. 23.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />

Realismus liefert schon die gattungsgeschichtliche<br />

Betrachtung der Erzählung.<br />

Wenn die These richtig ist, daß Formvorstellungen<br />

Inhalte programmieren und daß<br />

damit alte Formen die alten Inhalte nach sich<br />

ziehen, müßte die direkte Übernahme der<br />

Form der bürgerlich-individualistischen Epopöe<br />

zwecks kontrollierbarer Auffüllung mit<br />

sozialistischem Inhalt – nichts anderes war<br />

der sozialistische Realismus – ja notwendig<br />

zu einer Rückwendung auch zu den individualistischen<br />

Idealen führen. 32<br />

Der neue Diskurstyp setzt in der rumäniendeutschen<br />

Literatur mit der Verabschiedung<br />

der tradierten Erzählformen und<br />

dem Anspruch auf objektive Abbildung<br />

logisch ein, sowie mit der Aufwertung der<br />

Form als Träger von Ausdruck und Sinn.<br />

Dieser kann als Diskurs der Verunsicherung<br />

bezeichnet werden. Die Auflehnung gegen<br />

tradierte Erzähltechniken ist auf das Bewußtsein<br />

zurückzuführen, daß ein Darstellungsmodell,<br />

zum ersten Mal auf die Wirklichkeit<br />

angewendet, realistisch sein kann,<br />

beim zweiten Mal aber eine Manier ist,<br />

irreal. 33<br />

Der sogenannte Verunsicherungsdiskurs<br />

wird von Texten repräsentiert, die sozialistisch<br />

angepaßte Werke, aber auch die regionalen<br />

siebenbürgisch-sächsischen und banater-schwäbischen<br />

demontieren, so daß eine<br />

durch Zeichenveränderung verfremdete,<br />

komplexe Textstruktur entsteht, die Folie<br />

und Novum enthält 34 . Innerhalb des Verunsicherungsdiskurses<br />

können die Texte<br />

auch eine nicht-polemische Gestalt annehmen<br />

und einfach das Mißtrauen gegenüber<br />

dem Sinn des Erzählens zum Ausdruck<br />

bringen. Einen Verunsicherungsdiskurs artikuliert<br />

zum Beispiel Hans Bergel mir der<br />

Wahl des Mottos für den Roman „Wenn die<br />

Adler kommen“ 35 .<br />

Der Verunsicherungsdiskurs wird auch<br />

durch die Metaebene der Texte signalisiert,<br />

durch die Kommentare zur Produktion des<br />

Texte, wie sie sich in Schergs „Mantel des<br />

32 Ebenda, S. 22.<br />

33 Haslinger, <strong>19</strong>77, S. 64-66.<br />

34 Siehe Mario Andreotti, <strong>19</strong>83, S. 35.<br />

35 Hans Bergel zitiert Friedrich Dürrenmatt: „Steckt<br />

noch ein Körnchen Sinn, ein Gran Bedeutung in der<br />

Bagage, die ich schreibe?“<br />

Darius“ und in Schusters „Vorwort“ profilieren.<br />

Die Merkmale des Verunsicherungsdiskurses,<br />

dessen Auftritt als Zeichen eines<br />

Paradigmenwechsels betrachtet werden können,<br />

findet man in den vielfältigen<br />

Ausdrucksmöglichkeiten der siebziger und<br />

achtziger Jahre immer wieder: Zweifel am<br />

herkömmlichen Realismus 36 , der sich durch<br />

Registrierung der Wahrnehmungen mit<br />

impressionistischer Sorgfalt äußert 37 , Rücknahme<br />

der Erzählung 38 , Undurchsichtigkeit<br />

der darzustellenden Realität 39 . Man lehnt<br />

sich gegen die Darstellung der Weltganzheit<br />

auf, weil diese Ganzheit nur durch radikale<br />

erzählerische Auswahl entstehen konnte,<br />

deshalb legt die moderne Literatur ihre<br />

Techniken und Strukturen bis zum Skelett<br />

frei und entlarvt damit den Totalitätsanspruch<br />

erzählender Literatur. 40 Die erzählende<br />

Person schrumpft zu einer Erzählperspektive,<br />

sie wird damit ihrer Persönlichkeit<br />

verlustig, die einheitliche Perspektive<br />

schwindet, die Handlung wird aufgegeben,<br />

poetische Bilder und Assoziationen verselbständigen<br />

sich. Es ergibt sich der Hang zum<br />

Skizzenhaften, Ausschnitthaften, Fragmentarischen,<br />

die Akzentuierung des Primats des<br />

36 Richard Wagner: „Wohnviertel in H.“ (NL 10/<strong>19</strong>77),<br />

„Onkel Hans“ (NL 3/<strong>19</strong>80), Balthasar Waitz:<br />

„Alltagsfilm“ (NL 10/<strong>19</strong>77), „Ein Alibi für Papa<br />

Kunze“ (NL 7/<strong>19</strong>79), Rolf Bossert: „Franzdorf sowie<br />

Bilder und Nachrichten aus der Umgebung“ (NL<br />

1/<strong>19</strong>78), Franz Hodjak: „der kater. ein traumprotokoll“<br />

(NL 3/<strong>19</strong>78). Die Logik der Wirklichkeit wird<br />

durch jene der Phantasie ersetzt, die für die Reflexion<br />

innerer Befindlichkeiten und äußerer Zustände realistischer<br />

erscheint.<br />

37 Siehe Richard Wagner: „Ein zusätzlicher Tag“ (im<br />

Band „Der Anfang einer Geschichte“), „Kapitel 23“<br />

(NL 11/<strong>19</strong>74), „Die Muren von Wien“ (<strong>19</strong>90), Johann<br />

Lippet: „von haus zu haus. eine chronik“ (NL 5/<strong>19</strong>80),<br />

„Die Falten im Gesicht“ (Heidelberg <strong>19</strong>91).<br />

38 Richard Wagner: „Der Mann, der Erdrutsche<br />

sammelte“. Hier kann man Ähnlichkeiten mit Ror<br />

Wolfs Prosaband „Mehrere Männer, zweiundachtzig<br />

ziemlich kurze Geschichten, zwölf Collagen und eine<br />

längere Reise“ sehen. Wolfs Kurz- und Kürzestgeschichten<br />

setzten mit stereotypen Wendungen ein, wie<br />

„Ein Mann kam...“, „Ein Mann hatte...“.<br />

39 Joachim Wittstock: „Schlüsselpunkt“ (NL 4/<strong>19</strong>69),<br />

„Peter Gottliebs merkwürdige Reise. Eine Märchennovelle“<br />

(Spiegelsaal, <strong>19</strong>94).<br />

40 Richard Wagner: „Marlene. Anmerkungen zu einer<br />

Geschichte“ (NL 12/<strong>19</strong>80), „Lesestücke für kleine<br />

Leute“ (NL 6/<strong>19</strong>81), darin die Erzählung: „Das Mädchen<br />

ohne Eigenschaften“, Karin Gündisch: „Das<br />

unge-wöhnliche Erlebnis eines gewöhnlichen Mannes“<br />

(NL 9/<strong>19</strong>80).<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 187


„Machens“ (Scherg, Schuster). Absurdes,<br />

Groteske, Karnevalistik, der Trend zu nichtdichterischen<br />

literarischen Formen wie<br />

szenischer Dokumentation 41 , Protokoll treten<br />

in den Vordergrund, Tendenzen, die man mit<br />

der Vorliebe für das Experiment überschreiben<br />

kann, dazu auch die Aufwertung<br />

der Subjektivität 42 und damit im Zusammenhang<br />

die Brechung der Wirklichkeit durch<br />

die willkürliche Perspektive des Subjekts 43 ,<br />

das Etablieren der Charakteristika der Kurz-<br />

und Kürzestgeschichten, der Rückgang der<br />

Charakterisierung der Gestalten. Inhaltliche<br />

Merkmale sind unter anderen: Weiterführung<br />

der Parodie der Ästhetik des sozialistischen<br />

Realismus 44 , die Abrechnung mit den<br />

regressiven und dominanten Erziehungs- und<br />

Moralvorstellungen 45 , zunehmender Mut zur<br />

Kritik am Regime.<br />

41 Siehe die Spaltenaufteilung im „Mantel des Darius“<br />

(S. 240 f.). Die Spalten werden mit „Am Rande der<br />

Handschrift“ und „Der Wortlaut des Textes“ überschrieben.<br />

Es entsteht eine Geschichte auf der rechten<br />

Spalte des Blattes und ihr Kommentar auf der linken.<br />

42 Claus Stephani: „Der Individualist“ (NL 1-2/<strong>19</strong>68),<br />

Erika Hübner-Barth: „Finderlohn“ (NL 12/<strong>19</strong>68),<br />

Klaus Kessler: die Erzählungen des Bandes: „Nachricht<br />

über Stefan. Geschichten aus dem kuriosen Hie-<br />

und Dasein nebst hypochondrischen Annexen“ (<strong>19</strong>75),<br />

Jürgen Speil: „Schuhe“ (NL 3/<strong>19</strong>65), Wolfgang Kochs<br />

„Gologan“ und „Schlaflose Nächte“ aus dem Band<br />

„Die Brücke“ (<strong>19</strong>83), Roland Kirsch: die Texte aus<br />

der Anthologie „das land ist ein wesen. Prosaversuche“<br />

(<strong>19</strong>89).<br />

43 Balthasar Waitz: „So wie draußen im Leben“ (NL<br />

9/<strong>19</strong>75), Richard Wagner: „Der junge Berger. Ansätze<br />

zu einer Erzählung“ (NL 1/<strong>19</strong>79), bis hin zu seinen<br />

Romanen „In der Hand der Frauen“ (<strong>19</strong>95), „Der<br />

Himmel von New York im Museum von Amsterdam“<br />

(<strong>19</strong>92), Karin Gündisch: „Passiert euch sowas nie?“<br />

(NL 6/<strong>19</strong>81).<br />

44 Joachim Wittstock: „Erzieherische Unterredung“ (NL<br />

12/<strong>19</strong>77), Balthasar Waitz: „Sitzenbleiber“ (aus dem<br />

Band „Widerlinge“, <strong>19</strong>84), Wolfgang Koch: „Dichterlos.<br />

Eine Geschichte aus dem alten Theben“ (NL<br />

3/<strong>19</strong>89), Franz Hodjak: „Der fragwürdige Dichter“<br />

(NL 1/<strong>19</strong>77), Claus Stephani: „Achat“ (NL 5/<strong>19</strong>69),<br />

Arnold Hauser: „Der Fall“ (aus dem Band „Unterwegs“,<br />

<strong>19</strong>71), u.v.a.<br />

45 Bettina Schuller: „Die guten Ideen“, (NL 1-2/<strong>19</strong>68),<br />

„Ein sauberer Kindermord“ (NL 7-8/<strong>19</strong>67), Dieter<br />

Schlesak: „Der Eingegrabene“ (NL 3-4/<strong>19</strong>68), Helmut<br />

Britz: „Wasserkopf und Darmdämon. Jakob Bühlmann,<br />

Felix Krull&Co gewidmet“ (NL 12/<strong>19</strong>88), Balthasar<br />

Waitz: „Widerlinge-science-fiction-story“,<br />

„Onkel Heinrich“ (Band „Widerlinge“, <strong>19</strong>84), „Herr<br />

Willehammer“, „Embryo“, „Unser Brunnen“,<br />

„Stimmbruch“ (Band „Alptraum“, <strong>19</strong>96, Bukarest).<br />

188<br />

Olivia Spiridon<br />

Von Storch, Hauser, Scherg, Schuster,<br />

aber auch Joachim Wittstock, Hans Liebhardt<br />

bis zu den Autoren, bei denen sich das<br />

völlige Mißtrauen gegenüber der Möglichkeit<br />

der Sinnstiftung durch das erzählerische<br />

Werk äußert, ist eine durchgehende Entwicklung<br />

der rumäniendeutschen Erzählliteratur<br />

zu sehen. Der Schritt von der dialogischen<br />

Erzählgestaltung Paul Schusters im<br />

„Vorwort“, dessen Erzähler sich im Text mit<br />

dem Leser oder den zu Rate gezogenen<br />

Freunden wegen einer Schlußlösung streitet,<br />

bis hin zu Richard Wagners „Marlene. Anmerkungen<br />

zu einer Geschichte“ (NL<br />

12/<strong>19</strong>80) ist nicht groß. Wagner ist auch auf<br />

eine interaktive Gestaltung des Textes<br />

bedacht, läßt deshalb im Text Rubriken für<br />

die Anmerkungen des Lesers frei. Schon die<br />

Titel der Texte betonen den Eindruck des<br />

noch-nicht-Fertigen, nicht-Endgültigen, was<br />

das Gefühl der Ohnmacht der Schreibenden<br />

gegenüber Totalitätsdarstellungen zum Ausdruck<br />

bringt. Die konzentrierten, fast als<br />

Parabeln anmutenden Entwürfe Schergs 46 für<br />

den Zustand verlorener Freiheit (siehe „Bass<br />

und Binsen“) finden sich in Kurzprosaform<br />

bei Wolfgang Koch („Wir, die Wabenmenschen“,<br />

NL 3/<strong>19</strong>89) wieder. Anders steht<br />

es um die radikale Sinndestruktion, wie man<br />

sie beispielsweise aus manchen Passagen aus<br />

Schergs Roman „Der Mantel des Darius“ (S.<br />

121) kennt. Sie wird nicht zur verbreiteten<br />

Ausdrucksform, unter anderem weil hinter<br />

den kühnsten Formulierungen der Glaube an<br />

die Wirkung der Literatur erhalten bleibt. 47 .<br />

Das Mißtrauen an die Fähigkeit der Erzählung,<br />

Sinn zu vermitteln, gipfelt in Mihailescus<br />

„Stillstand“, wo das Erzählen von<br />

einer akribischen Aufzählung äußerer Vorgänge<br />

abgelöst wird. 48 Die Reihe der Texte,<br />

46 Dennoch kann man Scherg nicht als Vorläufer für<br />

jüngere Generationen betrachten. Seine „chiffrierten“<br />

Romane haben so gut wie keine Rezeptionsgeschichte<br />

gemacht. Die Ähnlichkeiten sind eher auf<br />

die Wahrnehmung gemeinsamer Modelle aus der<br />

europäischen Literatur zurückzuführen.<br />

47 Hier beziehe ich mich besonders auf die Autoren um<br />

die „Aktionsgruppe Banat“, die, in der Nachfolge<br />

Brechts, Literatur als Erziehungsfaktor betrachten.<br />

Vgl. auch Peter Motzan, <strong>19</strong>80, Kapitel: „Vom polemisch-präskriptiven<br />

Engagement zur engagierten Subjektivität“.<br />

48 „Er geht auf eine Person zu, während die dazu notwendigen<br />

Bewegungen automatisch verlaufen. Er<br />

denkt: ich spreche sie an, und sagt: Wer sind Sie, was<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />

die sich neuer literarischer Gestaltunsmodalitäten<br />

bedienen, setzt sich in unterschiedlichster<br />

Qualität fort und bricht nicht mehr<br />

ab. Dies wird auch aus den Aufsätzen von<br />

Peter Motzan 49 und von Georg Aescht 50 für<br />

die sechziger und den Anfang der siebziger<br />

Jahre deutlich. Hans Liebhardt vertritt das<br />

Ausmaß der Erneuerung in seiner Anthologie<br />

„Worte und Wege“ (<strong>19</strong>70) nicht ganz<br />

repräsentativ, deshalb vermißt Peter Motzan<br />

zurecht die Erzählung Joachim Wittstocks,<br />

„Schlüsselpunkt“ (NL 4/<strong>19</strong>69) in der Prosaanthologie.<br />

Abschließend möchte ich hinterfragen,<br />

inwieweit sich diese drei hier erläuterten<br />

Diskurse für die Erfassung der Ausdrucksvielfalt<br />

rumäniendeutscher Erzähler als sinnkonstituierend<br />

erweisen. Meines Erachtens<br />

haben sie eine ordnende, systematisierende<br />

Funktion, ihre Rolle besteht darin, thematische<br />

Schwerpunkte in größeren Zusammenhängen<br />

einzubetten. Im Unterschied zu<br />

Benennungen wie „Regionalismus“ oder<br />

„Moderne“ sind sie für die spezifische Landschaft<br />

der rumäniendeutschen Nachkriegsliteratur<br />

maßgeschneidert. Darüber hinaus<br />

schließen sich in ihrer Begrifflichkeit historische,<br />

sozialpsychologische, gesellschaftliche<br />

Zusammenhänge, die hinter Autor und<br />

Werk stehen und sind daher als Kapitel<br />

denkgeschichtlicher Konzeptionen aufzufassen.<br />

Die Erläuterung der Zusammenhänge,<br />

welche Entstehung und Entwicklung des<br />

Verunsicherungsdiskurses bestimmt haben,<br />

führt zur Antwort auf die Frage nach den<br />

Ursachen des Paradigmenwechsels in den<br />

sechziger Jahren.<br />

Der Wandel in der Entscheidung für neue<br />

inhaltliche und formale Gestaltungsmöglichkeiten<br />

ist auf die Rezeption europäischer<br />

literarischer Entwicklungen zurückzuführen,<br />

aber auch auf die Herausbildung von Modeerscheinungen<br />

innerhalb des rumäniendeutschen<br />

Literaturbetriebs. 51<br />

wollen Sie? Er sieht: sie bewegt sich nicht. Er geht auf<br />

eine andere Person zu, während die dazu notwendigen<br />

Bewegungen automatisch verlaufen...“ Der Text setzt<br />

sich eine Weile in dieser Manier fort. (aus Jakob<br />

Mihailescu: „Stillstand“, NL 6/<strong>19</strong>84).<br />

49<br />

Peter Motzan, <strong>19</strong>70.<br />

50<br />

Georg Aescht, <strong>19</strong>89.<br />

51<br />

Wie zum Beispiel im Falle Ludwig Schwarz‘, der<br />

konsequent an der traditionellen Schreibweise festge-<br />

Grundlegend für die Emanzipation der<br />

rumäniendeutschen Literatur (auch der<br />

DDR-Literatur) sind die Forderungen nach<br />

der Ausweitung des Realismus-Begriffs, der<br />

in der Form eines unreflektierten bürgerlichen<br />

Realismus eben diesen Begriff aushöhlte<br />

und diskreditierte. Der Einbruch des<br />

Irrealen und Phantastischen wird als weitaus<br />

realistischer empfunden, besonders unter den<br />

Umständen der achtziger Jahre, als die<br />

rumänische Wirklichkeit in ihren surrealen<br />

Zügen mit den modernsten Schreibtechniken<br />

wetteiferte. In einem Prosastück von Willhelm<br />

Koch, „Das Recht auf Realität“,<br />

besteht der Erzähler nicht auf Entwicklung<br />

neuer künstlerischer Mittel, welche im Bezug<br />

zu einer grotesken Realität mithalten<br />

können, sondern auf eine „normale“ Wirklichkeit:<br />

zwei Bier, ein gutes Fernsehprogramm<br />

und eine Liebesbeziehung 52 .<br />

Die rumäniendeutschen Autoren halten<br />

auch weiter am Experiment fest und an der<br />

Form der kürzeren Prosa, (im Unterschied<br />

zur DDR, wo das Romaneschreiben auch<br />

sehr gut honoriert wird), selbst dann, wenn<br />

in der westlichen Literatur der siebziger<br />

Jahre das Erzählen wiederkehrt. 53 Diese Abweichung<br />

weist darauf hin, daß sich die<br />

Kunst als Kunst des Weglassens, der Andeutung,<br />

des Undurchsichtig-Machens durch<br />

Montage, Collage, Vermischung der Gattungen,<br />

für das Einschleusen unerwünschter<br />

Botschaften besonders bewährt hat.<br />

Eine andere Erklärung für die Ausdauer<br />

experimenteller Formen wäre das Fehlen<br />

eines freien Büchermarktes, der inhaltliche<br />

und formale Anliegen des Schriftstellers auf<br />

ihre Übereinstimmung hin mit dem Geschmack<br />

des Lesers geprüft hätte.<br />

Die intensive Rezeption moderner Mittel,<br />

die sich für den Verunsicherungsdiskurs als<br />

konstitutiv erwiesen hat, ist letztendlich auch<br />

Ausdruck einer Kriseerscheinung, die in den<br />

siebziger Jahren in der literarischen Region<br />

halten hat, und sich dann plötzlich für modernistisches<br />

Instrumentarium entscheidet, in: „Verdammt! Eine<br />

Bestandsaufnahme im Hause Peter Holz oder ein<br />

Drehbuch“. In: NL <strong>19</strong>73, H. 3, S. 3-<strong>20</strong>.<br />

52 Wolfgang Koch: „Das Recht auf Realität“, NL<br />

9/<strong>19</strong>89, S. 28.<br />

53 Siehe Volker Hage: Die Wiederkehr des Erzählers.<br />

Neue deutsche Literatur der siebziger Jahre. Frankfurt/Main,<br />

Berlin, Wien: Ullstein <strong>19</strong>82.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 189


wegen der fehlenden Identifikationsmuster<br />

eingesetzt und das Leiden an der Provinz<br />

erhöht hat. Die Situation der Abschottung<br />

vom europäischen Literaturbetrieb hat aber<br />

sicherlich auch den Ehrgeiz einer „unter<br />

Beweis Stellung“ der Stärken der Region<br />

erweckt.<br />

<strong>19</strong>0<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Hauser, Arnold: Der fragwürdige Bericht<br />

Jakob Bühlmanns. Kurzroman. Berlin: Verlag<br />

Volk und Welt <strong>19</strong>74.<br />

2. Scherg, Georg: Der Mantel des Darius.<br />

Bukarest: Jugendverlag <strong>19</strong>68.<br />

3. Schuster, Paul: Vorwort (Fragment). In: NL<br />

3-4/<strong>19</strong>68, S. 9-45.<br />

4. Storch, Franz: Die Trompetenschnecke. In:<br />

Das Holzgrammophon. Erzählungen. Bukarest:<br />

Literaturverlag <strong>19</strong>66.<br />

S e k u n d ä r l i t e r a t u r :<br />

1. Aescht, Georg: „Kreation und Administration.<br />

Zur rumäniendeutschen Kurzprosa<br />

der Jahre <strong>19</strong>62-<strong>19</strong>73“. In: Zeitschrift für<br />

Siebenbürgische Landeskunde, IV. Folge<br />

12/<strong>19</strong>89.<br />

2. Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen<br />

Literatur. Neue Wege in der Textanalyse.<br />

Einführung in Lyrik und Epik. Stuttgart,<br />

Bern: Paul Haupt <strong>19</strong>83.<br />

3. Csejka, Gerhardt: „Der Weg zu den Rändern,<br />

der Weg der Minderheitenliteratur zu sich<br />

selbst. Siebenbürgisch-sächisische Vergangenheit<br />

und rumäniendeutsche Gegenwartsliteratur“.<br />

In: Die siebenbürgisch-deutsche<br />

Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur.<br />

Hg. Von Anton Schwob und Brigitte Tontsch,<br />

<strong>19</strong>93.<br />

4. Csejka, Gerhardt: „Vor allem ein nützliches<br />

Buch“, Neue Literatur 4/<strong>19</strong>69.<br />

5. Durzak, Manfred (Hg.): Die deutsche Literatur<br />

der Gegenwart. 3. erweiterte Auflage.<br />

Stuttgart: Philipp Reclam jun. <strong>19</strong>76.<br />

Olivia Spiridon<br />

6. Hage, Volker: Die Wiederkehr des Erzählers.<br />

Neue deutsche Literatur der siebziger Jahre.<br />

Frankfurt/Main, Verlin, Wien: Ullstein <strong>19</strong>82.<br />

7. Haslinger, Adolf: Verfahrensweisen und<br />

Techniken im Erzählen. In: Walter Weis,<br />

Josef Donnenberg, Adolf Haslinger, Karlheinz<br />

Rossbacher: Gegenwartsliteratur. Zugänge<br />

zu ihrem Verständnis. Stuttgart: W.<br />

Kohlhammer <strong>19</strong>77.<br />

8. Kegelmann, Renè: „An den Grenzen des<br />

Nichts, dieser Sprache“. Zur Situation der<br />

rumäniendeutschen Literatur der 80er Jahre in<br />

der BRD. Bielefeld: Aisthesis <strong>19</strong>95.<br />

9. Motzan, Peter: „Von Ludwig Schwarz bis<br />

Franz Hodjak. Zur Prosaanthologie Worte<br />

und Wege“. In: Neuer Weg vom 3. April<br />

<strong>19</strong>70.<br />

10. Motzan, Peter: Die rumäniendeutsche Lyrik<br />

seit <strong>19</strong>44. Cluj: Dacia <strong>19</strong>80.<br />

11. Motzan, Peter: Risikofaktor Schriftsteller. Ein<br />

Beispielfall von Repression und Rechtswillkür.<br />

In: Wort als Gefahr und Gefährdung.<br />

Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht. Hg.<br />

von Peter Motzan und Stefan Sienerth. München:<br />

Südostdeutsches Kulturwerk <strong>19</strong>93.<br />

12. Motzan, Peter: Von der Abneigung zur Abwendung.<br />

Der intertextuelle Dialog der<br />

rumäniendeutschen Lyrik mit Bertolt Brecht.<br />

In: Im Dienste der Auslandsgermanistik. Festschrift<br />

für Prof. Dr. Dr.h.c. Antal Mádl zum<br />

70. Geburtstag. Budapest <strong>19</strong>99.<br />

13. Tilleweid, Lutz: Arnold Hauser. Der Fragwürdige<br />

Bericht Jakob Bühlmanns. In: Südostdeutsche<br />

Vierteljahresblättern, <strong>19</strong>72, S.<br />

289.<br />

14. Vormweg, Heinrich: Ein schwieriger Rückweg.<br />

Zur Geschichte der Prosa in der DDR.<br />

In: Konrad Franke: Die Literatur der Deutschen<br />

Demokratischen Repubilk <strong>II</strong>. Mit zwei<br />

einführenden Essays von Heinrich Vormweg.<br />

Aktualisierte Ausgabe. Frankfurt/Main:<br />

Fischer Taschenbuch Verlag <strong>19</strong>80.<br />

15. Weisbrod, Peter: Literarischer Wandel in der<br />

DDR. Untersuchungen zur Entwicklung der<br />

Erzählliteratur in den siebziger Jahren.<br />

Heidelberg: Julius Groos <strong>19</strong>80.<br />

*<br />

* *<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


SPRACHWISSENSCHAFT<br />

CONSTANTIN NEGREANU UND DIE EUROPÄISCHE PHRASEOLOGIE<br />

"Mais il est vrai que le développement historique<br />

ne procède que rarement par une<br />

lente évolution, employant tous les éléments<br />

que fournit une vie organique. De grands<br />

sauts dans l'inconnu attirent dans une action<br />

risquée les membres d'une société qui se<br />

croit arriérée parce qu'elle ne ressemble pas à<br />

un voisinage plus brillant. Le lendemain de<br />

cette tentative enthousiaste, lorsqu'on fait le<br />

compte de ce qu'on a perdu et de ce qu'on a<br />

gagné, il n'est plus possible de revenir à ce<br />

qu'on a sacrifié, mais on peut faire germer,<br />

les confondant avec le sol ancestral, les<br />

semences qui, au moment de la hâte initiale,<br />

étaitent restées trop souovent à fleur de<br />

terre". 1<br />

Es fällt nicht leicht, vor dem Hintergrund<br />

dieses groß angelegten internationalen Germanisten-Kongresses<br />

in Rumänien (Iaşi, Mai<br />

<strong>20</strong>00), angesichts des Ereignisses und des<br />

Themas, innere Bewegtheit zu verbergen.<br />

Meine persönliche Korrespondenz mit Constantin<br />

Negreanu, die ich Wolfgang Mieder<br />

(Vermont, USA) und Hans Manfred Militz<br />

(Jena, DDR) verdanke, erstreckt sich auf die<br />

Jahre <strong>19</strong>87-<strong>19</strong>90. Zur geplanten Begegnung<br />

in Straßburg im Jahre <strong>19</strong>90 kam es nicht,<br />

statt des erwarteten Gastes zur Sommeruniversität<br />

erreichte uns die Nachricht seines<br />

frühen Todes. Trotz aller Veränderungen des<br />

darauffolgenden Jahrzehnts bleibt die Permanenz<br />

des Wesentlichen in Constantin<br />

Negreanus wissenschaftlicher Bewertung des<br />

Sprichworts (SPW), die aus der Gegenwartsperspektive<br />

zu würdigen ich mir hier und<br />

jetzt zur Ehre mache.<br />

1 Nicolae Iorga (<strong>19</strong>37), "Le despotisme éclairé dans<br />

les pays roumains au XV<strong>II</strong>Ie siècle". In Bulletin of<br />

the International Committee of Historic Sciences 34,<br />

101.<br />

Gertrud Gréciano<br />

Phraseologieforschung gilt als besonderes<br />

Anliegen der zeitgenössischen<br />

Linguistik, was Veröffentlichungen, Veranstaltungen,<br />

Förderungs- und Prüfungsprogramme<br />

bezeugen. Die Gesellschaft<br />

EUROPHRAS, inzwischen ein europäisches<br />

Netzwerk mit ihrem Rechtssitz in der<br />

Schweiz, mehrsprachig und mit der (Auslands)Germanistik<br />

als Hauptbotschafter von<br />

Ost nach West und Nord nach Süd, kann als<br />

internationales Forum und institutioneller<br />

Bezugspunkt angesehen werden, deren<br />

großes Verdienst es ist, Parömiologie und<br />

Phraseologie disziplinär zu verbinden, aufgrund<br />

der Gemeinsamkeiten zwischen beiden<br />

Sprachobjekten: Mehrgliedrigkeit, Festgeprägtheit<br />

und Figuriertheit, prototypische<br />

Merkmale, die sich mit Familienähnlichkeit<br />

begnügen. Das bedeutet weder Vereinnahmung<br />

noch Vereinheitlichung, denn das<br />

Phrasem - der Terminus ist von I. Mel'cuk<br />

(Paris <strong>19</strong>94), er gestattet m.E. die Umgehung<br />

des Diskussion zu Phraseologismus/Phraseolexem<br />

- ist ein Oberbegriff, der differenzierte<br />

und mehr oder weniger typische<br />

Exemplare wie Funktionsverbgefüge (FVG),<br />

Idiome (ID) und Sprichwörter (SPW) zu<br />

umfassen vermag. Der effektiven Zusammenarbeit<br />

von Fachleuten der Phraseologie<br />

und Parömiologie aus Slavistik, Romanistik<br />

und Germanistik ist der konvergenz- und<br />

konsensstiftende wissenschaftliche Fortschritt<br />

zu verdanken.<br />

Hatte V. Telja (Bukarest, <strong>19</strong>65) mit<br />

Recht die damalige Autonomie der Phraseologie<br />

verteidigt, so vertreten wir heute deren<br />

grenzüberschreitenden Standort, intra- und<br />

interdisziplinär: Kristallisationspunkt von


Morphosyntax und Pragmasemantik, verwurzelt<br />

im Text, gehortet im Wörterbuch mit<br />

Rückwirkung auf die Lehre vom Zeichen<br />

und vom Menschen. Die erste Hilfe in der<br />

Vermittlung rumänischen Wort- und Wissensstandes<br />

leistet Constantin Negreanu<br />

(<strong>19</strong>83) durch den Abbau der Sprachbarriere<br />

mit der französischen Zusammenfassung<br />

seiner These und der Zuhilfenahme von<br />

Konkordanzen, Übersetzung und Übertragung<br />

der SPW ins Französische, was auch<br />

Fremdsprachlern, wie mir, zumindestens<br />

teilweise den Zugang zu den 6000 untersuchten<br />

SPW des Rumänischen ermöglicht.<br />

In der vorgegebenen Kürze möchte ich vier<br />

Aspekte anschneiden, die den Experten auf<br />

die Aktualität dieses Wissenschaftlers<br />

schließen lassen. Der von Constantin Negreanu<br />

gewählte linguistische Erklärungsrahmen<br />

für SPW und spw Redensarten<br />

macht den Phraseologen zum idealen<br />

Ansprechspartner (1.). Aufbauend auf der<br />

bekannten und anerkannten ethnologischen<br />

Tradition der rumänischen Geisteswissenschaft<br />

entwirft Constantin Negreanu für<br />

SPW das Ethnokonzept und -feld als Erklärungsmuster,<br />

das mit den heute verbreiteten<br />

kognitiven Modellen in Verbindung<br />

zu bringen sind (2.). Seine begrifflich<br />

ausgerichtete Deutung der sprichwortimmanenten<br />

Bilder ist Vorbote der heute<br />

verbreiteten konzeptuellen Metapherntheorien<br />

(3.), die letzten Endes den Sinn (4.)<br />

zum Hauptziel dieser inhaltsträchtigen<br />

Strukturanalyse machen. Es handelt sich um<br />

eine poststrukturalistische Suche nach der<br />

Semantik einer Kultur.<br />

Von der Systemlinguistik zur Textlinguistik.<br />

In den 60er und 70er Jahren war die<br />

operationelle und klassifizierende Beschreibung<br />

von Spracheinheiten die Hauptaufgabe<br />

der Systemlinguistik. Unter dem<br />

Strukturalismus wurde die Leipziger Schule<br />

zum Vorbild für die exakte, technische Erfassung<br />

von Wortarten, -gruppen, Satzgliedern<br />

und Sätzen. Auch Phraseme wurden<br />

von H. Burger (<strong>19</strong>73) und A. Rothkegel<br />

(<strong>19</strong>73) strukturalistisch und tranformationnell<br />

perfekt beschrieben. Der formalen<br />

Struktur jedoch widmet Constantin Negreanu<br />

nur weniger als die Hälfte seiner Unter-<br />

<strong>19</strong>2<br />

Gertrud Gréciano<br />

suchung (58-150) und unter Morphologie<br />

behandelt er vorwiegend die Lexik, d.h., die<br />

Herkunftsbereiche der Formative (Fauna,<br />

Elend, Meteorologie, Bau, Maß). Im Unterschied<br />

zu den erwähnten deutschen Strukturanalysen<br />

zur deutschen Phraseologie, ähnlich<br />

jedoch der französischen Linguistik zu<br />

französischen Phrasemen, geht es bei<br />

Constantin Negreanu wenig um Syntax und<br />

wenn, dann des Aufschlusses wegen von<br />

syntaktischen Phänomenen auf ihre diskursive<br />

Funktion, von z.B. Negation als<br />

Ausdruck des Verbotes und Bestätigung der<br />

erzieherischen Rolle des SPW selbst.<br />

Constantin Negreanu's Grund-anliegen ist<br />

die Semantik und daher seine Übertragung<br />

des Strukturbegriffes auf Begriff (44-58) und<br />

Stil (153-215) unter der besonderen Miteinbeziehung<br />

der Stilfiguren, Aspekte, auf die<br />

ich noch einmal zurückkommen werde.<br />

In diesem Zusammenhang und für seine<br />

Zeit mag die Darstellung und Benennung des<br />

SPW nicht als Satz sondern als Äußerung<br />

und Mikrotext überraschen, was Spürsinn für<br />

oder Wissen von mengentheoretischen Einheiten<br />

voraussetzt. Der häufige Verweis auf<br />

den Kontext trägt der Situationsgebundenheit<br />

Rechnung, nicht jedoch wie üblich im<br />

Gebrauch, sondern im System, d.h., der<br />

Gesamt- und Ganzheit der SPW-Belege in<br />

einer Sprache, hier dem rumänischen Sprichwortschatz<br />

als Text. Constantin Negreanus<br />

Analyse zeugt von einem holistischen<br />

Gesamtblick, strukturell und kommunikativ,<br />

der die Textlinguistik vorwegnimmt und für<br />

den Mikroeinheiten, gleich Molekülen die<br />

Welt bedeuten. So spricht der Autor bei<br />

Belegen wie L'honnêté chasse la honte von<br />

einer intramikrokontextuellen Struktur nach<br />

Antonymie, was an Brinkers explizite<br />

Wiederaufnahme erinnert.<br />

Vom Ethnokonzept zum Kognitivismus.<br />

Einen sehr originellen Beitrag zur<br />

europäischen Phraseologieforschung liefert<br />

Constantin Negreanu mit den Begriffen<br />

Ethnozeichen, Ethnokonzept und Ethnofeld,<br />

die laut Résumé (<strong>19</strong>83, 250) von ihm geprägt<br />

sind, die m.E. jedoch nicht zu trennen<br />

sind von dem sehr frühen und fortschrittlichen<br />

Wissensstand der rumänischen Ethnologie,<br />

Anthropologie und Kulturwissenschaft.<br />

Arbeiten wir in EUROPHRAS bis<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Constantin Negreanu und die europäische Phraseologie<br />

heute noch mit den systemlinguistisch belasteten<br />

Kategorien wie Schlüsselbegriff und<br />

sprechen wir im selben Zusammenhang ganz<br />

neutral von der Produktivität bestimmter<br />

Phänomene, so war uns Constantin Negreanu<br />

mit seinen explikativen Ethno-Termini 15<br />

Jahre voraus und ist er der direkte Vorbote<br />

der ethischen Konzepte, anhand derer A.<br />

Stedje (<strong>19</strong>89, <strong>19</strong>97) mentale Strukturen zu<br />

erfassen sucht. Wie A. Stedje in Lexemen<br />

und Idiomen, so sieht Constantin Negreanu<br />

in SPW eine kulturspezifische Konzeptualisierung<br />

ethischer Grundmuster: soziale<br />

Verhaltensformen bei A. Stedje, Charaktereigenschaften<br />

bei Constantin Negreanu.<br />

Natürlich sind darunter nicht nationale<br />

Stereotypien zu verstehen, sondern kulturspezifische<br />

Subsidiaritäten im Sinne des<br />

europäischen Gemeinschaftsrechts. Gewisse<br />

Reformulierungen scheinen mir in diesem<br />

Sinne angebracht; Probleme, mit denen sich<br />

gerade auch A. Stedje in ihrer komparativen<br />

d.h. interkulturellen Perspektive auseinanderzusetzen<br />

versucht.<br />

Negreanu arbeitet intrakulturell zum<br />

Rumänischen und kommt zu folgender<br />

Ethnobegriffsskala, mit Nicht-Realien als<br />

Onoma: WEISHEIT / IRONIE / ARBEIT /<br />

VOR-SICHT /KLUGHEIT. Die interne und<br />

externe Strukturierung seines Kategorienkom-plexes<br />

ist aufschlußreich: das SPW als<br />

Ethnozeichen für einen Ethnobegriff mit<br />

Synonymien und Antonymien innerhalb<br />

eines und mit mehreren Ethnofeldern:<br />

IRONIE & SATIRE, HUMOR; WEISHEIT &<br />

WAHNSINN; mit parömiologisch belegten<br />

Querverbindungen zwischen Ethnobegriffen<br />

wie WEISHEIT & IRONIE. Für diesen<br />

parömiologischen Sachverhalt gibt Negreanu<br />

aufschlußreiche historische und ethnologische<br />

Erklärungen. Dennoch bereits aus<br />

Negreanus flüchtigen Konkordanzen mit<br />

dem Französischen ergeben sich Ansätze zur<br />

Übereinzelsprachlichkeit, wobei ich es den<br />

Anthropologen überlasse, von Universalität<br />

zu sprechen. Mehrmals bin ich selbst auf<br />

Vergleiche, eben auch Begriffsvergleiche<br />

zwischen dem Deutschen und Französischen<br />

eingegangen und erlaube mir den Hinweis<br />

auf eine statistische Erhebung zu phraseographischen<br />

onomasiologischen Konvergenzen:<br />

ZURECHTWEISUNG / CRITIQUE, WAHN-<br />

SINN / FOLIE, AB-LEHNUNG / REFUS,<br />

TRUNKENHEIT / IVROGNERIE, PRAHLE-<br />

REI / VANTARDISE (G. Gréciano <strong>19</strong>91,<br />

<strong>19</strong>92,<strong>19</strong>93).<br />

Zehn Jahre vor V. Vapordshiev (<strong>19</strong>92)<br />

und zwanzig Jahre vor H. Schemann (<strong>20</strong>00),<br />

ziemlich gleichzeitig, jedoch zehnmal so<br />

umfangreich mit H. Görner (<strong>19</strong>82): 600<br />

Belege zum Deutschen, 6000 zum<br />

Rumänischen, betreibt Constantin Negreanu<br />

phraseologische Onomasiologie, die schwierigste<br />

und notwendigste unserer Aufgaben,<br />

weil der Gebrauch von Phrasemen, ergo<br />

Parömien thematisch bedingt bzw. bestimmt<br />

ist. Constantin Negreanu bleibt für die<br />

aktuellen phraseographischen Projekte, ob<br />

einzel-, ob mehrsprachig, unumgänglich und<br />

auf dieser Basis ist das bisher zu wenig vertretene<br />

Rumänische in die internationale<br />

Lexikographie miteinzubeziehen, z.B. in J.<br />

Sevilla-Munoz (<strong>20</strong>00), Mehrsprachiges<br />

Lexikon zu Romanischen Parömien.<br />

Von der Illustration zur konzeptuellen<br />

Metapher.<br />

Besondere Aufmerksamkeit widmet der<br />

linguistische Parömiologe der Lautgestalt<br />

dieser Ethnozeichen. Abgesehen von den<br />

phonetischen Gegebenheiten: ihre differenzierte<br />

Reimbildung, Assonanzen und Alliterationen,<br />

die uns mehr als die SPW anderer<br />

Sprachen an Lyrik und Lied erinnern, abgesehen<br />

auch von ihren schablonenhaften,<br />

gerne binären Strukturen - Die Schwätzer<br />

säen, die Stummen ernten - erkennt<br />

Constantin Negreanu in den lexikalischen<br />

Komponenten eine kulturspezifische Repräsentationsweise<br />

von Welten ("physionomie<br />

morale, profil spirituel"). Aus zahlreichen<br />

EUROPHRAS-Untersuchungen zu anderen<br />

Sprachen wissen wir heute, daß die Alltagserfahrung<br />

übereinzelsprachlich zum Ansatz-<br />

und Ausgangspunkt für die Versprachlichung<br />

von Begriffen dient. Das für die<br />

Sprechergemeinschaft / Sprachkultur Spezifische<br />

("spécifique national") hängt ab von<br />

der Produktivität der Spenderbereiche. Laut<br />

Constantin Negreanu dominieren im Rumänischen<br />

- der Kosmos: Himmel, Sterne, Mond,<br />

Wolken, Erde, Sonne,<br />

- das Übernatürliche: Gott, der Teufel,<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>3


- die Flora und die Fauna: Ein ächzender<br />

Baum lebt lange; bellende Hunde beißen<br />

nicht,<br />

was an Ergebnisse zum Neugriechischen<br />

erinnert (M.L. Drillon <strong>19</strong>97). Für die<br />

Phraseologie des Deutschen und Französischen<br />

ergibt sich folgende Bildspenderskala:<br />

- Körperteile, die natürliche und soziale<br />

Welt, die kosmische und übernatürliche<br />

Welt, wovon in beiden Sprachen die zahlreichen<br />

- Psychosomatismen zu Hand/Kopf/Herz/<br />

Auge/Fuß pied/œil/tête/cœur/main, - Zoologismen<br />

zu Hund/Kuh/Katze/Pferd/Vogel/<br />

chien/chat/âne/cheval und<br />

- Technologismen wie jdm. Dampf<br />

machen, aufs rechte Gleis kommen, elektrische<br />

Herzachse, remettre sur les rails,<br />

trouble de conduction zeugen.<br />

Constantin Negreanus erste Erklärung<br />

dieses Tatbestandes bringt ihn in die unmittelbare<br />

Nähe der konzeptuellen<br />

Metapherntheorie, wenn er mit der Tendenz<br />

der Visualisierung des Allgemeinen durch<br />

das Spezielle argumentiert (<strong>19</strong>83, 254). Aus<br />

der Perspektive der klassischen Rethorik<br />

erinnert Constantin Negreanu selbst im<br />

Rahmen der Stilfiguren an die Metapher und<br />

den metaphorischen Vergleich. In ethnologischer<br />

Tradition erkennt er in der Vermeidung<br />

des Abstrakten ein Charakteristikum<br />

des Volksmundes: "la plupart des<br />

mots-clefs des unités parémiologiques sont<br />

des termes concrets, chose tout à fait<br />

explicable puisque la pensée concrète du<br />

parleur de la langue populaire a besoin<br />

d'illustration du général par le particulier; le<br />

parler populaire évite autant que possible les<br />

termes abstraits". Im Unterschied dazu liest<br />

die heutige anthropologische Lesart diese<br />

kollektiv festgeprägten Metaphern in<br />

Idiomen und Parömien über ihre individuelle<br />

Nachvollziehbarkeit. Anhand der Gemeinsprache<br />

zeigt Ch. Baldauf (<strong>19</strong>97), daß<br />

Metapher ein Alltagsphänomen ist und die<br />

Prüfung ihres Materials beweist, daß der<br />

Großteil dieses Gemeinsprache-Korpus<br />

mehrgliedrig und festgeprägt, also phraseologisiert<br />

ist.<br />

<strong>19</strong>4<br />

Gertrud Gréciano<br />

Über die Struktur zum Sinn.<br />

Ganz entschieden ist Struktur bei<br />

Constantin Negreanu nicht Selbstzweck,<br />

sondern ein Weg in die Semantik, die keine<br />

Referenzsemantik, sondern eine konzeptuelle<br />

und kulturelle Semantik ist und auf<br />

Assoziationsdenken, Analogiedenken und<br />

Kontrastdenken beruht. Diese heuristische<br />

Auffassung ist der Grund der überraschend<br />

geringen Anwendung des besagten Instruments<br />

auf die Syntax, seiner Übertragung auf<br />

die Bereiche von Begriff und Stil. Obwohl<br />

weder der Sprecher, noch die Verwendung,<br />

sondern die Sprache im Mittelpunkt der<br />

Untersuchung steht, werden die Stilelemente<br />

und -figuren der SPW kollektiv der Sprechergemeinschaft<br />

zugeordnet. Die metaphorische<br />

Sprache wird zum Charakteristikum<br />

des Volksmundes und schließt als solche den<br />

wörtlichen Sinn nicht aus, wenn sie auch, je<br />

nach Kontext, die figurierte Bedeutung vermittelt.<br />

Der Stilwert des SPW ist der der<br />

Literatur, was aus ihm eine Übergangserscheinung<br />

zur geschriebenen literarischen<br />

Sprache macht. Parömiologische Stilzüge<br />

stammen aus der Ästhetik; sie vermitteln<br />

Plastizität, Expressivität und Präzision.<br />

Constantin Negreanu (<strong>19</strong>83, 257) schließt<br />

mit L. Blaga: sprichwörtlicher Stil sei<br />

sprichwörtlich für Rumänien: "les proverbes<br />

dénotent un penchant pour le pittoresque qui<br />

équivaut à une déterminante stylistique<br />

inconsciente, organique, constitutive figurant<br />

dans la matrice stylistique du peuple<br />

roumain".<br />

Der Phraseologe ist auf den ersten Blick<br />

überrascht über den Unterschied wenn nicht<br />

Widerspruch zwischen der negativen Beurteilung<br />

des Menschen im Phrasem<br />

schlechthin (doppelten Anthropozentrismus)<br />

und Constantin Negreanus positiven Bewertung<br />

im rumänischen SPW. Eine nähere<br />

Beobachtung des erfaßten SPW-Materials<br />

gibt jedoch deutlich zu erkennen, daß bereits<br />

über die antonym erfaßten Begriffe und<br />

Bilder auch im Rumänischen Tugenden und<br />

Untugenden zu Worte kommen: WEISHEIT<br />

vs WAHNSINN, WAHRHEIT vs LÜGE,<br />

FLEISS vs FAULHEIT, KLUGHEIT vs<br />

DUMMHEIT. Der Eindruck von der Domi-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Constantin Negreanu und die europäische Phraseologie<br />

nanz positiver Werte entsteht durch die Wahl<br />

der Tugend als Ethnobegriff und Ethnofeld,<br />

was textsortenbedingt durch die universell<br />

erzieherische Funktion des SPW zu verstehen<br />

und zu erklären ist.<br />

Ein auch nur kurzer Einblick in Constantin<br />

Negreanus Darstellung der Sprichwörter<br />

des Rumänischen macht deren Aktualität<br />

deutlich und erlaubt, sie mit ihrem<br />

linguistischen, und ganz besonders phraseologischen<br />

Erklärungsansatz zu begründen,<br />

dessen prototypische Konzentration auf die<br />

Semantik über die Kategorien Begriff und<br />

Bild im zeitgenössischen Kognitivismus sein<br />

bestätigendes Echo findet.<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Baldauf Christa (<strong>19</strong>97), Metapher und Kognition.<br />

Frankfurt, Peter Lang (Sprache und Gesellschaft)<br />

2. Burger Harald (<strong>19</strong>73), Idiomatik des Deutschen.<br />

Tübingen, Niemeyer (Germanisti-sche<br />

Arbeiten)<br />

3. (<strong>19</strong>98) Phraseologie. Eine Einführung am<br />

Beispiel des Deutschen. Berlin, Schmid<br />

4. Drillon Marie Laurence (<strong>19</strong>97), Réussir: la<br />

productivité phraséologique du concept en<br />

grec moderne, en français et en allemand.<br />

Mémoire de Maîtrise, Paris, INALCO.<br />

5. Görner Herbert, Redensarten. Kleine Idiomatik<br />

der deutschen Sprache. Leipzig, VEB<br />

Bibliographisches Institut.<br />

6. Gréciano Gertrud (<strong>19</strong>83), La Sémantique des<br />

expressions idiomatiques. Paris, Klincksieck<br />

(Recherches Linguistiques IX)<br />

7. (<strong>19</strong>91) "Zur Aktivität der Phrasemkomponenten<br />

im Deutschen und Französischen". In<br />

Sabban/Wirrer (Hrsg), Sprichwörter und<br />

Redensarten im interkulturellen Vergleich,<br />

66-83. Opladen, Westfälischer Verlag.<br />

8. (<strong>19</strong>93) "Phraseologievergleich Deutsch-Französisch"".<br />

In Kroslakova/Durco (Hrsg.), Phraseology<br />

and Education, 122-136. Nitra<br />

*<br />

* *<br />

9. (Hrsg.)(<strong>19</strong>89), EUROPHRAS 88. Phraséologie<br />

Contrastive. Actes du Colloque International<br />

de Klingenthal. Strasbourg<br />

10. (Hrsg.) (<strong>20</strong>00), Micro- et Macrolexèmes et<br />

leur figement discursif. Etudes de linguistique<br />

comparée. Actes du Colloque International de<br />

Saverne. Louvain-Paris. Peeters (Bibliothèque<br />

de l'Information Grammaticale)<br />

11. Gréciano Gertrud / Rothkegel Annely (Hrsg),<br />

Phraseme in Kontext und Kontrast. Bochum,<br />

Brockmeyer (Studien zur Phraseologie et<br />

Parömiologie 13)<br />

12. Negreanu Constantin (<strong>19</strong>83), Strutura proverbelor<br />

româneşti. Bucureşti. Editura ştiinŃifică<br />

şi enciclopedică.<br />

13. Martins-Baltar Michel (Ed.)(<strong>19</strong>97), La locution<br />

entre langue et usages. Actes du Colloque<br />

International de St. Cloud. Paris, ENS<br />

Editions.<br />

14. Mieder Wolfgang (<strong>19</strong>93), Proverbs are never<br />

out of season. Popular wisdom in the modern<br />

age. New York, Oxford University Press.<br />

15. (Ed.) (<strong>19</strong>94), Wise Words. Essays on the<br />

Proverbs. New York, Garland.<br />

16. Rothkegel Annely (<strong>19</strong>73), Feste Syntagmen.<br />

Tübingen, Niemeyer (Linguistische Arbeiten)<br />

17. Schemann Hans (<strong>20</strong>00), Idiomatik und Anthropologie.<br />

Hildesheim, Olms (Germanistische<br />

Linguistik).<br />

18. Sevilla-Munoz Julia (<strong>20</strong>00), "Pour une saisie<br />

plurilingue des proverbes à partir de la langue<br />

espagnole". In Gréciano (<strong>20</strong>00), 77-92.<br />

<strong>19</strong>. Stedje Astrid (<strong>19</strong>89), "Beherztes Eingreifen<br />

und Ungebetenes Sich-Einmischen. Kontrastive<br />

Studie zu einer ethnolinguistischen Phraseologieforschung".<br />

In Gréciano (<strong>19</strong>89), 441-<br />

452.<br />

<strong>20</strong>. (<strong>19</strong>97), "Etisca koncept och mentala kulturer.<br />

En kontrastiv studie ar 'rätt' och 'fel' beteende<br />

i dika kulturer". In Skog-Södersved (Hrsg.),<br />

Ethische Konzepte und mentale Kulturen.<br />

Umea, Swedish Science Press<br />

21. Vapordshiev Vesselin (<strong>19</strong>92), Das Phraseolexikon<br />

der deutschen Gegenwartssprache.<br />

Sofia.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>5


SYNTAKTISCHE STRUKTUREN AUF LEXIKALISCHER GRUNDLAGE.<br />

EIN RUMÄNISCH-DEUTSCHER VERGLEICH<br />

Die Lexikologie ist ein Bestandteil der<br />

Syntax, in dem der Wortschatz nur den Stoff<br />

für syntaktische Verbindungen liefert. Es<br />

gibt jedoch einen Teil der Lexikologie, und<br />

zwar die Wortbildung anhand von eigenen,<br />

oder sogar fremden Verfahren - Lehnbildungen<br />

- der die Syntax 1 der Lexikologie<br />

unterordnet, genauer gesagt einer bestimmten<br />

syntaktischen Kategorie, und bestimmten<br />

syntaktischen Verbindungen. Im Innern der<br />

Wörter bestehen aber auch andere Beziehungen,<br />

die von einigen Sprachwissenschaftlern<br />

hervorgehoben wurden. Wir erwähnen<br />

gleich zu Beginn, daß wir hier nicht<br />

auf die homosyntagmatischen Beziehungen 2<br />

eingehen werden (Saussure <strong>19</strong>22: 177 nennt<br />

sie Solidaritätsbeziehungen; Hjlemslev und<br />

Togeby nennen sie Kohäsionsbeziehungen;<br />

Zugun, <strong>19</strong>70: 460 sqq nennt sie Independenzbeziehungen).<br />

Es sind Beziehungen, die<br />

sich zwischen den Morphemen gebildet<br />

haben, diskrete Verbindungen im Innern der<br />

Wörter; auch werden wir uns nicht auf die<br />

Art und Weise beziehen, wie es diesen<br />

Mophemen gelungen ist, die Makrosyntax<br />

einer Aussage zu beeinflussen, sondern wir<br />

werden jene heterosyntagmatischen Beziehungen<br />

behandeln, die es an der Oberfläche<br />

der Wortbildung gibt, zwischen den<br />

einzelnen lexikalischen Einheiten im Inneren<br />

der Wörter und den lexikalischen Einheiten,<br />

die die Struktur der 'Zusammensetzung' ausmacht.<br />

Bemerkung: Es ist eine Leistung des Strukturalismus,<br />

die Sprache als ein geschlossenes<br />

Zeichensystem zu verstehen und die Struktur<br />

dieses Systems erfassen zu wollen, indem sie<br />

die wechselseitigen Beziehungen der Teile<br />

1 Hier unterscheiden wir die 'Syntaktik', als Bedeutungslehre,<br />

die die [sprachlichen] Zeichen (als<br />

Bedeutungsträger) betrifft, von der 'Syntax', die sich<br />

mit den Beziehungen der sprachlichen Elemente im<br />

Satz (d.h. mit den sprachlichen Elementen in der<br />

linearen Redekette) befasst.<br />

2 'Beziehung' bedeutet hier 'Struktur' = die Art und<br />

Weise sprachliche Elemente zu Sätzen zu ordnen,<br />

demnach 'Syntax'.<br />

Mihaela Secrieru, Anneliese Poruciuc<br />

zueinander erforscht, wobei die Beziehung<br />

zunächst nicht beachtet wird. (Cf. L. Hjelmslev:<br />

"la structure mophologique est un réseau<br />

de fonctions paradigmatiques et syntagmatiques<br />

qui sont en fonction les unes des autres"<br />

- <strong>19</strong>49: 147).<br />

Die rumänische Sprache verfügt über einige<br />

besondern Klassen von zusammengesetzten<br />

Wörtern, die nach gewissen Kriterien<br />

in einheitliche Unterklassen eingeteilt werden<br />

können, z.B.: nach der Herkunft, nach<br />

dem Kriterium der morphologischen Einheit<br />

der Glieder einer Zusammensetzung, nach<br />

der syntaktischen Art und Weise ihrer<br />

Bildung, nach dem Kriterium der Erkennbarkeit<br />

der Glieder einer Zusammensetzung,<br />

nach dem stilistischen Kriterium, nach dem<br />

morphologischen Kriterium der lexikalischgrammatikalischen<br />

Klasse, in die sich das<br />

Wort einordnet. u. a. (s. auch Ciobanu/ Hasan<br />

<strong>19</strong>70). Es ist offensichtlich, dass all diesen<br />

Kriterien gleiche Bedeutung zugeschrieben<br />

werden muss, dass sie aber eben<br />

gerade dasjenige Kriterium nicht erfassen,<br />

das das Thema unserer Arbeit ist. Wir unterscheiden<br />

hier zwischen neu gebildeten Wörtern<br />

durch 'Zusammensetzung' 3 und neu gebildeten<br />

Wörtern durch andere innere Verfahren<br />

der Bereicherung des Wortschatzes<br />

(wie z.B.: progressive und regressive Ableitungen,<br />

Kontaminationen, Abkürzungen,<br />

Konversionen) und wollen darauf hinweisen,<br />

dass den zusammengesetzen Wörtern ein<br />

Verfahren zugrundeliegt, das wir ein syntaktisches<br />

Verfahren nennen könnten, die<br />

Kombi-nation von zwei oder mehreren<br />

lexikalisch-gramma-tikalischen Einheiten,<br />

die unabhängig in einer Sprache existieren<br />

und sich aufgrund ihrer strukturalen Kom-<br />

3 Unter 'Zusammensetzung' verstehen wir eine Anreihung<br />

jedwelcher lexikalischer Einheiten, deren Resultat<br />

feste Wortverbindungen sind.


Syntaktische Strukturen auf lexikalischer Grundlage.<br />

Ein rumänisch-deutscher Vergleich<br />

patibilität zusammensetzen (aufgrund ihrer das Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen<br />

syntaktisch-semanti-schen Anschließbarkeit). Glieder wird in einer Wortverbindung durch<br />

Die Einteilung dieser 'Zusammensetzun-<br />

die Flexion, in der Zusammensetzung allein<br />

gen' nach dem morphologischen Kriterium<br />

durch die Stellung der Glieder ausgedrückt.<br />

der Glieder, führt zu einheitlichen Unter-<br />

Ob dieses Verhältnis als ein syntaktisches<br />

klassen, da sowohl die Zusammensetzung der<br />

Verhältnis angesehen werden kann oder als<br />

homomorphologischen Einheiten als auch<br />

ein morphologisches, in dem das syntakti-<br />

die der heteromorphologischen zu den zusche<br />

nicht ganz ausgelöscht wurde, ist eine<br />

sammengesetzten Wortarten sowie Redens-<br />

Frage, die wir hier nicht beantworten<br />

arten und Redewendungen gezählt werden<br />

können, denn sie würde den Rahmen dieser<br />

können. Wir besprechen zuerst einige Bei-<br />

Arbeit überschreiten.<br />

spiele von Lehnübersetzungen der rumäni- Zwei andere Lehnübersetzungen aus der<br />

schen Sprache aus der deutschen Sprache. deutschen Sprache rum. război-fulger < dt.<br />

Wir werden sie von der einbezogenen Blitzkrieg oder rum. oală-minune < dt.<br />

syntaktischen Beziehung aus analysieren. Wundertopf, enthüllen auch die Unter-<br />

Es gibt einige Lehnübersetzungen in der<br />

schiede in der typischen Topik ( Stellung der<br />

rumänischen Sprache, wo sich das anfänglich<br />

Glieder in einer Zusammensetzung) der zwei<br />

heterosyntagmatische Verhältnis zwischen<br />

Sprachen: in der deutschen Sprache steht das<br />

unabhängigen Wortarten, die als graphisches<br />

Bestimmungswort vor dem Grundwort, in<br />

Merkmal die weiße Pause und die Flexion<br />

der rumänischen Sprachen ist die Stellung<br />

haben, zu homosyntagmatischen Verhält-<br />

gerade umgekehrt. Die rumänische Sprache<br />

nissen, zu festen Verbindungen entwickelt<br />

ändert das Verhältnis der Unterordnung<br />

haben: rum. anotimp < dt. Jahreszeit mit<br />

durch die Stellung von frastischem Typ<br />

der buchstäblichen Übersetzung rum. timp al<br />

('război care se petrece la fel de repede, încât<br />

anului, wie man noch im vorigen Jahr-<br />

poate fi comparat cu lumina unui fulger' şi<br />

hundert sagte (s. auch Hristea <strong>19</strong>76, tip. 15).<br />

'oală care favorizează timpii de pregătire şi<br />

Dieses timp al anului erfasste noch in seiner<br />

gustul unor mâncăruri, încât poate fi compa-<br />

Struktur das syntaktische Verhältnis von<br />

rată cu o minune') zu einer Juxtaposition von<br />

unterordnendem Typ. Das sprachökonomi-<br />

appositivem Typ, da normalerweise die Juxsche<br />

Prinzip forderte den Verzicht des Relataposition<br />

zweier Subatantive, die nicht in<br />

tivums und führte zu einer isosemantischen<br />

einem unterordnenden oder koordinierenden<br />

Struktur, aber nicht auch isostrukturalen; in<br />

Verhältnis stehen, in einem appositiven Ver-<br />

der synthetischen Zusammensetzung anohältnis<br />

stehen können.<br />

timp, sind nur die semantischen und homo- Auf der Stufe der Zusammensetzungen<br />

syntagmatischen Beziehungen zwischen verhält sich die Tatsache in der deutschen<br />

Morphemen-Lexemen offensichtlich: an + Sprache gleich: das Steinhaus < das Haus<br />

timp. Die Rolle des Relators (Verbindungs- aus Stein. Oft haben sich in der deutschen<br />

elementes) übernahm der Vokal o. Was in Sprache noch Reste archaischer Morpheme<br />

der rumänischen Sprache als eine Lehnüber- erhalten, alte Flexionsendungen aus dem<br />

setzung bezeichnet werden kann, ist in der Mhd., die sich nur noch in festen Zusammen-<br />

deutschen Sprache ein zusammengesetzes setzungen erhalten haben, und unter dem<br />

Substantiv mit Fugenelement -es-, das sich Namen 'Fugenelemente' bekannt sind: z.B. -<br />

auch auf ein unterordnendes Verhältnis en- > farbenblid, Krankenhaus, Straßenver-<br />

stützt, da das Substantiv aber zu einer festen kehr; -er- > Hühnerdarm, Häusermeer. Das<br />

Verbindung wurde, kann man auch hier nicht Fugenelement -[e]s- begegnet am häufigsten:<br />

mehr von einem klaren syntaktischen Ver- Waldesrand, Schweinsleber, Bahnhofshältnis<br />

sprechen, es kann aber ein diskretes restaurant. "Der Ausgangspunkt für den Typ<br />

miteinbezogenes syntaktisches Verhältniss ist eine syntaktische Fügung mit stark flek-<br />

nicht verneint werden.<br />

tiertem Maskulinum oder Neutrum im Geni-<br />

Was die deutsche Sprache anbelangt, ist<br />

tiv Singular: des Waldes Rand. Aber inner-<br />

das Bedeutungsverhältnis zwischen den beihalb<br />

der Zusammensetzung wird die Beden<br />

Gliedern ein anderes als dasjenige in<br />

deutungsbeziehung nur durch die Wortfolge<br />

einer Wortverbindung 'die Zeit des Jahres',<br />

ausgedrückt, das Fugen -s ist also - wie ge-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>7


seagt - kein Flexionszeichen mehr. Es tritt<br />

auch dort auf, wo ein Pluralverhältnis vorliegt<br />

(Freundeskreis 'Kreis von Freunden',<br />

Schiffsverkehr 'Verkehr von Schiffen') oder<br />

wo das erste Kompositionsglied ein Femininum<br />

ist, für das -s als Flexionsendung<br />

ebenfalls nicht in Frage kommt (Nahrungsmittel,<br />

Liebeskummer, Geburtstag, wahrheitsgetreu,<br />

erfahrungsgemäß)" (Agricola<br />

<strong>19</strong>69: 439).<br />

Da wir über den syntaktischen Charakter<br />

der Zusammensetzungen sprechen, müssen<br />

wir auch die syntaktische Funktion, die syntaktischen<br />

Funktionen der Zusammensetzung<br />

im Auge behalten. Sind eine oder mehrere<br />

syntaktische Funktionen mit einbezogen? Für<br />

die beiden Klassen von Typen von Zusammensetzungen<br />

mit synthetischer oder<br />

analytischer Struktur wird, in der Fachliterarur<br />

kein Unterschied gemacht. Sowohl die<br />

Zusammensetzungen mit synthetischer als<br />

auch die mit analytischer Struktur haben eine<br />

einzige syntaktische Funktion im Kontext,<br />

eine integrierende syntaktische Funktion.<br />

Wenn aber beide Typen von Zusammensetzungen<br />

das Resultat von syntaktischen<br />

Verhältnissen, die syntaktische Funktionen<br />

generieren sind, wie sind dann die Verhältnisse<br />

der Unterordnung von appositivem<br />

Typ, was ist mit der syntaktischen Funktion<br />

geschehen, die diese syntaktischen Verhältnisse<br />

hervorgerufen hat? Sie ist nicht ausgelöscht,<br />

da die Form, die die Grenze des<br />

linguistischen Charakters ist, uns durch<br />

Merkmale noch in festen Verbindungen, die<br />

Existenz der syntaktischen Verhältnisse andeutet:<br />

rum. untdelemn.<br />

Einige Sprachwissenschaftler akzeptieren<br />

auf der Stufe der Zusammensetzungen "o<br />

analiză gramaticală de ordin secundar" (Dragomirescu<br />

<strong>19</strong>63: 391), aber eine syntaktische<br />

Funktion als durch eine andere syntaktische<br />

Funktion zu analysieren, bezieht einen Widerspruch<br />

und einen zerstörenden Defekt mit<br />

ein. Anderseits ist es ein Truismus, dass diese<br />

Zusammensetzungen bevor sie feste Verbindungen<br />

wurden, freie Wortverbindungen<br />

in der Kette der Rede waren, aufgrund von<br />

syntaktischen Fügungen, die syntaktische<br />

Funktionen generieren. Auf einer Ebene der<br />

Sprachgeschichte kann man von primären<br />

und zweitklassigen syntaktischen Funktionen<br />

sprechen, die sich den primären überlagert<br />

<strong>19</strong>8<br />

Mihaela Secrieru, Anneliese Poruciuc<br />

haben. Gehen wir nun von der Tatsache aus,<br />

dass die syntaktische Funktion des Untergeordneten/Appositionellen<br />

auf der Stufe der<br />

Zusammensetzung nicht ausgelöscht und<br />

nicht neutralisiert werden kann, von der syntaktischen<br />

Funktion der Zusammensetzung<br />

als ein Ganzes, weil sowohl in der rumänischen<br />

als auch in der deutschen Sprache<br />

noch Reste, Merkmale dieser miteinbezogenen<br />

syntaktischen Verhältnisse beibehalten<br />

wurden, ist es konvenabel, für eine Analyse<br />

ohne Rest und die die linguistische Wahrheit<br />

respektiert, die innere syntaktische Funktion<br />

der Zusammensetzung als eine syntaktische<br />

Unterfunktion zu betrachten. Der begonnene<br />

Gedankengang fordert, dass diese Strukturen<br />

auf dem syntaktischen Niveau als eine<br />

syntaktisch monofunktionelle periphrastische<br />

Gruppe (grup perifrastic unifuncŃional<br />

sintactic) betrachtet werde, die reale<br />

syntaktische Analyse dagegen, die eine Form<br />

vom Verhältnis 1 zu 1 ist, im Sinne, daß<br />

einem Wort wenigstens eine syntaktische<br />

Funktion entspricht (s. Secrieru <strong>19</strong>98), erlaubt<br />

eine offensichtliche Basis mit einer<br />

zentralen syntaktischen Funktion und mehreren<br />

syntaktischen Unterfunktionen. Der<br />

Widerspruch wäre damit gelöst.<br />

Auf der Ebene der Lexikologie kann<br />

man, durch die Vorladung dieses Kriteriums,<br />

obwohl rein syntaktisch, eine vollständige<br />

Klassifizierung, beziehungsweise ohne Rest,<br />

der Wörter, die eine syntaktische Unterfunktion<br />

und jenen, die sie nicht enthalten,<br />

vornehmen. Demnach können die Zusammensetzungen<br />

auch durch syntaktische Kriterien<br />

abgegrenzt werden, in gleicherweise<br />

wie sie durch morphologische und semantische<br />

abgegrenzt wurden.<br />

Schlußfolgerungen<br />

Sowohl die rumänische als auch die deutsche<br />

Sprache kennt das Verfahren der Zusammensetzung,<br />

deren Resultat neue lexikalische<br />

Einheiten sind. Die deutsche Sprache<br />

ist jedoch eine vorbildliche Sprache, was<br />

Zusammensetzungen anbelangt. Diese Masse<br />

von zusammengesetzten Wörtern kann folgendermaßen<br />

verglichen werden:<br />

(d) Vom Standpunkt der Anzahl der<br />

Glieder einer Zusammensetzung: in<br />

der rumänischen Sprache ist die regelmäßige<br />

Anzahl der Glieder 2 oder<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Syntaktische Strukturen auf lexikalischer Grundlage.<br />

Ein rumänisch-deutscher Vergleich<br />

3. In der deutschen Sprache ist die<br />

Anzahl der dreigliedrigen Zusammensetzungen<br />

ebenso groß wie die<br />

der zweigliedrigen. In der deutschen<br />

Sprache gibt es auch mehrgliedrige<br />

Zusammensetzungen.<br />

(d) Alle besprochenen Typen von Zusammensetzungen<br />

müssen als lexikalische<br />

Einheiten angesehen werden, die auf dem<br />

Niveau ihrer inneren Struktur eine syntaktische<br />

Unterfunktion enthalten, die ein inne-<br />

(b) Vom Standpunkt des Verfahrensmechanismus:<br />

in der rumänischen Sprache<br />

wird das Verhältnis der Unterordnung verres<br />

markiertes syntaktisches Verhältnis generieren.wendet,<br />

aber auch das appositive, unter<br />

Titelwörtern, mit dem Merkmal der Juxta-<br />

L i t e r a t u r :<br />

position im weiteren Sinne. Bei Adjektiven<br />

erscheint ein strukturales lexikalisches<br />

Element, das wir thematischen Verbindungs-<br />

1. Agricola, E. et al., <strong>19</strong>69, Die deutsche Sprache,<br />

Leipzig: Bibliographisches Institut<br />

vokal (rum. vocală tematică de legătură)<br />

nennen: z.B.ştiinŃifico-fantastic. Die deutsche<br />

Sprache hat die bekannten Fugenelemente.<br />

(c)Einige Zusammensetzungen können<br />

nicht wort-wörtlich übersetzt werden, auch in<br />

der Sprache, die sie gebildet hat.<br />

2. Ciobanu, Fulvia/ FinuŃa Hasan, <strong>19</strong>70, Tratatul<br />

de formare a cuvintelor, Bucureşti.<br />

3. Dragomirescu, Gh. N., <strong>19</strong>63, "Îmbinările de<br />

cuvinte indivizibile, analizabile şi neanalizabile"<br />

(Beitrag, Societatea de ştiinŃe istorice şi<br />

filologice din R.P.R, 12. Nov.).<br />

4. Hjelmslev, Louis, <strong>19</strong>59, Essais linguistiques,<br />

Das Bedeutungsverhältnis zwischen den Paris: Minuit.<br />

Gliedern einer Zusammensetzung ist nicht 5. Hristea, Theodor, <strong>19</strong>76, "ContaminaŃia prin<br />

immer durchsichtig. Auch in der deutschen atracŃie sinonimică," România literară, 10 iu-<br />

Sprache greift man auf Wortverbindungen nie, No. 24 (S. 84).<br />

zurück, wo das Bedeutugsverhältnis der 6. Ionescu, Liliana, <strong>19</strong>65, "Asupra calcului tipu-<br />

Kompositionsglieder weniger durchsichtig<br />

ist. "Die Bedeutungsbeziehungen in einer<br />

rilor sintactice ale limbii române," SL, XVI,<br />

No. 3 (S. 407-415).<br />

Zusammensetzung sind also vielfach weniger 7. Manoliu, Maria, <strong>19</strong>64, "Raporturi între mor-<br />

deutlich ausgedrückt in einer Zusammenfeme," SCL, XV<strong>II</strong>, No. 3 (S. 373-383).<br />

setzung als in einer Wortgruppe, deren 8. Pană Dindelegan, Gabriela, "LocuŃiuni sau<br />

syntaktische Konstruktion weit mehr ver- grupuri sintactice libere (neanalizabile)," LL,<br />

langt, dass man sie durchdenkt und ent- No. 1 (S. 5-8).<br />

sprechend formuliert" (Agricola <strong>19</strong>69: 434);<br />

z.B. Arbeitsschutz = 'Schutz gegen Unfälle<br />

9. Secrieru, Mihaela, <strong>19</strong>98, Nivelul sintactic al<br />

limbii române, Botoşani: Editura Geea.<br />

bei der Arbeit'; Luftkatastrophen = 'Flugzeugunfälle<br />

in der Luft'.<br />

*<br />

10. Zugun, Petru, <strong>19</strong>70, "RelaŃia homosintagmatică<br />

de coeziune," SCL, No. 4 (S. 455-463).<br />

* *<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>9


DIE SPEZIFIK DER INTONATORISCHEN LEISTUNGEN. NORMAB-<br />

WEICHUNGEN ALS STÖRFAKTOR IN DER FREMDSPRACHLICHEN<br />

KOMMUNIKATION<br />

0. Vorbemerkungen<br />

Der Begriff der Intonation wird in der<br />

Fachliteratur unterschiedlich aufgefaßt. Ein<br />

Teil der Linguisten identifizierten sie in Anlehnung<br />

an die englisch-amerikanische Forschung<br />

mit der Sprachmelodie (BANNERT<br />

<strong>19</strong>88; HELFRICH <strong>19</strong>85; FERY <strong>19</strong>88; UH-<br />

MANN <strong>19</strong>88; <strong>19</strong>91; MÖBIUS <strong>19</strong>93, u. a.).<br />

Ein anderer Teil bezeichnet mit Intonation in<br />

Anlehnung an den Prager Strukturalismus<br />

einen Komplex, der aus: a. Modifikationen<br />

der Signalfrequenz, b. Modifikationen der<br />

Schallintensität, c. Modifikationen der<br />

Sprechgeschwindigkeit und d. der Unterbrechung<br />

des Sprechflusses durch akustische<br />

Nullphasen besteht und vom Hörer als Akzent,<br />

Tonhöhenverlauf, Pause, Tempo und<br />

Rhythmus wahrgenommen wird.<br />

Das Intonationssignal wird vom Produzenten<br />

und Perzipienten als Komplex aufgefaßt;<br />

sehr oft kann nicht genau bestimmt<br />

werden, welches Signal oder welche Signalkombination<br />

an einer bestimmten Stelle als<br />

Hinweisreiz für den Akzent oder die Pause<br />

fungiert. Dieser Umstand unterstützt die<br />

These, nach der in der normalen Kommunikation<br />

die Intonation inhaltsbezogen, d. h.<br />

der Sprecherintention gemäß verarbeitet<br />

wird und nur selten die einzelnen intonatorischen<br />

Phänomene Gegenstand der Reflexion<br />

des Hörers sind (vgl. STOCK <strong>19</strong>96b: 217).<br />

1. Die Leistungen der Intonation<br />

Die einzelnen Funktionen der Intonation<br />

werden in der phonetischen Literatur unterschiedlich<br />

gewichtet. Im Allgemeinen unterscheidet<br />

man zwischen: a. obligatorischen<br />

und b. fakultativen Leistungen, da die intonatorischen<br />

Komponenten oft nicht allein<br />

Träger der einzelnen Funktionen sind, sondern<br />

mit anderen sprachlichen (lexikalischen<br />

und grammatischen) sowie nonverbalen<br />

Mitteln auftreten und von denselben teilweise<br />

ersetzt oder modifiziert werden. So z.<br />

B. kann eine Frage sowohl auf Grund des<br />

interrogativen Tonhöhenverlaufes als auch<br />

Maria Ileana Moise<br />

durch ein Fragewort oder durch grammatische<br />

Mittel (Spitzenstellung des Verbs) gekennzeichnet<br />

werden. In diesem Sinne kann<br />

auch von einem Ersatzprinzip gesprochen<br />

werden, das zwischen den einzelnen sprachlichen<br />

Mitteln funktioniert. Wenn aber die<br />

intonatorischen Komponenten einen eigenständignen<br />

Beitrag zur Bedeutungsstruktur<br />

des Ausspruchs leisten, kann von einer<br />

eigenständigen sprachlichen Funktion der<br />

Intonation ausgegangen werden.<br />

In der Literatur werden die vielfältigen<br />

Leistungen der Intonation unter drei Funktionen<br />

zusammengefaßt, u. zw. der a. syntaktischen,<br />

b. semantischen und c. expressiven.<br />

1. 1. Die syntaktische Funktion<br />

Von den meisten Autoren wird auf die<br />

Rolle der intonatorischen Komponenten als<br />

wichtige “Gliederungshilfen” (MEINHOLD<br />

<strong>19</strong>70: 81f.) und in der “Einbettung bedeutungstragender<br />

segmentaler Einheiten in<br />

semantische Zusammenhänge höherer Ordnung”<br />

(HEIKE <strong>19</strong>69: 2) verwiesen.<br />

Intonatorische Mittel können Texte in<br />

Abschnitte, Aussprüche und Intonationsphrasen<br />

gliedern, ihren Aufbau erkennbar<br />

machen, den gesamten Redestrom in relativ<br />

eigenständige Sinneinheiten strukturieren.<br />

Diese Funktion wird in der phonetischen<br />

Literatur auch als delimitativ bzw. demarkativ<br />

bezeichnet. Vom psychologischen Gesichtspunkt<br />

ermöglicht diese Aufgliederung/<br />

Abgrenzung die Konzentrationssteuerung<br />

des Empfängers bezüglich des Ablaufs und<br />

der Gliederung des Informationsflusses, die<br />

Herausbildung von Organisationskernen, die<br />

nach KOCH (<strong>19</strong>87: 29f.) und WENK (<strong>19</strong>87:<br />

184) dem Hörer die Perzeption und Informationsverarbeitung,<br />

die Speicherung im<br />

Kurzzeitgedächtnis (KZG) erleichtern.<br />

Bei dem Anzeigen von Gliederungsgrenzen<br />

ist besonders die rechte Grenze von<br />

Gliederungseinheiten kommunikativ relevant.<br />

Das auffälligste Gliederungs- bzw.<br />

Grenzsignal ist die Pause. Neben der Pause


Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />

Kommunikation<br />

hat in einem Satz oder in einer satzwertigen fung”. Von vielen Autoren wird die Rolle<br />

Einheit nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 232) auch der<br />

sogenannte “Neueinsatz”, ein auffälliger<br />

der Tonhöhenvariationen bzw. des Tonbruchs<br />

(ISACENKO/SCHÄDLICH <strong>19</strong>66:<br />

Bruch im Tonhöhen- und Intensitätsverlauf, <strong>20</strong>) in der Akzentrealisierung als primär ein-<br />

delimitative Funktion. Wenn z. B. die Tonhöhe<br />

nach der letzten Silbe der Einheit<br />

steigt, d. h. wenn nach DIETRICH (<strong>19</strong>90:<br />

416) ein Tonbruch nach oben stattfindet,<br />

wird dem Hörer Nichtabgeschlossenheit (-<br />

Ende) signalisiert, sinkt die Tonhöhe, erfolgt<br />

also ein Tonbruch nach unten, wird Abgeschlossenheit<br />

(+Ende) angezeigt.<br />

Andererseits bewirken die intonatorischen<br />

Mittel auch die Zusammenfügung, die<br />

Integration der Wörter zu Intonationsphrasen,<br />

Aussprüchen usw., d. h. zu kommunigeschätzt.<br />

Die intonatorischen Mittel/Erscheinungen<br />

haben weiterhin die Fähigkeit, die Bedeutungsstruktur<br />

bestimmter Wortfolgen zu<br />

verdeutlichen, semantisch zu differenzieren,<br />

bzw. zu disambiguieren. In Fällen, wo die<br />

eine und dieselbe Wortfolge unterschiedlichen<br />

syntaktischen Strukturen zugeordnet<br />

werden kann, wie z. B. in dem Ausspruch:<br />

Paula, will Paul nicht.<br />

Paula will, Paul nicht.<br />

kativen Einheiten. Beim Sprechen werden Paula, will Paul nicht?<br />

nicht Laute oder isolierte Wörter produziert,<br />

sondern diese werden zu Wortfolgen zusammengefügt.<br />

Durch die suprasegmentale<br />

Strukturierung werden die einzelnen Segmente<br />

zu übergreifenden Strukturen integriert.<br />

Eine solche suprasegmentale Struktur<br />

ist auf unterer Ebene die Silbe, die Träger<br />

des Akzents ist. Durch die Hierarchisierung<br />

mehrerer Silben wird ein Zentrum hervorgehoben,<br />

um das sich die umgebenden<br />

Silben gruppieren. Beim Sprechen werden<br />

die Wörter der kommunikativen Absicht des<br />

Paula will, Paul nicht?<br />

wird der enthaltene Bedeutungsunterschied<br />

nur durch die unterschiedliche intonatorische<br />

Gestaltung, d. h. durch Verdeutlichung der<br />

angemessenen Phrasierungsgrenzen im Satz<br />

disambiguiert. Es sind Pause, Akzent und<br />

Melodieverlauf, die eine semantische Differenzierung<br />

gewährleisten. In solchen Fällen<br />

kann die syntaktische Funktion der Intonation<br />

nicht klar von der semantischen getrennt<br />

werden.<br />

Sprechers gemäß zu Gruppen (Akzentgruppen)<br />

zusammengefügt. Diese werden<br />

durch Pausen von einander getrennt und enthalten<br />

mindestens eine Akzentstelle. Hervorgehoben<br />

werden sinnwichtige Wörter, die<br />

dem Hörer als Mittel der Aufmerksamkeitsleistung<br />

dienen.<br />

Damit wird auch eine andere wichtige<br />

Leistung der Intonation angesprochen, u. zw.<br />

die Fähigkeit der intonatorischen Mittel inhaltlich<br />

wichtige Wörter von weniger wichtigen<br />

hervorzuheben. In mehrsilbigen Wörtern<br />

werden einzelne Silben durch den Wortakzent<br />

hervorgehoben, auf der Satzebene<br />

durch den Satzakzent. Diese Hervorhebung<br />

erfolgt durch gesteigerte Lautheit, Dehnung<br />

des Vokals, präzisere Artikulation und Veränderung<br />

der Sprechmelodie. Es handelt sich<br />

nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 231) um einen intonatorisch<br />

bedingten Unterschied zwischen<br />

1. 2. Die semantische Funktion<br />

Im Bereich der Bedeutungsdifferenzierung<br />

wirkt bekanntlich die Stellung des<br />

Hauptakzents bei Komposita distinktiv.<br />

Verwiesen sei auf das von TRUBETZKOY<br />

(<strong>19</strong>71: <strong>20</strong>3) angeführte Beispiel für Bedeutungsunterscheidung<br />

durch die Prosodie<br />

(Wortakzent) im Falle der Verbpaare “’übersetzen”<br />

und “über’setzen”.<br />

In der neueren phonetischen Literatur<br />

wird in der Beschreibung dieser intonatorischen<br />

Funktion vor allem die Fähigkeit des<br />

Intonationssignals, die Kennzeichnung der<br />

Abgeschlossenheit vs. Nichtabgeschlossenheit,<br />

die Satztypmarkierung (Aussage, Frage,<br />

Aufforderung, Wunsch) und die Kennzeichnung<br />

der Kontextrealisation (Thema-<br />

Rhema-Gliederung) zu signalisieren, angeführt.<br />

“Spannungszentralisation und Schwächungs- Die durch die Gliederung entstandenen<br />

tendenz”, nach LÖTSCHER (<strong>19</strong>83: 13) um Wortgruppen werden mit intonatorischen<br />

ein System von mehrfacher Stärkeabstu- Mitteln, speziell mit der phonologisch rele-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>1


vanten Endphasengestaltung durch spezifische<br />

Tonhöhen-, Intensitäts- und Geschwindigkeitsmodifikationen<br />

zunächst als<br />

abgeschlossen oder nicht abgeschlossen gekennzeichnet.<br />

Nicht abgeschlossene Gruppen<br />

werden vom Hörer als nichtletzte Gruppen<br />

in einer übergreifenden Einheit interpretiert.<br />

Sie machen die Ergänzung durch<br />

eine letzte, eine abgeschlossene Einheit erforderlich.<br />

Abgeschlossene Gruppen können<br />

als Aussagen, Aufforderungen, Wünsche<br />

und andererseits als Fragen charakterisiert<br />

werden.<br />

Von ESSEN (<strong>19</strong>56: 144), der für die intonatorische<br />

Kennzeichnung der Frage den<br />

Terminus der “interrogativen Tonführung”<br />

(Aufstieg der Melodie am Ende des Ausspruchs)<br />

prägte, hat darauf verwiesen, daß<br />

sehr oft Fragen auch mit terminaler Melodie<br />

gesprochen werden, was vor allem für die<br />

Signalisierung der Aussagen und Ausrufe<br />

üblich ist, wenn ein fragespezifisches lexikalisches<br />

Element existiert.<br />

Laut STOCK (<strong>19</strong>96b: 232) erweist sich<br />

die intonatorische Satztypmarkierung als<br />

fakultativ, wenn das kommunikative Ziel<br />

durch andere sprachlichen Elemente (z. B.<br />

Wortfolge, d. h. Spitzenstellung des Verbs;<br />

Fragewort) ausreichend signalisiert wird. In<br />

diesem Fall werden die intonatorischen Mittel<br />

neutralisiert. Fehlen hingegen diese Mittel<br />

oder sind sie untypisch, z. B. bei gleicher<br />

lexikalischer und syntaktischer Form wie in<br />

der Nachfrage, so wird der Gebrauch der<br />

intonatorischen Mittel obligatorisch.<br />

Die Verwendung der Intonationssignale<br />

im Falle der Signalisierung der Abgeschlossenheit/Nichtabgeschlossenheit<br />

ist<br />

aber als obligatorisch zu betrachten, da diese<br />

Leistung nicht von anderen sprachlichen<br />

Mitteln (lexikalischen und grammatischen)<br />

erfüllt werden kann (vgl. STOCK <strong>19</strong>80: 46;<br />

PUŞ-CARIU <strong>19</strong>76: 47).<br />

Den intonatorischen Mitteln kommt weiterhin<br />

auch die Funktion zu, das Informationsprofil<br />

herauszubilden, d.h. das Signalelement<br />

in denjenigen Wörtern zu verstärken,<br />

die für den Hörer auffällig gemacht<br />

werden sollen. Durch die Satzakzentuierung<br />

und den Tonhöhenverlauf wird in der Äußerung<br />

eine Unterscheidung zwischen Fokusstelle<br />

und Hintergrundelement getroffen, es<br />

werden einzelne Teile einer Äußerung her-<br />

<strong>20</strong>2<br />

Maria Ileana Moise<br />

vorgehoben und in den Fokus der Aufmerksamkeit<br />

gerückt (vgl. HELFRICH <strong>19</strong>85: 16).<br />

Diese Unterscheidung, die auch Stufen der<br />

Auffälligkeit einschließen kann, ist eine notwendige<br />

Voraussetzung für das mühelose<br />

Verstehen eines Textes. Die “Abstufung der<br />

Auffälligkeit” kann aber nach WEINRICH<br />

(<strong>19</strong>93: 26) auch mittels grammatischer Elemente<br />

wie Horizont-Morpheme, z. B. “es”<br />

oder Fokus-Morpheme, wie z. B. “das” oder<br />

Wortstellung geleistet werden.<br />

Wichtig erweist sich nach STOCK<br />

(<strong>19</strong>96b: 231) bei der Realisierung dieser<br />

intonatorischen Funktion der Umstand, daß<br />

die intonatorische Fokussierung und diejenige<br />

mittels Wortstellung “relativ frei miteinander<br />

kombinierbar” sind und “dadurch<br />

fein nuancierte Abstufungen die Auffälligkeit”<br />

ermöglichen.<br />

1. 3. Die expressive Funktion<br />

Neben der syntaktischen und semantischen<br />

Funktion kommt dem Intonationssignal<br />

auch eine expressive Leistung zu.<br />

ROMPORTL (<strong>19</strong>62: 749) bezeichnet die<br />

Intonation als Mittel zum Ausdruck der Gefühlsfärbung,<br />

nach ARTEMOV (<strong>19</strong>65: 13;<br />

8f.) unterscheidet sie die Rede modal, d. h.<br />

sie kann sowohl über die Stellung des Sprechers<br />

seiner Mitteilung gegenüber Auskunft<br />

geben als auch über dessen emotionalen,<br />

situationsbedingten Zustand. Steigende Tonbewegung<br />

bei Aussagen soll nach STOCK<br />

(<strong>19</strong>96b: 233) Kontaktbereitschaft und<br />

Freundlichkeit signalisieren, fallende Tonbewegung<br />

in Entscheidungsfragen – Sachlichkeit<br />

und Entschiedenheit.<br />

STOCK (a.a.O) betont auch die Rolle der<br />

intonatorischen Mittel/Erscheinungen beim<br />

Ausdruck der “dynamogenen Emotionen”.<br />

Durch Vergrößerungen der Sprechspannung,<br />

der Tonhöhen-, Lautheits- und Geschwindigkeitsvariationen<br />

können Emotionen wie<br />

Zorn und Freude geäußert werden; bei depressiven<br />

Emotionen wie Trauer und Niedergeschlagenheit<br />

wird nach STOCK (a.a.O)<br />

dagegen die gedämpfte Erregung vielfach<br />

durch monotone Tonhöhenbewegung sowie<br />

Lautheits- und Geschwindigkeitsverringerung<br />

angezeigt. Ebenso können nach<br />

HELFRICH (<strong>19</strong>85: 15) dem Hörer entgegengebrachte<br />

Gefühle, wie z. B. Wohlwollen<br />

oder Geringschätzung, in die Satzmelodie<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />

Kommunikation<br />

eingehen und durch sie übermittelt werden. nach WEINRICH (a. a. O) das Interesse des<br />

Auch bei der Realisierung dieser Leistung Hörers aufrecht und dienen dazu, die Spre-<br />

kann das Intonationssignal nicht eindeutig cherrolle zu bewahren; Pausen mit fallendem<br />

die entsprechende Wirkung erzielen, der Tonhöhenverlauf gekoppelt fungieren als<br />

Hörer ist auf den Text, auf die Kenntnis der Beendungssignale. Die Dialogsteuerung<br />

Situation sowie auf charakteristische Auss- kann also sowohl auf Grund verbaler als<br />

drucksmerkmale des Sprechers (Stimm- auch intonatorischer Mittel erfolgen, zu deklang,<br />

Mimik, Gestik) angewiesen.<br />

nen sich auch nonverbale Zeichen (Kopf-<br />

Eine weitere wichtige Rolle kommt bei<br />

der Charakterisierung idiolektaler bzw. habitueller<br />

Gewohnheiten den intonatorischen<br />

nicken, zustimmendes Lächeln) gesellen und<br />

den Grad an Entschiedenheit in der Konversation<br />

präzisieren.<br />

Mitteln zu; dazu sind als wesentliche Kom- Nach AUER/COUPER-KUHLEN (<strong>19</strong>95)<br />

ponenten ontogenetische, temperamentmäßi- kommt Tempo und Rhythmus auf der mege,<br />

motivationale, intelektuelle Faktoren zu chanischen Ebene des Turntaking, in der<br />

zählen. In der Literatur wird darauf ver- zeitlichen Koordinierung der Redebeiträge<br />

wiesen, daß der unverkennbare individuelle im Gespräch, bei der Themenbeendigung<br />

Sprechstil in besonders ausgeprägtem Maße eine wichtige Rolle zu. Ein isochroner<br />

von intonatorischen Mitteln mitbestimmt Schlag fungiert als Taktgeber für den Einsatz<br />

wird. Neben habituellen Stimmqualitäten des nächsten Sprechers. Abweichungen vom<br />

wirken besonders auch personalkonstante zeitlich wohlplazierten Turneinsatz im Ge-<br />

temporale Verlaufsqualitäten (vgl. FÄHR- spräch werden als “markiert” behandelt und<br />

MANN <strong>19</strong>60: 44; ISACENKO / SCHÄD- sind im jeweiligen lokalen Kontext für den<br />

LICH <strong>19</strong>66: 41). In diesem Sinne können Interpretationsprozeß relevant. Auf größeren<br />

nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 233) und HELFRICH organisatorischen Ebenen werden Rhythmus<br />

(<strong>19</strong>85: 15) besonders Tonhöhe und Ton- und Tempo als Mittel zur Einheitshöhenverlauf<br />

über idiolektale, soziolektale markierung im Gespräch, zur Markierung<br />

und regiolektale Merkmale des Sprechers von Beendigungsphasen (“closing”) betrach-<br />

Auskunft geben. Diese Charakteristika wietet. Nach UHMANN (<strong>19</strong>91: 126ff.) kommt<br />

sen nicht nur auf die sprachliche und soziale beim Sprecherwechsel auch dem Tonhöhen-<br />

Herkunft hin, sondern vermitteln dem Komverlauf und seinen Modifikationen ein<br />

munikationspartner wichtige Hinweise über wesentlicher Beitrag zu.<br />

die Person des Sprechers, über sein Alter,<br />

sein Temperament, seinen Bildungsgrad.<br />

Den intonatorischen Mitteln kann also nach<br />

STOCK (a.a.O) auch eine rollensignalisierend-rituelle<br />

Leistung zugeschrieben werden.<br />

Die Forschung über den Sprecherwechsel<br />

in Alltagsgesprächen hat gezeigt, daß die<br />

Gesprächsteilnehmer auf eine Reihe linguistischer<br />

und paralinguistischer Signale achten,<br />

um diesen Zeitpunkt zu erkennen. Syn-<br />

1. 4. Die Steuerung des Gesprächs<br />

tax und Intonation leisten wichtige Hilfen,<br />

indem sie Konstituenten und Phrasierungs-<br />

Eine bedeutende Leistung der intonatorigrenzen erkennbar werden lassen. Sie erschen<br />

Komponenten ist auch die Dialogsteuerung,<br />

die Steuerung bzw. Organisation<br />

des Sprecherwechsels (vgl. STOCK <strong>19</strong>96b:<br />

möglichen die Projektion dieser Grenzen<br />

dadurch, daß sie einen syntaktischen bzw.<br />

melodischen Bogen in der Zeit spannen, in<br />

234). WEINRICH (<strong>19</strong>93: 832) verweist<br />

darauf, daß der Sprecher während der Kommunikation<br />

Fortsetzungs- und Beendigungs-<br />

dessen Laufzeit die Vorhersagbarkeit der<br />

noch verbleibenden syntaktischen bzw. melodischen<br />

Komponenten zunimmt. Das mögsignale<br />

sendet, der Hörer Stützungs- und<br />

Übernahmesignale. Die Fortsetzungssignale<br />

können zwar auch Floskeln, wie z. B. “Verliche<br />

Ende eines Redebeitrags ist auf diese<br />

Weise vorauszusehen. Einen wichtigen Beitrag<br />

leisten aber auch paralinguistische Mitstehen<br />

Sie” u.a. enthalten, der Beitrag der<br />

intonatorischen Erscheinungen ist aber wesentlich.<br />

Floskeln, die mit steigendem Tontel,<br />

wie etwa das Blickverhalten des Sprechenden,<br />

die darüber Auskunft geben können,<br />

ob und wann ein Sprecherwechsel behöhenverlauf<br />

gesprochen werden, halten absichtigt wird. Kurz vor Ende des Redebei-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>3


trages z. B. richtet der Sprecher den Blick<br />

auf den Rezipienten, um den beabsichtigten<br />

Wechsel anzukündigen. Es wird angenommen,<br />

daß der Rhythmus durch die<br />

prägnante rhythmische Struktur, d. h. durch<br />

die unnerwartete Längen und Pausen zur<br />

Ankündigung eines intendierten Sprecherwechsels<br />

verwendet wird. Dadurch gerät der<br />

Fluß des Redners vorübergehend ins<br />

Stocken. Nach AUER/COUPER-KUHLEN<br />

(<strong>19</strong>95: 94) wird dadurch nicht nur das mögliche<br />

Ende des Redebeitrags indiziert, es<br />

wird zugleich auch ein Zeitraster aufgebaut,<br />

nach dem sich der Einsatz des nächsten<br />

Turns richten kann. Der Sprecher sorgt<br />

sozusagen auch für den Übergang zum<br />

nächsten (vgl. COUPER-KUHLEN <strong>19</strong>91;<br />

<strong>19</strong>93: 126ff.). Der Zeitpunkt, an dem der<br />

nächste Sprecher das Wort übernimmt, ist<br />

also nicht dem Zufall überlassen. Die erste<br />

hervorgehobene Silbe des ersten Turns ist<br />

isochron mit den letzten Schlägen des vorhergehenden<br />

Sprechers.<br />

Sprecher gehorchen also keinem rigiden<br />

Zeitgeber für die Aufnahme eines Turns,<br />

sondern passen sich dem Redefluß, dem<br />

Rhythmus und dem Tempo des Vorgängers<br />

flexibel an. Die letzten Schläge des Vorgängerturns<br />

geben dem neuen Sprecher die<br />

Möglichkeit, sich im Rhythmus einzuüben,<br />

so daß es in erstaunlich vielen Fällen zu einem<br />

fast vollkommen glatten Übergang<br />

kommt. Gibt es unbetonte Auftaktsilben am<br />

Anfang eines neuen Turns, müssen sie so<br />

platziert werden, daß die rhythmische Koordinierung<br />

gewährleistet wird. Manchmal<br />

können unbetonte Auftaktsilben des nächsten<br />

Sprechers ins Territorium des vorigen<br />

Sprechers wandern. Es können umgekehrt<br />

auch Lücken entstehen, wenn das Tempo<br />

langsam ist und es keine oder wenige unbetonte<br />

Silben nach dem letzten Schlag des<br />

Vorgängers, bzw. vor dem ersten Schlag des<br />

neuen Sprechers gibt. In solchen Situationen<br />

entstehen Pausen, die aber für die Aushandlung<br />

interaktiver Bedeutungen irrelevant<br />

sind.<br />

Zur Rolle des Rhythmus in der Gesprächsorganisation<br />

ergaben die Untersuchungen<br />

von AUER/COUPER-KUHLEN<br />

(<strong>19</strong>95: 101), daß beim Übergang in die Beendigungsphase<br />

oder innerhalb dieser Sequenz<br />

selbst solche Gesprächspassagen, die<br />

<strong>20</strong>4<br />

Maria Ileana Moise<br />

vorher nicht rhythmisiert (isochron) waren,<br />

normalerweise einem regelmäßigen isochronen<br />

Rhythmus unterworfen werden.<br />

Innerhalb dieses isochronen Musters verändert<br />

sich ihren Feststellungen gemäß<br />

mehrmals das Tempo. Dieses entspricht der<br />

Bewegung der beiden Gesprächspartner auf<br />

das Gesprächsende zu. Das “accelerando”<br />

erreicht seinen Höhepunkt mit dem abschließenden<br />

Ausstausch von Grüßen. Die<br />

Weigerung des einen Partners sich auf den<br />

Rhythmus des anderen einzulassen, führt zur<br />

Expansion des Gesprächs. Der die Beendigung<br />

einleitende Gesprächsteilnehmer<br />

versucht dann immer wieder, mit neuem Anlauf<br />

und neuem Schwung den anderen zum<br />

“gemeinsamen Tanz” zu gewinnen.<br />

2. Norm und Abweichungen im Bereich<br />

des Akzents und Rhythmus<br />

Was die Problematik der Norm im suprasegmentalen<br />

Bereich und die Fehlleistungen<br />

auf dieser Ebene anbelangt, möchte ich mich<br />

nur auf 2 Komponenten beschränken, u. zw.<br />

auf den Akzent und den Rhythmus, da sie<br />

auf Grund der unterschiedlichen Sprachsysteme<br />

für den rumänischen Deutschlernenden<br />

besondere Schwierigkeiten bereiten.<br />

2.1. Der Akzent<br />

Bei der Realisierung dieses intonatorischen<br />

Mittels treten auch die meisten Fehler<br />

auf. Potentielle systembedingte Fehler sind<br />

bei den rumänischen Deutschlernenden:<br />

a. in der Akzentplatzierung zu erwarten.<br />

Der Akzent ist im Rumänischen oxyton,<br />

paroxyton oder proparoxyton, d. h. mobil<br />

und zugleich z. T. fest. Die feste Akzentstelle<br />

im Deutschen (hauptsächlich Stammbetonung),<br />

besonders aber die wechselnde<br />

Akzentsetzung in den Kontrastpaaren, die<br />

mit einer Bedeutungsdifferenzierung verbunden<br />

ist, bedeutet für den Lernenden einen<br />

wahren Stolperstein. Es handelt sich um:<br />

Substantivpaare, wie z. B. Phantasien vs.<br />

Phantasien, Tenor vs. Tenor usw.<br />

Verbpaare, die häufiger auftreten, z. B.<br />

umfahren vs. umfahren, wiederholen vs.<br />

wiederholen, usw.<br />

die Unterscheidung auf Grund der wechselnden<br />

Akzentplatzierung von grammati-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />

Kommunikation<br />

schen Kategorien, wie z. B. miß’fallen vs. selten auftreten, werden alle Laute realisiert<br />

Mißfallen, usw.<br />

(auch der Schwalaut), was zu einem un-<br />

b. Fehler treten auch in der Realisierung<br />

des Akzents auf, u. zw. bei der Verwendung<br />

gewöhnlichen, störenden<br />

Deutschen führt.<br />

Rhythmus im<br />

der intonatorischen Mittel (Tonhöhe, Lautheit,<br />

Dauer). Im Deutschen wird die Akzent-<br />

2. 2. Der Rhythmus<br />

silbe zur lautlichen Umgebung in Kontrast Einen Rhythmus gibt es nicht nur in der<br />

gebracht. Charakteristisch ist, daß die be- gebundenen Rede, sondern auch in der nortonte<br />

Silbe lauter, höher, länger, mit großer mal gesprochenen Sprache. In der Fachli-<br />

Spannung der Muskulatur und hoher artiteratur unterscheidet man zwischen einem eikulatorischer<br />

Präzision realisiert wird. Die ner jeden Sprache charakteristischen Sprach-<br />

akzentlosen Silben werden demgegenüber rhythmus und einem Sprechrhythmus.<br />

melodisch tiefer, mit geringerer Lautheit und<br />

gerafft produziert, wobei die Vokalqualität<br />

vor allem beim schnelleren Sprechen reduziert<br />

wird; gemeint ist der Schwa-Laut, der<br />

in Endungen reduziert wird.<br />

Zwar sind nach einigen Forschern auch<br />

für das Rumänische die intonatorischen<br />

Mittel Tonhöhe, Intensität und Dauer relevant<br />

(vgl. COLBERT <strong>19</strong>63: 84; SFÎRLEA<br />

<strong>19</strong>70: 153); der Beitrag dieser Mittel ist aber<br />

bei der Akzentuierung im Rumänischen vergleichsweise<br />

mit dem Deutschen geringer<br />

ausgeprägt. Besondere Probleme ergeben<br />

aber die artikulatorische Präzision und der<br />

große Spannungsgrad in der Realisierung der<br />

Hervorhebung, Merkmale, die im Rumänischen<br />

nicht relevant sind. Insgesamt kann<br />

davon ausgegangen werden, daß dem rumänischen<br />

Lerner der stark zentralisierende<br />

Akzent im Deutschen Schwierigkeiten bereitet,<br />

d. h. die punktförmige Konzentrierung<br />

der intonatorischen Mittel auf die Akzentsilbe,<br />

da im Rumänischen ein schwach zentralisierender<br />

bis dezentralisierender Akzent<br />

typisch ist, d. h. die intonatorischen Mittel<br />

werden gleichförmig auf mehrere Silben verteilt.<br />

Der rumänische Deutschlerende tendiert<br />

folglich auch im Deutschen, alle Silben<br />

und Wörter in der Wortgruppe bzw. im Satz<br />

gleich klar auszusprechen, zwischen betonten<br />

und unbetonten Silben nicht zu differenzieren.<br />

Für den deutschen Hörer sind<br />

aber dieselben normwidrige Fehler, die den<br />

Kommunikationsprozeß beeinträchtigen oder<br />

sogar verhindern können.<br />

Dieser schwache Kontrast zwischen betonten<br />

und unbetonten Silben/Wörtern wirkt<br />

sich auch auf die segmentale Ebene aus. Auf<br />

Grund der Tatsache, daß im Rumänischen<br />

Reduktionen, Laut- und Silbenelisionen,<br />

Mit Rhythmus wird im Allgemeinen eine<br />

zur Gleichmäßigkeit tendierende Gliederung<br />

bezeichnet; Ähnliches, d. h. ähnliche Einheiten<br />

sollen in zeitlich ähnlichen Abständen<br />

wiederholt werden (vgl. STOCK <strong>19</strong>96a: 68).<br />

Der Rhythmus wird als Mittel betrachtet,<br />

wodurch das Behalten der Information erleichtert<br />

wird. KURZ (<strong>19</strong>92: 42) zufolge<br />

wird die Verarbeitungstiefe derselben verstärkt.<br />

Nach von ESSEN (<strong>19</strong>81: 53) liegt die<br />

Leistung des Rhythmus in der Erleichterung<br />

der Überschaubarkeit des zeitlichen Nacheinanders,<br />

er erleichtert dem Angesprochenen<br />

die gedankliche Mitgestaltung.<br />

Psychologische Untersuchungen ergaben,<br />

daß der Wechsel zwischen hervorgehobenen<br />

und nicht hervorgehobenen Elementen eine<br />

zentrale Funktion für die menschliche Informationsverarbeitung<br />

und –speicherung<br />

darstellt; der Rhythmus erleichtert nämlich<br />

die Wahrnehmung, indem er die Aufmerksamkeit<br />

des dekodierenden Sprachbenutzers<br />

auf die ersteren, d. h. betonten Silben lenkt<br />

und ihm während der letzteren die Zeit gibt,<br />

die aufgenommene Information zu prozessieren.<br />

Der Rhythmus erleichtert die Speicherung,<br />

auch indem er die unstrukturierte<br />

Informationsmenge hierarchisch organisiert.<br />

Außerdem ermöglicht isochrone Rhythmizität<br />

einen voraussagbaren Wechsel zwischen<br />

Wichtigem und Unwichtigem (vgl. ALLEN<br />

<strong>19</strong>75; MARTIN <strong>19</strong>72; ALLEN/HAWKINS<br />

<strong>19</strong>80; JONES <strong>19</strong>86).<br />

ADAMS (<strong>19</strong>79) zufolge ist die Kontrolle<br />

über den Rhythmus einer Sprache für das<br />

Beherrschen dieser Sprache grundlegend;<br />

gravierende Mängel in dieser Hinsicht stellen<br />

die absolute Barriere für die Verständlichkeit<br />

und das flüssige Sprechen dar.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>5


Die Besonderheit der Rhythmisierung<br />

des Deutschen (akzentzählende Sprache) ergibt<br />

sich vor allem aus der Art, wie die<br />

Akzentuierung realisiert wird und daneben<br />

die akzentlosen Silben behandelt werden, d.<br />

h. aus dem überaus großen Kontrast zwischen<br />

denselben. Wegen des großen dynamischen<br />

Unterschiedes zwischen Akzent- und<br />

akzentlosen Silben spricht man im Deutschen<br />

von einem “staccato”, hämmerden,<br />

stoßenden akzentzählenden. Rhythmus, während<br />

für die romanischen Sprachen ein “legato”,<br />

weich fließender, silbenzählender<br />

Rhythmus charakterisch ist.<br />

2. 3. Potentielle Fehler rumänischer Deutschlernenden<br />

im Bereich der Rhythmisierung<br />

Das Rumänische gehört nach PO-<br />

PA/PÂRLOG (<strong>19</strong>73: 124f.) und CHIłO-<br />

RAN (<strong>19</strong>77: 310) zu den silbenzählenden<br />

Sprachen, wo die Zeitintervalle zwischen<br />

den Silben gleich lang sind und für die Realisierung<br />

des Rhythmus keine Raffungen,<br />

Laut- und Lautfolgenreduktionen und -elisionen<br />

notwendig sind. Charakteristisch ist<br />

also ein gleitender, “legato” Rhythmus, bei<br />

dem es keine Spannungsunterschiede gibt;<br />

betonte wie unbetonte Silben werden mit<br />

gleicher Sprechspannung, Präzision und<br />

Lautheit gesprochen. In diesem Sinne ist die<br />

Realisierung des charakteristischen “staccato”<br />

Rhythmus im Deutschen besonders<br />

schwierig, wenn nicht sogar unmöglich,<br />

denn die intonatorischen Gewohnheiten bilden<br />

sich laut LEONT’EV (<strong>19</strong>75) auf einer<br />

sehr frühen Phase der Entwicklung heraus, u.<br />

zw. vor denjenigen der Lautproduktion. Sie<br />

werden automatisiert und wie psychologische<br />

Experimente zeigen, als letztes vergessen.<br />

Deshalb können Wahrnehmung,<br />

Festigung und Automatisierung der spezifischen<br />

Kombination der intonatorischen<br />

Mittel der Zielsprache beim Lernenden nur<br />

mit viel Aufwand und Mühe erreicht werden.<br />

3. Konsequenzen für den DaF-Unterricht<br />

Da Akzent und Rhythmus den charakteristischen<br />

Klang einer Sprache prägen und<br />

die Voraussetzung für die normal ablaufende<br />

Sprachwahrnehmung und -verarbeitung bzw.<br />

für die optimale Kommunikation bilden,<br />

bzw. die Fehler gravierender sind als die-<br />

<strong>20</strong>6<br />

Maria Ileana Moise<br />

jenigen bei der Produktion der Laute, ergeben<br />

sich für den Ausspracheschulung im<br />

DaF-Unterricht aller Ebenen folgende Aufgaben:<br />

a. die Erarbeitung der charakteristischen<br />

Akzentstrukturen des Deutschen, hauptsächlich<br />

der Spannungs- und Artikulationspräzisionsunterschiede<br />

zwischen betonten<br />

und unbetonten Silben, da diese Merkmale<br />

im Rumänischen nicht relevant sind. Im<br />

Mittelpunkt müßte also die Arbeit an den<br />

akzentuierten Silben stehen, an deren hohen<br />

Spannung und Artikulationspräzision.<br />

b. Von Relevanz sind auch die im Deutschen<br />

typischen Reduktions- und Tilgungsprozesse<br />

in den unbetonten Silben, die für<br />

Sprecher mit einer silbenzählenden Ausgangssprache<br />

ungewöhnlich sind, die aber<br />

für die Realisierung eines akzentzählenden<br />

Rhythmus von Bedeutung sind. In diesem<br />

Sinne erweist sich als notwendig, die sog.<br />

“schwachen Formen”, z. B. gehen, stehen,<br />

Maler, usw. die qualitativen und quantitativen<br />

Reduzierungen dieser Formstufen bewußt<br />

zu machen und zu üben, um auf diese<br />

Weise den Abstand zwischen den Akzentsilben<br />

stabil halten zu können. Erst eine<br />

systematische Konfrontation der starken und<br />

schwachen Formen, der Regularitäten des<br />

Wechsels von Hervorgehobenem und nicht<br />

Hervorgehobenem kann es dem Lernenden<br />

ermöglichen, sich mit dem charakteristischen<br />

akzentzählenden Rhythmus des Deutschen<br />

vertraut zu machen und ihn dann auch produzieren<br />

zu können.<br />

In diesem Sinne sind schon im Anfängerstadium<br />

Wörter nicht isoliert einzuführen,<br />

sondern im Kontext und die Hervorhebungsbesonderheiten<br />

mit Körperbewegungen zu<br />

verbinden, d. h. sprachbegleitend zu gestikulieren,<br />

z. B. Klatschen, Klopfen der Akzentsilbe,<br />

um auf diese Weise die rhythmischen<br />

Muster kenntlich zu machen.<br />

c. Wesentlich erweist sich dabei auch die<br />

Parallele zum Schriftbild des Deutschen, da<br />

aus dem nicht ersichtlich ist, wann ein Laut<br />

voll und wann reduziert gesprochen werden<br />

soll. In diesem Sinne ist dem Lernenden zu<br />

verdeutlichen, daß die geschriebene Form<br />

nicht eindeutig in die gesprochene Form<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />

Kommunikation<br />

umgesetzt werden darf. Auf Grund des 13. KOCH, E. (<strong>19</strong>87): Zum Einfluss supraseg-<br />

Schriftbildes soll sowohl die volle, gementaler Ausprägungsgrade auf den Prozess<br />

spannte, als auch die nicht reduzierte Reali- der Rezeption von Texten. Diss. A., Jena.<br />

sierung in isolierter Form geübt werden, wie 14. LEONT’EV, A. A. (<strong>19</strong>75): Psycholinguisti-<br />

das bei langsamer, gespannter Sprechweise sche Einheiten und die Erzeugung sprach-<br />

üblich ist, wie auch das Wort im Satzlicher Äußerungen. Berlin: Akademie Verlag.<br />

zusammenhang, mit reduzierter Endung, d.<br />

h. die niederen Formstufen.<br />

15. LÖTSCHER, A. (<strong>19</strong>83): Satzakzent und<br />

funktionale Satzperspektive im Deutschen.<br />

Tübingen: Niemeyer.<br />

L i t e r a t u r ( e i n e A u s w a h l ) : 16. MÖBIUS, B. (<strong>19</strong>93): Ein quantitatives Modell<br />

deutscher Intonation. Analyse und Syn-<br />

1. ADAMS, C. (<strong>19</strong>79): English Speech Rhythm<br />

and the Foreign Learner. Den Haag, 3.<br />

2. AUER, P.; COUPER-KUHLEN, E. (<strong>19</strong>95):<br />

Rhythmus und Tempo konversationeller Alltagssprache.<br />

In: Zeitschrift für Literaturthese<br />

von Grundfrequenzverläufen. In: Linguistische<br />

Arbeiten 305, Tübingen: Niemeyer.<br />

17. POPA, M.; PÂRLOG, H. (<strong>19</strong>73): Observations<br />

on the Realisation of Rhythm by romawissenschaft<br />

und Linguistik 96, 78-106.<br />

nian Speakers of English. In: The Romanian-<br />

3. BANNERT, R. (<strong>19</strong>88): Automatic recogniti- English Contrastive Analyses Project. Contraon<br />

of focus accent in German. Dept. of Linstive Studies in Phonetic and Phonology.<br />

guistics (University Lund), In: Working Pa- Bucarest: University, 124-136.<br />

pers 34, 5-8.<br />

18. PUŞCARIU, S. (<strong>19</strong>76): Limba română. Vol.<br />

4. CHIłORAN, D. (<strong>19</strong>77): English Phonetics 1. Privire generală. Bucureşti: Editura Miner-<br />

and Phonology. Bucureşti: Editura didactică va.<br />

şi pedagogică.<br />

<strong>19</strong>. ROMPORTL, M. (<strong>19</strong>62): Zum Wesen der<br />

5. COLBERT, B. (<strong>19</strong>63): Limba germană con- Intonation. In: Proc. IVth. ICPhS, The Hague,<br />

temporană. Fonetica. Bucureşti: Editura di- 749-752.<br />

dactică şi pedagogică.<br />

6. DIETRICH, R. (<strong>19</strong>90): Zu Form und Bedeutung<br />

der Kontrastintonation im Deutschen.<br />

In: Linguistische Berichte 129, 415-430.<br />

7. ESSEN, O. von (<strong>19</strong>81): Grundbegriffe der<br />

Phonetik. Ein Repertorium für Sprachheilpädagogen.<br />

Berlin: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung.<br />

8. ESSEN, O. von (<strong>19</strong>56): Hochdeutsche Satzmelodie.<br />

In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft<br />

und Kommunikationsforschung,<br />

<strong>20</strong>. SFÎRLEA, L. (<strong>19</strong>70): PronunŃia românească<br />

literară. Stilul scenic. Bucureşti: Editura Academiei<br />

RSR.<br />

21. STOCK, E. (<strong>19</strong>96a): Deutsche Intonation.<br />

Berlin, München, Leipzig, Berlin: Langenscheidt<br />

Verlag Enzyklopädie.<br />

22. STOCK, E. (<strong>19</strong>96b): Text und Intonation. In:<br />

Sprachwissenschaft, Bd. 2l, Heft 2, 211-240.<br />

23. STOCK, E. (<strong>19</strong>80): Untersuchungen zu Form,<br />

Bedeutung und Funktion der Intonation im<br />

75-85.<br />

Deutschen. Berlin: Akademie Verlag.<br />

9. FERY, C. (<strong>19</strong>88): Rhytmische und tonale<br />

Struktur der Intonationsphrase. In: Intonationsforschungen,<br />

(Linguistische Arbeiten<br />

<strong>20</strong>0), Tübingen: M. Niemeyer, 41-63.<br />

10. HEIKE, G. (<strong>19</strong>69): Suprasegmentale Analyse.<br />

In: Marburger Beiträge zur Germanistik.<br />

Marburg: N. G. Elwert Verlag.<br />

11. HELFRICH, H. (<strong>19</strong>85): Sprachmelodie und<br />

Sprachwahrnehmung. (Psychologische Untersuchungen<br />

zur Grundfrequenz). Berlin: de Gruyter.<br />

24. TRUBETZKOY, N. S. (<strong>19</strong>77): Grundzüge der<br />

Phonologie. 6. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

25. UHMANN, S. (<strong>19</strong>91): Fokusphonologie: eine<br />

Analyse deutscher Intonationsstrukturen im<br />

Rahmen der nicht-liniaren Phonologie. Tübingen:<br />

Niemeyer.<br />

26. UHMANN, U. (<strong>19</strong>88): Akzenttöne, Grenztöne<br />

und Fokussilben: Zum Aufbau eines<br />

phonologischen Intonationssystems für das<br />

12. ISACENKO, A; SCHÄDLICH, H. J. (<strong>19</strong>66): Deutsche. In: Altmann (Hg.), 65-88.<br />

Untersuchungen über die deutsche Satzinto- 27. WEINREICH, H. (<strong>19</strong>93): Textgrammatik der<br />

nation. In: Studia Grammatica V<strong>II</strong>, Berlin: deutschen Sprache. Mannheim, Leipzig,<br />

Akademie Verlag, 7-69.<br />

Wien, Zürich.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>7


ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN VERBMODUS UND SATZMODUS<br />

BEIM AUSDRUCK VON AUFFORDERUNGEN IM GEGEN-<br />

WÄRTIGEN DEUTSCH<br />

1. Wenn Menschen miteinander reden,<br />

geschieht dies überall in Sprechakten. Die<br />

Intentionen der Sprecher können auf der<br />

ganzen Welt dieselben sein. Sprechakte<br />

dürfen daher als universelle Kategorien betrachtet<br />

werden. Sie haben aber in den einzelnen<br />

Sprachen eigene Realisationsmöglichkeiten.<br />

U. ENGEL (<strong>19</strong>88: 36) unterscheidet “partnerbezogene<br />

und sprecherbezogene“ Sprechakte.<br />

Die Aufforderung ist ein “Partner festlegender<br />

Akt“. Für spezielle Formen der<br />

Aufforderung hält er die Autorisierung, den<br />

Ratschlag, den Vorwurf, das Beschimpfen,<br />

die Warnung und die Frage als Aufforderung<br />

zu verbalem Verhalten. In diesem Beitrag<br />

werden wir nur solche Fragen untersuchen,<br />

die eine Aufforderung zur Handlung ausdrücken<br />

(z.B. Könnten Sie mal bitte das<br />

Fenster öffnen?).<br />

Die Ausführung der Handlung ist wünschenswert:<br />

Ildikó Szoboszlai<br />

Bei anderen Autoren sind noch weitere<br />

spezielle Akte erwähnt wie Bitte, Befehl,<br />

Weisung, Anordnung usw. (ERBEN <strong>19</strong>83:<br />

339-412, ZIFONUN <strong>19</strong>96: 134-145). “Unter<br />

dem Gesichtspunkt sozialen Handelns können<br />

die Sprechhandlungen des Aufforderungstyps<br />

z.B. in ‚bindende‘ (Befehle,<br />

Weisungen, Anordnungen) und ‚nichtbindende‘<br />

(Bitten, Ratschläge, Vorschläge)<br />

gegliedert werden sowie in ‚normenorientierte‘<br />

(Vorschriften, Anordnungen) versus ‚personenorientierte‘<br />

oder in ‚mit der Möglichkeit<br />

von Sanktionen verknüpfte‘ versus<br />

‚sanktionenfreie‘“ (ZIFONUN <strong>19</strong>96: 658).<br />

Wir vertreten die Meinung, dass die Aufforderung<br />

ein Oberbegriff für viele spezielle<br />

Formen dieses Sprechakts ist. Diese speziellen<br />

Sprechakttypen können auch danach<br />

gruppiert werden, in wessen Interesse die<br />

Reaktion auf die Äußerung steht.<br />

für den Sprecher _ Befehl, Bitte, Anordnung, Weisung,<br />

Auftrag, Forderung usw.<br />

für den Adressaten _ Ratschlag, Empfehlung, Ermutigung<br />

für beide Partner _ Vorschlag, Anweisung, Instruktion<br />

für den Adressaten und ohne negative<br />

Folgen für den Sprecher<br />

für den Adressaten, aber nicht wünschenswert<br />

für den Sprecher<br />

2. Ein Anspruch auf eine vollständige<br />

Übersicht über die Realisierung von allen<br />

Sprechakttypen wird hier wegen des Umfangs<br />

des Artikels nicht erhoben.<br />

_ Erlaubnis, Erteilung<br />

_ Verbot, Warnung, Drohung<br />

Bei der Analyse gehen wir in Anlehnung<br />

an ZIFONUN (<strong>19</strong>96: 607-675) von dem Satzmodus<br />

und Verbmodus aus. Verschiedne<br />

spezielle Sprechakttypen auszudrücken,<br />

stehen noch auch zahlreiche lexikalische


Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />

gegenwärtigen Deutsch<br />

Mittel (z.B. Modalverben, Partikeln) zur G. ZIFONUN (<strong>19</strong>96: 637-675) unterschei-<br />

Verfügung, und auch die Intonation und det zentrale und periphere Satzmodi: zentrale<br />

Wortfolge spielen eine wesentliche Rolle. Modi sind i.E. der Aussage-Modus, Ent-<br />

Sie werden von U. ENGEL (<strong>19</strong>88: 77) “illoscheidungsfrage-Modus,Ergänzungsfragekutive<br />

Indikatoren“ genannt. Wir werden<br />

auch auf diese Indikatoren hinweisen.<br />

Modus und der Aufforderungs-Modus; die<br />

peripheren Modi sind die Optativ-Modi<br />

Zuerst vergleichen wir aber den Verbmodus<br />

und den Satzmodus im Deutschen.<br />

(Heische-Modus und Wunsch-Modus) und<br />

“Der Modus des Verbs zeigt Art und Grad der Exklamativ-Modus.<br />

der Geltung an, die ein Sprecher dem Inhalt Der Entscheidungsfrage-Modus und der<br />

einer Äußerung, vor allem dem Inhalt von Ergänzungsfrage-Modus können u.E. mit<br />

Sachverhaltsbeschreibungen beimisst“ (FLÄ- einem Oberbegriff als Frage-Modus be-<br />

MIG <strong>19</strong>91: 401). Es gibt im Deutschen drei zeichnet werden. Außerdem betrachten wir<br />

Verbmodi: Indikativ, Imperativ und Kon- den Heische-Modus nicht als einen Optativjunktiv.<br />

Modus, sondern als eine periphere Er-<br />

Im folgenden werden wir ihre Rolle beim scheinung des Aufforderungs-Modus. So<br />

Ausdruck von Satzmodi untersuchen. können wir fünf Satzmodi unterscheiden.<br />

1. Aussage-Modus<br />

Er kommt morgen.<br />

Er komme morgen.<br />

2. Frage-Modus<br />

a) Entscheidungsfrage<br />

Kommt er morgen?<br />

Würde er kommen?<br />

b) Ergänzungsfrage<br />

Wann kommt er?<br />

Wann könnte er kommen?<br />

Satzmodus Verbmodus im Satz<br />

3. Aufforderungs-Modus<br />

Komm morgen!<br />

Du gehst jetzt aber!<br />

Könnten Sie bitte die Tür aufmachen?<br />

4. Optativ-Modus<br />

Wenn er doch käme!<br />

5. Exklamativ-Modus<br />

Kommst du aber spät!<br />

Wie die Tabelle zeigt, stehen Satzmodi<br />

und Verbmodi, sowie Satzmodi und Satztypen<br />

keineswegs in einem Eins-zu-eins-<br />

Verhältnis zueinander. Was den Aufforderungs-Modus<br />

betrifft kann dieser Modus<br />

Indikativ<br />

Konjunktiv I<br />

Indikativ<br />

Konjunktiv <strong>II</strong><br />

Indikativ<br />

Konjunktiv <strong>II</strong><br />

Imperativ<br />

Indikativ<br />

Konjunktiv <strong>II</strong><br />

Konjunktiv <strong>II</strong><br />

Indikativ<br />

nicht nur mit dem Satztyp Imperativsatz<br />

ausgedrückt werden. Aufforderungen können<br />

auch in Aussage- und Fragesatztypen realisiert<br />

werden. Auch die verbalen Prädikate<br />

können nicht nur im Imperativ, sondern auch<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>20</strong>9


im Indikativ und im Konjunktiv stehen. Nach<br />

der Prädikatsform können wir also im Deutschen<br />

imperativische, indikativische und<br />

konjunktivische Aufforderungen unterscheiden.<br />

3. Die Analyse beginnen wir mit den imperativischen<br />

Aufforderungen.<br />

210<br />

Ildikó Szoboszlai<br />

Formenparadigma<br />

Verbmodus Person Numerus<br />

Die Untersuchung erfolgt aufgrund eines<br />

Corpus, das ungefähr 400 Belege enthält.<br />

Die Beispielsätze stammen aus literarischen<br />

Werken des <strong>20</strong>sten Jahrhunderts, einige Belege<br />

werden aus der Fachliteratur übernommen.<br />

Singular Plural<br />

Imperativ 2. -e/0 -t/-et<br />

Vorwiegend kommen Sätze mit Verberststellung<br />

vor, und die Personalpronomina<br />

werden in der Regel nicht verwendet:<br />

Kaufe mir ein Buch!<br />

Die kennzeichnende Endung der Singularform<br />

-e fällt oft weg, ohne dass ein Apostroph<br />

gesetzt wird: Trinke/Trink! Beide<br />

Formen sind verwendbar. “Wo dieses -e<br />

fakultativ ist, gelten die Formen mit -e eher<br />

als standardsprachlich-gehoben, die ohne -e<br />

eher als dialektal-alltagssprachlich“ (Engel<br />

<strong>19</strong>88: 427).<br />

Lebe wohl!<br />

Nun dann leb wohl – sagte Jason (Seghers:<br />

25)<br />

Bei folgenden Verben ist das -e in der<br />

Standardsprache obligatorisch:<br />

bei Verben auf -eln und -ern (bei diesen<br />

Verben fällt gewöhnlich das -e des Suffixes<br />

aus z.B. klingeln) Klingle laut!<br />

bei Verben, deren Stamm auf -d oder -t<br />

endet (z.B. reden, antworten)<br />

Antworte sofort!<br />

bei Verben, deren Stamm auf -ig oder auf<br />

eine schwer aussprechbare Konsonantenverbindung<br />

ausgeht (z.B. entschuldigen, rechnen)<br />

Entschuldige bitte! Rechne sorgfältig!<br />

Die Verben mit dem Stammvokalwechsel<br />

a(u)-ä(u) bekommen im Imperativ keinen<br />

Umlaut: Lass mich! (Seghers: 14) Die Verben<br />

mit e/i Wechsel bilden diese Form aus<br />

dem Indikativ Präsens, u.z. aus dem Stamm<br />

der 2. Person Singular, verzichten aber auf<br />

das -e.: Hilf deinem Freund! Eine Ausnahme<br />

bildet das Verb sehen. Bei Hinweisen in<br />

Büchern ist die Form siehe üblich (z.B. siehe<br />

Seite X). Auch für den Ausruf steht oft siehe<br />

da! statt sieh da!, vor allem wenn er nicht am<br />

Satzanfang steht: Gestern habe ich an ihn<br />

gedacht, und siehe da, heute hat er geschrieben<br />

(zit. nach SCHULZ/GRIESBACH<br />

<strong>19</strong>90: <strong>19</strong>). Selten kann die Form siehe auch<br />

am Satzanfang erscheinen:<br />

Siehe sie an, die guten Schüler (Mann:<br />

17)<br />

Eine besondere Imperativform hat das<br />

Verb sein. Sie wird nach dem Konjunktiv<br />

Präsens gebildet: Sei froh! (Mann: 50)<br />

Die trennbaren Verbalpräfixe werden<br />

auch im Imperativ abgetrennt und stehen am<br />

Satzende:<br />

Also bitte mach die Tür auf! (Kafka: 99)<br />

Imperativformen von Verben mit negativer<br />

Bedeutung werden meist nur mit Negation<br />

verwendet: Lüge nicht!<br />

Die Imperativform der 2. Person Plural<br />

endet wie die 2. Person Plural des Indikativs<br />

Präsens auf -t: Lasst mich doch zu Georg!<br />

(Kafka: 145)<br />

Die Endung -et gilt als gehoben und archaisch:<br />

Lasset die Kindlein zu mir kommen. (aus<br />

der Bibel)<br />

Endet der Verbstamm auf -d oder -t, so<br />

ist die Endung -et obligatorisch:<br />

Antwortet gut! Redet nicht so viel!<br />

Die deutschen Imperativsätze beginnen in<br />

der Regel mit dem Verb. Im Vorfeld können<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />

gegenwärtigen Deutsch<br />

nur bestimmte Wortarten (wie z.B. Konjunk- Der Adhortativ kann im Deutschen mit<br />

tionen, Adverbien, Anredeformen) erschei- dem Verb lassen umschrieben werden. Diese<br />

nen: Also/Und/Aber arbeite nicht so viel. Form ist nach J. ERBEN (<strong>19</strong>61: 470) als eine<br />

Auf jeden Fall esst und trinkt! (Seghers:<br />

62)<br />

Auch betonte Stellungsglieder können<br />

aber am Satzanfang stehen: Den Tisch<br />

rück/rückt bitte an die Wand (ZIFONUN<br />

<strong>19</strong>96: 655).<br />

höflich-vertrauliche, Zustimmung erbittende<br />

Form (Lass/t uns gehen!) oder ein feierlichbeschwörendes<br />

Ersuchen (Lassen Sie uns<br />

gehen!) zu betrachten.<br />

Lass mich ein wenig phantasieren! (Mörike:<br />

37)<br />

Die Personalpronomen der 2. Person<br />

können in Imperativsätzen nur dann stehen,<br />

Lassen Sie uns kürzlich den Verlauf der<br />

Passe erzählen! (Mörike: 82)<br />

wenn die angesprochene Person besonders<br />

hervorgehoben wird:<br />

Was die Zeitformen des Imperativs betrifft,<br />

gibt es nur eine Zeitform, die sich ge-<br />

Du misch dich nicht ein!<br />

Sprich du mit ihm!<br />

Helft ihr der Mutter. Ich bin schon müde.<br />

Für die Höflichkeitsform steht im Deutschen<br />

keine echte Imperativform zur Verfügung.<br />

Die verwendete Form ist formal mit<br />

der 3. Person Plural Präsens Konjunktiv<br />

identisch. Im Unterschied zu den Formen der<br />

2. Person Singular und Plural ist das Personalpronomen<br />

(Sie) bei der Höflichkeitsform<br />

obligatorisch. Es steht immer nach dem<br />

wöhnlich auf den Redemoment bezieht, weil<br />

man den Willen in der Vergangenheit nicht<br />

geltend machen kann:<br />

Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!<br />

(Kafka: 109)<br />

Durch zusätzliche Adverbialbestimmungen<br />

kann ein künftiger Zeitpunkt der Verwirklichung<br />

genauer festgelegt werden:<br />

Schaltet morgen früh die Heizung ein!<br />

Aufgrund der Belege ist festzustellen,<br />

dass nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von<br />

Verb. Die Höflichkeitsform kennt keinen<br />

Numerusunterschied, sie wird also sowohl<br />

auf eine als auch auf mehrere Personen angewandt:<br />

deutschen Aufforderungen ein imperativisches<br />

Verb hat. Außerdem wirken diese<br />

imperativischen Aufforderungen sehr brüsk<br />

und unhöflich. Durch verschiedene Partikeln<br />

Nehmen Sie eine neue Zigarette! (Mann:<br />

86)<br />

(bitte, doch, eben, mal, nun, nur) können sie<br />

aber abgemildert werden.<br />

Hören Sie nur! (Kafka: 109)<br />

Hol mal eben ein paar Flaschen Wein!<br />

“Nur umgangssprachlich oder landschaft- (Genzmer <strong>19</strong>93: 88)<br />

lich wird auch der Imperativ Plural als<br />

Höflichkeitsform gegenüber Personen gebraucht<br />

die man siezt: Kommt, mein Herr, Sie<br />

werden Hunger haben!“ (DUDEN <strong>19</strong>84: 175).<br />

Schließt die Aufforderung den Sprechenden<br />

mit ein, gebraucht man statt des Imperativs<br />

die 1. Person Plural des Konjunktivs<br />

Präsens. Das ist der sog. Adhortativ (FLÄMIG<br />

<strong>19</strong>91: 412). Die finite Verbform steht an der<br />

Spitze und das Personalpronomen wir darf<br />

nicht fehlen: Hören wir den Mann doch<br />

Legen Sie sich doch aufs Bett! (Kafka:<br />

11)<br />

Kommen Sie nun zum Tee! (Mann: 78)<br />

Bleiben Sie nur! – sagte der Mann.<br />

(Kafka: 13)<br />

Ja, da lachen Sie nun! (Mann: 74)<br />

In Verbindung mit Partikeln können die<br />

imperativischen Verbformen eine freundliche<br />

Bitte, Ermutigung oder eine Erlaubnis ausdrücken.<br />

einmal an! (Kafka: 35)<br />

4. Über die imperativischen Formen hin-<br />

Der Adhortativ dient vor allem zum Ausdruck<br />

eines Vorschlags oder Appells. Für<br />

Aufforderungen im engeren Sinne (Befehl,<br />

Bitte, Verbot usw.) wie für Erlaubnis, Drohung,<br />

Warnung ist diese Form ausgeschlossen.aus<br />

stehen aber noch zahlreiche Mittel zur<br />

Verfügung, Aufforderungen auszudrücken.<br />

Diese anderen Möglichkeiten (grammatische<br />

und lexikalische Mittel) werden zusammenfassend<br />

Ersatzformen des Imperativs genannt.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 211


4.1. Die indikativischen Aufforderungen<br />

können nach Form mit den Aussagesätzen<br />

identisch sein. Aber es gibt auch Unterschiede:<br />

mündlich wird der Satz mit anderer<br />

Satzintonation ausgesprochen, schriftlich<br />

kann ein Ausrufezeichen am Ende des Satzes<br />

stehen. Mit der richtigen Betonung (agressiven<br />

und bestimmten) kann fast jeder Satz in<br />

einen Befehl verwandelt werden (GENZMER<br />

<strong>19</strong>93: 88).<br />

Die Form der Verben in diesen Sätzen ist<br />

am häufigsten Aktiv Indikativ Präsens oder<br />

Futur I:<br />

Du setzt dich auf der Stelle hin, schreibst<br />

’s Liedchen auf. (Mörike: 95)<br />

Du wirst es lesen, Paul! (Seghers: 59)<br />

Der Indikativ Präsens und Futur I drükken<br />

einen energischen Befehl aus.<br />

Die indikativischen Aufforderungen können<br />

auch in der 3. Person Plural auftreten,<br />

aber diese Sätze werden nur in bestimmten<br />

Situationen gebraucht, z.B. im Kindergarten,<br />

Verkehr, Krankenhaus: Alle Kinder stehen<br />

jetzt auf!<br />

Diejenigen Sätze, die indikativischpassivische<br />

Verbformen enthalten, können<br />

als eine Forderung erscheinen, aber sie<br />

kommen selten vor. Man benutzt das Passiv,<br />

um einen unpersönlichen Befehl zu geben.<br />

Diese passivischen Sätze sind meistens subjektlos.<br />

Die Aufforderungen beziehen sich<br />

auf alle Anwesenden. Sie enthalten oft die<br />

Partikel aber.<br />

Jetzt wird aber geschlafen!<br />

Hier wird nicht gefaulenzt!<br />

Passivische Aufforderungen werden im<br />

Deutschen auch in Anweisungen, Bedienungsanleitungen<br />

verwendet:<br />

Hiervon werden zwei Tabletten eingenommen.<br />

Beim Ausdruck von vielen auffordernden<br />

Sprechakten spielen auch die Modalverben<br />

eine wesentliche Rolle. Sie selbst haben zwar<br />

keine Imperativformen, aber dienen oft dazu,<br />

gemeinsam mit einem Vollverb den Imperativ<br />

zu ersetzen. Fast alle Modalverben sind<br />

für diese Aufgabe geeignet. In den einfachen<br />

Aussagesatztypen kommt das Modalverb<br />

sollen am häufigsten vor. In seiner Grundbedeutung<br />

drückt sollen eine Aufforderung,<br />

eine Notwendigkeit von Außen, also eine<br />

Notwendigkeit unter dem Druck eines frem-<br />

212<br />

Ildikó Szoboszlai<br />

den Willens aus. Im einzelnen kann es sich<br />

dabei um einen Auftrag, einen Befehl, eine<br />

Vorschrift, ein Gebot oder um eine sittliche<br />

Pflicht u.ä. handeln (DUDEN <strong>19</strong>84: 99). Die<br />

Aufzählung kann in diesem Beitrag nicht<br />

vollzählig sein. Wir beschränken uns nur auf<br />

einige Belege:<br />

Das vordere Tor soll allzeit geschlossen<br />

bleiben (Mörike: 58)<br />

Du sollst deine hellen Augen nicht trüb<br />

und traumblöde machen vom Starren …<br />

(Mann: 176)<br />

Äußerlich soll man sich gut anziehen<br />

(Mann: 72)<br />

Im Unterschied zu sollen drückt das Modalverb<br />

müssen in seiner Grundbedeutung<br />

eine objektiv bedingte logische Notwendigkeit<br />

aus. Es kann aber auch zum Ausdruck<br />

eines Befehls dienen:<br />

Ja, Sie müssen mal Ihre Papiere vorweisen<br />

– sagte der Polizist (Mann: 174)<br />

Du musst es lesen, Hans! (Mann: 21)<br />

Wenn die Notwendigkeit in dem Willen<br />

einer Person gründet, die an eine andere eine<br />

Forderung richtet, kann müssen immer durch<br />

sollen ersetzt werden (DUDEN <strong>19</strong>84: 99)<br />

Du musst/sollst mir helfen.<br />

Die Aufforderungen mit dem Modalverb<br />

müssen sind strenger.<br />

In den einfachen Aussagesätzen kommen<br />

die anderen Modalverben in indikativischer<br />

Form nur vereinzelt vor:<br />

Wir wollen baden gehen. (Vorschlag)<br />

Du darfst nicht so laut reden. (Verbot)<br />

4.2. Aufforderungen können im Deutschen<br />

auch mit Fragesätzen (sowohl mit<br />

Entscheidungsfragen als auch mit Ergänzungsfragen)<br />

ausgedrückt werden. Die<br />

verbalen Prädikate können im Indikativ<br />

Präsens und Futur I stehen.<br />

Zur Kennzeichnung der Aufforderung<br />

dienen die Partikeln und die Intonation:<br />

Kommst du endlich, Hans? (Mann: 5)<br />

Wann machst du nun endlich mal das<br />

Fenster zu?!<br />

Werdet ihr jetzt endlich arbeiten?!<br />

Die Wortfolge der Sätze entspricht der<br />

eines Fragesatzes. Am Ende der Beispielsätze<br />

sind die Satzzeichen unterschiedlich.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />

gegenwärtigen Deutsch<br />

Die Sätze mit Ausrufezeichen und Frage- oder Personengruppe gerichtet ist. Solche<br />

zeichen signalisieren eine Aufforderung, und Aufforderungen sind allgemeingültig. Daraus<br />

dienen zum Ausdruck eines Tadels. Die folgt, dass die Nennung des Adressaten und<br />

Sätze mit Fragezeichen werden als eine Bitte des Adressanten nicht charakteristisch ist.<br />

in der Kommunikation verwendet. Frage- Die Anwendungsbereiche dieser Auffordesätze<br />

mit Aufforderungscharakter sind oftrungen sind Aufrufe in Losungen und Übermals<br />

durch Partikeln wie bitte, endlich, geschriften. Sie sind am häufigsten Verbote<br />

fälligst, mal, nun, oder sogar durch ihre und Warnungen:<br />

Kom-binationen wie nun endlich mal gekennzeichnet.<br />

A. BURKHARDT (<strong>19</strong>83: 47-48)<br />

Durch vorsichtiges Fahren Unfälle vorhüten!<br />

nennt diesen Fragetyp Aufforderungsfrage. Nicht mit dem Wagenführer sprechen!<br />

In der amerikanischen Fachliteratur hat man<br />

für diesen Gebrauch der Frageform den<br />

Terminus “whimperative question” eingeführt.<br />

Wenn eine Frageform für eine Aufforderung<br />

gebraucht wird, kann man von<br />

einem “Wimperativ” sprechen, weil die<br />

englischen und deutschen Fragewörter mit w<br />

beginnen. Zum Ausdruck von höflichen<br />

Bitten verwendet man in Fragesatztypen die<br />

Konjunktiv <strong>II</strong>-Formen von Modalverben<br />

sowie die würde-Form:<br />

Könntest du bitte das Fenster öffnen?<br />

Dürfte ich Ihnen noch eine Frage stellen?<br />

Möchten Sie mir bitte das Salz herüberreichen?<br />

Wenn die Aufforderung als Einwortsatz<br />

erscheint, wirkt sie meist unhöflich und unfreundlich,<br />

und bedeutet immer einen strengeren<br />

Aufruf.<br />

Aufhören! (Kafka: 83)<br />

Zahlen!<br />

“Partizipialphrasen sind nur im mündlichen<br />

Deutsch üblich und setzen immer ein<br />

starkes Autoritätsgefälle vom Sprecher zum<br />

Partner voraus” (ENGEL <strong>19</strong>88: 48). Sie können<br />

mit Kombinationen von Partikeln jetzt<br />

aber, nun aber verstärkt werden. Das Partizip<br />

<strong>II</strong> wird oft in der Armee, im Unterricht,<br />

im Verkehr usw. verwendet:<br />

Weggetreten! Aufgepasst!<br />

Würden Sie mir bitte den Brief zeigen? 4. 5. Ob man kurze Ellipsen, befehlende<br />

4. 3. Ein alleinstehender dass-Satz drückt<br />

eine Aufforderung aus, die einen beschwörenden<br />

oder drohenden Unterton enthält.<br />

Die Partikel ja hebt die Besorgnis oder<br />

die Drohung noch hervor, der Satz kann als<br />

letzte Aufforderung, Mahnung angesehen<br />

werden:<br />

Dass du ja sofort nach Hause kommst!<br />

Dass du mir den Teller nicht fällen lässt!<br />

Dass ihr mir gut aufpasst!<br />

Ausrufe, die keine Verbform enthalten als<br />

Aufforderungssätze bezeichnen soll, ist fraglich.<br />

Obwohl mit ihnen zweifellos Aufforderungshandlungen<br />

vollzogen werden,<br />

drücken sie auf keinen Fall in ihrer grammatischen<br />

Form eine Aufforderung aus. Der<br />

Aufforderungscharakter ergibt sich außergramma-tisch-pragmatisch,<br />

vor allem aus der<br />

Situation und aus dem Befehlston. Bei diesen<br />

Äußerungen soll unbedingt und unverzüglich<br />

Folge geleistet werden:<br />

Der ethische Dativ mir intensiviert die Marsch, Junge!<br />

innere Teilnahme und bringt gleichzeitig das Die Hände hoch!<br />

Interesse des Sprechers zum Ausdruck.<br />

In Deckung!<br />

4. 4. Aufforderungen können im Deutschen<br />

auch mit infiniten Formen realisiert<br />

werden. Aufforderungen mit Infinitiven werden<br />

in dem Fall gebraucht, wenn eine Aufforderung<br />

nicht an eine bestimmte Person<br />

Es gibt auch solche Aufforderungsakte,<br />

die allerdings in funktional definierbaren<br />

Gruppen vorkommen können, sie dienen der<br />

sprachlichen Ökonomie und in diesem Fall<br />

wirken sie unmittelbar, aber nicht notwendig<br />

unhöflich:<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 213


Schraubenzieher! (Statt möglichem: Gib<br />

mir mal den Schraubenzieher!)<br />

Elliptische Aufforderungen können auch<br />

mit Substantiven, Adjektiven, Adverbien und<br />

Verbalpräfixen ausgedrückt werden:<br />

Wein! (Mörike: 162)<br />

Hilfe!<br />

Schnell!<br />

Still, still und kein Wort! (Mann: 114)<br />

Diese adjektivische Aufforderung kann<br />

mit Interjektionen abgemildert werden:<br />

Pst! Leise!<br />

Adverbien und Verbalpräfixe können einen<br />

ganzen Satz ersetzen, aber sie wirken im<br />

allgemeinen brüsk und unhöflich:<br />

Vorwärts! Hinaus! Zurück!<br />

4. 6. Aufforderungen kommen oft in der<br />

indirekten Rede vor. Diese indirekten Aufforderungen<br />

werden entweder mit der Konjunktion<br />

dass angeschlossen oder bleiben<br />

uneingeleitet:<br />

Der Chef sagte, dass die Sekretärin die<br />

Briefe schreiben solle.<br />

Er sagte, sie möge doch mit ihrer Violine<br />

in sein Zimmer kommen. (Kafka: 129)<br />

Die Aufforderung drückt man in der indirekten<br />

Rede mit dem Konjunktiv Präsens<br />

der Modalverben sollen und mögen, seltener<br />

mit dem Konjunktiv Präteritum von sollen,<br />

mögen und müssen und mit dem Infinitiv des<br />

Vollverbs aus. Was die Wahl der Modalverben<br />

betrifft, so richten sie sich nach der<br />

Strenge der Aufforderung. Wenn es sich um<br />

eine freundliche Bitte handelt, wird mögen<br />

gewählt, wenn es sich um einen Befehl oder<br />

eine barsche Aufforderung handelt wird<br />

sollen gebraucht. Die Aufforderung wird im<br />

Nebensatz formuliert, und der Nebensatz<br />

wird im allgemeinen ohne die Konjunktion<br />

dass angeschlossen:<br />

Aufforderungen in Imperativsätzen<br />

obligatorische Verberststellung<br />

Imperativform<br />

214<br />

Ildikó Szoboszlai<br />

Aufforderungen<br />

Die Mutter bat uns Kinder, wir möchten<br />

ihr mal Milch aus dem Kühlschrank holen.<br />

Mein Vater befahl mir, ich solle diese<br />

Arbeit am gleichen Tag erledigen.<br />

In indirekter Aufforderung kommt das<br />

Modalverb müssen selten vor.<br />

Das Gericht teilte den Leuten mit, dass<br />

sie die Strafe bezahlen müssten.<br />

Explizit performative Äußerungen können<br />

im Deutschen nicht nur in Nebensätzen,<br />

sondern auch in Infinitivkonstruktionen<br />

ausgedrückt werden:<br />

Ich bitte dich, das Buch umgehend zurückzugeben.<br />

Ich fordere dich auf, das Buch umgehend<br />

zurückzugeben.<br />

Ich befehle dir, das Buch umgehend zurückzugeben.<br />

Welcher Sprechakt in den einzelnen Sätzen<br />

ausgedrückt wird, hängt das von dem<br />

redeeinleitenden Verb des Hauptsatzes ab.<br />

Weitere Verben sind ähnlich verwendbar<br />

(verlangen, anflehen, warnen usw.).<br />

Wenn vom Verb warnen ein Nebensatz<br />

oder eine Infinitivgruppe abhängt, dürfen<br />

diese indirekten Warnungen nicht verneint<br />

werden.<br />

Nicht korrekt: Er warnte ihn, nicht zu<br />

schnell zu fahren.<br />

Korrekt: Er warnte ihn, zu schnell zu<br />

fahren. (DUDEN <strong>19</strong>85: 747)<br />

5. Als Fazit lässt sich sagen, dass die<br />

Ausdrucksformen der auffordernden Sprechakte<br />

ein gutes Material zu unserer Analyse<br />

gegeben haben. Die Ergebnisse der Untersuchung<br />

versuchen wir in der folgenden<br />

Tabelle zusammenzufassen:<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />

gegenwärtigen Deutsch<br />

ohne Partikel _ unhöflich, brüsk<br />

mit Partikeln _ Bitte, Erlaubnis, Ermutigung<br />

Personalpronomen in der 2. Person nur für Hervorhebung<br />

Aufforderungen in Aussagesätzen<br />

Verbform:<br />

Indikativ Präsens, Futur I _ Befehl<br />

Vorgangspassiv _ unpersönlicher Befehl<br />

Modalverben<br />

sollen _ Auftrag, Befehl, Vorschrift, Gebot …<br />

müssen _ objektiv bedingte Notwendigkeit/Befehl<br />

Aufforderungen in Fragesätzen<br />

Verbform: Indikativ Präsens, Futur I _ Tadel, Mahnung<br />

Verbform: Konjunktiv Präteritum _ höfliche Bitte<br />

Illokutive Indikatoren: Partikeln, Intonation<br />

Aufforderungen in isolierten Nebensätzen<br />

Verbform: Indikativ Präsens<br />

_ Drohung, Warnung<br />

Aufforderungen mit infiniten Formen<br />

mit Infinitiven _ Verbot, Warnung (brüsk)<br />

mit Partizipien _ Kommando<br />

Ellipse als Aufforderungen (mit Substantiven, Adjektiven, Adverbien, Verbalpräfixen) –<br />

brüsk<br />

Indirekte Aufforderungen<br />

Konjunktiv Präsens<br />

von mögen/sollen + Infinitiv des Vollverbs<br />

zu + Infinitiv – Konstruktion<br />

Zusammenfassung<br />

Der vorliegende Beitrag versucht einen<br />

Überblick über die Sprechakttypen der Aufforderung<br />

zu geben. Es werden ihre deutschen<br />

Ausdrucksmittel untersucht, indem wir<br />

vom Verbmodus und Satzmodus ausgehen.<br />

In den meisten Sprachen stehen Verbmodi<br />

und Satzmodi, sowie Satzmodi und Satztypen<br />

keineswegs in einem Eins-zu-eins-<br />

Verhältnis zueinander. Auch im Deutschen<br />

können Aufforderungen nicht nur in Imperativsätzen,<br />

sondern auch in Aussage- und<br />

Fragesatztypen realisiert werden. Das verbale<br />

Prädikat kann dementsprechend nicht<br />

nur im Imperativ, sondern auch im Indikativ<br />

und Konjunktiv stehen. In vielen Sprechakttypen<br />

der Aufforderung spielen deshalb auch<br />

die illokutiven Indikatoren (z.B. Partikeln,<br />

Intonation) eine sehr wichtige Rolle. Wir<br />

zeigen auch einige explizit performative<br />

Äußerungen, aber eine größere Aufmerksamkeit<br />

wird den direkten Aufforderungen<br />

gewidmet, zu deren verbaler Realisierung im<br />

Deutschen zahlreiche Ersatzformen zur Ver-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 215


216<br />

Ildikó Szoboszlai<br />

fügung stehen. Wir untersuchen diese Ersatz- eigenen Corpus, dessen Belege aus deutformen<br />

mit Hilfe der Fachliteratur und eines schen literarischen Werken stammen.<br />

*<br />

* *<br />

L i t e r a t u r<br />

1. BURKHARDT, Armin (<strong>19</strong>83): Kannst du mir<br />

mal das Salz reichen? oder: Das Modalverb<br />

beim “Wimperativ“. In: Sprache und Beruf 3.<br />

S. 46-55.<br />

2. DUDEN (<strong>19</strong>84): Grammatik der deutschen<br />

Gegenwartssprache/hrsg. u. bearb. von Günther<br />

DROSDOWSKI … 4., völlig neu bearb. u.<br />

erw. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches<br />

Institut. (Der Duden in 10 Bänden;<br />

Bd. 4.)<br />

3. DUDEN (<strong>19</strong>85): “Richtiges und gutes<br />

Deutsch“ Wörterbuch der sprach. Zweifelsfälle/bearb.<br />

von Dieter BERGER u. Günther<br />

DROSDOWSKI unter Mitwirkung von Otmar<br />

KÄGE. 3. neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim;<br />

Wien; Zürich: Bibliographisches Institut.<br />

(Der Duden; Bd. 9.)<br />

4. ENGEL, Ulrich (<strong>19</strong>88): Deutsche Grammatik.<br />

2., verbesserte Aufl. Heidelberg/Tokyo.<br />

5. ERBEN, Johannes (<strong>19</strong>61): Lasst uns feiern/Wir<br />

wollen feiern! In: Beiträge zur Geschichte der<br />

deutschen Sprache und Literatur. E. Kart-<br />

Gasterstädt gewidmet. Halle (Saale): Niemeyer.<br />

S. 459-471.<br />

6. ERBEN, Johannes (<strong>19</strong>83): Sprechakte der<br />

Aufforderung im Neuhochdeutschen. In:<br />

Sprachwissenschaft 8. S. 399-412.<br />

7. FLÄMIG, Walter (<strong>19</strong>91): Grammatik des Deutschen.<br />

Berlin<br />

8. GENZMER, Herbert (<strong>19</strong>93): Richtiges Deutsch.<br />

Bindlach<br />

9. SCHULZ, Dora/GRIESBACH, Heinz (<strong>19</strong>90):<br />

Grammatik der deutschen Sprache. 11. Aufl.<br />

(Erste Aufl. <strong>19</strong>60). München<br />

10. ZIFONUN, Gisela (<strong>19</strong>97): Grammatik der<br />

deutschen Sprache/von Gisela ZIFONUN; Ludger<br />

HOFFMANN; Bruno STRECKER. Berlin;<br />

New York: de Gruyter. Bd. 1-3. (Schriften<br />

des Instituts für deutsche Sprache Bd. 7., 1-<br />

3.).<br />

Quellen der Belege:<br />

1. KAFKA, Franz: Der Heizer. Die Verwandlung.<br />

Erzählungen. Budapest <strong>19</strong>90.<br />

2. MANN, Thomas: Tonio Kröger. Budapest<br />

<strong>19</strong>75.<br />

3. Seghers, Anna: Das Argonautenschiff. Budapest<br />

<strong>19</strong>78.<br />

4. MÖRIKE, Eduard: Mozart auf der Reise nach<br />

Prag. Budapest <strong>19</strong>79.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN IN DER DIDAKTISIERUNG<br />

AUTHENTISCHER GESPRÄCHE<br />

Ausgangspunkt – „Ich spreche wie<br />

Goethe!“<br />

Der Ausgangspunkt meiner Untersuchung<br />

ist ein merkwürdiger Satz, den eine<br />

verärgerte, vielleicht auch verbitterte Studentin<br />

im 6. Semester, als Fazit ihrer Wortmeldung<br />

zum Stellungswert der „curspractic“-Stunden,<br />

innerhalb des Germanistikstudiums,<br />

vorwurfsvoll anführte: „Ich<br />

spreche wie Goethe!“.<br />

Diese ungewohnte Äußerung versetzte<br />

einige Studenten ins Staunen, löste bei vielen<br />

eine erklärliche Neugierde aus, so daß<br />

eine weitere Ausführung des Gesagten unerläßlich<br />

war.<br />

Kontextfrei könnte man den vorhin zitierten<br />

Satz („Ich spreche wie Goethe“) ganz<br />

verschieden verstehen und auslegen z.B. a)<br />

als ein zu weit ausgeführtes Selbstlob, b) als<br />

eine unerhörte Anmaßung oder c) man mißt<br />

ihm gar keine Bedeutung zu und betrachtet<br />

ihn als einen einfach grammatikalisch korrekten<br />

Satz. Was aber dahinter steckt – das<br />

Gemeinte – wäre mir (und höchstwahrscheinlich<br />

auch anderen) verborgen geblieben,<br />

wenn man mich nicht in die verschlüsselte<br />

Studentensprache eingeweiht<br />

hätte.<br />

Die Identifizierung der Sprecherin mit<br />

Goethe war rein zufällig und sollte von mir<br />

und von ihren KollegInnen keinesfalls als<br />

ein Werturteil verstanden werden, sondern<br />

als ein bescheidener Versuch eine bestimmte<br />

Tatsache zu erläutern, nämlich die ungenügende<br />

Aus- und Fortbildung der kommunikativen<br />

Fertigkeiten in einer beliebigen<br />

Fremdsprache, - in unserem Falle Deutsch,<br />

an der Bukarester Universität.<br />

Die Äußerung „Ich spreche wie Goethe“<br />

bezieht sich also nicht auf Wortwahl, Sprechtempo<br />

oder Intonation 1 , sondern sie muß<br />

als eine studentische Bezeichnung für das<br />

sehr gepflegte, aber alte Gelehrtendeutsch<br />

1 Leider war die Technik zu der Zeit noch nicht so<br />

fortgeschritten, um Ton- oder Videoaufnahmen zu<br />

ermöglichen.<br />

Ana Iroaie<br />

verstanden werden, das man heutzutage in<br />

der Alltagskommunikation keinesfalls verwendet<br />

und deshalb oft nicht nur von jungen<br />

Leuten als „altmodisch“ empfunden wird.<br />

Viele Germanistikstudenten der Bukarester<br />

Universität haben selten Gelegenheit 2<br />

während des Studiums, geschweige denn<br />

außerhalb des institutionalisierten Rahmens<br />

ihre erworbenen Deutschkenntnisse aktiv in<br />

der Alltagskommunikation zu verwenden.<br />

Hier muß der Unterschied gemacht werden<br />

zwischen den Germanistikstudenten, die<br />

Deutsch als Muttersprache haben (ihre Anzahl<br />

ist aber sehr gering) und denen das<br />

Rumänische oder eine andere Sprache als<br />

Muttersprache benutzen und nicht immer<br />

einen direkten Kontakt zum Zielland, in<br />

diesem Fall Deutschland und seiner Kultur<br />

haben.<br />

Welche Bedeutung die Germanistikstudenten<br />

der Universität Bukarest der Ausbildung<br />

ihrer mündlichen kommunikativen<br />

Fertigkeiten beimessen und ob eine eingehende<br />

Behandlung verschiedener Aspekte<br />

der gesprochenen Sprache anhand von<br />

authentischen Redebeiträgen während des<br />

Studiums vorgenommen werden soll, habe<br />

ich versucht anhand eines von mir erstellten<br />

Fragebogens zu erfahren, der von 70 Befragten<br />

aus verschiedenen Semestern im<br />

Hochschuljahr <strong>19</strong>99-<strong>20</strong>00 ausgefüllt wurde.<br />

Die Auswertung des Fragebogens<br />

90% der Befragten glauben, daß die curs<br />

practic – Stunden für Sie nützlich sind und<br />

96% meinen, daß regelmäßige Konversationsstunden<br />

ihre mündliche Kompetenz fördern<br />

könnten, aber diese Stunden sollten<br />

jedenfalls als Wahlfach angeboten werden.<br />

Für 54% der Studenten sind Konversationsstunden<br />

sehr wichtig und für 41% wichtig,<br />

so daß regelmäßige Konversationsstunden<br />

mit Sicherheit gut besucht sein würden. Nur<br />

2 Dies gilt aber leider für alle Fremdsprachenstudenten,<br />

die selten einen direkten Kontakt zur Zielkultur<br />

haben und oft die mündliche Kommunikation (aus<br />

Mangel an Erfahrung und Praxis) scheuen.


2% der Studenten halten diese Stunden für<br />

unwichtig. 50% der Befragten haben selten<br />

Gelegenheit deutsch zu sprechen. 26% sprechen<br />

außerhalb des institutionalisierten Rahmens<br />

nie Deutsch. Nur 17% benutzen<br />

Deutsch oft in der Alltagskommunikation.<br />

Es ist interessant und vielleicht verständlich,<br />

daß trotz des großen Medienangebots,<br />

63% der Germanistikstudenten nur selten gesprochenes<br />

Deutsch außerhalb der Universität<br />

hören, denn die meisten verfügen<br />

nicht über die dazu nötige technische Ausrüstung.<br />

Den meisten bereitet die ungenügende<br />

Sprachübung Schwierigkeiten im mündlichen<br />

Umgang mit deutschsprechenden<br />

Partnern und 46% kennen verschiedene<br />

typische deutsche Routineformeln und bestimmte<br />

Kommunikationsrituale nicht. Nur<br />

7% beherrschen den Alltagswortschatz nicht<br />

gut genug, um sich problemlos mit den Gesprächspartnern<br />

zu verständigen. 61% der<br />

Studenten kennen keine landeskundlichen<br />

Aspekte, die Alltagsgespräche mitbestimmen<br />

können, und 99% möchten die kulturspezifischen<br />

Elemente der mündlichen Kommunikation<br />

auf der Hochschule eingehend behandeln.<br />

Es ist verständlich und aus dieser Umfrage<br />

ersichtlich, daß die meisten Studierenden<br />

ihre mündliche kommunikative Fertigkeit<br />

verbessern möchten, denn schließlich<br />

braucht man moderne Fremdsprachen,<br />

„...im Gegensatz zu den 'alten Sprachen' Latein und<br />

Griechisch, die es nur noch als Buchsprachen gibt -,<br />

um sich mit anderen Menschen verständigen zu können,<br />

um sich im Zielsprachenland, etwa als Tourist<br />

oder Geschäftsmann, zurechtfinden und mit den Leuten<br />

unterhalten zu können, um Fernsehsendungen,<br />

Radioprogramme, Zeitungen und Bücher zu verstehen.<br />

... Lebende Sprachen lernt man in erster Linie,<br />

um sie für Alttagskommunikation zu benutzen.“ 3<br />

Die Studenten haben aber nicht sehr oft<br />

die Möglichkeit auf der Hochschule die typischen<br />

Routine- und Ritualfromen der deutschen<br />

Alltagssprache zu hören oder selbst zu<br />

verwenden, denn in den meisten Seminaren<br />

werden hauptsächlich fachspezifische Themen<br />

behandelt, so daß die Diskussionsbeiträge<br />

nur in geringem Maße die typischen<br />

Merkmale eines Unterhaltungsgesprächs aufweisen<br />

können. Die kleine Anzahl der Kon-<br />

3 Neuner/ Hunfeld - <strong>19</strong>93, S. 84.<br />

218<br />

Ana Iroaie<br />

versationsstunden (es handelt sich um eine<br />

Wochenstunde, die nur für das erste Studienjahr<br />

und nur im ersten Semester vorgesehen<br />

ist) bieten kaum Gelegenheit geläufige Redeformen<br />

der Alltagssprache aufzufrischen<br />

oder einzuüben, so daß die Rolle der kulturspezifischen<br />

sprachlichen und nichtsprachlichen<br />

Handlungen für das Gelingen mündlicher<br />

Äußerungen leider unberücksichtigt bleibt.<br />

Die mündliche kommunikative Fertigkeit<br />

der Studierenden wird als eine selbstverständliche<br />

Voraussetzung für die Zulassung<br />

zum Germanistikstudium betrachtet und<br />

deshalb vielleicht auch nicht mehr geprüft,<br />

wie einst, so daß nur noch der schriftlichen<br />

Sprachkompetenz große Aufmerksamkeit<br />

geschenkt wird. Unter Sprachkompetenz<br />

versteht Van Ek die<br />

„Kenntnis des entsprechenden Wortschatzes und<br />

Beherrschung der grammatikalischen Regeln, die es<br />

dem Lernenden gestatten, die einzelnen Wörter zu<br />

sinnvollen Aussagen zusammenzuknüpfen.“ 4<br />

So läßt sich vielleicht erklären, daß manche<br />

Studenten, trotz des umfangreichen<br />

Wortschatzes und guter Grammatikkenntnisse,<br />

Schwierigkeiten haben, die Zielsprache<br />

situationsadäquat zu verwenden. Die<br />

mündliche Kompetenz müßte man demnach<br />

auf der Hochschule weiter fördern, indem<br />

man dafür auch und insbesondere authentische<br />

Gespräche in den Unterricht einbezieht<br />

und aus verschiedenen Perspektiven behandelt.<br />

Authentische Gespräche, d.h. für Unterrichtszwecke<br />

nicht vereinfachte oder stilistisch<br />

nicht bearbeitete Dialoge, die von<br />

deutschen Muttersprachlern in verschiedenen<br />

Situationen verwendet wurden, könnten den<br />

Studenten kulturspezifische Routine- und<br />

Ritualformen näher bringen. Die Lerner<br />

sollten sich nicht nur mit den landeskundlichen<br />

Aspekten auseinandersetzen, sondern<br />

sie sollten sich auch die für den deutschen<br />

Sprachraum typischen kommunikativen Verhaltensweisen<br />

aneignen, um sie bewußt in<br />

ähnlichen Kontexten verwenden zu können.<br />

Die Didaktisierung authentischer Gespräche<br />

im Hochschulunterricht<br />

Die Didaktisierung authentischer Gespräche<br />

bezieht sich nicht auf den Einsatz didak-<br />

4 Van Ek, zitiert nach Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. 1.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Möglichkeiten und Grenzen in der Didaktisierung authentischer Gespräche<br />

tisierter (d.h. für den Unterricht angepaßte)<br />

Gespräche, die grammatikorientiert sind und<br />

daher oft wirklichkeitsfremd, sondern auf die<br />

gezielte Hervorhebung verschiedener relevanten<br />

Aspekte der gesprochenen Sprache<br />

und auf die ausführliche Analyse, der auf<br />

Ton- oder Videoband aufgezeichneten Gesprächsformen.<br />

Die Gespräche, die man im<br />

Unterricht behandeln will, sollten für eine<br />

bestimmte Kommunikationssituation relevant<br />

sein und das Sprachniveau der Studenten<br />

nicht überfordern. Kurze Alltagsdialoge,<br />

Radio- und Fernsehbeiträge (insbesondere<br />

Nachrichten und Interviews) enthalten außer<br />

den kulturspezifischen Routine- und Ritualformen,<br />

auch viele Informationen über das<br />

Zielland, die verschiedene zusätzliche Erläuterungen<br />

benötigen, um richtig verstanden<br />

werden zu können. Joe Sheils meint dazu,<br />

daß<br />

„Texte, die ursprünglich für native speakers gedacht<br />

waren, werden von den Lernenden auf der<br />

Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und aus der<br />

Perspektive der Ausgangskultur möglicherweise anders<br />

interpretiert als von den native speakers selbst,<br />

die sich bei der Entschlüsselung der Texte auf den<br />

unmittelbaren Ereigniskontext und den sozioideologischen<br />

Kontext ihrer Gesellschaft stützen.“ 5<br />

Es ist wichtig, daß die verschiedenen<br />

Aspekte der gesprochenen Sprache im Hochschulunterricht<br />

behandelt werden, denn<br />

Äußerungen sind kontextgebunden und ihr<br />

Inhalt kann nur dann richtig erfaßt werden,<br />

wenn man außer der sprachlichen Bedeutung,<br />

auch die para- , non- und extraverbalen<br />

Begleitelemente zu deuten weiß.<br />

Zu den parasprachlichen Mitteln führt<br />

Gertraude Heyd die Stimmqualitäten und<br />

Stimmgebungen an, die semantische Strukturen<br />

beeinflussen oder zu interkulturellen<br />

Mißverständnissen führen können.<br />

„Laut und energisch sprechende Südländer erwecken<br />

bei Nordeuropäern oft den Eindruck, daß sie<br />

sich streiten. Oder DANKE mit fallendem Stimmton<br />

gesprochen, bedeutet im Deutschen NEIN, danke! der<br />

Ausländer hat aber vielleicht JA, bitte! gemeint, das<br />

im Deutschen mit steigendem Stimmton gesprochen<br />

wird.“ 6<br />

Nonverbale Elemente wie Mimik, Gestik<br />

begleiten die sprachlichen Äußerungen<br />

und können verschiedene Informationen<br />

5 Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. <strong>19</strong>.<br />

6 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 58.<br />

hervorheben oder sogar vermitteln. Gertraude<br />

Heyd unterscheidet zwischen den<br />

„physiologisch bedingten wie Gähnen und Erröten<br />

und kulturbedingten wie Winken, Herbei- und<br />

Wegwinken.“ 7<br />

Denselben außersprachlichen Elementen<br />

wird in verschiedenen Kulturen eine andere<br />

Rolle und kommunikative Bedeutung beigemessen,<br />

so daß es leicht zu Mißverständnissen<br />

kommen kann, wenn man die interkulturellen<br />

Unterschiede nicht kennt. Gertraude<br />

Heyd führt in ihrem Buch „Aufbauwissen<br />

für den Fremdsprachenunterricht“ ein<br />

Beispiel an.<br />

„In Deutschland ist es üblich sich beim Gruß beim<br />

Abschied die Hand zu geben, in England oder den<br />

USA ist das eher unüblich. Deutsche fassen einen<br />

ausgebliebenen Händedruck leicht als Distanzierung<br />

oder als Unhöflichkeit auf.“ 8<br />

In Rumänien ist der Handgruß im privaten<br />

Bereich vom Wangenkuß ersetzt,<br />

allerdings kommt er nur zwischen vertrauten<br />

oder gut befreundeten Gesprächspartnern<br />

zustande, sonst bleibt er im allgemeinen aus.<br />

Die nonverbale Kommunikation wird in<br />

der Regel in unserem Fremdsprachen-unterricht<br />

ignoriert und ihre Bedeutung für das<br />

Gelingen sprachlicher Absichten eher unterschätzt.<br />

Die Körpersprache wird selten im<br />

Fremdsprachenunterricht behandelt, weil es<br />

einerseits einen großen Arbeitsaufwand voraussetzt<br />

(z. B. die Suche nach geeignetem<br />

Unterrichtsmaterial, verschiedene zusätzliche<br />

Vorbereitungen) und andererseits, weil<br />

es nur wenige Lehrende gibt, die Mimik und<br />

Gestik zur nötigen interkulturellen Kompetenz<br />

zählen.<br />

Zeit, Raum, Proxemik und soziale Variablen<br />

zählen laut Heyd zu den extraverbalen<br />

Einheiten, die das Zustandekommen mancher<br />

Sprachhandungen beeinflussen können.<br />

„Während Deutsche bei Geschäftsverhandlungen<br />

möglichst direkt auf das eigentliche anliegen zusteuern<br />

– Zeit ist Geld! – gehört es in anderen<br />

Kulturen zu den Höflichkeitsregeln, sich zunächst<br />

mehr oder weniger lang und umständlich über andere<br />

Themen wie Wetter, Gesundheit usw. zu unterhalten,<br />

die mit dem Verhandlungsgegenstand nichts zu tun<br />

haben, was Europäer und Nordamerikaner oft irritiert<br />

und zu der Annahme führt der Gesprächspartner sei<br />

an der Verhandlung entweder nicht mehr interessiert<br />

7 Ebd.<br />

8 Ebd.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 2<strong>19</strong>


oder verstehe nicht, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren.“<br />

9<br />

Das Scheitern mancher Äußerungen besteht<br />

nicht unbedingt in einer mangelnden<br />

Beherrschung des Wortschatzes, sondern<br />

viel mehr in einer aus Unkenntnis inadäquaten<br />

Benutzung der kulturspezifischen<br />

Kommunikationsformen, denn die<br />

strategische Kompetenz d.h. „die Fähigkeit,<br />

verbale und non-verbale Strategien einzusetzten,<br />

um etwaige Mängel in der Beherrschung<br />

des Codes wettzumachen.“ und<br />

die sozio-kulturelle Kompetenz d.h. „eine<br />

gewisse Vertrautheit mit dem sozio-kulturellen<br />

Kontext, in dem die Sprache verwendet<br />

wird.“ 10 werden leider während der<br />

Schulzeit, aus verschiedenen Gründen, selten<br />

in den Vordergrund gestellt, so daß den<br />

Studenten die spezifischen kommunikativen<br />

Verhaltensweisen einer bestimmten Zielkultur<br />

kaum vertraut sind.<br />

Möglichkeiten für die Didaktisierung<br />

authentischer Gespräche<br />

Es gibt unzählige Möglichkeiten die<br />

sprachlichen, parasprachlichen und außersprachlichen<br />

Elemente der gesprochenen<br />

Sprache im Unterricht zu behandeln je nachdem<br />

welchen Aspekt man stärker hervorheben<br />

möchte und welches didaktische Ziel<br />

man ins Auge gefaßt hat. Authentische Gespräche<br />

können im Unterricht behandelt<br />

werden um:<br />

- das Hörverständnis der Lerner zu<br />

schulen und zu überprüfen;<br />

- die Sprechfertigkeit zu fördern (Alltagskommunikation<br />

wird im Unterricht<br />

durch Imitieren simuliert);<br />

- den Wortschatz mit typischen Strukturen<br />

der mündlichen Alltagskommunikation<br />

zu bereichern;<br />

- die landeskundlichen Aspekte, die für<br />

die mündliche Kommunikation wichtig<br />

sind, bekanntzumachen.<br />

- die Argumentationstechnik und das<br />

Sprechdenken zu entwickeln.<br />

In vielen Didaktikbüchern werden verschiedene<br />

Übungsvorschläge angeführt, die<br />

insbesondere den jungen, vielleicht nicht so<br />

erfahrenen Lehrern von großem Nutzen sein<br />

9 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 60.<br />

10 Van Ek, zitiert nach Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. 1.<br />

2<strong>20</strong><br />

Ana Iroaie<br />

können, um ihre Konversationsstunden lebendiger<br />

und sinnvoller zu gestalten. Hier<br />

möchte ich nur ein paar Beispiele anführen,<br />

die Gertraude Heyd vorschlägt.<br />

Übungsformen für das dialogische<br />

Sprechen<br />

„Bei einem vorgegebenen Dialog, die Bedingungen<br />

ändern (Partnerbeziehung, Alter, Ort, Intonation) und<br />

den Dialog neu gestalten lassen.<br />

Zu einem vorgegebenen Dialog mit neutraler Intonation<br />

eine neue Version mit geänderter Intonation<br />

erarbeiten und unter Einsatz von Gestik und Mimik<br />

vorspielen lassen; anschließend darüber sprechen,<br />

welche Auswirkungen die geänderte Intonation auf<br />

das Verhalten der Sprecher und auf die Situation hat.<br />

Einen emotional gefärbten vorgegebenen Dialog<br />

besprechen: wie wird Zuneigung, Ablehnung, Interesse,<br />

Bewunderung usw. ausgedrückt; wie würde sich<br />

ein Stimmungswechsel sprachlich auswirken.<br />

Aufgrund einer visuellen Vorgabe (Bilder, Bilderfolgen)<br />

Dialoge/Interviews zwischen den dargestellten<br />

Personen erfinden lassen.<br />

Eine Debatte zu einem kontroversen Thema führen<br />

und die Teilnehmer anschließend von den übrigen<br />

Lernern befragen lassen.“ 11<br />

Grenzen in der Didaktisierung authentischer<br />

Gespräche<br />

Die gesprochene Sprache sollte man<br />

noch während des Studiums ausführlich analysieren,<br />

aber oft treten Probleme auf, die<br />

nicht so leicht zu überwinden sind, und die<br />

Behandlung authentischer Gespräche stark<br />

beeinflussen oder sogar verhindern können.<br />

Eine nicht ausreichende technische Ausstattung<br />

(ungenügende Anzahl von Kassetten<br />

und/oder Videorecorder), wenig oder gar<br />

kein Unterrichtsmaterial erschwert die Gestaltung<br />

der Konversationsstunden.<br />

Konversationsstunden sind entweder im<br />

Lehrplan (Hochschulcurriculum) nicht vorgesehen,<br />

oder die dafür geplante Stundenanzahl<br />

ist zu klein, um die Sprechfertigkeit<br />

der Lernenden zu fördern.<br />

Wenn der Lehrer das Sprachniveau der<br />

Studenten überschätzt, kann die mündliche<br />

Kompetenz der Lerner nicht die erwünschte<br />

Entwicklung erfahren.<br />

Schlußfolgerungen<br />

Unser Hochschulwesen nimmt seine<br />

Rolle als Vermittler von niveauvollem Wissen<br />

sehr ernst und ist beharrlich in seinem<br />

11 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 179f.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Möglichkeiten und Grenzen in der Didaktisierung authentischer Gespräche<br />

hochzuschätzenden Unternehmen, Zugänge<br />

zu anderen Bereichen und Kulturen zu eröffnen,<br />

aber es müßte nicht nur belesene,<br />

hoch spezialisierte, sondern auch „kommunikationsfähige“<br />

Fachleute ausbilden.<br />

Ein jeder angehende Akademiker – in<br />

unserem Falle Germanist – sollte schon<br />

während des Studiums ausgereifte, erlesene,<br />

seiner Ausbildung entsprechende Kenntnisse<br />

erwerben, die er bei verschiedenen Gelegenheiten<br />

in Schrift und Sprache einsetzen kann.<br />

Die Schreibfertigkeit der Studenten wurde<br />

meines Wissens schon immer und natürlich<br />

mit gutem Grund auf der Philologie-Fakultät<br />

gefördert, aber leider hat man der ungehemmten<br />

mündlichen Auseinandersetzung<br />

mit verschiedenen Themen, auch wegen der<br />

dafür zu gering vorgesehenen Stundenanzahl,<br />

nur zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Sehr oft schreiben unsere Studenten<br />

gute Referate, übersetzen schwierige Texte,<br />

verfassen anspruchsvolle wissenschaftliche<br />

Arbeiten, aber einige von ihnen können<br />

manchmal ein ganz banales, alltägliches Gespräch<br />

mit einem deutschen Muttersprachler<br />

unter Mitberücksichtigung der kulturspezifischen<br />

Diskurselemente nicht führen. Es<br />

sind nur wenige Absolventen, die mit einem<br />

passiven Wortschatz in ihrem Beruf als<br />

Übersetzter oder Forscher auskommen<br />

würden, die meisten von ihnen haben die<br />

Möglichkeit, als Sekretäre, Dolmetscher,<br />

Kulturreferenten oder sogar DaF-Lehrer zu<br />

arbeiten, und müßten deshalb die Sprechfertigkeit<br />

haben, sich in der erlernten Fremdsprache<br />

einwandfrei äußern zu können.<br />

Die Fremdsprachenfakultäten müßten bei<br />

der Curricularen Planung stets vor Augen<br />

haben, daß sowohl die angehenden Forscher,<br />

als auch die Lehrer und Dolmetscher auf die<br />

mündliche Kommunikation in der während<br />

des Studiums erworbenen Fremdsprache angewiesen<br />

sind. Nicht nur die Schreib-, sondern<br />

noch viel mehr die Sprechfertigkeit<br />

wird in ihrem zukünftigen Berufsleben gefragt<br />

sein und deshalb müßte sie schon während<br />

der Ausbildung regelmäßig trainiert<br />

werden.<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. HEYD, Gertraude (<strong>19</strong>97): Aufbauwissen für<br />

den Fremdsprachenunterricht (DaF), Ein Arbeitsbuch,<br />

(narr studienbücher), Gunter Narr<br />

Verlag, Tübingen.<br />

2. HUFEISEN, Britta und Gerhard Neuner<br />

(<strong>19</strong>99): Angewandte Linguistik für den<br />

fremdsprachlichen Deutschunterricht, Eine<br />

Einführung, Fernstudieneinheit 16, Langenscheidt,<br />

Berlin, München.<br />

3. LÜGER, Heinz-Helmut (<strong>19</strong>93): Routinen und<br />

Rituale in der Alltagskommunikation, Fernstudieneinheit<br />

6, Langenscheidt, Berlin, München.<br />

4. NEUNER, Gerhard und Hans Hunfeld<br />

(<strong>19</strong>93): Methoden des fremdsprachlichen<br />

Deutschunterrichts, Eine Einführung, Fernstudieneinheit<br />

4, Langenscheidt, Berlin, München.<br />

5. SHEILS, Joe (<strong>19</strong>94): Kommunikation im<br />

Fremd-sprachenunterricht, Projekt <strong>Nr</strong>. 12<br />

„Das Lehren von Fremdsprachen zur Kommunikation“,<br />

Council of Europe Press.<br />

*<br />

* *<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 221


ANWENDUNG DER WEINRICHSCHEN TEMPUSKATEGORIEN IM UN-<br />

TERRICHT DEUTSCH ALS MUTTERSPRACHE<br />

1. EINLEITUNG<br />

Die vorliegende Arbeit hat sich als Ziel<br />

gesetzt, die Anwendungsmöglichkeiten der<br />

Weinrichschen Kategorien im Unterricht<br />

Deutsch als Muttersprache zu überprüfen.<br />

Sie ist nicht rein linguistisch; sie ist auch auf<br />

die Erfordernisse des Faches Deutsch als<br />

Muttersprache ausgerichtet.<br />

Dazu sind sowohl didaktische als auch<br />

linguistische Untersuchungen notwendig.<br />

Weinrichs Theorie wird erläutert und in den<br />

Zusammenhang der sprachwissenschaftlichen<br />

Forschung zum Tempus gestellt, wobei der<br />

Schwerpunkt auf die Bedeutung dieses Modells<br />

im Deutschunterricht gelegt wird.<br />

Die didaktischen Vorteile der Kategorien<br />

„Erzählen“ und „Besprechen“ im muttersprachlichen<br />

Deutschunterricht werden anhand<br />

der von der fünften bis zur achten Klasse<br />

behandelten Textsorten gezeigt.<br />

In der Darstellung dieser Textsorten werden<br />

nicht nur ihre Merkmale hervorgehoben,<br />

sondern auch auf die Bedeutung der Vermittlung<br />

einiger textgrammatischer Kenntnisse<br />

im Deutschunterricht hingewiesen.<br />

Die didaktischen Überlegungen sind das<br />

Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit<br />

diesem Thema während des Deutschunterrichts<br />

in der fünften, sechsten, siebten und<br />

achten Klasse des „William Shakespeare“<br />

Lyzeums. Diese Untersuchungen haben also<br />

als Grundlage die Erfahrung des Lehrenden,<br />

der während des Unterrichts in verschiedenen<br />

Klassen die Schwierigkeiten der<br />

Schüler erkannt hat und das Weinrichsche<br />

Modell zum Ausbau der Schreibkompetenz<br />

als hilfreich betrachtet.<br />

2. DAS WEINRICHSCHE TEMPUS-<br />

MODELL<br />

Weinrich erklärt in seiner "Textgrammatik<br />

der deutschen Sprache" (<strong>19</strong>93) sein<br />

Tempusmodell anhand von Texten, denn<br />

„diese Grammatik versteht die Phänomene<br />

der Sprache von Texten her, da eine natürliche<br />

Sprache nur in Texten gebraucht wird"<br />

(Weinrich <strong>19</strong>93: 17).<br />

222<br />

Crăciunescu Alina<br />

Das Tempus-Kapitel wird unter der Bezeichnung<br />

„Das Verb und seine Einstellungen“<br />

eingeführt und der Begriff Tempus<br />

als „Einstellungsbegriff“ definiert (Weinrich<br />

<strong>19</strong>93:183).<br />

Als grundlegende Dimensionen des<br />

Tempussystems werden das Tempus-Register<br />

und die Tempus-Perspekive angesehen,<br />

die, kombiniert, den Bedeutungsunterschied<br />

der Tempora ausmachen. Das Kapitel behandelt<br />

also folgende Themen:<br />

- Der Indikativ und seine Tempusformen<br />

- Das Tempus-Register<br />

- Die Tempus-Perspektive<br />

- Die einzelnen Tempora<br />

Genau wie in seinem Buch "Tempus. Besprochene<br />

und erzählte Welt" (<strong>19</strong>64), das<br />

von Engel (<strong>19</strong>91:495) als „Paukenschlag“<br />

bezeichnet wird, geht Weinrich auch diesmal<br />

von einem Tempussystem aus, in dem die<br />

zeitliche Bedeutung der Tempora nicht primär<br />

ist. Es kommen die sechs klassischen<br />

Tempora vor, sie erhalten aber eine andere<br />

Funktionsbestimmung. Ihre Formen werden<br />

gleich am Anfang dargestellt.<br />

Von großer Bedeutung innerhalb dieses<br />

Kapitels ist das Tempus-Register, „eine Kategorie<br />

der Einstellung, mit der die Geltungsweise<br />

einer Prädikation festgelegt wird“<br />

(<strong>19</strong>93, <strong>19</strong>8). Weinrich unterscheidet zwei<br />

Tempus-Register, die auch noch als Sprechhaltungen<br />

bezeichnet werden: Besprechen<br />

und Erzählen, zwischen denen eine „binäre<br />

Opposition“ besteht.<br />

Die Tempora: Präsens, Perfekt und Futur<br />

sind besprechende Tempora, die in besprechenden<br />

Texten vorkommen; Präteritum<br />

und Plusquamperfekt sind erzählende<br />

Tempora, die den erzählenden Texten zugeordnet<br />

werden.<br />

Das besprechende Tempusregister gibt<br />

dem Hörer zu verstehen, dass eine gespannte<br />

Rezeptionshaltung angebracht ist, wobei das<br />

Erzählte eine entspannte Rezeptionshaltung<br />

beansprucht:<br />

„Die Opposition dieser beiden Einstellungsanweisungen<br />

bezieht sich auf die Geltungsweise der Prä-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />

dikation, die mit dem tempustragenden Verb ausgesagt<br />

wird.“ (Weinrich <strong>19</strong>93:<strong>19</strong>9)<br />

Das charakteristische, also bezeichnende<br />

semantische Merkmal für das zu besprechen-<br />

de Tempus-Register ist zweifelsohne die<br />

Bereitschaft, im Gegensatz zum Aufschub,<br />

der für das erzählende Tempus-Register<br />

typisch ist.<br />

Tempus-Register<br />

Besprechen Erzählen<br />

● besprechende Tempora: Präsens, Perfekt,<br />

Futur<br />

● erzählende Tempora: Präteritum, Plusquamperfekt<br />

● gespannte Rezeptionshaltung<br />

● entspannte Rezeptionshaltung<br />

● semantisches Merkmal: Bereitschaft ● semantisches Merkmal: Aufschub<br />

Weinrich bringt ein besprechendes Textbeispiel<br />

aus Nietzsches Essay "Schopenhauer<br />

als Erzieher" und ein Erzählendes aus Robert<br />

Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften",<br />

um „die Instruktionsleistungen des<br />

Tempus-Register zu zeigen“, weist aber darauf<br />

hin, dass „besprechende und erzählende<br />

Tempora in Texten gemeinhin gemischt vorkommen.“<br />

(<strong>20</strong>1)<br />

Als repräsentativ für die besprochene<br />

Welt hat Weinrich (<strong>19</strong>64:43) noch folgende<br />

Textsorten angegeben: der dramatische Dialog,<br />

das Memorandum, der Leitartikel, das<br />

Testament, das wissenschaftliche Referat,<br />

der philosophische Essay, der juristische<br />

Kommentar und alle Formen ritueller, formalisierter<br />

Rede.<br />

In Äußerungen dieser Art ist der Sprecher<br />

gespannt und seine Rede geschärft, weil<br />

es für ihn um Dinge geht, die ihn unmittelbar<br />

betreffen und die auch den Hörer verpflichten.<br />

Sprecher und Hörer sind engagiert,<br />

sie müssen agieren und reagieren.<br />

Zur Gesprächssituation der erzählten<br />

Welt werden auf der anderen Seite noch solche<br />

Situationen gerechnet wie: eine Geschichte<br />

aus der Jugendzeit, die Wiedergabe<br />

eines Jagdabenteuers, ein selbst erfundenes<br />

Märchen, eine Legende, eine Novelle, ein<br />

Roman.<br />

Im Unterschied zum vorher erwähnten<br />

Tempus-Register ist die Tempus-Perspektive<br />

„eine Kategorie der Einstellung, mit<br />

der die Geltungsweise einer Prädikation zeitlich<br />

festgelegt wird (Weinrich: <strong>19</strong>93, <strong>20</strong>7)“.<br />

Beim Präsens und Präteritum handelt es sich<br />

um die Neutral-Perspektive, die anderen<br />

Tempora bringen eine Differenz-Perspektive<br />

zum Ausdruck. Perfekt und Plusquamperfekt<br />

werden durch die Rück-Perspektive gekenn-<br />

zeichnet, das Futur durch die Voraus-<br />

Perspektive. Die Einteilung dieser Tempus-<br />

Perspektive richtet sich nach dem Tempus-<br />

Register und genauso wie dort werden auch<br />

hier keine Ausnahmen dargestelt oder zugelassen,<br />

wie z. B. eine futurische Bedeutung<br />

des Perfekts oder eine Vergangenheitsbedeutung<br />

des Futur <strong>II</strong>.<br />

Obwohl man im Beispieltext Blick in<br />

ferne Zukunft von Kurt Tucholsky das futurische<br />

Perfekt findet, erklärt Weinrich, dass<br />

dieses zum Ausdruck der Rück-Perspektive<br />

erscheint, und zwar darum, weil die Aktzeit<br />

vor der Betrachtzeit des Autors liegt:<br />

(1) „Und wenn alles vorüber ist; wenn sich das<br />

alles totgelaufen hat: der Horderwahnsinn, die Wonne,<br />

die Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und<br />

in Gruppen Fahne zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit<br />

vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften<br />

des Menschen zu guten umliegt." (<strong>19</strong>93:<strong>20</strong>9)<br />

Es gibt aber auch Fälle, in denen der<br />

Sprecher oder der Autor eines Textes nicht<br />

aus einem zukünftigen Zeitpunkt zurückschaut:<br />

(2) Bis morgen hast du das geschrieben!<br />

Darauf geht Weinrich aber nicht ein,<br />

denn diese Fälle kann er seinen bereits erstellten<br />

Kategorien nicht zuordnen.<br />

Eine andere Frage wäre, ob beim Präsens<br />

und Präteritum die zeitliche Perspektive<br />

wirklich „keine Rolle“ spielt. In dieser Situation<br />

wird das Präsens oder das Präteritum<br />

je nach dem Tempus-Register verwendet,<br />

d.h., dass Weinrich für die beiden Tempora<br />

keine temporale Bedeutung zulässt.<br />

Was die Untersuchung der einzelnen<br />

Tempora betrifft, so werden die meisten<br />

theoretischen Grundlagen mit belletristischen<br />

Texten von Musil, Nietzsche, Thomas Mann,<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 223


Enzenberger, Tucholsky, Eichendorff, Max<br />

Frisch, Kroetz, Goethe belegt.<br />

Obwohl sich Weinrich am Anfang vornimmt,<br />

die geschriebene und gesprochene<br />

Sprache gleichrangig zu berücksichtigen,<br />

werden innerhalb dieses Kapitels zehn Texte<br />

aus der geschriebenen Sprache und nur drei<br />

aus der gesprochenen angeführt: ein Telefongespräch,<br />

ein Gespräch zwischen einen<br />

Justizangestellten und einer Frau und ein<br />

„kindlicher Redetext“.<br />

Außerdem hat man immer wieder den<br />

Eindruck, dass die Texte für bestimmte<br />

Theorien, also gezielt ausgewählt wurden,<br />

ohne dass sonstige Fälle, die nicht unbedingt<br />

selten vorkommen, erklärt werden.<br />

3. EINIGE REAKTIONEN AUF<br />

WEINRICHS TEMPUS-MODELL<br />

Als Ausgangspunkt der Diskussionen in<br />

der Tempusforschung gilt immer wieder<br />

Weinrich, der <strong>19</strong>64 in Tempus. Besprochene<br />

und erzählte Welt „die Ansicht vertrat, dass<br />

Tempora Sprechhaltungen ausdrücken, nämlich<br />

die Haltung der Gespanntheit und Entspanntheit“<br />

(Vater <strong>19</strong>94:55).<br />

Anfangs ist er von acht Tempora ausgegangen:<br />

Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt,<br />

Futur I, Futur <strong>II</strong>, Konditional I,<br />

Konditional <strong>II</strong>, um später in seiner Textgrammatik<br />

der deutschen Sprache auf die<br />

letzten zwei zu verzichten, da sie sich nur für<br />

die Textbeispiele aus der französischen Literatur<br />

eignen.<br />

Diese Textgrammatik „versteht die Phänomene<br />

der Sprache von Texten her“, da<br />

diese sinnvolle Verknüpfungen sprachlicher<br />

Zeichen in zeitlich linearer Abfolge sind<br />

(Weinrich <strong>19</strong>93:17).<br />

Weinrichs Einteilung und Distribution<br />

der Tempora in erzählenden und besprechenden<br />

Texten wurden „von der<br />

linguistischen Seite angegriffen, während sie<br />

von Literaturwissenschaftlern begeistert begrüßt<br />

werden" (Vater: <strong>19</strong>94, 55).<br />

Man hatte den Eindruck, dass er seine<br />

Texte, nachdem er die These geschrieben<br />

hatte, ausgesucht hat und Teile, in denen er<br />

die gewünschten Tempora fand, als Beispiele<br />

angeführt hat. Laut Vater (<strong>19</strong>94:56) ist „diese<br />

Sprechhaltungsauffassung der Tempora<br />

schon untergegangen, denn die Linguisten<br />

sind sich darin einig, dass die Tempora Zeitrelationen<br />

ausdrücken“.<br />

224<br />

Crăciunescu Alina<br />

Radtke (<strong>19</strong>98:134) weist darauf hin, dass<br />

man auf das, was Weinrich Tempusperspektive<br />

nennt – „eine Kategorie der Einstellung,<br />

mit der die Geltungsweise einer Prädikation<br />

zeitlich festgelegt wird“ – nicht verzichten<br />

kann, denn der Gebrauch der Tempora<br />

lässt sich nur über die Tempusperspektive<br />

explizieren.<br />

Als unbedeutend für die Beschreibung<br />

der Tempora im Deutschen betrachtet sie das<br />

Tempusregister, „denn es ist eine Konsequenz<br />

der Bedeutung der Tempora und nicht<br />

etwa ihre Bedeutung selbst.“ (Radtke<br />

<strong>19</strong>98:134)<br />

Als Kritikpunkt wird die Tatsache angeführt,<br />

dass nicht alle Tempora über<br />

semantische Merkmalkombinationen definiert<br />

werden: „Eine Beschreibung des Futur<br />

<strong>II</strong> anhand von semantischen Merkmalen<br />

fehlt“ (132).<br />

Laut Radtke wird das Futur <strong>II</strong> keinem<br />

Tempus-Register zugeordnet; man erfährt<br />

nur, „dass es zum Ausdruck von Vermutungen,<br />

die sich rückschauend auf Vergangenes<br />

beziehen,“ steht. (Weinrich <strong>19</strong>93:235) Welches<br />

das semantische Merkmal dieses Tempus<br />

ist, wird nicht angegeben. ( Radtke<br />

<strong>19</strong>98:132)<br />

Man kann da Radtke nicht zustimmen,<br />

denn das Futur I und <strong>II</strong> werden zusammen<br />

behandelt. Weinrich präzisiert noch, dass das<br />

Futur <strong>II</strong> „recht selten gebraucht wird“ und<br />

„im pedantischen Sprachgebrauch“ anzutreffen<br />

ist. (Weinrich <strong>19</strong>93: 236)<br />

Diese Darstellung bleibt ziemlich unklar<br />

und wie man bereits bemerken konnte, gibt<br />

es auch viele andere Unstimmigkeiten in<br />

Weinrichs Tempustheorie.<br />

4. VORTEILE DES WEINRICHSCHEN<br />

TEMPUSMODELLS FUR DIE PRAXIS<br />

4.1 Allgemeines<br />

Im DAM-Unterricht des rumänischen<br />

Lehrwesens neigt man eher dazu, eine klare<br />

Einteilung und Distribution der Tempora in<br />

verschiedenen Textsorten zu bevorzugen.<br />

Vom didaktischen Standpunkt her ist diese<br />

Einteilung im Deutschunterricht erfolgreich,<br />

sowohl was die Entwicklung von Kri-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />

terien betrifft, als auch das globale Verstehen<br />

und das Schreiben eines Textes.<br />

Das soll aber nicht bedeuten, dass die<br />

semantische Komponente und der Kontext<br />

nicht in Betracht gezogen werden, im Gegenteil,<br />

sie spielen eine wichtige Rolle, manchmal<br />

sogar die entscheidende Anhand des<br />

Weinrichschen Modells kann man im Unterricht<br />

sehr gut arbeiten, da es eine klare Differenzierung<br />

zwischen der „erzählten“ und<br />

der „besprochenen“ Welt ermöglicht. Außerdem<br />

wird sowohl die Bildung als auch der<br />

Gebrauch der Tempora innerhalb von Texten<br />

anschaulich dargestellt und geübt.<br />

Von großer Bedeutung ist im Unterricht,<br />

eine Zuordnung verschiedenartiger Textsorten<br />

zu übergreifenden Textfeldern bzw. Intentionen<br />

mit den Schülern zu erarbeiten.<br />

Dabei wird die „intentional-kommunikative<br />

Dominanz der Texte“ in Betracht gezogen,<br />

sowie auch die Möglichkeiten, die jeder<br />

Textsorte eigen sind, um das gesetzte Ziel zu<br />

erreichen. (Gerth <strong>19</strong>83:26) Die im Unterricht<br />

behandelten Textsorten lassen sich folgendermaßen<br />

den Weinrichschen Welten zuordnen:<br />

Erzählte Welt: -subjektiv: Erzählung, Nacherzählung<br />

-objektiv: Bericht<br />

Besprochene Welt: -subjektiv: Schilderung<br />

-objektiv: Inhaltsangabe, Charakteristik, Erörterung, Beschreibung<br />

Als Vorgangsweise für den muttersprachlichen<br />

Deutschunterricht empfehle ich einen<br />

Weg von der Feststellung des kommunikativen<br />

Zwecks der zu schreibenden Textsorte,<br />

über die Besprechung ihres Kompositionsmusters<br />

und die Herausarbeitung<br />

der Strategien bishin zum Verfassen der<br />

Texte. (Vgl. dazu Drewnowska, <strong>19</strong>96:73.)<br />

Die Kennzeichen der Textsorten, was die<br />

Form, den Inhalt und die angewendeten<br />

Tempora anbelangt, werden auch kontrastiv<br />

dargestellt, weil die Praxis gezeigt hat, dass<br />

die Schüler an extremen Kontrasten leichter<br />

als an Nuancen lernen.<br />

Wichtig ist auch der Aufbau der Schreibkompetenz,<br />

so dass man darauf achten muss,<br />

dass die Schüler die Fähigkeiten besitzen,<br />

bestimmte Textsorten nach den angeführten<br />

Kriterien selbst zu schreiben.<br />

Textsorte<br />

ErzählungNacherzählungInhaltsangabeBeschreibung<br />

Ich habe Untersuchungen an den in der<br />

Tabelle angegebenen Textsorten vorgenommen,<br />

weil sie eine systematische Entwicklung<br />

der Scheibkompetenz von einfacheren<br />

Formen zu komplizierten anbieten<br />

und relevant für das Weinrichsche Modell<br />

sind.<br />

Alle von der fünften bis zur achten Klasse<br />

studierten Textsorten, an denen man auch<br />

die Schreibkompetenz der Schüler aufbauen<br />

kann, werden hier angegeben und kurz dargestellt.<br />

Es werden also nicht nur jene Textsorten,<br />

die zur Weinrichschen Theorie<br />

passen, ausgewählt, sondern auch auf Ausnahmen<br />

hingewiesen, denn diese Vorgehensweise<br />

entspricht auch der Praxis.<br />

Um eine Systematisierung der herangezogenen<br />

Textsorten mit den entsprechenden<br />

Tempora darbieten zu können, sind das<br />

folgende Schema und die dazugehörigen Erklärungen<br />

zu diesem Fragenkomplex nötig:<br />

Charakteristik<br />

Bericht Schilderung<br />

Tem- Präsens + - + + + + + +<br />

pus Präteritum + + - - - + + -<br />

4.2 Diskussion einzelner Textbeispiele<br />

Eine Textsorte, mit der sich die Schüler<br />

mit Vorliebe und sehr intensiv befassen, ist<br />

Erörterung<br />

die Erzählung. Sie gehen auf ihren Aufbau<br />

und auf die darin enthaltene anschauliche<br />

Darstellung ein, wobei der Lehrer als Erzählzeit<br />

das Präteritum angibt und die Schüler<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 225


noch darăber aufklärt, dass sie auch das Präsens<br />

verwenden können, wenn sie besonders<br />

226<br />

Crăciunescu Alina<br />

spannend erzählen wollen, wie im folgenden<br />

Beispiel:<br />

Präsens Präteritum<br />

Der Urwald<br />

Ein witziger Weihnachtsmann<br />

„Ich bin Bimba-Lumbu und ich lebe im Urwald.<br />

Ich fahre in meinem Boot entlang des<br />

Flusses. Ich liebe den Urwald und den Fluss.<br />

Neben mir sitzt ein Krokodil und mein lieber<br />

Löwe […].” 1<br />

Auf Grund einer Erzählung wie z. B.<br />

„Die Mutprobe“, von A. Lindgren die in der<br />

5-ten Klasse behandelt wird, können die<br />

Schüler lernen, wie man eine Nacherzählung<br />

oder eine Inhaltsangabe schreibt.<br />

1 Diese Textbeispiele und die folgenden stammen aus Schüleraufsätzen.<br />

„An einem Winterabend warteten meine<br />

Familie und ich auf den Weihnachtsmann.<br />

Es wurde spät und er kam<br />

nicht mehr.<br />

Endlich brachte er etwas für jeden aus<br />

meiner.“ […]<br />

Die neuen Informationen werden den<br />

Lernenden schrittweise beigebracht, d.h., sie<br />

üben zuerst die Nacherzählung und dann<br />

werden ihnen die Inhaltsangabe und die<br />

Nacherzählung parallel dargestellt (vgl. dazu<br />

Ionaş, <strong>19</strong>99:42).<br />

__________<br />

Nacherzählung Inhaltsangabe<br />

Beginn wie in der Vorlage<br />

Einleitungssatz: Titel, Verfasser, Thema,<br />

bzw. Problem der Gesch. Ort, Zeit.<br />

Erzählzeit: Präteritum<br />

Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit: Plusquamperfekt<br />

Spannend und lebendig erzählen<br />

Sich in die Rolle des Erzählers versetzen[…]<br />

„In einem Dorf lebten zwei Jungen, die<br />

Albin und Stig hießen. Sie waren neun Jahre<br />

alt und der Wettstreit zwischen ihnen dauerte<br />

seitdem sie geboren wurden […].“<br />

Im Falle der Beschreibung, die in allen<br />

Bereichen notwendig ist, verwendet man das<br />

Präsens. Diese Texte sind sachlich und enthalten<br />

keine persöhnlichen Anteilnahmen<br />

Berichtzeit: Präsens<br />

Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit: Perfekt<br />

Sachlich informieren<br />

Distanziert berichten Objektiv wiedergeben,<br />

was passiert[…]<br />

(Ionaş/Fischer <strong>19</strong>99:43)<br />

„Astrid Lindgren erzählt, wie zwei<br />

Jungen, Albin und Stig unter den Konsequenzen<br />

ihres Wettstreites leiden<br />

[…].“<br />

oder Wertungen. Man unterscheidet folgende<br />

Arten von Beschreibungen:<br />

Gegenstandsbeschreibungen, Personen,<br />

Tier- und Vorgangsbeschreibungen.<br />

Wegbeschreibung Tierbeschreibung<br />

Ohne Schwierigkeiten gelangt Diana bis<br />

zur Station Mărăşti: Sie fragt eine ältere Dame<br />

Der Löwe ist ein großes und gefährliches<br />

Tier. Er hat einen großen<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />

nach dem Weg zum Museum. Die Frau ist sehr<br />

hilfsbereit: „Das Museum ist in der Nähe der<br />

Oper. Du musst bestimmt 10 Minuten gehen<br />

[…].“<br />

Den Schülern werden schrittweise diese<br />

Informationen dargeboten und nachher üben<br />

sie die Beschreibungen mündlich und schriftlich.<br />

Sie lernen zugleich eine Beschreibung<br />

zu verfassen, als auch das Präsens richtig zu<br />

verwenden.<br />

Die Personenbeschreibung, die nur die<br />

äußeren Merkmale eines Menschen enthält,<br />

wird mit der Charakteristik fortgesetzt, in der<br />

typische Charaktereigenschaften und individuelle<br />

Wesenszüge der Persönlichkeit noch<br />

eingeführt werden.<br />

Die Charakteristik wird im Präsens geschrieben<br />

und so aufgebaut, dass die Beschreibung<br />

von äußeren Merkmalen zum<br />

Wesenskern vordringt. Man geht wieder systematisch<br />

vor und setzt zwei ähnliche Textsorten<br />

in Beziehung, wobei man darauf<br />

achtet, mit der einfachen Form, der Personenbeschreibung,<br />

zu beginnen und mit der<br />

Charakteristik fortzusetzen. Der Schüler wird<br />

darauf vorbereitet, Einzelzüge einer Persönlichkeit<br />

wie „Mosaiksteine“ zum Charakter<br />

zusammenzusetzen, typische und individuelle,<br />

sympathische und abstoßende Eigenschaften<br />

zu erfassen und zu beschreiben<br />

(Koch/Koch <strong>19</strong>91:164).<br />

Eine andere Textsorte mit lebenspraktischem<br />

Zweck ist der Bericht. Er wird abgefasst<br />

über Arbeitsleistungen, Veranstaltungen<br />

und Versammlungen verschiedener Art.<br />

„Es gibt Rechenschaftsberichte, Unfallberichte<br />

auch Wetterberichte, Sportberichte und Berichte über<br />

die verschiedensten Ereignisse liest man in der Zeitung<br />

oder man hört sie im Rundfunk (Schneider/Boch<br />

<strong>19</strong>89:275).“<br />

„Es ist Winter. Im Wald fühlt man die<br />

Leere und die Einsamkeit des Alltags<br />

akuter als auf den Straßen meiner Stadt<br />

[…].“<br />

Mit Hilfe der vom Lehrer vorgegebenen<br />

Merkmale haben die Schüler ihre Empfindungen<br />

lebendig und anschaulich dargestellt<br />

so dass der Leser eine besondere Stimmung<br />

miterleben konnte.<br />

Kopf, kleine Ohren, braune Augen und<br />

ein großes Maul. Sein Rumpf ist dick<br />

und endet mit einem Schwanz […].<br />

Man berichtet meistens im Präteritum,<br />

soweit ein Geschehen erzählt wird, aber auch<br />

im Präsens.<br />

„Heute, am 11 November <strong>19</strong>99, wurde der 12jährige<br />

Schüler Dan Crişan, während der großen Pause,<br />

etwa um 14.40 von einem Mitschüler, dem 13jährigen<br />

FoltuŃiu Alex verletzt […].“<br />

Der Schüler achtet nicht nur auf die Verwendung<br />

des Tempus, sondern auch darauf,<br />

knappe, genaue und vollständige Informationen<br />

wiederzugeben.<br />

Eine Textsorte, die den Schülern Probleme<br />

bereitet, ist die Schilderung. „Sie verhält<br />

sich zur Beschreibung wie die Erzählung<br />

zum Bericht (Schneider/Boch <strong>19</strong>89:288).“<br />

Sie ist subjektiv, gefühlsbetont, stimmungsvoll<br />

und scheint für den Schüler besonders<br />

schwierig zu sein, weil sie Elemente<br />

der Erzählung mit solchen der Beschreibung<br />

vereint.<br />

Man schildert sowohl im Präteritum als<br />

auch im Präsens. Eine gute Übung (vgl.<br />

Schneider/Boch <strong>19</strong>89:289.) im muttersprachlichen<br />

Unterricht ist, die Schüler zum<br />

Thema: „Im Winterwald“ – zu folgendem<br />

aufzufordern: Schreibe alle Beobachtungen<br />

und Einfälle auf, die dir für dieses Thema<br />

passend schienen! Entscheide dich vorher,<br />

auf welche Grundstimmung du abzielen<br />

willst, und wähle eine der folgenden Möglichkeiten:<br />

Leere- und Einsamkeit; klirrender<br />

Frost; Leben der Tiere; Stille der Schneelandschaft.<br />

Die folgenden Beispiele zeigen, dass sowohl<br />

die Verwendung des Präteritums als<br />

auch des Präsens möglich ist:<br />

“Es war ein wunderschöner Wintertag.<br />

Im Waldherrschte Stille über die<br />

Schneelandschaft […].”<br />

Eine Textsorte, die man erst in der achten<br />

Klasse zu behandeln beginnt, ist die Erörterung.<br />

Da werden Fragen oder Probleme<br />

des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens<br />

unter „Abwägung der Vor- und Nachteile<br />

eines bestimmten Sachverhalts sowie<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 227


dessen wirtschaftliche, politische und kulturelle<br />

Auswirkungen“ im Präsens behandelt<br />

(Koch/Koch <strong>19</strong>91:167).<br />

Die Schüler müssen schrittweise vorgehen:<br />

Sie sammeln den Stoff und gliedern<br />

ihn in Einleitung, Hauptteil und Schluss. Der<br />

Lehrer weist immer darauf hin, dass nur im<br />

Hauptteil erörtet wird, nicht in der Einleitung<br />

228<br />

Crăciunescu Alina<br />

und im Schluss. Die Schüler müssen darauf<br />

aufmerksam gemacht werden, dass sich die<br />

Art der Gliederung des Hauptteils in erster<br />

Linie nach dem Thema des Aufsatzes richtet.<br />

Dabei wird zwischen dialektischer und linearer<br />

Form der Gliederung unterschieden.<br />

(Koch/Koch, <strong>19</strong>91:169).<br />

Erörterung<br />

dialektische Form<br />

These=Vorteile=Argument<br />

liniare Form<br />

Hauptpunkt<br />

=Pro =Für<br />

Hauptpunkt<br />

Antithese=Nachteile=Gegenargument<br />

Hauptpunkt<br />

=kontra =wider<br />

Synthese=Abwägung=Entscheidung<br />

=Kompromiss=Lösung<br />

Eigene Meinung<br />

Die Einleitung und der Schluss der Erörterung<br />

stellen eine Hinführung zum Thema,<br />

bzw. eine Abrundung des Themas oder<br />

sogar Auswirkungen der analysierten Situationen<br />

auf die Zukunft dar. Nachdem die Arten<br />

der Erörterung auch kontrastiv besprochen<br />

und mit Beispielen illustriert werden,<br />

fällt den Schülern das Schreiben viel leichter.<br />

furt am Main etc.: Europäischer Verlag der<br />

Wissenschaften.<br />

2. Engel, Ulrich (<strong>19</strong>88): Deutsche Grammatik.<br />

Heidelberg: Groos.<br />

3. Hennig, Mathilde (<strong>19</strong>97): Die Darstellung<br />

des Tempussystems in deutschen Grammatiken.<br />

In: DaF, 4, 2<strong>20</strong>-227.<br />

4. (<strong>19</strong>98): Tempus – gesprochene und geschriebene<br />

Welt? In: DaF, 4, 227-232.<br />

4.3 Schlussfolgerungen<br />

Anhand dieser Darstellung kann man erkennen,<br />

dass sich nicht alle Texte in besprechende<br />

und erzählende ausgehend von den<br />

gebrauchten Tempora einteilen lassen. Das Ziel<br />

des Lehrers im Deutschunterricht ist aber nicht,<br />

alle Textsorten in eine oder zwei Kategorien auf<br />

Grund eines Kriteriums einzugliedern, denn es<br />

gibt mehrere textsortenspezifische Merkmale, die<br />

berücksichtigt werden sollen.<br />

Man versucht, soweit es möglich ist, eine<br />

Systematisierung in diesen Bereich zu schaffen<br />

und den Schülern einige Regeln anzubieten,<br />

da man als Lehrer darauf achten<br />

muss, pädagogisch vorzugehen und die<br />

Grundprinzipien des Unterrichts zu beachten.<br />

Die Ausnahmen werden auch gründlich<br />

behandelt und als solche dargestellt, was<br />

noch mehr dazu beiträgt, dass sie von den<br />

Schülern verstanden werden.<br />

Aus diesen Gründen ist Weinrichs Modell<br />

mit den dazugehörigen Ausnahmen und<br />

Erklärungen im Unterricht Deutsch als Muttersprache<br />

sehr hilfreich.<br />

Literatur:<br />

5. (<strong>19</strong>99): Werden die doppelten Perfektbildungen<br />

als Tempusformen des Deutschen<br />

akzeptiert? In: Festschrift für Gerhard Helbig<br />

zum 70. Geburtstag, 95-107.<br />

6. (<strong>20</strong>00): Tempus und Temporalität in gesprochenen<br />

und geschriebenen Texten.<br />

Tübingen: Niemeyer.<br />

7. Gerth, Klaus (<strong>19</strong>83): Elemente des Erzahlens.<br />

Lesen und Verstehen epischer Texte. Hannover:<br />

Schneider.<br />

8. Ionaş, Angelika / Fischer, Jürgen (<strong>19</strong>99): Handbüchlein<br />

für Deutsch. Timişoara: Mirton.<br />

9. Koch, Roland / Koch, Ute (<strong>19</strong>91): Deutsch für<br />

berufsbildende Schulen. Mannheim: Max Rein.<br />

10. Radke, Petra (<strong>19</strong>98): Die Kategorien des<br />

deutschen Verbs: Zur Semantikgrammatischer<br />

Kategorien. Tubingen: Narr.<br />

11. Schneider, Hans / Boch, Hannelore (<strong>19</strong>89):<br />

Lesebuch und Sprachlehre für die V<strong>II</strong>I Klasse.<br />

Bucureşti: Editura Didactică şi Pedagogică.<br />

12. Pătrăşcanu, Eva (<strong>19</strong>98): Lesebuch und<br />

Sprachlehre für die V Klasse. Bucureşti:<br />

Editura Didactică şi Pedagogică.<br />

13. Vater, Heinz (<br />

1. Drewsnowska-Vargáné, Eva (<strong>19</strong>97): Ein neues<br />

textlinguistisches Instrumentarium. Frank-<br />

3 <strong>19</strong>94): Einführung in die Zeit-<br />

Linguistik. Hürth-Efferen: Gabel (Kölner linguistische<br />

Arbeiten in Germanistik; 25).<br />

14. Weinrich, Harald (<strong>19</strong>64 / 2 <strong>19</strong>71): Tempus. Besprochene<br />

und erzählte Welt. Stuttgart: Kohlhammer.<br />

(<strong>19</strong>93): Textgrammatik der deutschen<br />

Sprache. Mannheim etc.: Dudenverlag.<br />

15. Wolf, Johann (<strong>19</strong>69): Methodik des deutschen<br />

Sprachunterrichts. Bucureşti: EDP.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


DIE LITERARISCHE ÜBERSETZUNG – PARAPHRASE ODER<br />

ANEIGNUNG. UNTER BERÜCKSICHTIGUNG VON<br />

SCHLEIERMACHER UND NOVALIS<br />

Es wird öfters behauptet, daß Denken<br />

und Sprechen sich gegenseitig bedingen.<br />

Weiterhin nimmt man an, verschiedene<br />

Sprachen würden ebenso unterschiedliche<br />

Denkweisen implizieren. Alles Übersetzen<br />

müßte folglich als ein „törichtes<br />

Unternehmen“ erscheinen, um<br />

Schleiermacher zu zitieren oder laut Ortega<br />

y Gasset „ein hoffnungslos utopisches<br />

Bemühen“. Zeugnis dafür, daß Übersetzen<br />

keineswegs eine solch unerfüllbare und<br />

aussichtslose Aufgabe ist, steht in erster<br />

Linie die Geschichte: seit die Menschheit in<br />

verschiedenen Zungen redet, also seit dem<br />

Turmbau zu Babel, gehört das Übersetzen zu<br />

den unentbehrlichen, in den verschiedensten<br />

Gebieten verwendeten Tätigkeiten des<br />

Menschen, vor allem aber, meint Störig „bei<br />

der Übermittlung von Philosophie,<br />

Wissenschaft und Dichtung“.<br />

Die Übertragung von Dichtung, wobei<br />

wir durch Dichtung Literatur im allgemeinen<br />

verstehen, wird zum Teil auch Thema des<br />

heutigen Vortrags sein. In<br />

übersetzungswissenschaftlichen Kreisen eher<br />

unter der Bezeichnung literarische<br />

Übersetzung bekannt, ist das dichterische<br />

Übertragen ein sehr umstrittenes Subjekt.<br />

Auf der einen Seite hängt das mit dem<br />

jahrelangen Bemühen der Vertreter der<br />

Übersetzungswissenschaft zusammen, ihr<br />

Fach als eigenständigen Forschungsbereich<br />

gegen Lingui-stik, Semiotik und<br />

Literaturwissenschaft abzugrenzen 1 ; auf der<br />

anderen Seite ist die Debatte um die<br />

literarische Übersetzung eng mit ihrem<br />

dualen Charakter -– sowohl sprachlich als<br />

auch ästhetisch – verbunden. Die literarische<br />

1 Vgl. W. Wilss, “Übersetzungswissenschaft. Probleme<br />

und Methoden”, Stuttgart, Klett, <strong>19</strong>77, Kap.<br />

IV; R. Stolze, “Zur Bedeutung von Hermeneutik und<br />

Textlinguisitk beim Übersetzen”, in M. Snell-Hornby<br />

(Hg.), “Übersetzungswissenschaft - eine Neuorientierung.<br />

Zur Integrierung von Theorie und Praxis”,<br />

Tübingen, Francke, <strong>19</strong>86, S. 133-135.<br />

Monica Niculcea<br />

Übersetzung kann folglich als ein<br />

sprachlicher Vorgang aufgefaßt werden, in<br />

dem der fremde Text, der Text der<br />

Ausgangssprache (langue de départ, source<br />

language), im Rahmen einer besonderen<br />

kulturellen und sozio-linguisti-schen<br />

Situation durch den Übersetzer in der<br />

Zielsprache (langue d´arrivée, Target oder<br />

goal language) rekonstruiert wird. 2 Dieser<br />

linguistischen Annäherungsweise wird eine<br />

ästhetisch-künstlerische gegenübergestellt,<br />

indem die literarische Übersetzung nicht nur<br />

in ihrer Beziehung zum Sprachlichen, sondern<br />

auch in der zum Ästhetischen, zu<br />

bestimmten ästhetischen Normen betrachtet<br />

wird. Diese Normen wandeln sich von<br />

Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu<br />

Gesellschaft und von Gruppe zu Gruppe, so<br />

daß die Übersetzungstätigkeit, die von<br />

Rezeption und Interpretation nicht zu<br />

trennen ist, - laut Peter V. Zima - „immer<br />

neue ästhetische Objekte oder<br />

Objektkonstruktionen hervorbringt.“ 3<br />

Seit langem sind sich die Theoretiker 4<br />

der literarisch Übersetzung einig, daß<br />

Übersetzer in erster Linie Rezipienten –<br />

Leserinnen oder Leser – sind, deren<br />

gesellschaftliche, psychische und literarische<br />

Erfah-rungen in den Übersetzungsprozeß<br />

eingehen. Der Übersetzer wendet also die<br />

sprachlichen und ästhetischen Normen seiner<br />

Gesellschaftsgruppe auf den fremden Text<br />

an und verwandelt ihn dadurch in einen<br />

neuen Text oder „ein ästhetisches Objekt“<br />

im Sinne von Mukařovský und Vodička.<br />

Somit erscheint er als ein Geistesverwandter<br />

des Literaturkritikers. Anders als der Kritiker<br />

aber gestaltet der Übersetzer den fremden<br />

2<br />

Definition von Zima, S. <strong>20</strong>0.<br />

3<br />

Zima, S. <strong>19</strong>9.<br />

4<br />

vgl. Jirí Levý, “Die literarische Übersetzung. Theorie<br />

einer Kunstgattung”, Frankfurt-Bonn, Athenäum, <strong>19</strong>69,<br />

S. 37.


Text um und wird dadurch zum Ko-Autor,<br />

zum Produzenten.<br />

Es wird sich zeigen, daß sich er<br />

Übersetzer als Leser und Autor bei dieser<br />

ästhetischen Objektkonstruktion entweder an<br />

der Produktions- oder Rezeptionssituation<br />

des fremden Textes orientieren kann oder<br />

versuchen kann, das Fremde den Anforderungen<br />

und Bedürfnissen der Zielsprache<br />

und der Rezippientengruppe anzupassen, für<br />

die er schreibt.<br />

Der Übersetzungsvorgang ist, wie jede<br />

andere künstlerische Beschäftigungen, fest in<br />

einer übersetzerischen Tradition eingebettet<br />

– eine Aussage, die von Friedmar Apel<br />

unterstützt wird: „Übersetzer erarbeiten<br />

häufig ihre Lösungen in Anlehnung oder<br />

Abgrenzung zu früheren Übersetzungen.“ 5 ,<br />

um nur einen der vielen Anhänger dieser<br />

Idee zu zitieren.<br />

Ein unentbehrlicher Teil dieser Tradition<br />

im Bereich der Übersetzungswissenschaft<br />

stellt das 18. Jahrhundert dar, das – neben<br />

dem 12. Jahrhundert z.B., „ein klassisches<br />

Zeitalter der Übersetzungsgeschichte“, das<br />

nach Störig „das Abendland im arabischen<br />

Osten brachte“ 6 - als einer der Wendepunkte<br />

in der übersetzungswissenschaftliche<br />

Geschichte gelten kann.<br />

Huyssen meint, die Frühromantik wäre<br />

die Epoche einer „Kulturrevolution“ in<br />

Deutschland, deren Zentralanliegen die<br />

Konzeption von Übersetzung und<br />

Aneignung bilde. Während des 18.<br />

Jahrhunderts zeichnen sich parallel zur<br />

Ausbildung der neuen frühromantischen<br />

Übersetzungskonzeption die ersten Ansätze<br />

zu einer geschichtlichen Betrachtung der<br />

Übersetzungstheorie aus.<br />

Aus dem Mittelalter ist an Theorie der<br />

Übersetzung wenig, aus der Renaissance<br />

bereits mehr überliefert. Bis ins 18.<br />

Jahrhundert dominierte in Theorie und<br />

Praxis die sehr freie Übersetzung<br />

(Bearbeitung), die primär auf Eingängigkeit,<br />

Lesbarkeit, Annäherung an den<br />

Zeitgeschmack (nicht zuletzt in Bezug auf<br />

Dezenz) aus war. Sie transponierte – mit<br />

5<br />

Apel, S. 29.<br />

6<br />

Störig, S. 213.<br />

2<br />

Monica Niculcea<br />

Ausnahme der theologisch relevanten Texte<br />

– ihre Vorlagen unbefangen in die Umwelt<br />

des Übersetzers: sie christianisierte<br />

beispielsweise „heidnische“ Vorstellungen,<br />

indem sie „Gott“ statt „Zeus“ oder „Hölle“<br />

statt „Hades“ setzte usw. Beliebt war<br />

ebenfalls die kommentie-rende Übersetzung,<br />

d.h. schwerverständli-ches wurde mitten im<br />

Text durch Eingän-giges erläutert oder<br />

überhaupt ersetzt. Im Zweifelsfall zog man<br />

die Treue gegenüber der ZS der Treue zum<br />

Original vor: so sind die berühmten belles<br />

infidèles 7 (die schönen Untreuen)<br />

entstanden, eine Charakterisie-rung, die B.<br />

Croce später durch die Pointe brutte fedeli o<br />

belle infedeli (häßliche treue oder schöne<br />

untreue) erweitert hat.<br />

Aus der Auseinandersetzung mit der<br />

theoretischen und pragmatischen<br />

übersetzerischen Beschäftigung der<br />

Vorroman-tiker haben die romantischen<br />

Übersetzer die Erkenntnis gewonnen, so<br />

Huyssen, „eine hohe Stufe der Meisterschaft<br />

im Übersetzen erreicht zu haben“. Auch<br />

wenn die Meisterleistungen ihrer<br />

Übersetzungspraxis die Frühromantiker dazu<br />

verleiten, eine deutliche Kluft in der<br />

Geschichte der Übertragungsfertigkeit zu<br />

sehen, nehmen sie eine versöhnliche,<br />

historisch gerecht wertende Haltung.<br />

Ähnlich wie Goethe, betrachtet<br />

Schleiermacher Paraphrase und Nachbildung<br />

als notwendige Vorstufen, die seine sogenannte<br />

„eigentliche Übersetzung“ erst<br />

ermöglichen.<br />

Sowohl Paraphrase als auch Nachbildung<br />

galten als alternative Möglichkeiten, fremde<br />

Werke in der eigenen Sprache bekannt zu<br />

machen, entsprungen aus dem Bemühen, den<br />

Leser in ein so unmittelbares Verhältnis zum<br />

Autor zu versetzten, wie es der ursprüngliche<br />

Leser genoß. Offensichtliches Ausdruck der<br />

Tatsache, daß in den beiden Fälle die Idee<br />

einer vollkommenen Übersetzung aufgegeben<br />

war, stellen Paraphrase und Nachbildung<br />

ein Versuch dar, die immer existenten<br />

Inkongruenzen zwischen Original und<br />

Version auszulösen.<br />

Gleichermaßen wie ihre Vorgänger sind<br />

die Übersetzer des 18. Jahrhunderts in erster<br />

7 zuerst auf die Übersetzungen von P. d´Ablancourt<br />

angewandt.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />

Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />

Reihe mit dem valenzreichen Verhältnis<br />

zwischen Original und<br />

beschäftigt. Die<br />

Übersetzung<br />

traditionelle<br />

Übersetzungsthe-orie erkennt die totale<br />

Übersetzung, das was Ralph-Rainer<br />

Wuthenow „literarische Übersetzung als<br />

Verdoppelung“ nannte, nur als ein Ideal-Fall.<br />

In diesem Sinne bringt Kop-penfels den<br />

folgenden definitorischen Beitrag für die<br />

literarische Übersetzung:<br />

„Die literarische Übersetzung will über diachrone<br />

(geschichtliche) und synchrone (kulturgeographische)<br />

Distanz hinweg nationalsprachliche Grenzen<br />

überschreiten und dabei in hybridem Anspruch nicht<br />

nur das im Prätext Gesagte, sondern auch seine<br />

einmalige Art des Sagens nachbildend bewahren und<br />

erneuern. Sie zielt demnach idealiter auf totale<br />

Reproduktion der Vorlage in einem neuen<br />

sprachlichen Medium und gesellschaftlichen Kontext;<br />

nicht nur der paraphrasierbare Textsinn, sondern auch<br />

die ästhetische Ausdrucksleistung und Interrelation<br />

von Rhythmik, Klang, Wortwahl, Grammatik und<br />

Satzbau des Originals gilt es zu übertragen.“ 8<br />

Als Endpunkt einer rein mechanischen<br />

Treue, versucht die Paraphrase die fehlenden<br />

Entsprechungen zweier Sprachen,<br />

insbesondere auf semantischen Gebiet zu<br />

überbrücken, indem sie mit Hilfe von<br />

Beschränkungen oder Erweiterungen ein<br />

möglichst genaues Bild des Wortsinns<br />

entwirft.<br />

Schleiermacher meinte:<br />

„Die Paraphrase will die Irrationalität der Sprachen<br />

bezwingen, aber nur auf mechanische Weise. Sie<br />

meint finde ich auch nicht ein Wort in meiner<br />

Sprache, welches jenem in der Ursprache entspricht,<br />

so will ich doch dessen Werth durch Hinzufügung<br />

beschränkender und erweiternder Bestimmungen<br />

möglichst zu erreichen suchen. So arbeitet sie sich<br />

zwischen lästigem zu viel und quälendem zu wenig<br />

schwerfällig durch eine Anhäufung loser Einzelheiten<br />

hindurch. Sie kann auf diese Weise den Inhalt<br />

vielleicht mit einer beschränkten Genauigkeit<br />

wiedergeben, aber auf den Eindrukk leistet sie<br />

gänzlich Verzicht; denn die lebendige Rede ist<br />

unwiederbringlich getötet, indem jeder fühlt daß sie<br />

so nicht könne ursprünglich aus dem Gemüth eines<br />

Menschen gekommen sein.“ 9<br />

diesem Punkt ist Schleiermacher derselben<br />

Meinung wie Rolf Kloepfer in seiner<br />

„Theorie der literarischen Übersetzung“.<br />

Jener unterstützt die Idee, daß eine<br />

linguistische Auffassung des Übersetzens<br />

dem “literarischen Sprachgebrauch nicht<br />

gerecht werden kann” und daß “heterogene<br />

Bereiche wie die Sprache der Wissenschaft<br />

und die Sprache der Dichtung nicht<br />

gleichgesetzt werden dürfen.”<br />

Weiterhin behauptet der Autor in seiner<br />

Abhandlung „Ueber die verschiedenen<br />

Methoden des Übersetzens“, daß der<br />

Paraphrast die Sprachelementen „als ob sie<br />

mathematische Zeichen wären“ behandelt. In<br />

10<br />

Die Hindernisse, die es einem Linguisten<br />

verwehren, sich mit literarischer<br />

Übersetzung zu beschäftigen führt Wolfram<br />

Wills an:<br />

“Die Schwierigkeit, die Probleme der literarischen<br />

Übersetzung auf präzise Begriffe zu bringen, hängt<br />

damit zusammen, daß die Zahl der bei jedem<br />

einzelnen Übersetzungsvorgangs zu<br />

berücksichtigenden Variabeln so groß ist, daß sie<br />

nicht ohne weiteres auf allgemeine<br />

Gesetzmäßigkeiten oder gar auf ein überschaubares,<br />

der literarischen Übersetzung in ihrer konkreten<br />

Mannigfaltigkeit voll gerecht werdendes theoretisches<br />

Modell reduzieren lassen.” 11<br />

Literarisches Übersetzen impliziert den<br />

Umgang mit literarischen Texten, d.h.<br />

solchen Texten, die einen anerkannt<br />

künstlerischen Gestaltungswillen offenbaren<br />

und deren Funktion sich im Bereich des<br />

Ästhetischen erfüllt. Die Frage, ob eine<br />

bestimmte Übersetzung eine literarische<br />

Übersetzung darstellt, läßt sich auch<br />

dahingehend beant-worten, ob das Ergebnis<br />

der übersetzerischen Bemühungen<br />

gleichfalls ein literarisches Produkt bildet,<br />

d.h. einen künstlerischen Ge-staltungswillen<br />

aufweist.<br />

Eine letzte Eigenschaft der Paraphrase,<br />

die Schleiermacher in seiner Abhandlung<br />

erörtert ist deren Kommentarcharakter, ein<br />

Umstand, der sie weit vom Bereich der<br />

eigentlichen Übersetzung abrückt:<br />

“Wenn noch außerdem die Paraphrase<br />

psychologisch die Spuren der Verbindung der<br />

Gedanken, wo sie undeutlich sind und sich verlieren<br />

wollen, durch Zwischensätze, welche sie als<br />

Merkpfähle einschlägt, zu bezeichnen sucht: so strebt<br />

sie zugleich bei schwierigen Compositionen die Stelle<br />

eines Commentars zu vertreten, und will noch<br />

8<br />

Wills, S. 25.<br />

9<br />

Störig, S. 215.<br />

10<br />

zitiert nach Junkes-Kirchen, S. 21.<br />

11<br />

zitiert nach Junkes-Kirchen, S. 21.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 3


weniger auf den Begriff der Uebersetzung<br />

zurükkgeführt sein.“ 12<br />

Folglich, wenn die Paraphrase – so wie<br />

sie Schleiermacher eingehend behandelt hat -<br />

den “paraphrasierbaren Textsinn” zu erfassen<br />

versucht, stellt sich die Nachbildung<br />

vorerst die Aufgabe, die “ästhetische<br />

Ausdrucksleistung” (um Koppenfels<br />

Terminologie weiter zu benutzen) des<br />

Originals in der Übersetzung wiederzugeben.<br />

Im Gegensatz zu der Paraphrase, die die<br />

Irrationalität der Sprache rein mechanisch<br />

durch ein Plus oder Minus an Erläuterungen<br />

zu bezwingen glaubt, unterwirft sich die<br />

Nachbildung von Anfang an dieser Irrationalität.<br />

„Die Nachbildung – schreibt Schleiermacher – (…)<br />

beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen: sie<br />

gesteht, man könne von einem Kunstwerk der Rede<br />

kein Abbild in einer andern Sprache hervorbringen,<br />

das in seinen einzelnen Theilen den einzelnen Theilen<br />

des Urbildes genau entspräche, sondern es bleibe bei<br />

der Verschiedenheit der Sprachen, mit welcher so<br />

viele andere Verschiedenheiten wesentlich zusammenhängen,<br />

nichts anders übrig als ein Nachbild<br />

auszuarbeiten, ein Ganzes, aus merklich von den<br />

Theilen der Urbildes verschiedenen Theilen<br />

zusammenge-setzt, welches dennoch in seiner<br />

Wirkung jenem Ganzen so nahe komme, als die<br />

Verschiedenheit des Materials nur immer gestatte.“<br />

Die Nachbildung möchte also in erster<br />

Linie den Eindruck des Ganzen wiedergeben<br />

und die vom Verfasser in seinem Leserkreis<br />

intendierte Wirkung auch in den fremden<br />

Leserkreis hervorrufen.<br />

„Der Nachbildner will also die beiden, den<br />

Schriftsteller und den Leser des Nachbildes, gar nicht<br />

zusammenbringen, weil er kein unmittelbares<br />

Verhältnis unter ihnen möglich hält, sondern er will<br />

nur dem letzten einen ähnlichen Eindruck machen,<br />

wie des Urbildes Sprach- und Zeitgenossen von<br />

diesem emp-fingen.“<br />

Das Verfahren, den Autor so<br />

darzustellen, als hätte er ursprünglich<br />

deutsch geschrieben, ist nach Schleiermacher<br />

„nichtig und leer“. A. W. Schlegel und<br />

Novalis nennen diese Methode Travestie.<br />

Nicht wer Fremdes eindeutscht, hat also in<br />

eigentlichem Sinn übersetzt, sondern nur wer<br />

das Deutsche verfremdet, wer den Leser auf<br />

den Verfasser zubewegt, um ihm das<br />

Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu<br />

ersetzen. Dem Leser wird den Eindruck<br />

12 Schleiermacher, zitiert nach Störig, S. 46.<br />

4<br />

Monica Niculcea<br />

vermittelt, daß er es mit dem Angehörigen<br />

eines fremden Sprachraumes zu tun hat.<br />

Autor und Leser treffen an einem mittleren<br />

Punkt zusammen, eben dort, wo der<br />

Übersetzer steht, der die Umwandlung des<br />

Werkes in die Zielsprache vornimmt.<br />

Das Zusammentreffen von Verfasser und<br />

Leser an einem mittleren Punkt vermeidet<br />

die beiden möglichen Extremen: einerseits<br />

wird der Verfasser nicht so weit auf den<br />

Leser hinbewegt, daß sein Werk als<br />

Verfälschung und Travestie erscheint;<br />

andererseits nähert sich auch der Leser nicht<br />

so weit der Sprache des Verfassers, daß er<br />

eine Verwandlung durchmacht bis zur<br />

völligen Beherrschung der fremden Sprache<br />

und dabei wohl gar seine ursprüngliche<br />

Sprachzugehörigkeit aufgibt. Dieser zweite,<br />

mehr theo-retische Fall gehört schon nicht<br />

mehr in das Gebiet der Übersetzung, denn<br />

für einen solchen Leser wäre eine<br />

Übersetzung nicht mehr nötig.<br />

Auch wenn er sich ausführlich damit<br />

beschäftigt, betrachtet Schleiermacher beide<br />

Übertragungsarten, Paraphrase und<br />

Nachbildung, nur als Grenzfälle seines<br />

Untersuchungsgebietes, nämlich das Gebiet<br />

der eigentlichen Übersetzung.<br />

Die von Schleiermacher dargestellten<br />

Stufen des Übersetzens zeichnen sich durch<br />

einen gemeinsamen Nenner aus: sowohl<br />

Nachbildung und Paraphrase als auch die<br />

hier weniger unter die Lupe genommene<br />

eigentliche Übersetzung beruhen auf die<br />

Annahme, daß sich der Übersetzer der<br />

Fremdheit des Originals bewußt ist und daß<br />

er dieses Fremde auf unterschiedlichen<br />

Weise in die eigenen Sprache zu übertragen<br />

strebt.<br />

Noch stärker als bei August Wilhelm<br />

Schlegel, für den poetische Übersetzung und<br />

Neuschöpfung ein und dasselbe sind und den<br />

dem Übersetzer und dessen Tätigkeit eine<br />

gewisse Selbstbewußtheit verleiht, tritt bei<br />

Novalis die Bedeutung der Subordination der<br />

Übersetzung unter das Original in den<br />

Hintergrund.<br />

In dem Blütenstaub-Fragment <strong>Nr</strong>. 68, das<br />

1798 im Fr. Schlegels „Athenäum“ erschien<br />

äußerte sich Friedrich von Hardenberg zum<br />

Thema Übersetzen, indem er zwischen<br />

grammatische Übersetzung, verändernde<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />

Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />

Übersetzung und mythische Übersetzung<br />

unterscheidet.<br />

Die grammatische Übersetzung ist,<br />

stufenweise betrachtet, die Entsprechung für<br />

Schleiermachers Paraphrase. Sie setzt eine<br />

Gelehrsamkeit des Übersetzers in hohem<br />

Maße voraus, benötigt aber keinen besondern<br />

poetischen Geist oder dichterische<br />

Begabung seitens des Übersetzers<br />

“Grammatische Übersetzungen sind Übersetzungen<br />

im gewöhnlichen Sinn. – schreibt Novalis - Sie<br />

erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive<br />

Fähigkeiten.” 13<br />

läßt. Begründet auf Novalis´ Auffassung von<br />

Poe-sie als „Ideenassoziation“ , aber<br />

„Zufallsproduktion“, erweisen sich also<br />

Treue und Veränderung identisch.<br />

Schließlich zieht Novalis eine<br />

Äquivalenzlinie zwischen dem Verhältnis<br />

Übersetzer-Dichter, bzw Original-<br />

Übersetzung und die Beziehung Genius der<br />

Menschheit-einzelnen Menschen. Das<br />

Genius der Menschheit ist gleich die<br />

obengenannte Idee des Ganzen, und der<br />

Dichter versteht sich nur als dessen<br />

Repräsentant. Entsprechend ist jeder Mensch<br />

Sollte ein Übersetzer sich ein verändern- eine Übersetzung des Ganzen im Einzelnen<br />

de Übersetzung vornehmen wollen, dann oder in Novalis´ eigenen Wörter:<br />

müßte dieser nach Hardenbergs Meinung „Er [der Übersetzer] muß der Dichter des Dichters<br />

gleich ein Künstler sein, da seine seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner<br />

Übersetzungen „wenn sie ächt seyn sollen, Idee zugleich reden lassen können. In einem<br />

der höchste poetische Geist” mitbeinhalten ähnlichen Verhältnisse steht der Genius der<br />

Menschheit mit jedem einzelnen Menschen.“<br />

müß-ten. Der künstlerische Talent könnte<br />

aber gleichzeitig leicht zum Nachteil<br />

werden, falls die Übersetzung in ein<br />

Travestie hinübergleitet. Novalis führt hier<br />

sogar ein paar Beispiele ein: “Bürgers<br />

Homer in Jamben, Popens Homer, die<br />

Französischen Übersetzungen insgesamt”.<br />

Die Grenzlinie zwischen travestierendem<br />

Übersetzen und freiem dichterischen<br />

Nachbilden ist aber ziemlich dünn, was zu<br />

nicht seltenes Ineinanderfließen der beiden<br />

führt.<br />

Um zu unseren Verhältnis zwischen<br />

Original und Übersetzung zurückzukehren,<br />

ist es interessant festzustellen, daß Novalis<br />

Begriffe sowie Treue und Veränderung gar<br />

nicht antagonisch betrachtet. Der Dichter<br />

hätte eine Idee ebensogut auf einer anderen<br />

Weise darstellen können, als er es wirklich<br />

im Kunstwerk getan hat; er hat nur eine der<br />

möglichen Gestaltungen des vorgestellten<br />

„Idee des Ganzen“ gewählt. Der verändernde<br />

Übersetzer befindet sich dementsprechend in<br />

derselben Lage gegenüber dem Original und<br />

der geplanten Übersetzung. Sowie der<br />

Dichter sich nur für eine mögliche<br />

Verwirklichungsmanier der „Idee des<br />

Ganzen“ entschieden hat, so bleibt es auch<br />

dem Übersetzer frei, eine beliebige Variante<br />

zu wäh-len, die ihn das Original verändern<br />

und als Übersetzung zugleich treu bewahren<br />

14<br />

Daß Novalis für die Rechte des<br />

Übersetzers und seiner poetischen<br />

Individualität sozusagen militiert, wird noch<br />

sichtbarer als bisher in seiner Erörterung der<br />

mythischen Übersetzung. Dabei wird der<br />

Übersetzung – und implizit auch dem<br />

Übersetzer - einen höheren Wert als dem<br />

literarisch Werk selbst – bzw. dem Dichter –<br />

zugeschrieben.<br />

„Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im<br />

höchsten Styl. Sie stellen den reinen, vollendeten<br />

Karakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben<br />

uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal<br />

desselben.” 15<br />

Trotzdem, jenseits aller künstlerischen<br />

Metaphern, ist in Wirklichkeit jede<br />

literarisch Übersetzung auf ein Original<br />

angewiesen, den sie prinzipiell nicht<br />

transzen-dieren kann. Aus diesem Grund<br />

vermuten die meisten Ausleger der Schriften<br />

Hardenbergs, daß er mit dem Begriff der<br />

mythi-schen Übersetzung ein gewisses<br />

Etwas habe gemeint können, das außerhalb<br />

des Bereiches literarisch Übersetzung liegt,<br />

Vermutung die teilweise ebenfalls im letzten<br />

Satz des Fragments zum Vorschein kommt,<br />

nämlich „Nicht bloß Bücher, alles kann auf<br />

diese drey Arten übersetzt werden.“ 16<br />

13 Störig, S. 345.<br />

14 zitiert nach Störig, S. 345.<br />

15 Ebd.<br />

16 zitiert nach Huyssen, S. 128.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 5


Auf jeden Fall aber wird die mythische<br />

Übersetzung als eine an die Zukunft gestellte<br />

Aufgabe verstanden, eine Zukunft die nichts<br />

anderes als eine neue goldene Zeit sein wird.<br />

Huyssen vertritt die Meinung, Novalis würde<br />

in dieser Art von Übersetzung „die Über-<br />

Setzung des Menschengeschlechts in die<br />

goldene Zeit“ sehen. Der mythische<br />

Übersetzer würde folglich derjenige sein, der<br />

die Wirklichkeit ins Mythische übersetzt und<br />

Hardenbergs Beispiele dafür sind „Die<br />

griechische Mythologie, [die] zum Theil eine<br />

solche Übersetzung einer Nazionalreligion<br />

[ist]. Auch die moderne Madonna ist ein<br />

solcher Mythus.“<br />

Für Novalis ist also „Eine Übersetzung<br />

(…) entweder grammatisch, oder verändernd,<br />

oder mythisch”, aber “Am Ende ist<br />

alle Poesie Übersetzung”.<br />

Die Theoretiker der<br />

Übersetzungswissenschaft, die hier<br />

besprochen worden sind, und andere ihrer<br />

Zeit, wie zum Beispiel Tieck, Wackenroder<br />

oder die Brüder Schlegel, haben alle auf<br />

einer Weise oder die andere den Versuch<br />

unternommen, einen Weg zu der idealen<br />

Übersetzung zu finden. Ihr wichtigster<br />

Hinweis (und vielleicht zugleich das größte<br />

Hindernis) in der Richtung war die<br />

komplexe, voller widersprüchlichen<br />

Valenzen Beziehung Original –<br />

Übersetzung. Schleiermacher hält nur zwei<br />

Wege für möglich:<br />

„Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller<br />

möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen;<br />

oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt<br />

den Schriftsteller ihm entgegen.“ 17<br />

Sei es, daß man diesen zwei Wege<br />

entlang ging, oder daß man den einen<br />

Nebenpfad der Paraphrase oder die andere<br />

Allee der Nachbildung wählt, ist für die<br />

Frühromantiker das Endziel und „die<br />

größtmögliche Wirkung“ des literarischen<br />

Übersetzens die Aneignung. Huyssen<br />

interpretiert sie als „das sich mehr und mehr<br />

vertiefende Verständnis für das Fremde“, das<br />

den Leser in die Lage versetzt, „das fremde<br />

Geistesgut vollends in seinen Bildungsbesitz<br />

aufzunehmen und es sich anzueignen.“<br />

17 zitiert nach Störig, S. 432.<br />

6<br />

Monica Niculcea<br />

Übersetzung und Aneignung erfüllen<br />

somit die Aufgabe, auf die gesamte<br />

Geistesentwicklung einer Nation<br />

einzuwirken. Novalis äußerte in seinen<br />

Schriften öfters die Überzeugung, daß<br />

gezielte Übersetzungen die Aneignung<br />

großer, unerkannter, unterschätzter Gebiete<br />

der Literatur und implizit der Welt bewirken<br />

können und daß diese den geistigen und<br />

historischen Horizont Deutschlands<br />

entscheidend erweitern werden. „Durch<br />

Übersetzungen bildet sich die Nation.“ 18<br />

schreibt er. Schleiermacher meint auf<br />

denselben Ton „durch Übersetzungen soll<br />

die eigenen Sprache frisch und lebendig<br />

erhalten werden“.<br />

Wenn wir diese beiden Äußerungen in<br />

Betracht ziehen, können wir nur zusammen<br />

mit Huyssen zu der Schlußfolgerung<br />

kommen:<br />

„Die Konzeption von Übersetzung und Aneignung<br />

ist mit Sicherheit eine der größten geistigen<br />

Leistungen der deutschen Frühromantiker, eine<br />

Leistung freilich, die aus frühromantischem Welt-,<br />

Geschichts- und Poesieverständnis ebenso zwanglos<br />

und wie von selbst hervorging, wie sie bewußt<br />

angestrebt wurde: Widersprüche und Einheit des<br />

Gegensätzlichen bis zum Ende.“ <strong>19</strong><br />

Literatur:<br />

1. APEL, Friedmar <strong>19</strong>83: Die literarische<br />

Übersetzung, Stuttgart, Metzler.<br />

2. HUYSSEN, Andreas <strong>19</strong>69: Die<br />

frühromantische Konzeption von Übersetzung<br />

und Aneignung. Studien zur frühromantischen<br />

Utopie einer deutschen Weltliteratur, Atlantis<br />

Verlag, Zürich und Freiburg i. Br.<br />

3. JUNKES-KIRCHEN, Klaus <strong>19</strong>88: T.S.Eliots<br />

The Waste Land Deutsch. Theorie und Praxis<br />

einer Gedichtübersetzung nach literatur- und<br />

übersetzungs-wissenschaftlichen<br />

Gesichtspunkten, Verlag Peter Lang,<br />

18<br />

Huyssen, S. 162.<br />

<strong>19</strong><br />

Huyssen, S. 173.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />

Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />

Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris.<br />

(Trierer Studi-en zur Literatur; Bd. 17).<br />

4. LEVÝ, Jiři <strong>19</strong>69: Die literarische<br />

Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung,<br />

Athe-näum Verlag, Frankfurt am Main, Bonn.<br />

5. STÖRIG, Hans Joachim (Hg.) <strong>19</strong>69: Das<br />

Problem des Übersetzens, Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, Darmstadt, (Wege der<br />

Forschung, Bd. V<strong>II</strong>I).<br />

6. WILSS, Wolfram <strong>19</strong>82: The science of<br />

translation. Problems and methods, Gunter<br />

Narr Verlag, Tübingen<br />

7. ZIMA, Peter V. <strong>19</strong>92: Komparatistik.<br />

Einführung in die Vergleichende<br />

Literaturwissenschaft,<br />

Tübingen.<br />

Francke Verlag,<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 7


W e r b u n g<br />

TEXTE AUS DER BUKOWINA<br />

«Es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten» Paul<br />

Celan<br />

Moses Rosenkranz<br />

Kindheit – Fragment einer Autobiographie<br />

(Texte aus der Bukowina, Bd. 9)<br />

Hg. v. George Guţu<br />

256 S., geb., <strong>20</strong>01<br />

ISBN 3-89086-758-8 DM 48,–<br />

Der Autor, geb. <strong>19</strong>04 in Berhometh am Pruth,<br />

lebte bis <strong>19</strong>30 vorwiegend in der Bukowina,<br />

dann in Bukarest. <strong>19</strong>41 bis <strong>19</strong>44 war er in<br />

Arbeitslagern der rumänischen Faschisten<br />

interniert; <strong>19</strong>47, verschleppt nach Rußland,<br />

verschwand er für 10 Jahre im Gulag. <strong>19</strong>61,<br />

wieder politisch verfolgt, mußte er aus<br />

Rumänien fliehen und kam nach Deutschland.<br />

Die Kindheit bis zum 1. Weltkrieg erlebte<br />

Moses Rosenkranz in den Dörfern zwischen<br />

Pruth und Czeremosch in einer kinderreichen<br />

Bauernfamilie. Dann folgten Flucht, der Tod<br />

des Vaters, völlige Verarmung; danach<br />

Wanderjahre auf Arbeitssuche.<br />

Die ersten fünfzehn Jahre dieses Lebens, das<br />

noch viele Katastrophen unseres Jahrhunderts<br />

durchlaufen sollte, schildert der Dichter im<br />

vorliegenden Buch nachdenklich und direkt, in<br />

epischer Breite, mit poetischer Wucht und<br />

Bildhaftigkeit. Damit erreicht er selber in<br />

hohem Maße, was ihn in manchen Dichtungen<br />

anderer beeindruckt: «die genaue Unterkunft der<br />

Realität in der Phantasie».<br />

«… Aus allen Poren meiner Haut begriff ich<br />

schauend die Dinge, erreichte die fernsten und<br />

drang zu den verborgensten hin. Ich schien mir<br />

unter der Haut aus tausend Augen bestehend,<br />

die nicht bloß das Äußere der Erscheinungen<br />

und Taten, sondern auch deren Wesen in ihre<br />

Nerven sogen und einer Mitte zuleiteten, die sie<br />

auf geistigem Spiegel zur Schau stellte. Diese<br />

Optik der Seele gab es mir auch an die Hand,<br />

die werdende Gestalt schon im unbestimmbaren<br />

Keim, das verhängte Geschehen schon in den<br />

Anzeichen zu erkennen. … Das Phänomen ließe<br />

sich … im Begriff eines Allbewußtseins<br />

zusammenfassen.<br />

So empfand ich es damals, in meinem<br />

neunten Lebensjahr …»<br />

[«Kindheit», S. 42]<br />

Blaueule Leid<br />

Gedichte aus der Bukowina<br />

(Texte aus der Bukowina, Bd. 10)<br />

100 S., geb., <strong>20</strong>01<br />

ISBN 3-89086-806-1 DM 35,–<br />

Der Band enthält Gedichte von P.<br />

Celan,<br />

R. Ausländer, K. Blum, A. Kittner,<br />

M. Rosenkranz, A. Gong, A. Margul-<br />

Sperber, S. Meerbaum-Eisinger,<br />

I. Weißglas und I. Manger.<br />

Alfred Margul-Sperber<br />

Sinnloser Sang<br />

Ausgewählte Gedichte<br />

(Texte aus der Bukowina, Bd. 8)<br />

96 S., fadengeh., <strong>20</strong>01<br />

ISBN 3-89086-765-0 DM 34,–<br />

Der Autor wurde 1898 in Storoshinetz<br />

(Bukowina) geboren und starb <strong>19</strong>67 in<br />

Bukarest.<br />

Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin)<br />

«Czernowitz is gewen an alte,<br />

jidische Schtot …»<br />

Jüdische Überlebende berichten<br />

Eine Projektarbeit von Kol Čern, ’96.<br />

Gaby Coldewey, Anja Fiedler,<br />

Melinda Filep, Stefan Gehrke,<br />

Axel Halling, Eliza Johnson,<br />

Nils Kreimeier, Gertrud Ranner<br />

(Texte aus der Bukowina, Bd. 11)<br />

ca. 160 S., brosch., 3. Auflage <strong>20</strong>01<br />

ISBN 3-89086-776-6 DM 38,–<br />

Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH<br />

Postfach 86 · D-5<strong>20</strong>01 Aachen<br />

Oppenhoffallee <strong>20</strong> · D-5<strong>20</strong>66 Aachen<br />

Telefon +49-241-542532 · Fax 514117<br />

www.rimbaud.de<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 235


W e r b u n g<br />

GGR-BEITRÄGE ZUR<br />

GERMANISTIK<br />

Herausgegeben von George Guţu<br />

"Es ist an der Zeit, eine landesweite Fachreihe<br />

Germanistik zu starten, die wir 'GGR-Beiträge<br />

zur Germanistik' nennen möchten. Angedeutet wird<br />

damit, daß die Reihe allen in Rumänien lebenden<br />

oder aus Rumänien stammenden Germanisten,<br />

zugleich auch unseren ausländischen KollegInnen<br />

zur Verfügung steht. Auslandsgermanistisch<br />

besonders relevante Aspekte des Daf-Unterrichts,<br />

der Interkulturalität, der Imagologie, der<br />

Rezeptionsgeschichte und -ästhetik sowie der<br />

linguistischen Forschung und der Landeskunde<br />

werden dabei Berücksichtigung finden. 1 bis 2<br />

Bände sollen jährlich Forschungsergebnisse,<br />

Dissertationen, Dokumentationen der heutigen<br />

Germanistik präsentieren sowie bedeutende frühere<br />

Leistungen unserer Vorgänger - sei es als Vorbild,<br />

sei es als Beweise kühnen Forschungswillens - erneut<br />

in den Kreislauf der Fachdiskussion einführen."<br />

(George Guţu)<br />

Beiträge zur Geschichte der<br />

Germanistik in Rumänien (I) (Bd. 1)<br />

Hgg. v. George Guţu und Speranţa Stănescu<br />

3<strong>19</strong> S., Charme-Scott, Bucureşti <strong>19</strong>77<br />

ISBN 973-96538-10<br />

Eine erste Bestandsaaufnahme der<br />

geschichtlichen Entwicklung der<br />

Germanistik in Rumänien. Ohne Zwänge,<br />

unvoreingenommen, informativ.<br />

Wehn vom Schwarzen Meer…<br />

Literaturwissen-<br />

schaftliche Aufsätze (Bd. 2)<br />

Hg. v. George Guţu<br />

324 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />

ISBN 973-9368-08-5<br />

Der Band bietet einen repräsentativen<br />

Querschnitt von Aufsätzen zur deutschen<br />

und rumäniendeutschen Literatur sowie zu<br />

Fragen der Rezeption im ans Schwarze Meer<br />

angrenzenden geistigen Raum Rumäniens.<br />

In Anwandlung von Rilkes bekanntem Bild<br />

vom 'uralte[n] When vom Meer'<br />

dokumentieren die Untersuchungen die<br />

Faszination der deutschen und<br />

österreichischen Literatur auf<br />

Wissenschaftler und Kulturleute, die in<br />

diesem Raum wirken oder gewirkt haben.<br />

Die Sprache ist das Haus des Seins.<br />

Sprachwissenschaftliche Aufsätze (Bd. 3)<br />

Hgg. v. George Guţu und Speranţa Stănescu<br />

Unter Mitarbeit von Doina Sandu<br />

348 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />

ISBN 973-9368-09-3<br />

Vorliegender Querschnitt ist eine<br />

Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache<br />

oder mit der Sprache des Anderen im<br />

vielfältigen historischen und gegenwärtigen<br />

Kommunikationsprozeß in zum Teil<br />

mehrsprachig geprägten Gegenden Rumäniens.<br />

Lieselotte Pătruţ<br />

"Nu credeam să-nvăţ a muri vrodată."<br />

Friedrich Hölderlin şi Mihai Eminescu<br />

(Studiu de literatură comparată) (Bd. 4)<br />

234 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />

ISBN 973-9368-41-7<br />

Cornelia Cujbă<br />

Influenţa germană asupra vocabularului<br />

limbii române literare contemporane<br />

(Bd. 5)<br />

270 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>99<br />

ISBN 3-89086-776-6 DM 38,–<br />

Ştefan Alexe<br />

Wissenschaftliche Arbeit im Internet. Ein<br />

Handbuch für Germanisten (Bd. 6)<br />

132 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>00<br />

ISBN<br />

Gheorghe Nicolaescu<br />

Georg Büchner und die metaliterarische<br />

Reflexion (Bd. 7)<br />

215 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>01<br />

ISBN 973-8064-85-6<br />

Mihaela Zaharia<br />

Die andere Wirklichkeit. Zur verfilmten<br />

deutschsprachigen Literatur (Bd. 8)<br />

218 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>02<br />

ISBN<br />

Herausgegeben von der Gesellschaft<br />

der Germanisten Rumäniens (GGR)<br />

236 <strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


VON LIBRETTI UND IHREN ÜBERSETZUNGSSCHWIERIGKEITEN. AM<br />

BEISPIEL VON WAGNERS LOHENGRIN<br />

Textbücher – sei es Opern-, Operetten-<br />

oder Oratoriumlibretti – sind im Treffpunkt<br />

zweier Arten von Diskurs, der Musik und<br />

der Dichtung, angesetzt. Geht man von den<br />

verschiedensten semiotischen Textbeschreibungsmodellen<br />

und von der Beschreibung<br />

der Aufführung als Text aus, betrachtet man<br />

den Operntext isoliert von seiner begleitenden<br />

Musik und auf einer höheren Ebene<br />

von dessen Bildgestaltung, so hat man kaum<br />

Argumente dafür, diesen als vollständigen<br />

Text zu definieren. Unter den vielen Textbüchern<br />

finden sich aber auch Libretti, die<br />

meisterhaft gedichtete Handlungen liefern,<br />

die einer autonomen Existenz berechtigt<br />

sind. Von Literaturwissenschaftlern oft ignoriert,<br />

obwohl nur im deutschsprachigen<br />

Raum z.B. manch bedeutende Persönlichkeiten<br />

der Literaturgeschichte wie Hugo von<br />

Hofmannsthal oder Ingeborg Bachmann in<br />

diesem künstlerischen Abschnitt gewirkt<br />

haben, lediglich als Mittel zum Zweck von<br />

Musikwissenschaftlern und –darstellern<br />

betrachtet, von der Textlinguistik unbeachtet<br />

geblieben, von Übersetzern wegen der<br />

äußerst komplexen Forderungen umgangen,<br />

Textbücher sind nicht selten Werke hohen<br />

poetischen Wertes, die für sich bestehen<br />

könnten. Auch wenn sie von Theoretikern<br />

oft nur als ”bedingt lesbar” (Lichtfuss <strong>19</strong>89:<br />

14) beschrieben werden, gibt es im Bereich<br />

Librettos Texte reiner Poesie, die der Dichtung<br />

gleichen Wert wie der Musik und ihrer<br />

szenischen Aufführung zukommen lassen.<br />

Das Libretto ist aber in seiner Funktion<br />

nicht ein Einzelkind; es wird in Hinblick auf<br />

seine aufgrund von Musik entstandene szenische<br />

Aufführung geschrieben: "an opera<br />

libretto is not meant to be read as a poem,<br />

but to be heard on the stage as set to the<br />

music" (Dent <strong>19</strong>35:82, zitiert nach Kaindl<br />

<strong>19</strong>95:42).<br />

Es heißt, erst seit Richard Wagner<br />

würden sich Opernübersetzer, Musikkritiker<br />

und Germanisten gelegentlich mit übersetzungstechnischen<br />

Problemen beschäftigen.<br />

Diese seien hauptsächlich auf Aspekte<br />

Ruxandra Cosma<br />

der Einbettung des Textes in die Musik, wie<br />

"die Beachtung der Betonung in der<br />

musikalischen Deklamation, die Beibehaltung<br />

der Originalphrasierung, die Bewahrung<br />

der musikalischen Strukturen oder die<br />

sangbare Gestaltung der Übersetzung"<br />

(Kaindl <strong>19</strong>95:2) beschränkt. Damit werden<br />

so viele Bedingungen und Ziele gestellt, daß<br />

ein einziger Übersetzer dadurch oft als überfordert<br />

wirkt.<br />

Textbücher grenzen sich von literarischen<br />

Texten vor allem in ihrem dynamischen<br />

Charakter ab. Das originale Textbuch<br />

ist bei einer Vielfalt von Ausgaben<br />

und von den Darstellern in den Partituren<br />

notierten Fassungen schwer zu erkennen;<br />

hier sei allerdings zwischen einzelnen<br />

Opern- und Operettenlibretti zu unterscheiden.<br />

Das Libretto im allgemeinen ist<br />

keineswegs das Endresultat künstlerischer<br />

Auseinandersetzung mit einem von der<br />

Literatur oder von der Geschichte gelieferten<br />

Stoff; man spricht oft - hauptsächlich in der<br />

Untersuchung von Operettenbüchern - von<br />

ihrem ’Manuskript-charakter’ (Lichtfuss<br />

<strong>19</strong>89:14-15) und meint damit, ausgehend<br />

von der Tatsache, daß sie oft dem Publikum<br />

in Buchform nicht zugänglich waren bzw.<br />

sind, die Art, wie sie den Darstellern und den<br />

Regisseuren als Arbeitsgrundlage, als<br />

"Werkstattnotizen" in Klavierauszügen geboten<br />

werden. Operntexte sind im Vergleich<br />

zu den Operettentextbüchern konstanter, sind<br />

aber auch Änderungen unterworfen. In der<br />

Zeitspanne zwischen dem 17. - <strong>19</strong>. Jahrhundert<br />

”wurde das Libretto meist gedruckt<br />

und zum Abend verkauft, mit Kerzen zum<br />

Lesen” (dtv <strong>19</strong>85:311); heutzutage ist der<br />

Text oft bei ‘traditionellen’, authentischen<br />

Aufführungen als CD - Aufnahmen in Form<br />

eines Heftes mitzukaufen; in vielen anderen<br />

Fällen unterliegt aber der Text den von<br />

Regisseuren diktierten Änderungen und in<br />

extremen Fällen Entstellungen, wie z.B. bei<br />

Operettenlibretti, die in ihrer humoristischen<br />

Funktion der Auffrischung bedürfen oder bei<br />

zeitlich angepassten Inszenierungen. Bei<br />

einer Operettenaufführung ist es oft sehr<br />

leicht, den Text als modifiziert zu erkennen.


Es ist schon zur Tradition geworden, die<br />

Fledermaus z. B. an bestimmten Stellen mit<br />

Bildern und Pointen zu aktualisieren. Dieser<br />

Bedarf an Erneuerung ist im Zusammenhang<br />

mit der Diskussion der Gattung Operette und<br />

ihrer Gültigkeit zu betrachten. Änderungen<br />

in Opernlibretti sind insofern für den Laien<br />

schwieriger zu durchschauen, da sie auf eher<br />

technischen Entscheidungen beruhen. Wenige<br />

sind bei einem Besuch in der Oper<br />

daran interessiert, zu erfahren, welche Textvariante<br />

gewählt wurde oder aus der Vorbereitung<br />

der Aufführung resultierte; bei<br />

einem Operettenbesuch ist es aber nicht uninteressant<br />

zu wissen, wer, was vorschlägt<br />

und wie dieses erfolgt. Dieser Tatsachenbestand<br />

ist dementsprechend komplexer,<br />

wenn dem Publikum die betreffende<br />

Oper/Operette in der Sprache des Landes<br />

dargeboten wird.<br />

Aus dem dynamischen Textcharakter der<br />

Libretti ist zu schließen, daß sich auch die<br />

Übersetzung eines Textbuches oft als kurzlebig,<br />

vorübergehend gestaltet. Wenn der<br />

Librettist – als ursprünglicher Stoffbearbeiter<br />

-, wenn die Geschichte der Textentstehung<br />

oder Anedoktisches über die Relation<br />

Librettist – Komponist der Nachwelt noch<br />

bekannt sein dürfte und dem Publikum ausführlich<br />

im Aufführungsheft präsentiert<br />

wird, ist die Identifizierung des Übersetzers<br />

eines Textbuches - zumindest in unserem<br />

Sprach- und Kulturraum – mit wenigen Ausnahmen<br />

schwierig, oft auch unmöglich. Die<br />

Übersetzung von Wagners Ring - Tetralogie<br />

ins Englische in vier verschiedenen Varianten<br />

(William Mann <strong>19</strong>67, Lionel Salter<br />

<strong>19</strong>68-<strong>19</strong>70, Andrew Porter – <strong>19</strong>73, Stewart<br />

Spencer <strong>19</strong>93) gilt diesbezüglich eher als<br />

Ausnahme, als Vorbild, und deutet auf das<br />

steigende Interesse für die musikwissenschaftliche<br />

Auseinandersetzung mit dem<br />

Text der längsten Oper hin; dabei ist es nicht<br />

unwichtig zu bemerken, daß dies erst in der<br />

zweiten Hälfte des <strong>20</strong>. Jahrhunderts in einem<br />

Land mit einer sehr langen Operntradition<br />

erfolgt. Eine ähnliche Entwicklung ist im<br />

Falle deutscher Textbücher zu bemerken.<br />

Wagner–Libretti werden – in ihrer literarischen<br />

Qualität als sehr hoch gewertet – von<br />

Verlegern als Sonderausgabe verkauft.<br />

Der dynamische Textcharakter von<br />

Texbüchern wird - den Gegebenheiten unseres<br />

Kulturraums entsprechend - als Ausgangspunkt<br />

und Voraussetzung der vorliegenden<br />

Untersuchung formuliert. Der über-<br />

238<br />

Ruxandra Cosma<br />

setzte Text wird den Darstellern zum Lernen<br />

nicht als separates Heft geliefert; die<br />

Übersetzung wird in die von dem musikalischen<br />

Sekretariat der Oper zur Verfügung<br />

gestellten Klavierauszugfassung eingetragen,<br />

um die visuelle Einbettung in den musikalischen<br />

Text zu erzielen. In wenigen Fällen ist<br />

aber der ursprüngliche Übersetzer bekannt<br />

und dementsprechend durch das Plakat des<br />

Opernabends bekanntgemacht. Dies ist<br />

glücklicherweise der Fall von etlichen Wagner<br />

– Übersetzungen, ein Bereich in dem der<br />

bekannte rumänische Dichter St. O. Iosif<br />

mitgewirkt hat. Von den Wagner - Werken<br />

übersetzte er Lohengrin und Tannhäuser, die<br />

separat auch als Textbücher in einer Sammlung<br />

von Übersetzungen gedruckt wurden<br />

(<strong>19</strong>09). <strong>19</strong>21 wurde Lohengrin zur Eröffnungsvorstellung<br />

der Rumänischen Staatsoper;<br />

am 7. Mai <strong>19</strong>23 wurde Lohengrin in<br />

Cluj zum ersten Mal aufgeführt; in beiden<br />

Fällen wurde rumänisch gesungen und die<br />

Übersetzung von Şt. O. Iosif verwendet.<br />

Außerdem ist noch eine weitere Übersetzung<br />

vom Opernsänger Rudolf Steiner bekannt.<br />

Dimitrie Cuclin, zitiert in einem Gesprächsbuch,<br />

erwähnte:<br />

”Mai de mult mă întâlnesc în PiaŃa Amzei cu<br />

Steiner, om de mare cultură şi solist la Operă. […]. El<br />

tradusese libretele operelor lui Wagner şi le adaptase<br />

la muzică, nu cum a făcut Şt. O. Iosif, care tratase<br />

textul lor poetic de sine stătător...” (9 iunie <strong>19</strong>74).<br />

Das, was heute gesungen wird, entspricht<br />

nur in großen Zügen der urspünglichen<br />

Übersetzung. Zu berücksichtigen ist, daß der<br />

Text oft als archaisch wirkt. Dies wäre schon<br />

genug, um Modifizierungen im Text zu begründen.<br />

Außerdem gibt es noch geschichtliche<br />

Hintergründe zur Entscheidung für die<br />

eine oder die andere Variante des Wortes,<br />

die in kausaler Verbindung mit Wagners<br />

Ideologie und dem Wagner-Bild während<br />

des 2. Weltkriegs zu interpretieren sind.<br />

In Beziehung damit sei eine weitere<br />

konkrete Situation zur Diskussion gestellt:<br />

die Rumänische Staatsoper in Bukarest 1<br />

hatte in den 60er Jahren, d.h. geschichtlich<br />

bedingt, den Textautor Constantin Cârjan als<br />

Mitarbeiter, der sich nicht besonders auf die<br />

1 Im Gespräch mit dem Tenorsänger Corneliu<br />

FânaŃeanu, dem ehemaligen Musikdirektor der Rumänischen<br />

Staatsoper in Bukarest in den 80er Jahren. 14.<br />

Mai <strong>20</strong>00.<br />

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Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />

Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />

Übersetzung von Textbüchern, wie auf die<br />

Revidierung von bereits übersetzten Libretti<br />

spezialisiert hatte. Zu der Zeit bedeutete dies<br />

die Reinigung der Texte durch Beseitigung<br />

mystischer Elemente. Wie nur aus diesen<br />

letzten Punkten ersichtlich, wurde der Text<br />

aus verschiedensten Gründen Änderungen<br />

unterzogen. Außerdem waren es Regisseure<br />

und Darsteller, die die übersetzte Vorlage<br />

technisch modifizieren mußten.<br />

Häufig sind in den Noten mehrere Handschriften<br />

erkennbar; sie ergänzen, streichen<br />

durch, lassen aus oder korrigieren. Der Anteil<br />

des Darstellers in der neuen Textproduktion<br />

ist nicht zu vernachlässigen.<br />

Handelt es sich um einen Sänger, der in<br />

vokal – technischer Hinsicht Probleme mit<br />

der Artikulation verschiedener Laute beim<br />

Singen - vor allem mit den Selbstlauten - hat<br />

oder fällt es ihm leichter, in verschiedenen<br />

Tonfolgen und -höhen, den einen oder<br />

anderen Vokal zu erzeugen, so wird in der<br />

Regel das betreffende Wort durch ein mehr<br />

oder weniger bedeutungsähnliches oder zumindest<br />

kontextgebundenes, an den Voraussetzungen<br />

des Sängers angepasstes ersetzt.<br />

Damit sind schon übersetzungstechnische<br />

Probleme angesprochen, die sich dem sich<br />

auf die artikulatorische Funktion, auf die<br />

Tonhöhe und auf die Lautstruktur beziehenden<br />

Prinzip der "Sangbarkeit in der<br />

Übersetzung" (Kaindl <strong>19</strong>95:118) unterordnen.<br />

Trotz des quasi-anonymen Charakters<br />

der Übersetzung und ihres Übersetzers ist<br />

der Vorgang des Übersetzens als Übertragung<br />

kultureller Bilder und deren Entwicklung<br />

zum Bezugspunkt von größter Bedeutung.<br />

Zu den Produktionsmechanismen<br />

des Textbuches (Lichtfuss <strong>19</strong>89) gehört<br />

außer den Figuren, Ausstattungen, Darstellern<br />

auch der Titel, der im allgemeinen die<br />

Funktion hat, das Interesse des Publikums zu<br />

fördern, ohne viel von der Handlung zu<br />

verraten. Die Übersetzung des Titels erfolgt<br />

in den meisten Fällen unproblematisch, vor<br />

allem da meist in der Ausgangssprache dafür<br />

Eigennamen und enge Wortgruppen enthalten<br />

sind. Allerdings kommt es manchmal<br />

zu eigenartigen Situationen, wie diejenige, in<br />

der sich Wagners Titel Der Ring des<br />

Nibelungen infolge einer fehlerhaften Über-<br />

setzung zu Inelul nibelungilor 2 (in Anlehnung<br />

an das Nibelungenlied/Cântecul nibelungilor)<br />

in das Bewußtsein des rumänischen<br />

Publikums derart eingebürgert hat und zur<br />

Konvention fest eingefroren ist, daß es zu<br />

diesem Zeitpunkt sehr schwierig wäre, noch<br />

etwas daran zu ändern.<br />

Übersetzungen entstehen, falls nicht<br />

schon vorhanden, meist auf Wunsch eines<br />

Opernhauses, das das betreffende Werk in<br />

den Spielplan einführen möchte. Im Falle der<br />

Ring-Tetralogie, die im Englischen, wie<br />

bereits erwähnt, mehrere Varianten kennt,<br />

sind die Unterschiede hauptsächlich auf der<br />

Ebene der Realisierung und der Text-<br />

Rezeption wahrnehmbar. Andrew Porter, der<br />

Ring - Übersetzer des Jahres <strong>19</strong>73, notierte,<br />

seine Übersetzung sei gedacht ”for singing,<br />

acting and hearing, not for reading” (zit.<br />

nach Holman <strong>19</strong>96:<strong>20</strong>), obwohl er oft<br />

phonologische Aspekte (u.U. auch visuell<br />

wahrnehmbare), wie z. B. die Alliteration,<br />

meisterhaft und originalgetreu einsetzte.<br />

Holman (<strong>19</strong>96:<strong>20</strong>), der Verfasser einer<br />

wunderbaren kritischen multimedia Ring-<br />

Ausgabe, schrieb über die von Spencer<br />

realisierte Variante der 90er Jahre:<br />

”Spencer’s goal, unlike Porter’s, was not to fashion<br />

an English text to be sung, but rather to improve on<br />

earlier translations by simultaneously advancing the<br />

causes of both literalness and meaning. Spencer’s<br />

work may well emerge as a standard translation.”<br />

Für die vorliegende Untersuchung wurden<br />

Auszüge aus Wagners Lohengrin-Text<br />

zur Illustration herangezogen. Wagner, weil<br />

er unter den relativ wenigen Dichter-Komponisten<br />

weitgehend der begabteste war. Der<br />

im Jahre 1845 in Marienbad geschriebene<br />

und am 28. August 1850 zur Feier von<br />

Goethes Geburtstag präsentierte Lohengrin<br />

gehört zusammen mit Dem fliegenden Holländer<br />

und mit Tannhäuser zu den romantischen<br />

Opern, die dem Text und den im Text<br />

enthaltenen Bedeutungsnuancen mehr Gewicht<br />

als bis zu dem Zeitpunkt üblich war,<br />

zumessen. Am 17. November 1845 trug<br />

Wagner bereits den in Versen ausgeführten<br />

Text im Engelklub am Postplatz in Dresden<br />

”vor Literaten, Maler und Musiker” vor,<br />

2 Hier zum Vergleich den französischen und englischen<br />

Titel: L’Anneau du Nibelung, The Ring of the<br />

Nibelung.<br />

239


”darunter Hiller und Schumann” (Waack:<br />

IV) 3 .<br />

Die außerordentliche Leistung Wagners<br />

in Lohengrin ist in Kloibers (<strong>19</strong>73/<strong>19</strong>85:946)<br />

Auffassung dadurch zu erklären, daß mit<br />

Lohengrin die romantische Oper ihren Höhepunkt<br />

durch die vollendete Einheitlichkeit<br />

von Dichtung und Musik im Sinne romantischer<br />

Kunstanschauung erreicht habe:<br />

”Wagner betrachtete den Stoff als ‘eigentliches Gedicht<br />

des Volkes’, als ‘ein edles Gedicht sehnsüchtigen<br />

menschlichen Verlangens’, und dieser Gestaltung<br />

im echt romantischen Geist verdankt die<br />

Oper, die als die populärste unter den Bühnenschöpfungen<br />

Wagners anzusehen ist, wohl in erster<br />

Linie ihre große Breitenwirkung.”<br />

Die Dichtung Lohengrin ist schöne<br />

Poesie und bereitet für sich bestehend dem<br />

Leser Vergnügen.<br />

Der Stoff des Librettos sammelt bekanntlich<br />

Sagen und Motive des Mittelalters: die<br />

bayrische Schwanenritter-Sage wird in einer<br />

anonymen epischen Dichtung Ende des 13.<br />

Jahrhunderts unter dem Titel – Lohengrin,<br />

der Ritter mit dem Schwan erzählt, kommt<br />

allerdings auch in Wolfram von Eschenbachs<br />

Parzival vor. Diese ist mit Motiven, die dem<br />

Nibelungenlied (Elsas und Ortruds Streit vor<br />

dem Münster) entnommen wurden (s.<br />

Kloiber <strong>19</strong>85:947), und mit Gral-Motiven<br />

(auch dadurch, daß Lohengrin der Sohn von<br />

Parzival war) verflochten. Ort und Zeit der<br />

Handlung werden verlegt: die Handlung<br />

spielt sich in der ersten Hälfte des 10.<br />

Jahrhunderts zu Zeiten des Königs Heinrich<br />

I. bei Antwerpen ab, allerdings wird dem<br />

Publikum im Vorspiel das Herniedersteigen<br />

einer Engelschar gezeigt, die den heiligen<br />

Gral zur Erde trägt, den Gral den Reinen<br />

(den Gralrittern) anvertraut und somit eine<br />

wunderbare Sagen- und Märchenwelt<br />

eröffnet. Dieses dem Publikum im Vorspiel<br />

gebotene Bild ist wichtig vor allem in dem<br />

übersetzten Text, der mangels an Übertragunslösungen<br />

zu einem gewissen Punkt<br />

(Aufzug 3, Szene 3) an das nonverbalisierte<br />

Geschehen anknüpft (s. Beleg 11).<br />

Diese Koordinaten tragen dazu bei, die<br />

stilistische Ebene festzulegen und den<br />

Sprachraum in Wortwahl und Strukturen für<br />

den Übersetzungsvorgang abzugrenzen. Die<br />

Spieldauer der Oper beträgt etwa 4 Stunden.<br />

3 Wagner, Richard – Lohengrin. Klavierauszug mit<br />

Text. Einführung, Inhalts- und Motivangabe von Carl<br />

Waack). Edition Breitkopf. <strong>Nr</strong>. 4504.<br />

240<br />

Ruxandra Cosma<br />

Dementsprechend wurde für die vorliegende<br />

Untersuchung der erste Aufzug, sowie die<br />

dritte Szene des letzten (dritten) Aufzugs<br />

herangezogen 4 . Die Diskussion der in diesen<br />

Abschnitten bestehenden Übersetzungsschwierigkeiten<br />

konzentriert sich im folgenden lediglich<br />

auf technische Aspekte, die u.a. mit Phrasierung<br />

und Wortwahl zusammen-hängen und sie<br />

erklären bzw. diskutieren möchten.<br />

Verfolgt wurde einerseits das Verhältnis<br />

Musik – Text in den beiden Textvorlagen in<br />

Hinblick auf die Formenrealisierung (Anpassung<br />

der Lautstruktur an die Musik, Anpassung<br />

der Musik an den Text), andererseits<br />

die zwischen den Texten bestehenden Bedeutungsrelationen,<br />

vor allem Abweichungen<br />

wie Sinnentstellungen, Modifizierungen.<br />

Die zum Versbau - und zur Musik 5 - gehörenden<br />

eingesetzten Formparameter sind,<br />

wie man es auch hätte vermuten können, im<br />

höchsten Maße variabel. Reim, Rhythmus<br />

und Silbenmaß fügen sich der Musik. Von<br />

den erwähnten Mitteln ist für die Musik das<br />

Versmaß das konstanteste und bedeutendste.<br />

Die Grenzen liegen meist typologisch begründet<br />

zwischen 5 und 10 Silben, die von<br />

der Übersetzung ins Rumänische - womöglich<br />

entsprechend der Vorlage wieder-<br />

4 Aufzug 1. König Heinrich der Vogler hält Gericht<br />

über die verwaiste Herzogstochter Elsa von Brabant,<br />

die beschuldigt worden ist, ihren Bruder Gottfried<br />

ermodet zu haben, um sich die Krone von Brabant zu<br />

gewinnen. Im Traum hatte sich Elsa ein Ritter in<br />

einem von einem Schwan gezogenen Kahn gezeigt,<br />

der für ihre Unschuld im Gottesgericht kämpfen<br />

wollte. Der Ritter Lohengrin erscheint, wie sie<br />

geträumt hatte, und will ihr Gatte werden unter der<br />

Bedingung, sie würde ihn nie nach seiner Herkunft<br />

und nach seinem Namen fragen. Elsa verspricht, sein<br />

Verbot nie zu übertreten. Der Ritter kämpft für Elsa<br />

und besiegt den brabantischen Grafen Telramund, der<br />

sie beschuldigt hatte, schenkt ihm aber das Leben.<br />

Aufzug 3 / Szene 3. An dem auf die Hochzeitsnacht<br />

folgenden Morgen trägt Lohengrin Telramunds<br />

Leiche vor den König und die Edlen und gibt – auf<br />

Frage seiner Gemahlin – seine Herkunft – als Sohn<br />

von Parzival, dem Hüter des Heiligen Grals, bekannt.<br />

Nun muß er aber gehen, er darf, da er erkannt wurde,<br />

nicht länger bleiben. Der Schwan nähert sich und<br />

verwandelt sich in Elsas totgedachten Bruder<br />

Gottfried, der im Dienste des Grals war. Die<br />

Gralstaube zieht an seiner Stelle den Kahn und<br />

entfernt sich mit Lohengrin.<br />

5 … […] versificaŃia este practicată de poeŃi pentru că<br />

aduce un spor de încântare melodică, muzicală.<br />

Dealtfel, versul a fost cultivat concomitent cu cântecul<br />

[…]. DespărŃindu-se de cântec, ulterior, versul<br />

s-a dezvoltat pentru calităŃile lui melodice (Fierăscu /<br />

GhiŃă <strong>19</strong>79:155)<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />

Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />

gegeben werden. Folgende Situationen<br />

wurden dabei identifiziert: Gelingt es dem<br />

Übersetzer nicht, die Silbenanzahl getreu<br />

nachzubilden, so werden im Bereich des<br />

Sprachlichen Änderungen vorgenommen –<br />

(1) König:<br />

sei es durch eine andere Wortwahl oder<br />

durch den Verzicht auf bedeutungsähnliche<br />

semantische Relationen; als letzte Variante<br />

ist durch eine diskrete Anpassung der Noten<br />

der Bereich der Musik anzuschlagen.<br />

a. Im Mittag hoch steht schon die Sonne 9 Pe ceruri soarele străluce 9<br />

b. So ist es Zeit, daß nun der Ruf ergeh’! 10 Pornească deci chemarea cea dintâi! 10<br />

(Aufzug 1, Szene 2)<br />

Der neun- und zehnsilbigen Struktur im Deutschen wird im Rumänischen eine silbenmäßige<br />

Entsprechung gefunden; die Übersetzung vom deutschen Vers b durch die informationshaltigere<br />

Äußerung ”Pornea-scă deci chemarea cea dintâi” ist textpragmatisch bestimmt,<br />

gewissermaßen mit vorbereitender Funktion: im Text ist der wundersame Auftritt von<br />

Lohengrin verzögert; er erscheint erst beim zweiten Ruf:<br />

Elsa: Mein lieber König, lass dich bitten, / noch einen Ruf an meinen Ritter, / wohl weilt<br />

er fern und hört ihn nicht!<br />

(2) Lohengrin:<br />

a. So sprich denn, Elsa von Brabant! 8 Vorbeşte, Elsa de Brabant! 8<br />

b. Wenn ich zum Streiter dir ernannt, 8 Te-ntreb în faŃa tuturor 8<br />

c. willst du wohl ohne Bang und Graun 8 fără teamă, cu gând curat: 8<br />

d. dich meinem Schutze anvertraun? 8 În spada mea vrei să te-ncrezi? 8<br />

Das Silbenmaß unter Punkt c. im Rumänischen<br />

gibt trotz der sich entsprechenden<br />

Anzahl einen stark gekünstelten Eindruck<br />

nur im Bereich des Sprachlichen. Die<br />

musikalische Realisierung ist ungezwun-gen,<br />

was die Annahme, das Rhythmus–Parameter<br />

sei diesbezüglich unbedeutend, unterstützt.<br />

Eine im normalen, versprachlichten<br />

Text, den Regeln der Dichtung nach entsprechende<br />

Rhythmus-Struktur konnte nicht<br />

identifiziert werden. Die Musikalität des<br />

Textes erfolgt hier direkt, über die Musik<br />

selbst; textinhärente rhythmische Konstrukte<br />

werden im Rahmen musikalischer Textbücher<br />

nicht benötigt, sind überflüssig, da sie<br />

sich dem musikalischen Diskurs fügen. Die<br />

Umschreibung der Struktur ”zum Streiter dir<br />

(3) Lohengrin:<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

ernannt” wird im Rumänischen durch spada<br />

realisiert.<br />

Das Reimschema ist selbst im Deutschen<br />

schwankend, gar an gewissen Textstellen<br />

abwesend. Im übersetzten Text wird die<br />

Wiedergabe einer ähnlichen Reimstruktur<br />

versucht, allerdings sind auch hier Abweichungen,<br />

die bis zur freien Versform<br />

reichen, festzustellen. Hier zwei weitere Belege,<br />

darunter auch die Frageverbotszene.<br />

Das erste Beispiel hat im Deutschen das<br />

Schema a-b-a-b//c-c-d-d, während im<br />

Rumänischen das erste Muster durch eine<br />

Abweichung zu a-b-a-c wird, dann allerdings<br />

die im deutschen Text festgehaltene Struktur<br />

beibehält.<br />

Elsa, soll ich dein Gatte heißen, a Elsa, de vrei să-mi fii soŃie a<br />

Soll Land und Leut ich schirmen dir, b Să-Ńi apăr Ńara şi-ai tăi supuşi b<br />

Soll nichts mich wieder von dir reißen a Legat să-Ńi fiu pe veşnicie a<br />

Mußt Eines du geloben mir: b Să-mi juri, o Elsa de Brabant c<br />

Nie solltest du mich befragen c Nu-mi cere nicicând seamă, d<br />

Noch Wissens Sorge tragen, c Nici să nu ai vre-o teamă d<br />

241


Ruxandra Cosma<br />

Woher ich kam der Fahrt, d De unde-s, din ce neam, e<br />

Noch wie mein Nam und Art. d Nici numele ce-l am. e<br />

242<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

Unter Punkt (4) soll gezeigt werden, daß in der Übersetzung auf den Reim oft verzichtet<br />

wird; das deutsche Muster ist dabei a-b-a-b. In diesem Fall ist der Übersetzer der inhaltsgetreuen<br />

Wiedergabe nachgegangen und hat sich von Formparametern distanziert.<br />

(4) Lohengrin:<br />

Heil, König Heinrich! Segenvoll O, rege Heinrich, Cel de Sus<br />

Mög Gott bei deinem Schwerte steh’n! în veci păzească spada ta!<br />

Ruhmreich und groß dein Name soll Şi faima ta pe-acest pamânt,<br />

Von dieser Erde nie vergeh’n să crească-ntruna veac de veac.<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

Desgleichen im Bereich der Form-Seite enthalten sind die (meist) von Sängern durchgenommenen<br />

Korrekturen im Text oder – im Extremfall - in den Noten zu nennen. Die<br />

Änderungen im Text sind nicht als ein Versuch gelungenerer semantischer Realisierung zu<br />

betrachten; in vielen Situationen handelt es sich um einen Kategorienwechsel:<br />

(5) König Heinrich:<br />

Ertöne, Siegesweise Răsune, răsune triumfale<br />

dem Helden laut zum Preise! CântaŃi / cântări victoriei sale!<br />

Weitere Änderungen dienen der Anpassung der Silbenanzahl im Rumänischen:<br />

(6) Elsa:<br />

O, fänd ich Jubelweisen O, de-aş putea găsi<br />

deinem Ruhme gleich, Cuvântul-adevărat<br />

dich würdig zu preisen, să pot să te laud<br />

am höchsten Lobe reich! tu cel mai lăudat,<br />

In dir muß ich vergehen, spre tine în neştire<br />

vor dir schwind ich dahin!… îndrept privirea mea!<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

oder werden zugunsten vereinfachter, auch im Originaltext enthaltener elliptischer<br />

Konstrukte realisiert:<br />

(7) Elsa:<br />

Mir schwankt der Boden! Welche Nacht! Vai, ce-ntuneric, ce pustiu,<br />

O, Luft, Luft! der Unglücksel’gen! mă pierd, [daŃi-mi] aer, aer ? aer!<br />

(Aufzug 3, Szene 3)<br />

Korrekturen in den Noten sind teilweise auch zur Silbenanpassung realisiert; im<br />

folgenden ein Beispiel, wo für das Rumänische decât die Verdoppelung der Note g benötigt<br />

wird:<br />

(8) Friedrich:<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />

Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />

Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />

Viel lieber tot, als feig! Mai bine mort de-cât laş!<br />

In der rumänischen Fassung sind Wörter<br />

manchmal nur in leerstellenfüllender<br />

Funktion verwendet. Die in der Zielsprache<br />

vorgeschlagene Variante setzt häufig Paraphrasen<br />

als bedeutungumschreibendes Mittel<br />

ein. Es ist aber festzustellen, daß die durch<br />

die Formenmechanismen bedingten Abweichungen<br />

die stilistische Ebene und<br />

dadurch die sich außerhalb der Zeit<br />

situierende Märchen- und Heldensprache<br />

nicht beeinflussen. Dabei soll die Schlichtheit<br />

und der Zauber der gewählten Lexeme<br />

(9) König:<br />

(Aufzug 1, Szene 3)<br />

und Strukturen hervorgehoben werden:<br />

credinŃă, har, înfrângere, faimă etc. Sinnentsprechungen<br />

sind auf einer Skala<br />

punktenmäßig zu beurteilen. Verschiedene<br />

Mechanismen liegen der Produktion dieser<br />

Relation zugrunde. Im folgenden Beispiel ist<br />

dieses semantische Verhältnis nicht<br />

zwischen Wörtern, sondern zwischen<br />

höheren, komplexeren Einheiten –<br />

Strukturen, Syntagmen, bis zu Sätzen zu beobachten:<br />

Beginnen soll nun das Gericht! Să-nceapă judecata dar,<br />

Gott, laß mich weise sein! Tu, Doamne, martor fii!<br />

(Aufzug 1, Szene 1)<br />

Oft wird aber der Bedeutungsvermittlung nicht gedient. Das Inhaltliche tritt in den<br />

Hintergrund zugunsten der Realisierung:<br />

(10) Friedrich:<br />

Du hörst die Klage, König! Richte recht! Ce-aveam pe suflet, rege, eu am spus.<br />

(Aufzug 1, Szene 1)<br />

Bemerkenswert ist folgender Beleg, der an das im Text Nonverbalisierte anknüpft: der<br />

Text wird dem Zuschauer durch das im Vorspiel gezeigte Bild verständlich.<br />

(11) Lohengrin:<br />

In fernem Land, unnahbar euren Schritten, Departe-ntr-o misterioasă Ńară<br />

Liegt eine Burg, die Montsalvat genannt; E un castel ce-i spune Montsalvat<br />

Ein lichter Tempel stehet dort inmitten, Şi-un templu sfânt ca o minune rară<br />

So kostbar als auf Erden nichts bekannt; Cu pietre nestemate îmbrăcat.<br />

Drin ein Gefäß von wundertätgem Segen Acolo este un potir de aur<br />

Wird dort als höchstes Heiligtum bewacht … adus de-un stol de îngeri pe pământ …<br />

Der übersetzte Textabschnitt ist bildhaft<br />

deskriptiv im Vergleich zur Textvorlage.<br />

Das Herniedersteigen der Engelschar ist eine<br />

Anspielung auf das dem Zuschauer schon<br />

Bekannte, allerdings nicht Vorerwähnte.<br />

Die Auseinandersetzung mit dem Text<br />

und seinen Interpretationsmöglichkeiten, mit<br />

Formelementen, die zur Musik passen, wird<br />

(Aufzug 3, Szene 3)<br />

notwendigerweise durch die Auseinandersetzung<br />

mit den in der Notenpartitur enthaltenen<br />

Vortragsangaben (im Text -<br />

indicaŃii de caracter şi mişcare) für Sänger,<br />

Orchester und Dirigenten ergänzt. Diese<br />

werden in der Regel in der Opernsprache<br />

Italienisch verfaßt. Wagner hat sie deutsch<br />

formuliert; die in der untersuchten Partitur<br />

enthaltene Variante des Übersetzers ist teils<br />

243


Ruxandra Cosma<br />

rumänisch, teils italienisch. So werden zum Beispiel folgende Entsprechungen markiert:<br />

(12)<br />

mäßig langsam = moderat rar<br />

sehr bewegt = molto animato<br />

nicht schleppend = fără tărăgănare<br />

mit freierem Vortrag = a piacere, mai rar usw.<br />

Das Übersetzen von Textbüchern ist als<br />

kollektive Arbeit zu verstehen. Die neuentstandenen<br />

Texte sind zum Singen gedacht,<br />

fügen sich dementsprechend musikalischen<br />

Gesetzmäßigkeiten, was Wort- und Satzsemantik<br />

beeinträchtigt. Musik und Text bestimmen<br />

sich auch im Übersetzten gegenseitig,<br />

wenn nicht gerade hier im höheren<br />

Maße. Dieses Interagieren ist durch Dichter<br />

und Übersetzer, durch Sänger, Dirigenten<br />

und Regisseuren gleichermaßen gesichert.<br />

244<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Bârsan, I. (<strong>19</strong>95) – Convorbiri cu Dimitrie<br />

Cuclin, filosof, muzician, scriitor. GalaŃi.<br />

Editura Porto-Franco.<br />

2. Fierăscu, C. / GhiŃă, Gh. (<strong>19</strong>79) – Mic dicŃionar<br />

îndrumător în terminologia literară. Bucureşti.<br />

Editura Ion Creangă.<br />

3. Holman, J. K (<strong>19</strong>96) – Wagner’s Ring. A<br />

Listener’s Companion and Concordance.<br />

Portland/Oregon. Amadeus Press.<br />

4. Honolka, Kurt (<strong>19</strong>79) – Kulturgeschichte des<br />

Librettos. Wihelmshaven.<br />

*<br />

* *<br />

5. Kaindl, Klaus (<strong>19</strong>95) - Die Oper als Textgestalt.<br />

Perspektiven einer interdisziplinären<br />

Übersetzungswissenschaft. Tübingen.<br />

Stauffenburg, Verlag Brigitte Narr.<br />

6. Kloiber, Rudolf (<strong>19</strong>73/<strong>19</strong>85) – Handbuch der<br />

Oper. Bd. 2. Kassel. dtv/Bärenreiter.<br />

7. Lichtfuss, Martin (<strong>19</strong>89) – Operette im Ausverkauf.<br />

Studien zum Libretto des musikalischen<br />

Unterhaltungstheaters im Österreich der<br />

Zwischenkriegszeit. Böhlau. Wien/Köln.<br />

8. Michels, Ulrich (<strong>19</strong>77/<strong>19</strong>94) - dtv – Atlas zur<br />

Musik. Bd. 1- 2. Kassel. dtv/Bärenreiter.<br />

9. Millington, Barry (<strong>19</strong>92) – The Wagner Compendium.<br />

A Guide to Wagner’s Life and<br />

Music. New York / Oxford / Singapore /<br />

Sindey. Maxwell MacMillan International.<br />

Schirmer Books.<br />

10. Pop, Sergiu Dan (<strong>20</strong>00) – Teatrul muzical.<br />

Reflexii structurale şi stilistice. Diss.<br />

Bucureşti. Editura Muzicală.<br />

11. Tranchefort, Francois-Rene (<strong>19</strong>83) – L’Opéra.<br />

Editions du Seuil.<br />

12. Wagner, R. – Lohengrin. Klavierauszug mit<br />

Text (Mottl). Edition Peters nr. 3401<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


VORÜBERLEGUNGEN ZUR WIEDERAUFNAHME DER DONAU-<br />

SCHWÄBISCHEN EXISTENZFORMEN DER DEUTSCHEN SPRACHE<br />

UND LITERATUR DES SERBISCHEN DONAURAUMS IN DIE GERMANI-<br />

STISCHE LEHRE UND FORSCHUNG RESTJUGOSLAWIENS *)<br />

Zum Untersuchungsgegenstand<br />

Zu den donauschwäbischen Existenzformen<br />

der deutschen Sprache und Literatur im<br />

heute serbischen Donauraum als dem Gegenstand<br />

der germanistischen Lehre und Forschung<br />

in Rumpfjugoslawien kommen vor<br />

allem diejenigen aus der Zeit von <strong>19</strong>18 an<br />

bis heute in Frage. Daraus ergibt sich zugleich<br />

ihr Status der Sprache und Literatur<br />

einer der jugoslawischen Nationalminderheiten.<br />

Die Donauschwaben wurden bekanntlich<br />

<strong>19</strong>18 zur Nationalminderheit in sämtlichen<br />

Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie<br />

und somit auch im heute serbischen<br />

Donauraum. Dies besagt auch noch, daß sich<br />

das Objekt unserer Vorüberlegungen innerhalb<br />

der gegenwärtigen administrativen<br />

Grenzen der serbischen Provinz Wojwodina<br />

befindet. Innerhalb solcher unserer Vorüberlegungen<br />

werden dabei vor allem donauschwäbische<br />

Sprachträger resp. Schriftsteller<br />

berücksichtigt, die im Raum der gegenwärtigen<br />

Wojwodina beheimatet sind.<br />

So besehen gehört die im serbischen Teil<br />

des Donauraumes beheimatete donauschwäbische<br />

Literatur also in den zweiten der<br />

insgesamt drei allgemein anerkannten Zeitabschnitte<br />

des donauschwäbischen Schrifttums.<br />

Dabei zählt der erste Zeitabschnitt vom<br />

ausgehenden 17. Jh. an bis <strong>19</strong>18 normalerweise<br />

zur Geschichte des ab 1687 habsburgischen<br />

Erblandes Ungarn, wo immer<br />

seine Geschichte auch hingehört, und der<br />

dritte und zunächst letzte - von <strong>19</strong>45 bis<br />

heute - in die Geschichte Deutschlands oder<br />

Österreichs als der jeweiligen Wahlheimat<br />

der geflüchteten, vertriebenen oder ausgewanderten<br />

Donauschwaben. In Rumpfjugoslawien<br />

und somit auch in seiner Region<br />

Wojwodina als der Heimat der Donauschwaben<br />

im serbischen Teil des Donauraumes<br />

konnte es nämlich spätestens nach<br />

<strong>19</strong>50 ohne eine einheimische deutsche<br />

Zoran Žiletić<br />

Bevölkerung auch keine deutsche Literatur<br />

mehr geben [Vgl. Anhang 2, Fassel (<strong>19</strong>89),<br />

S. 289b].<br />

An Existenzformen der deutschen Sprache<br />

werden diejenigen im Raum der Wojwodina<br />

berücksichtigt, die unterhalb der Schriftsprache<br />

liegen. Auch die Schriftsprache<br />

selbst in der donauschwäbischen Handhabe<br />

plant man in die Lehre und Forschung miteinzubeziehen.<br />

Laut Thierfelder nämlich war<br />

bei den Donauschwaben ein Sprachproblem,<br />

das auch anderwärts zu beobachten war,<br />

besonders brennend geworden.<br />

"Der Auslandsdeutsche, der ganz und gar in der<br />

Mundart aufwuchs und keinen oder nur unzulänglichen<br />

Unterricht in hochdeutscher Sprache erhielt,<br />

beherrschte diese vielfach weniger als der Nichtdeutsche,<br />

der sie als Fremdsprache gelernt hatte." 1<br />

Dabei werden nicht nur Gemeinsamkeiten,<br />

sondern auch regionale Eigenheiten beachtet.<br />

Für literarische Texte gelten innerhalb<br />

unserer Vorüberlegungen fiktionale Texte<br />

jeglicher Art.<br />

Definition der Begriffe<br />

Unter den donauschwäbischen Existenzformen<br />

der deutschen Sprache sind die<br />

donaudeutschen Dialekte gemeint, die in den<br />

heute serbischen Teilen des Donauraumes<br />

vom Ende des 17. Jh. an heimisch geworden<br />

sind.<br />

*) "Rumpfjugoslawien" sowie "rumpfjugoslawisch"<br />

lehnt sich an die in historiographischen Arbeiten<br />

übliche Bildung "Rumpfungarn" für das Ungarn nach<br />

<strong>19</strong>18. Die Bezeichnung wird hier nicht als Werturteil,<br />

sondern als Ersatz für die sperrigen Wortgruppen<br />

"das (/dem) 3. Jugoslawien (angehörig)" bzw. "das<br />

(/dem) Dayton-Jugoslawien Miloševićs (angehörig)"<br />

verwendet.<br />

1 Thierfelder, Franz, "Deutsche Sprache im Ausland",<br />

in: Wolfgang Stammler [Hg], Deutsche Philologie im<br />

Aufriß. (Berlin:) Schmidt (<strong>19</strong>78). Bd 1: Sp. 1417.


Unter den donauschwäbischen Existenzformen<br />

der deutschen Literatur sind die<br />

donaudeutschen fiktionalen Texte gemeint,<br />

deren Autoren aus den heute serbischen<br />

Teilen des Donauraumes stammen. Die<br />

Texte von Angehörigen der Erlebnisgeneration,<br />

wenn sie allein historiographisch ausgerichtet<br />

sind, oder die der sog. Heimatbücher,<br />

werden hier nicht berücksichtigt, wenn<br />

sie die faktographische Authentizität eines<br />

Geschichtswerkes und nicht die transponierte<br />

eines sprachlichen Kunstwerkes anstreben.<br />

Unter den Donauschwaben/-deutschen<br />

sind die von den Habsburgern in die ca. 160<br />

Jahre lang durch die Osmanen besetzt gehaltenen<br />

und infolge davon wirtschaftlich<br />

und kulturell devastierten Gebiete des<br />

einstigen Königreiches Ungarn nach seiner<br />

Befreiung planmäßig angesiedelten Deutschen<br />

gemeint. Ihre Zusammengehörigkeit<br />

ergibt sich nicht so sehr daraus, daß sie auf<br />

eine dreihundertjährige Vergangenheit<br />

zurückblicken [dass., S. 289a] sondern, daß<br />

sie - so H. Klocke im Jahre <strong>19</strong>36 - in ihrem<br />

Werden als Einheit zu fassen sind [a.a.O.].<br />

Die weitaus meisten dieser sog. Donauschwaben<br />

verließen zwischen <strong>19</strong>44-<strong>19</strong>58 die<br />

seit <strong>19</strong>18 gesamtjugoslawischen Teile dieser<br />

Gebiete als Flüchtlinge, Vetriebene oder<br />

Aussiedler.<br />

3. Forschungsstand<br />

In den Gebieten Restjugoslawiens gibt es<br />

eine Germanistik seit <strong>19</strong>05 in Belgrad und<br />

seit <strong>19</strong>54 in Novi Sad/Neusatz. Die donauschwäbischen<br />

Existenzformen der deutschen<br />

Sprache wurden dabei zunächst einmal allein<br />

von der Belgrader als der bis <strong>19</strong>54 einzigen<br />

Germanistik innerhalb der Dayton- bzw. der<br />

rumpfjugoslawischen Grenzen systematisch<br />

berücksichtigt. Die literarischen Produkte der<br />

Donauschwaben wurden indessen in der<br />

jugoslawischen Germanistik vor <strong>19</strong>41 nicht<br />

behandelt und nach dem 2. Weltkrieg wohl<br />

einmal und auch dann allein anläßlich einer<br />

im Ausland stattgefundenden Fachtagung 2 .<br />

2 Vgl. Katalin Hegedüs-Kovačević, "Arbeiterbewegung<br />

und Arbeiterdichtung in der Batschka und im<br />

Banat bis <strong>19</strong>14", in: Arbeiterbewegung und Arbeiterdichtung.<br />

Beiträge zur Geschichte der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterbewegung im Sudeten/, Karpaten/<br />

und Donauraum. Referate gehalten in Stockerau am<br />

246<br />

Zoran Žiletić<br />

Nach <strong>19</strong>45 bis anfang der 90/er Jahre<br />

wurden die donauschwäbischen Existenzformen<br />

der deutschen Sprache und Literatur<br />

zwar von den jugoslawischen Germanisten<br />

behandelt aber nur außerhalb der einheimischen<br />

germanistischen Lehre und Forschung,<br />

wenn man von zwei Ausnahmen absieht. 3<br />

4. Einordnungsfragen<br />

Es gibt insgesamt zwei Fragestellungen<br />

zur Einordnung der donauschwäbischen<br />

Existenzformen der deutschen Literatur: (a)<br />

die des Standortes sowie (b) die des künstlerischen<br />

Wertes.<br />

So stellt sich unter (a) die Frage, ob die<br />

literarischen Produkte der Deutschen aus<br />

dem serbischen Donaugebiet innerhalb einer<br />

um die donauschwäbischen Autoren dieses<br />

Gebietes erweiterten Geschichte der deutschen<br />

Literatur oder innerhalb einer eigenen<br />

Geschichte sämtlicher nichtserbophonen Literaturen<br />

dieses Gebietes erforscht // gelehrt<br />

werden sollten. Horst Fassel weist in einem<br />

anderen Zusammenhang darauf hin, daß man<br />

seit den 60-er Jahren in Rumänien die<br />

deutschsprachige Literatur des Landes als<br />

rumänien- und in Ungarn als<br />

ungarndeutsches Schrifttum bezeichnet.<br />

Darin erkennt er die Absicht, die jeweilige<br />

deutsche Literatur als Teil der rumänischen<br />

bzw. der ungarischen Staatskultur einzusetzen,<br />

weshalb man in diesen Ländern die<br />

Bezeichnung ‘Donauschwaben’ und ‘donauschwäbische<br />

Literatur’ ablehne 4 . Auch Karl<br />

Kurt Klein spricht in seiner Arbeit "Ungarn<br />

in der deutschen Dichtung" vom deutschen<br />

3.-4. September <strong>19</strong>87 im Rahmen der "Mattersburger<br />

Gespräche", Stuttgart: Seliger Archiv e. V., 9 (<strong>19</strong>88),<br />

S. 27-36.<br />

3 Vgl. dazu Emilija Grubačić, Glasovni sistem i<br />

oblici njemačkog narječja sela Gudurice [Das Lautsystem<br />

und die Formen der deutschen Mundart des<br />

Dorfes Kudritz], Zagreb <strong>19</strong>58 [Diss., maschinenschriftl.]<br />

sowie "Jedan primjer paralelne metafore u<br />

banatskim jezicima" [Ein Beispiel der parallelen<br />

Metapher in den Banater Sprachen], in: Radovi<br />

Filozofskog fakulteta u Sarajevu, Sarajevo 3(<strong>19</strong>65),<br />

S. 269-272 vom gleichen Autor; die die donauschwäbische<br />

Sprache und Literatur betreffenden Arbeiten,<br />

die unsere Autoren im Ausland publiziert / fürs<br />

Ausland angefertigt haben, sind hier im Anhang 1<br />

bibliographisch erfaßt.<br />

4 Diese Tendenz konnte es allerdings weder in Ex-<br />

noch in Rumpfjugoslawien geben, da es dort, wie hier<br />

schon vermerkt wurde, nach <strong>19</strong>50 keine deutsche<br />

Literatur einer einheimischen Bevölkerung mehr gab.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Donauschwäbische Existenzformen der deutschen Sprache und Literatur<br />

des serbischen Donauraums<br />

Schrifttum auf dem ungarischen Boden als<br />

von einem Teil der deutschen Dichtung.<br />

Dieses Schrifttum habe allerdings seine<br />

Eigenproblematik und sei dadurch ohne<br />

Belang für sein Thema bis auf das es zum<br />

Verständnis der Verflochtenheit der deutschungarischen<br />

Geistesbeziehung Erwähnung<br />

verdiene. 5<br />

donauschwäbischen Existenzformen der<br />

deutschen Sprache und Literatur ohne eine<br />

voraufgehende Einführung in die donauschwäbische<br />

Ansiedlungs-/ und politische<br />

Geschichte einschließlich der politischen<br />

Geschichte der serbisch-deutschen Beziehungen<br />

praktisch unmöglich.<br />

Die Ansiedlungsgeschichte ihrerseits<br />

Unter (b) stellt sich die Frage, wo sich<br />

die literarischen Produkte der Deutschen aus<br />

macht eine geraffte Einführung in die Ge-<br />

dem serbischen Donaugebiet auf der aktuschichte<br />

des Apostolischen Königreiches<br />

ellen Wertskala befinden. Davon hängt Ungarn und somit auch des Karpatenbeckens<br />

nämlich ab, ob sie überhaupt berücksichtigt bis <strong>19</strong>18 und anschließend auch noch der<br />

werden können und wenn ja, dann innerhalb dem Versailles-Jugoslawien zugefallenen<br />

welch eines Konzepts. So werden z. B. die Teile des historischen Südungarn erforder-<br />

donauschwäbischen Existenzformen der lich. Unabwendbar erscheint auch eine knapp<br />

deutschen Literatur von den Goethe-Insti- gehaltene Darstellung vor allem der<br />

tuten wegen der nur regionalen Bedeutung Geschichte der Donauschwaben als natio-<br />

dieser Produkte mit der Begründung zunaler Minderheit im Versailles-Jugoslawien<br />

nächst ausgespart, man könne allein Texte und speziell des Kulturbundes, dessen Funk-<br />

vom überregionalen Rang berücksichtigen. tion trotz seiner ganz späten Nazifizierung<br />

im Juni <strong>19</strong>39 als von Anfang an nazistisch<br />

5. Didaktisierungsfragen<br />

dargestellt wird, sowie ihrer größtenteils<br />

Ein gravierendes Problem bei der Ver- unfreiwillige Verwicklung in die Kriegsgemittlung<br />

von Kenntnissen über die Donauschehnisse im besetzten Jugoslawien.<br />

schwaben insgesamt und in Rumpfjugo-<br />

Erfahrungen bei der Vermittlung vom<br />

slawien insbesondere stellt die jahrzehnte-<br />

historischen Wissen über die Donauschwalange<br />

Verteufelung sämtlicher Donauschwaben<br />

an die Belgrader Germanistikstudenten<br />

ben durch die Schule, die öffentlichen<br />

sind im bescheidenen Umfang bereits vor-<br />

Medien sowie die offizielle Geschichtshanden.<br />

So fand im akademischen Jahr<br />

schreibung sowohl im Gesamt-/ als auch im<br />

<strong>19</strong>92/<strong>19</strong>93 versuchsweise eine einstündige<br />

Rumpfjugoslawien dar. Diese Verteufelung<br />

wöchentliche Einführung in die deutsche<br />

ist um so zählebiger, als sie alle das sowjeti-<br />

Sprache und Zivilisation im restjugoslasierte<br />

Jugoslawien // Serbien ablehnenden<br />

wischen Donauraum für die im siebten<br />

Teilen der ex-/ und restjugoslawischen / der<br />

Semester stehenden Germanistikstudenten<br />

serbischen Bevölkerung unermüdlich einbe-<br />

statt. So viel Zeit für eine derartige<br />

zieht. In der leider zählebigen sprachlichen<br />

Einführung wird es allerdings kaum je<br />

Parallelwelt des Kommunisten Tito und des<br />

wieder geben. Als Alternative bietet sich zu-<br />

Neokommunisten Milojevičs wird nämlich<br />

nächst der Versuch einer Zusammenfassung<br />

das Gleichheitszeichen zwischen allen ihren<br />

und Integrierung dieses Stoffes in die Ge-<br />

Gegnern einerseits, gleich welcher Proveschichte<br />

der deutschen Sprache sowie in die<br />

nienz, und sämtlichen Donauschwaben ande-<br />

Landeskunde für Germanisten an.<br />

rerseits gesetzt, wobei sie seit länger als<br />

einem halben Jahrhundert alle vorbehaltlos<br />

Normalerweise wäre eine derartig weit<br />

bei jeder Gelegenheit als Faschisten / als<br />

gefaßte Geschichte eines Sprachträgers nicht<br />

Fünfte Kolone / als Hochverräter etikettiert<br />

erforderlich, wäre sie / wie hier schon ange-<br />

werden. Dies macht eine Einführung in die<br />

deutet wurde / nicht zum Politikum herangezüchtet.<br />

Einen kleinen aber bedeutenden<br />

Schritt im entgegengesetzten Prozeß der<br />

5 Desatanisierung stellt die <strong>19</strong>97 stattgefun-<br />

Klein, Karl Kurt, "Ungarn in der deutschen<br />

Dichtung", in: Stammler, Wolfgang [Hg], Deutsche dene Besichtigung des Hauses der Dona-<br />

Philologie im Aufriß. (Berlin) Schmidt (<strong>19</strong>62). Bd 3, uschwaben in Sindelfingen durch eine <strong>20</strong>-<br />

Sp. 551.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 247


köpfige Studentengruppe von der Belgrader<br />

Germanistik dar - die erste überhaupt. Sie<br />

konnte an ein zweiwöchiges Praktikum für<br />

diese Studenten an der Univ. Tübingen angeschlossen<br />

werden. Auch bei der Gelegenheit<br />

zeigten sich die Folgen der Tabuisierung des<br />

Deutschtums im Südosten 6 .<br />

Als Alternativen böten sich entweder die<br />

stillschweigende Anerkennung des aus der<br />

Schule mitgebrachten irreführenden ideologisierten<br />

/ mythologisierten Wissens über<br />

den ‘Weg und das Ende’ dieser Volksgruppe<br />

in Ex-Jugoslawien Titos, oder gar das konforme,<br />

stillschweigende Aussparen des<br />

Sprach-/ und literarischen Stoffes, den die<br />

Donauschwaben hinterlassen haben. Dies war<br />

ohnehin ein halbes Jahrhundert lang in der<br />

Germanistik gesamtjugoslawisch die Regel.<br />

Auf eine Wende zugunsten der Danubianosuevica<br />

in Restjugoslawien kann man<br />

natürlich erst dann hoffen, wenn nebst dem<br />

guten Willen auch noch der Ansatz zu einer<br />

donauschwäbischen Philologie erarbeitet ist.<br />

Ansätze zu einer Anthologie der donauschwäbischen<br />

Autoren aus Rumpfjugoslawien<br />

für Germanistikstudenten sind auch<br />

vorhanden. Franz Hutterer und Zoran Žiletić<br />

haben zunächst einmal eine vorläufige Auswahl<br />

von Autoren getroffen, worunter allerdings<br />

nicht restlos alle fiktionale Texte verfaßt<br />

haben. Was noch ganz fehlt, sind mundartliche<br />

Texte sowie Proben aus der sog.<br />

Kalenderliteratur. 7<br />

Der erste, von Stefan Teppert herausgegebene<br />

Band einer Anthologie sämtlicher<br />

donauschwäbischen Autoren läßt auf<br />

6 Daß die Folgen der Ideologisierung des Themas<br />

"Deutsche außerhalb des Mutterlandes" überall ähnlich<br />

sein können, zeigt sich auch im Osten der neuen<br />

Bundesrepublik. So meinte Prof. Dr. Carola L. Gottzmann<br />

in einem Interview zu ihrer Lehrtätigkeit in<br />

Leipzig über Deutsche Literatur und Sprache im östlichen<br />

Europa vom November <strong>19</strong>96 "Ich habe in Leipzig<br />

bei Null angefangen" bzw. "Wenn nicht irgendein<br />

Student .... irgendeine Großmutter hatte, die aus den<br />

ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten stammte,<br />

dann hatte er überhaupt keine Kenntnis davon" [vgl.<br />

Kulturpolitische Korrespondenz <strong>Nr</strong>. 988, Bonn]<br />

7 Im Anhang 3 zu dieser Arbeit ist die vorläufige<br />

Liste zur Einsicht angeboten.<br />

248<br />

Zoran Žiletić<br />

Lückenlosigkeit der künftigen regionalen<br />

Anthologien hoffen 8 .<br />

Perspektiven<br />

Es gibt Anzeichen dafür, daß die zur<br />

Wiederbelebung des Faches erforderliche<br />

Lockerung der Tabuierung durch Anhebung<br />

des entideologisierten Wissenspegels erreicht<br />

wurde. Es wurde Neugier resp. Sensibilisierung<br />

für die Danubianosuevica geweckt<br />

sowie die Frage des untergeordneten Ranges<br />

ihrer literarischen Leistungen aufgeworfen.<br />

Daß es die Neugier bis vor kurzem auch<br />

anderswo nicht geben konnte, zeigt das Buch<br />

Unerkannt und (un)bekannt. Deutsche<br />

Literatur in Mittel/ und Osteuropa hgg von<br />

Carola L. Gottzmann. Auch die blosse<br />

inhaltliche Systematik der Untersuchungsgegenstände<br />

aus dem Bereich des donauschwäbischen<br />

Geisteslebens wir hoffentlich<br />

bald überwunden sein. 9<br />

L i t e r a t u r :<br />

I. Sprachwissenschaftliche Texte:<br />

1. Brežnik, Pavel (<strong>19</strong>35): Die Mundart der<br />

hochdeutschen Ansiedlung Franztal in Jugoslawien.<br />

Zur Heimatfrage der Siebenbürger<br />

Sachsen. Belgrad ( = Bibliothek des Germanistischen<br />

Instituts der Belgrader Universität,<br />

Bd 2).<br />

2. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>58): Glasovni sistem i<br />

oblici njemačkog narječja sela Gudurice [Das<br />

Lautsystem und die Formen der deutschen<br />

Mundart des Dorfes Kudritz]. Zagreb [Diss.,<br />

maschinenschriftlich].<br />

8<br />

Siehe unter Teppert, Stefan in Literatur <strong>II</strong> zu dieser<br />

Arbeit.<br />

9<br />

So ist z. B. die Übersicht der Arbeiten zu donauschwäbischen<br />

Sprache und Literatur von Anton<br />

Tafferner unter dem Titel "Donauschwäbische<br />

Wissenschaft. Versuch einer geistigen Bestandsaufnahme<br />

und einer Standortbestimmung von den Anfängen<br />

bis zur Gegenwart. 1. Teil", in: Senz, Josef<br />

Volkmar, Donauschwäbische Lehrer- und Forschungsarbeit.<br />

25 Jahre ADL: <strong>19</strong>47-<strong>19</strong>72. München:<br />

Arbeitsgemeinschaft Donauschwäbischer Lehrer im<br />

Südostdeutschen Kulturwerk <strong>19</strong>87 (= Bd 5: Donauschwäbisches<br />

Archiv. Reihe I), S. 9-142, eine Bestandsaufnahme<br />

mit heute nicht mehr zufriedenstellenden<br />

inhaltlichen Systematik. Vgl. auch Carola L.<br />

Gottzmann "Es ist natürlich schwierig, die Masse der<br />

Literatur im östlichen Europa, der deutschen Literatur,<br />

ästhetisch zu erfassen. Da ist meines Erachtens<br />

viel zu wenig getan worden. Es sind die Texte, die<br />

Autoren bekannt, aber jetzt fehlt es an Analysen der<br />

Texte" [Quellenhinweis unter 7].<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Donauschwäbische Existenzformen der deutschen Sprache und Literatur<br />

des serbischen Donauraums<br />

3. Grubačić, Emilija [<strong>19</strong>63]: Die Mundart von 3. Fassel, Horst, "Die donauschwäbische Litera-<br />

Karlsdorf (Banat). Münster: Deutsches tur und ihre Entwicklung vom 18. bis zum <strong>20</strong>.<br />

Spracharchiv.<br />

Jahrhundert", in: Eberl, Immo et. al. [Bearb.]:<br />

4. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>65a): "Jedan primjer<br />

paralelne metafore u banatskim jezicima" [Ein<br />

Beispiel der parallelen Metapher in den<br />

Die Donauschwaben. Deutsche Siedlung in<br />

Südosteuropa. Ausstellungskatalog. Sigmaringen:<br />

Thorbecke (<strong>19</strong>89). S. 289-291.<br />

Banater Sprachen], in: Radovi Filozofskog 4. Fassel, Horst //Josef Schmidt: Banater Lese-<br />

fakulteta u Sarajevu 3, Sarajevo, S. 269-272. buch. Emmendingen <strong>19</strong>86 [Textsammlung].<br />

5. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>65b): "Koiné-Bestre- 5. Fittbogen, Gottfried: Was jeder Deutsche vom<br />

bungen in der deutschen Halbmundart", in: Grenz- und Auslandsdeutschtum wissen muß.<br />

Verhandlungen des 2. Internationalen Dia- München-Berlin: <strong>19</strong>37, 245 S.<br />

lektologenkongresses, Marburg/Lahn, 5.-10.<br />

9. <strong>19</strong>65, Bd 1, S. 295-301.<br />

6. Hockl, Hans Wolfram: Heimatbuch der Donauschwaben.<br />

München: o.J. [Textsamm-<br />

6. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>70): "Kriva Bara, lung].<br />

Banat". In: Phonai. Lautbibliothek der europäischen<br />

Sprachen und Mundarten. Deutsche<br />

Reihe. Tübingen, Bd 6, S. 133-187.<br />

7. J. S. K.: "Versuch einer Geschichte der<br />

Deutschen Sprache in Ungarn, samt ihren<br />

verschiedenen Dialekten", in: K. k. Wiener<br />

7. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>71): "Knićanin/Banat", Anzeigen, Bd 3(1773)109-118 [vgl. den Hin-<br />

in: Phonai. Lautbibliothek der europäischen weis auf diese Arbeit bei Schmeller, Johann<br />

Sprachen und Mundarten. Deutsche Reihe. Andreas: Bayerisches Wörterbuch. Leipzig:<br />

Tübingen, Bd 9, S. 8-94.<br />

Koehler <strong>19</strong>39 ].<br />

8. Janko, Anton (<strong>19</strong>78): "Deutsche Sprachinsel 8. Klein, Karl Kurt: Literaturgeschichte des<br />

Gottschee (Koöevje)", in: Michigen Germanic Deutschtums im Ausland. Leipzig: <strong>19</strong>39.<br />

Studies 4.1, S. 86-100.<br />

9. Müller/Guttenbrunn, Adam: Ruhmeshalle<br />

9. Popadić, Hanna (<strong>19</strong>78): Deutsche Siedlungs- deutscher Arbeit in der österreichisch/-ungamundarten<br />

aus Slawonien (Jugoslawien). rischen Monarchie. Stuttgart/Berlin: <strong>19</strong>16.<br />

Tübingen ( = Phonai. Lautbibliothek der<br />

europäischen Sprachen und Mundarten.<br />

Deutsche Reihe).<br />

10. Müller-Guttenbrunn, Adam [Einleitung]:<br />

Schwaben im Osten. Dichterbuch aus Ungarn.<br />

Heilbronn: <strong>19</strong>11 [Textsamml.].<br />

10. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>33): Die deutsche<br />

Mundart von Bela Crkva (Weißkirchen).<br />

Beograd ( = Bibliothek des Germanistischen<br />

Institutes der Belgrader Universität, Bd 1).<br />

11. Petri, Martha: Das Schrifttum der Südostschwaben<br />

in seiner Entwicklung von den Anfängen<br />

bis zur Gegenwart. Diss. Berlin,<br />

Novivrbas-Neuwerbas, <strong>19</strong>40.<br />

11. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>35): Die deutsche<br />

Mundart von Vrüac (Werschetz). Beograd ( =<br />

Bibliothek des Germanistischen Institutes der<br />

Belgrader Universität, Bd 3).<br />

12. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>60): "Grundsätzliche<br />

Probleme und Erkenntnisse im Lichte der<br />

südostdeutschen, insbesondere Banater<br />

Mundartforschung", in: Zeitschrift für Mundartforschung<br />

27, S. 115-128.<br />

<strong>II</strong>. Literaturwissenschaftliche und anthologische<br />

Texte:<br />

10<br />

12. Petri, Martha: Donauschwäbisches Dichterbuch.<br />

Wien und Leipzig: <strong>19</strong>39 [Textsammlung].<br />

11<br />

13. Scherer, Anton: Die Literatur der Donauschwaben<br />

als Mittlerin zwischen Völkern und<br />

Kulturen. Graz: Selbstveralg <strong>19</strong>72, <strong>19</strong> S.<br />

14. Scherer, Anton: Die nicht sterben wollten.<br />

Donauschwäbische Literatur von Lenau bis<br />

zur Gegenwart. Freilassing <strong>19</strong>59, 259 S.<br />

( 2 <strong>19</strong>85, Graz) [Textsamml.].<br />

15. Scherer, Anton: Einführung in die Geschichte<br />

der donauschwäbischen Literatur. Graz:<br />

Selbstverlag <strong>19</strong>60, 31 S.<br />

1. Diplich, Hans / Hans Wolfram Hockl: Heimat<br />

im Herzen. Wir Donauschwaben. Salzburg:<br />

<strong>19</strong>50 [Textsamml.].<br />

2. Engel, Walter: Deutsche Literatur im Banat<br />

. Der Beitrag der Kulturzeitschriften<br />

zum banatschwäbischen Geistesleben.<br />

Heidelberg: <strong>19</strong>82.<br />

16. Scherer, Anton: Schöpferische Donauschwaben.<br />

Bd 1: Der donauschwäbische An-<br />

10 Es war die erste Überblicksdarstellung der donauschwäbischen<br />

Literatur<br />

11 Es handelt sich um eine Textauswahl aus dem<br />

literarischen Gesamtschaffen der Donauschwaben<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 249


250<br />

teil am österreichischen Schrifttum. Wien:<br />

<strong>19</strong>57.<br />

17. Schneider, Wilhelm: Die Auslandsdeutsche<br />

Dichtung unserer Zeit. Berlin: <strong>19</strong>36.<br />

18. Stein, Jacob: Fünfundzwanzig Jahre deutschen<br />

Schrifttums im Banate. Beitrag zur<br />

deutschbanater Geistesgeschichte der Jahre<br />

1890-<strong>19</strong>15. Temeswar: <strong>19</strong>15.<br />

<strong>19</strong>. Streit, Karl / Josef Zirenner [Auswahl u. Einleitung]:<br />

Schwowische Gsätzle ausm Banat.<br />

Gedichte in Banater Mundart. Temeswar:<br />

<strong>19</strong>69 [Textsammlung].<br />

<strong>20</strong>. Teppert, Stefan [Hg]: Die Erinnerung bleibt.<br />

Donauschwäbische Literatur seit <strong>19</strong>45. Eine<br />

Anthologie. Sersheim: Hartmann (<strong>19</strong>95)<br />

[Textsammlung].<br />

<strong>II</strong>I. Liste von Autoren, deren Texte für<br />

die Existenzformen der donauschwäbischen<br />

Literatur aus dem Teil des heute serbischen<br />

Donauraums für repräsentativ gelten können:<br />

Zoran Žiletić<br />

*<br />

* *<br />

1. Johannes Weidenheim<br />

2. Kaäa Celan<br />

3. Franz Bahl<br />

4. Franz Hutterer<br />

5. Otto Alscher<br />

6. Marie Eugenie delle Grazie<br />

7. Hans Diplich<br />

8. Bruno Kremling<br />

9. Andreas Laubach<br />

10. Konrad Gerescher<br />

11. Roland Vetter<br />

12. Josef Haltmayer<br />

13. Jakob Wolf<br />

14. Hans Thurn<br />

15. Johan Petri<br />

16. Adalbert Karl Gaus<br />

17. Friedrich Lotz<br />

18. Felix Milleker<br />

<strong>19</strong>. Wendelin Gruber<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


GÜNTER GRASS – NOBELPREISTRÄGER <strong>19</strong>99<br />

DIE SACHE, OHNE DIE SACHE ZU SEIN, UND DOCH DIE SACHE *) . ZUR<br />

VIELSCHICHTIGEN SYMBOLIK IN GÜNTER GRASS’ KATZ UND MAUS<br />

Katz und Maus 1 , die geniale Jugendnovelle<br />

von Günter Grass, bewegt sich<br />

thematisch, weltanschaulich und künstlerisch<br />

auf vielen verschiedenen, aber eng verbundenen<br />

Ebenen. Eine wesentliche Rolle<br />

spielt dabei (neben der raffinierten fiktionsironischen<br />

Erzählperspektive 2 ) die ebenso<br />

vielschichtige Symbolik, deren Art und<br />

Funktion in diesem Vortrag erörtert werden<br />

soll.<br />

Die Erzählung 3 thematisiert erstens die<br />

Mentalität der deutschen Bevölkerung zur<br />

Zeit des Zweiten Weltkriegs, exemplifiziert<br />

durch die 'unschuldigen' Kinder und Jugendlichen<br />

in Grass' Geburtsstadt Danzig (Grass<br />

ist Jahrgang <strong>19</strong>27 und schildert also die eigene<br />

Generation an diesem besonderen welthistorischen<br />

Brennpunkt, obwohl kaum in<br />

Einzelheiten sehr weitgehend autobiographisch).<br />

Geschildert wird aus der Jugendperspektive<br />

natürlich auch die nicht einmal<br />

scheinbar 'unschuldige' Erwachsenengeneration<br />

(Eltern, Geistliche und Funktionsträger<br />

der Nazi-Welt wie Lehrer und<br />

Offiziere). Frappierend ist dabei die scheinbare<br />

Normalität und die mit Händen zu<br />

greifende Alltäglichkeit, aber das ist m.E.<br />

*) Goethe: Nachtrag zu Philostrats Gemälde, Weimarer<br />

Ausgabe, 1. Abt. 49/1, S. 142 (Hanser Ausgabe,<br />

München <strong>19</strong>93, Bd.13.2, S. 27).<br />

1 Grass, Günter: Katz und Maus, rororo 572, Reinbek<br />

bei Hamburg <strong>19</strong>63, 675. Tausend <strong>19</strong>73 (Erstausgabe<br />

Luchterhand Velag, Neuwied/Berlin-Spandau <strong>19</strong>61;<br />

Werkausgabe Bd. <strong>II</strong>, hg. v. Volker Neuhaus, Luchterhand,<br />

Neuwied/Darmstadt <strong>19</strong>87.<br />

2 Vgl. dazu Tiesler, a.a.O., S. 97-117.<br />

3 Grass bezeichnet sie selbst auf dem Titelblatt als<br />

Eine Novelle. Auf die Diskussion des 'Novellistischen'<br />

kommen wir noch zurück.<br />

Bjørn Ekmann<br />

eine ungeheure Provokation, die den Leser<br />

zum Nachdenken nicht nur über die<br />

Brutalisierung von Denken und Verhalten in<br />

der Nazizeit, sondern auch über das<br />

’Normale’ von heute veranlassen soll.<br />

Zweitens wird scheinbar beiläufig, aber<br />

sehr suggestiv und intensiv, durch die besondere<br />

Perspektive der zurückblickenden<br />

und dabei ausgesprochen unglaubwürdigen<br />

Erzähler-Figur 4 , die Frage nach der Nachwirkung<br />

der Nazizeit und des Krieges und<br />

nicht zuletzt der Mitschuld gestellt, womit<br />

sich die Erzählung in die u.a. von der<br />

"Gruppe 47" getragene Tradition der versuchten<br />

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />

5 , bzw. der demokratischen und<br />

humanistischen Aufklärungsarbeit einschreibt.<br />

Drittens: Unverkennbar wird als Hauptmerkmal<br />

der Mentalität im Dritten Reich die<br />

Kleinbürgerlichkeit gezeigt (in mehreren Bedeutungen<br />

dieses Begriffes) 6 . Ohne dass das<br />

eigens ausdrücklich betont wird, geht daraus<br />

klar hervor, dass sich in der demokratisierten<br />

und reformierten, aber restaurativen Bundesrepublik<br />

daran im Grunde wenig verändert<br />

hat - für die wirklich tiefgehende Vergangenheitsarbeit<br />

und die Vorbeugung einer<br />

Wiederholung der Geschichte also eine<br />

Menge Aufklärungs- und Emanzipationsarbeit<br />

noch zu leisten ist. Diese Implikation<br />

ist auch verstanden worden und hat nicht unerheblich<br />

zur wütenden Reaktion im<br />

4 Vgl. dazu Krumme.<br />

5 nicht etwa Bewältigung der Vergangenheit; die<br />

darin enthaltene Implikation von ”damit Fertigwerden”<br />

hat Grass noch schärfer als die Gruppe 47<br />

abgelehnt.<br />

6 Vgl. dazu Koopmann; siehe auch Tiesler, S. 59-84.


konservativen Teil der bundesdeutschen<br />

Öffentlichkeit beigetragen (das DDR-<br />

Publikum durfte damals Grass gar nicht lesen<br />

und dabei womöglich zu Reflexionen über<br />

kleinbürgerliches Gedankengut im eigenen<br />

sozialistischen System veranlasst werden).<br />

Viertens: Die Novelle ist nicht nur aus<br />

der Sicht damaliger Pubertärer erzählt, sondern<br />

thematisiert auch ausführlich und intensiv<br />

gerade das Pubertäre - sowohl dessen Zusammenhang<br />

mit der Nazi-Mentalität wie<br />

auch überhaupt die entwicklungspsychologische<br />

Problematik der Sexualität, der<br />

Identitätskrise und der Selbstfindung. Dabei<br />

verletzt Günter Grass etliche Tabus und Geschmacksgrenzen<br />

der Leser.<br />

Dem persönlichen Zeugnis Flensburger<br />

Freunde verdanke ich den Hinweis darauf,<br />

dass damals auch junge und betontermaßen<br />

'linke' Intellektuelle etwas angewidert fragten:<br />

"Muss das so obszön sein?". Aus heutiger<br />

Sicht leuchtet eher ein, dass das in der<br />

Optik von Grass gerade eben sein musste,<br />

weil Tabuierung für ihn ein so wesentlicher<br />

Teil der nicht-aufgeklärten, autoritären und<br />

hinten herum immer noch potentiell gewalttätigen<br />

Mentalität geblieben war - und weil<br />

nach seiner Auffasung die Alternative zur<br />

emanzipierten Sexualität nicht sublimierte<br />

Geistigkeit, sondern verklemmte und perverse<br />

und grausame Sexualität ist 7 .<br />

5) Spätestens bei dieser Dimension der<br />

Novelle wird deutlich, dass die beunruhigenden<br />

Fragen nicht auf die Nazizeit<br />

und deren Nachwirkungen beschränkt<br />

bleiben. Grass schreibt sich mit dieser erschütternd<br />

wahrhaftigen und hautnah erlebten<br />

jugendpsychologischen Studie in eine<br />

Tradition der ”jungen Leiden” von Rousseau<br />

bis Salinger ein und verweist damit auf<br />

Lebensprobleme, die zwar dringend nach<br />

Aufklärung und Reformarbeit verlangen,<br />

unmöglich aber ein für allemal dadurch beseitigt<br />

werden können.<br />

6) Das gilt erst recht, wenn wir im einzelnen<br />

nachvollziehen, wie Grass sowohl anhand<br />

seiner Mahlke-Figur wie auch anhand<br />

von dessen 'Schatten', dem Erzähler, die<br />

Frage nach der Selbstfindung sowohl über<br />

die Pubertätspsychologie als auch über die<br />

besondere Nazizeit-Bedingtheit hinaus- und<br />

in die Dimension der generellen philo-<br />

7 Zur Dingsymbolik der verklemmten und verbogenen<br />

Sexualität, vgl. vor allem Roberts.<br />

252<br />

Bjørn Ekmann<br />

sophischen Fragen nach Existenz und Sinn,<br />

nach Schicksal und Willensfreiheit und nach<br />

ethischer Verantwortlichkeit hineingehoben<br />

hat 8 .<br />

Die Grass-Forschung ist von allem Anfang<br />

an auf die Symbolik bei Grass aufmerksam<br />

gewesen – allerdings oft unter Abstandnahme<br />

von dem Terminus Symbol, z.T. auf<br />

Grass selbst gestützt, der z.B. in einem Interview<br />

im amerikanischen Life 9 kurzerhand<br />

behauptete: Symbols are nonsense – when I<br />

write about potatoes, I mean potatoes.<br />

Niemand leugnet natürlich, dass dieser<br />

phantasiereiche Autor etwas mit seinen Kartoffeln<br />

macht, wenn er sie künstlerisch gestaltet.<br />

Die Frage ist nur, ob man das Symbolik<br />

nennen soll. G.Just zum Beispiel 10<br />

möchte lieber in Anlehnung an T.S. Eliot 11<br />

und Wellek & Warren 12 von einem objektiven<br />

Korrelat sprechen ("Materialisation des<br />

Psychischen“ gerade eben kraft der tatsächlichen<br />

Funktion des konkreten Gegenstandes<br />

im konkreten Handlungsverlauf – der ja freilich<br />

eine fiktive Realität ist, so wie ja auch<br />

überhaupt von einer Kommunikation durch<br />

sprachliche Zeichen in einer Textstruktur die<br />

Rede ist). Andere 13 wollen nur von "Gegenständlichkeit“<br />

reden (bzw. von "Gegenstand<br />

und Metapher zugleich“ 14 ) und weisen darauf<br />

hin, dass Grass eben, wie der Graphiker, der<br />

er nicht nur in seiner bildenden Kunst ist,<br />

durch "die Art“, wie die Gegenstände geformt,<br />

gefärbt und in eine Gesamtkonzeption<br />

eingebaut werden, diese Gegenstände "bedeutsam“<br />

macht (als ob damit sofort bewiesen<br />

wäre, dass dann "nicht irgendeine<br />

Verweisung auf einen außerhalb des Bildes<br />

8 Vgl. dazu Stolz a.a.O., S. 10-11.<br />

9 Life LV<strong>II</strong>I, 22, S. 51<br />

10 Just, G.: Darstellung und Appell in der ”Blechtrommel”<br />

von Günter Grass. Darstellungsästhetik<br />

versus Wirkungsästhetik, Frankf. a. M. <strong>19</strong>72. Vgl.<br />

auch dessen Beitrag zu Jurgensen, M.: Kritik, Thesen,<br />

Analysen, Bern, 5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 31-44.<br />

11 Eliot, T.S.: Hamlet and His Problems (<strong>19</strong><strong>19</strong>), in:<br />

Selected Prose, Harmondsworth, 3. Aufl. <strong>19</strong>58, S.<br />

107.<br />

12 Theory of Literature, New York <strong>19</strong>42.<br />

13 Baier, L.: Weder ganz noch gar. Günter Grass und<br />

das Laborgedicht , in: Text + Kritik 1/1a, 4. Aufl.<br />

<strong>19</strong>71, S. 67-71. Neuhaus, Volker: Günter Grass, 2.<br />

überarb. u. erw. Ausg., Sammlung Metzler 179,<br />

Stuttg./Weimar <strong>19</strong>93.<br />

14 Baier, a.a.O., S. 68.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />

in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />

bleibenden Sinn“ 15 mit im Spiele wäre).<br />

Dazu bemerkt m.E. sehr überzeugend<br />

K.L.Tank 16 : ”Dennoch ist der Gegenstand<br />

Bedeutungs- oder Formträger, genauer gesagt:<br />

er wird es im Laufe des (Werkes)”.<br />

Ebenso überzeugend verweist F. Richter 17<br />

darauf, dass die besondere "Gegenständlichkeit“<br />

bei Grass gerade dadurch entsteht, dass<br />

die "Gegenstände“ isoliert dastehen und in<br />

isolierten Episoden aufleuchten – und dass<br />

Grass überhaupt "die gewohnte 'Wirklichkeit‘<br />

zertrümmert" 18 , wodurch der "Gegenstand“<br />

erstens an Gewicht und Bedeutung<br />

gewinnt, zweitens in neue eigene interne<br />

Bezugsstrukturen im Text eingehen kann; ein<br />

Beispiel solcher Bezugsstrukturen wäre die<br />

Leitmotiv-Tech-nik <strong>19</strong> : die "Dinge“ sind zuerst<br />

als "Zeugen“ bei den dramatischen und unbegreiflichen<br />

Ereignissen dabei, werden<br />

dann aber mehrfach wiederholt und verwandeln<br />

sich damit in Träger des Unbegreiflichen,<br />

das sie veranschaulichen und<br />

assoziativ in Erinnerung rufen – was eben<br />

letzten Endes das miteinander in Verbindung<br />

bringt, was zusammenhängt und dadurch<br />

langsam begreiflich wird, begreiflich aber<br />

nicht im Sinne der Vereinfachung, sondern<br />

im Sinne der Einsicht in fremde und fremdbleibende<br />

Personen, Geschehnisse und Zusammenhänge.<br />

– Frizen <strong>20</strong> wiederum bezeichnet<br />

diese textinternen Verweis-<br />

Strukturen als die Entwicklung von Keimmetaphern<br />

zu einem allegorischen Netz.<br />

Mir ist nicht entscheidend wichtig, ob wir<br />

von objektiven Korrelaten, von allegorischen<br />

Netzen, von besonderer Gegenständlichkeit,<br />

von graphischer Bildlichkeit oder von zertrümmerten<br />

Wirklichkeitsbildern reden; jede<br />

dieser Formulierungen trifft m.E. einen<br />

Aspekt des Sachverhalts bei Grass. Nichts<br />

davon scheint mir aber dagegen zu sprechen,<br />

15 Neuhaus, a.a.O., S. 12-13<br />

16 In: Jurgensen, M.: Kritik, Thesen, Analysen, Bern<br />

5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 43.<br />

17 Richter, F.: Die zerschlagene Wirklichkeit. Überlegungen<br />

zur Form der Danzig-Trilogie von Günter<br />

Grass, Bonn <strong>19</strong>77, S. 51-67.<br />

18 In Anlehnung an poetologische Äusserungen von<br />

Döblin (vgl. dazu zusammenfassend Neuhaus<br />

a.a.O.S.3-18)<br />

<strong>19</strong> Vgl. Cepl-Kaufmann, G.: Günter Grass. Eine Analyse<br />

des Gesamtwerks unter dem Aspekt von Literatur<br />

und Politik, Kronberg/Ts. <strong>19</strong>75<br />

<strong>20</strong> Frizen, a.a.O. S.144-169, insbes. S.150.<br />

dass wir Symbole bei Grass untersuchen 21 .<br />

Die genannten Nachweise von komplizierten<br />

Relationen zwischen Abbildung und Verfremdung,<br />

Veranschaulichung und Deutung<br />

stimmen vielmehr beispielhaft mit der paradoxen<br />

Symbol-'Definition‘ Goethes überein:<br />

die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch<br />

die Sache 22 .<br />

Wie ich zu zeigen hoffe, sind die Symbole<br />

bei Grass auch in dem eher landläufigen<br />

Sinne 'symbolisch‘, dass ihre Bildlichkeit<br />

z.T. von wohlbekannten emblematischen<br />

Bedeutungen zehrt, zwar nicht gerade Herz<br />

und Nachtigall und Rose und auch nicht ohne<br />

Ironie, wohl aber teils einleuchtende und aus<br />

Freud- und Jung-Popularisierungen allgemein<br />

vertraute Traum- und Märchen-Symbole,<br />

teils Embleme der verschiedensten<br />

Ideologien – wohlgemerkt aber weder traditionalistisch-stereotyp<br />

noch sarkastisch-satirisch<br />

vereinfachend angewandt, sondern immer<br />

durch ihre gegenseitige oder innere Widersprüchlichkeit<br />

zu Reflexion und Neudenken<br />

anregend (auf einmal verfremdendkritisch<br />

und einfühlend-verständnisvoll).<br />

Wichtig ist mir ferner Folgendes: Die<br />

Weise, wie Grass, bzw. der quasselnde, unzuverlässige<br />

Erzähler Pilenz, albern kommentierend<br />

um die Symbolik kreist, lässt<br />

dem Leser nichts anderes übrig als sich bewusst<br />

deutend und kritisch wertend zu den<br />

21 Ich muss die Behauptung ablehnen, die einigermaßen<br />

einmütig von Geissler, Hille-Sandvoss (s. zusammenfassend<br />

op.cit. S. 2-16), Jurgensen, Just, Wagenbach<br />

und Wieser aufgestellt wird, bei Grass fehle<br />

die für Symbolik unentbehrliche Reflexivität und<br />

Sprachskepsis etwa der deutschen Klassik, der Romantik<br />

und des Modernismus (weil Grass eben auch<br />

bildender Künstler sei und als solcher recht problemlos<br />

„einen gezeichneten Pilz“ mit dem entsprechenden<br />

realen Objekt gleichsetze). Angesichts<br />

eines Jahrhunderts abstrakter, expressionistischer und<br />

konstruktivistischer bildender Kunst halte ich eine<br />

solche Annahme einfach für naiv, und bei Grass kann<br />

ich keinen Anhaltpunkt dafür finden, zumal in Betracht<br />

der offensichtlichen Ambivalenz seiner Erzählperspektive<br />

und der ausdrücklichen Fiktionsironie<br />

seiner Erzähler (bei Pilenz genauso wie bei Oskar<br />

Matzerath). Das schließt natürlich nicht aus, dass die<br />

genannten Forscher richtig und fruchtbar darauf hingewiesen<br />

haben, wie außerordentlich wirksam Grass<br />

seine Bilder anschaulich, gegenständlich und ”sinnlich”<br />

anregend einsetzt.<br />

22 Vgl. Anm. 1!<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 253


Symbolen und zu den durch sie aufgeworfenen<br />

ethischen und existentiellen Problemen<br />

zu verhalten.<br />

Dazu trägt auch die eingangs erwähnte<br />

Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit bei.<br />

Bei beiden Personen (Mahlke und Pilenz)<br />

bleiben sehr viele und sehr wesentliche Fragen<br />

betontermaßen offen: Ist Mahlke damals<br />

gestorben, oder ist er glücklich davongekommen?<br />

Ist der extrem unzuverlässige<br />

und drum herum redende Erzähler schuld am<br />

Tod des Schulfreundes (oder doch mitschuldig,<br />

wie ja die Grauzone der Mitschuld<br />

überhaupt in jenen Jahren deutsches<br />

Schicksal war)? Sind sie beide wehrlose<br />

Opfer einer Kombination von ihrer Pubertätskrise<br />

und der Nazi-Mentalität – bzw.<br />

einer überhaupt absurden und fatalen Welt –<br />

oder aber hätten sie beide andere Wahlmöglichkeiten<br />

gehabt, glücklichere und ethisch<br />

richtigere? Die ungeheuer umfassende Grass-<br />

Literatur gibt auf diese Fragen sehr verschiedene<br />

Antworten.<br />

Es soll meine These sein, dass gerade die<br />

Anwendung der Symbole einerseits zwar<br />

diese und andere Fragen noch mehr kompliziert<br />

und differenziert, andererseits aber zugleich<br />

in einer solchen Weise wirkungsästhetisch<br />

zuspitzt, dass der Leser sich einer<br />

Stellungnahme unmöglich entziehen kann.<br />

Das wiederum heißt, dass der Leser – ob er<br />

nun mehr zur sympathisierenden Nachsicht<br />

oder zur Verurteilung der einen oder der<br />

anderen Person neigt, - für seine eigene Person<br />

eine gewisse (begrenzte) Wahlfreiheit 23<br />

und damit die Verantwortung bejaht, bzw.<br />

aus der Geschichte zu lernen bereit ist.<br />

Dabei hat es seine Grenzen, wieviel man<br />

aus der Geschichte lernen kann, so wie Geschichte<br />

von Grass verstanden und dargestellt<br />

wird. Vgl,dazu vor allem Karthaus 24 ,<br />

der sehr überzeugend ein Zitat aus Grass’<br />

Vortrag Über meinen Lehrer Alfred Döblin<br />

auf Katz und Maus anwendet: Geschichte sei<br />

eine ”Vielzahl widersinniger und gleichzeitiger<br />

Abläufe”.<br />

Die meisten und die wichtigsten Symbole<br />

gruppieren sich in zwei Komplexe: die vielen<br />

verschiedenen und merkwürdigen Dinge, mit<br />

denen Mahlke seinen allzu großen Adamsapfel<br />

zu verdecken sucht, - und der Adams-<br />

23 Vgl. dazu Stallbaum a.a.O., S. 117 f.<br />

24 A.a.O., S. 84-85.<br />

254<br />

Bjørn Ekmann<br />

apfel selbst mit dem damit verknüpften<br />

zentralen Bildpaar Katz und Maus.<br />

Durch die ganze Erzählung hindurch<br />

zieht sich leitmotivisch das Bild von Katze<br />

und Maus – Raubtier und Opfer, Bedrohtheit<br />

und Flucht, Gewalttat und Schuld.<br />

Einerseits weist der Erzähler dabei raunend<br />

auf das Raubtier als lauerndes, hämisches<br />

und unausweichliches Schicksal hin.<br />

Andererseits erfolgt das immer an einem<br />

Punkt, wo Mahlke oder Pilenz gerade etwas<br />

Fatales getan hat – fatal also eben nicht im<br />

Sinne von unvermeidlich, sondern vielmehr<br />

im Sinne von folgenschweren Handlungen,<br />

die der Betreffende hätte lassen sollen und<br />

die der Leser erkennt und rückblickend versteht<br />

und vorausahnend rügt. Besonders eindrucksvoll<br />

und nachdenkenerregend ist da<br />

das einleitende und mehrfach in Erinnerung<br />

gerufene Handlungsmotiv der ganz realen<br />

Katze, die dem ahnungslosen Mahlke heimtückisch<br />

auf die Kehle geworfen wird –<br />

vielleicht von Pilenz, vielleicht auch nicht.<br />

Gerade weil es zweideutig bleibt, was real<br />

passiert, erwägt der Leser ein ganzes Spektrum<br />

von Bedeutungsmöglichkeiten des<br />

symbolischen Bildkomplexes, vor allem die<br />

Beziehung zwischen den Raubtierkrallen und<br />

dem wehrlosen Kehlkopf.<br />

Die sexuelle und entwicklungsbiologische<br />

Referenz des überentwickelten Adamsapfels<br />

liegt auf der Hand (Scheu und Scham<br />

und Tabu-Angst beider Jungen angesichts<br />

der hervorbrechenden Männlichkeit) – unentschieden<br />

bleibt zunächst, wie man sich<br />

dazu stellen soll. Adam und Apfel verweisen<br />

natürlich auf den Sündenfallmythos (so wie<br />

überhaupt vielfach beim jungen Grass auf<br />

Mythen angespielt wird, immer um ihre gängige<br />

Deutung zu reflektieren und in Frage zu<br />

stellen) – aber wer ist nun eigentlich welcher<br />

Sünde schuldig? Ist es sündhaft, geschlechtsreif<br />

zu werden, oder wird uns als Lesern<br />

nicht vielmehr nahegelegt, kritisch zu durchschauen,<br />

dass der ’Zeitgeist’ in dieser erzählten<br />

Welt so pervers mit Geschlecht und<br />

Wachstum und Leben umgeht, dass daraus<br />

unvermeidlich Krampf und Angst und Bosheit<br />

und Unheil entstehen muss?<br />

Ich für mein Teil jedenfalls finde die Gesamtdeutung<br />

schlüssig, dass das Schicksal<br />

Katze (Gewalt und Totschlag) und Maus<br />

(Angst, Flucht, Opferrolle, entwürdigendes<br />

Unterwerfungsspiel, Leiden und Tod) allerdings<br />

abstrakt gesehen allgemeinmenschliches<br />

Los ist, konkret aber nicht notwendi-<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />

in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />

gerweise so allbeherrschend sein müsste wie<br />

in dieser männlichkeitsprotzenden Naziwelt.<br />

Wäre der Zwang zur Männlichkeit nicht<br />

so unbarmherzig und die bornierte Tabuierung<br />

davon nicht zugleich so verängstigend,<br />

dann hätte Mahlke nicht so verkrampft Pseudo-<br />

und Ersatz-Männlichkeit produzieren<br />

müssen, und dann hätte auch Pilenz nicht so<br />

mörderisch eifersüchtig den bewunderten<br />

größeren Freund hassen müssen, dass Maus<br />

und Katze, Opfer-Angst und Raubtier-Gewalt,<br />

Selbsthass und Menschenhass der unvermeidlichen<br />

Katastrophe entgegenwirbeln<br />

müssen.<br />

Wie Gerhard Kaiser überzeugend nachweist<br />

25 , ’gewinnt’ dabei am Ende die große,<br />

ungelenke ’Maus’ Mahlke: die ’grausame<br />

Katze’ Pilenz ist dazu verdammt, bis in alle<br />

Ewigkeit das verschwundene Opfer angstvoll<br />

ungewiss weiter zu jagen. Überhaupt sind<br />

Henker und Opfer gleichermaßen ohnmächtig<br />

und unglücklich in ihren Rollenzwängen.<br />

Das wird alles vielleicht etwas deutlicher,<br />

wenn wir eine schnelle Inventaraufnahme der<br />

symbolischen Gegenstände aufstellen, mit<br />

denen sich groteskerweise der große Schuljunge<br />

schmückt, um seinen tabuierten<br />

Schampunkt, den Adamsapfel, zu überdecken.<br />

Vor dem definitiven und fatalen<br />

Schmuck, dem Eisernen Kreuz für Helden<br />

der Nazi-Wehrmacht, hängen da als Halsschmuck<br />

in schneller Folge und in verschiedenen<br />

Kombinationen ein katholisches<br />

Kruzifix, ein Schraubenzieher, ein Medaillon<br />

der polnischen Schwarzen Madonna von<br />

Tschen-stochau, ein Büchsenöffner, ein Bündel<br />

Woll-Quasten, eine Gedenkmedaille vom<br />

polnischen Feldmarschall Pilsudski, eine<br />

Grammofonkurbel, ein Paar Sicherheits-<br />

Leuchtknöpfe für Straßenverkehr bei Verdunkelung,<br />

eine Sicherheitsnadel, die Eisenbahnmedaille<br />

des Vaters, der in einer heroischen<br />

Rettungsaktion umkam, und anderes<br />

mehr.<br />

Entwicklungspsychologisch ist es natürlich<br />

vollkommen realistisch, dass ein identitäts-verunsicherter<br />

Junge in der Pubertät mit<br />

Rollensignalen experimentiert – einschließlich<br />

derer vom anderen Geschlecht, wie in<br />

diesem Fall mit den ultrafemininen Wollpuscheln,<br />

die mitten im hypermännlichen<br />

Propagandasturm des Krieges eine Mode-<br />

25 a.a.O., S. 12-<strong>19</strong>.<br />

welle für männliche Jugendliche werden.<br />

Andererseits ist die sonstige Auswahl so seltsam<br />

und so auffällig mit widerstreitenden<br />

Signalwerten besetzt, dass auch ein nichtprofessionel-ler<br />

Leser zum Nachdenken über<br />

symbolische Werte und weltanschauliche<br />

Orientierung gezwungen wird.<br />

Ein schneller Überblick zeigt, dass den so<br />

verschiedenartigen Totems eine wesentliche<br />

Eigenschaft gemeinsam ist (außer den weiblichen<br />

Quasten, die als verdeutlichender Gegenzug<br />

dazu dienen): sie verdecken alle die<br />

biologische Männlichkeit des Adamsapfels<br />

mit einem Zeichen der Leistung, der Potenz<br />

im übertragenen Sinne, sei es als Werkzeug<br />

technischer Manipulation, sei es als Logo<br />

einer Partei oder Bewegung oder Nationalität<br />

– wobei es provozierenderweise dem identitätshungrigen<br />

Jungen offenbar zutiefst egal<br />

ist, ob das nun polnisch oder deutsch, nationalsozialistisch<br />

oder katholisch, zivil oder<br />

militärisch ist; Hauptsache: es befreit von<br />

Bios und Individualität. Ein Zufall ist es<br />

dann natürlich doch nicht, dass als äußerste<br />

Konsequenz das Eiserne Kreuz um jeden<br />

Preis angestrebt wird; darin gipfelt das im<br />

Sinne von Erich Fromm 26 Nekrophile: die<br />

Flucht vor dem Leben in Destruktion und<br />

Tod.<br />

Gefüllt mit konkreten und anschaulichen<br />

Vorstellungen werden diese Symbole weitgehend<br />

durch den Kontext.<br />

Die Signale von Krampf und Lebensangst<br />

Mahlkes etwa durch die leitmotivisch wiederholte<br />

Beschreibung seines mit Zuckerwasser<br />

gestärkten Mittelscheitels, seines Untertauchens,<br />

seiner gezwungenen Turn-,<br />

Schwimm- und Masturbationsleistungen, seines<br />

Rückzugs in die Uterus-ähnliche Höhle<br />

im versunkenen Schiff etc.<br />

Und die Technik-Besessenheit durch die<br />

langen Gespräche der Jungen über Brutto-<br />

Tonnage, Höchstgeschwindigkeit und Bestückung<br />

von Schiffen, Panzern und Flugzeugen.<br />

Mehrere Interpreten 27 haben diese zeitspezifischen<br />

Perversionssymptome etwas<br />

26 Fromm, Erich: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit<br />

zum Guten und zum Bösen, Wien/ Frankfurt/Berlin<br />

<strong>19</strong>81 (The Heart of Man. Its Genius for<br />

Good and Evil, New York <strong>19</strong>64).<br />

27 Neuhaus, Friedrichsmeyer, Behrendt, Rothenberg,<br />

Stallbaum, Hensing.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 255


zurückgedrängt zugunsten einer eher abstrakt<br />

und zeitlos ’allgemeinmenschlichen’ und absolut<br />

fatalistischen Deutung.<br />

Verwiesen wird dann meist auf Camus<br />

als philosophisches Vorbild. Diese Beziehung<br />

halte ich an sich für ganz einleuchtend<br />

28 , aber auch Camus bleibt ja nicht<br />

bei der Absurdität einfach stehen, sondern er<br />

leitet davon die ’condition humaine’ ab, dass<br />

der Mensch als alleinverantwortlich auf sich<br />

selbst zurückgeworfenes Individuum darauf<br />

angewiesen ist, dem Sinnlosen einen Sinn<br />

abzutrotzen, und sei das auch nur für einen<br />

Augenblick, - darauf angewiesen, selbst eine<br />

Gemeinschaft zu stiften mit den anderen<br />

ebenso Zurückgeworfenen, selbst eine Ethik<br />

zu setzen ohne Glauben an Gott oder Idee 29 .<br />

Genau diese anti-idealistische Ethik, diese<br />

Philosophie einer begrenzten Willensfreiheit<br />

aber einer absoluten Verantwortung,<br />

einer Treue dem Bios und einer Feindschaft<br />

dem Tode oder der Todessucht gegenüber,<br />

scheint mir der Kern von Katz und Maus wie<br />

vom ganzen Jugendwerk von Grass zu sein.<br />

Erschütternde Katastrophen, jawohl, aber<br />

immer mit dem Willen, genau zu zeigen, was<br />

falsch gemacht wird (verständlich, aber<br />

falsch): psychologisch genau und historisch<br />

genau. Nicht mit einer Lösung oder einer Erlösung<br />

30 , wohl aber mit der unausweichlichen<br />

Herausforderung zu Einsicht und Bemühung<br />

(”Man muss sich Sisyphos als einen<br />

glücklichen Menschen vorstellen”) 31 .<br />

28 Von Grass selbst auch mehrfach als solches benannt.<br />

Vgl. Neuhaus 2, S.46; vgl. auch Stallbaum und<br />

Hensing.<br />

29 Vgl.etwa L’homme révolté, Paris <strong>19</strong>51, S. 39: ”...il<br />

ne s’agit pas seulement d’une négation pur et simple.<br />

... nous trouvons un jugement de valeur au nom duquel<br />

le révolté refuse son approbation à la condition<br />

qui est la sienne”, und ebenda S. 377: ”...apprendre à<br />

vivre et à mourir, et pour être homme, refuser d’être<br />

dieu ... pour partager les luttes et le destin communs.”<br />

30 Völlig überzeugend verweist Richter s. etwa op.cit.<br />

S. 9) darauf, dass jeder, aber auch wirklich jeder Versuch<br />

einer Kausalerklärung und eines Werturteils<br />

Schwierigkeiten hat mit den ungelösten Widersprüchen,<br />

Paradoxien und Ironisierungen der Grasschen<br />

Erzählweise. Ich kann daher auch unmöglich<br />

beweisen, dass meine Deutung besser stimmt als etwa<br />

die eher auf Ohnmacht und Resignation hinauslaufende<br />

von Gerhard Kaiser.<br />

31 Camus, Albert: Le mythe de Sisyphe, Paris <strong>19</strong>43<br />

(die Einleitungsworte des Textes).<br />

256<br />

Bjørn Ekmann<br />

Zu diesem Zweck auch sind Mythos und<br />

Symbol erschütternd gestaltet, aber nicht nur<br />

erschütternd, sondern auch verfremdet und<br />

nachdenkenerregend.<br />

In diesem Sinne auch ist die Novelle novellistisch<br />

und Novellen-Dekonstruktion zugleich.<br />

Was ist nämlich die ”unerhörte Begebenheit”?<br />

Jeder Grass-Kritiker, der darauf<br />

eingeht, wählt mit der größten Selbstverständlichkeit<br />

eine andere als die anderen<br />

Interpreten (oder aber lehnt es glatt ab, dass<br />

die Erzählung überhaupt eine Novelle ist 32 ).<br />

Bitte sehr: eine unerhörte Begebenheit ist es<br />

gleich zu Anfang, als Pilenz (oder wer auch<br />

immer) dem allzu männlichen Mahlke das<br />

Raubtier an die Kehle wirft. Das nimmt ja<br />

aber bloß vorweg, dass Pilenz am Ende mit<br />

seinen Lügen den gejagten Deserteur in das<br />

versunkene Schiff lockt und ihm dabei den<br />

lebensnotwendigen Büchsenöffner vorenthält.<br />

Aber auch Mahlkes Diebstahl vom Ritterkreuz<br />

ist (aus den verschiedensten Perspektiven)<br />

eine unerhörte Begebenheit. Seine<br />

Masturbationsparade aber auch. Und das<br />

Freipissen der Luke zum Zweck des winterlichen<br />

Tauchens in ’schöner’ Literatur ebenso.<br />

Und seine gespenstischen ’Heldentaten’<br />

im Panzer erst recht. Und das ”Stabat Mater”<br />

auf der Feldlatrine. Und so weiter und so<br />

fort. Besonders ’unerhört’ ist natürlich, dass<br />

die ’Heldentaten’ einzig und allein aus pubertär-infantiler<br />

Verwirrung und Geltungssucht<br />

stattfinden 33 . Aus der einen unerhörten<br />

Begenheit der klassischen Novelle wird eine<br />

Kettenreaktion von unerhörten Begebenheiten,<br />

und zwar sicherlich mit Absicht: Wir<br />

können als Leser kaum umhin, so sehr sich<br />

auch alles in uns dagegen sträubt, den Ursachen<br />

und Wirkungen dieser Kettenreaktion<br />

forschend und reflektierend nachzugehen.<br />

Ändern können wir an der Geschichte selbst<br />

ja nichts. Aber als unveränderlich wird es<br />

nicht dargestellt 34 .<br />

32 ”Anti-Novelle”, vgl. Rothenberg, a.a.O., S. 47; vgl.<br />

auch Bruce, a.a.O., S. 139-149.<br />

33 Vgl. Kaiser, a.a.O., S. 30-31.<br />

34 Ich stimme in diesem Punkt vorbehaltlos Neuhaus<br />

(Neuhaus I S. <strong>20</strong>-22) und Cepl-Kaufmann (a.a.O., S.<br />

101) zu: Die vielen Symptome kleinbürgerlicher<br />

Denk- und Verhaltensweisen in der ganzen ’Danziger<br />

Trilogie’ sind keineswegs so zu verstehen, als ergäben<br />

sich daraus mit soziologischer Prädetermination Nationalsozialismus<br />

und Gemeinheit. Vielmehr gibt es<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />

in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Baier, L.: Weder ganz noch gar. Günter Grass<br />

und das Laborgedicht , in: Text + Kritik 1/1a,<br />

4. Aufl. <strong>19</strong>71, S. 67-71.<br />

2. Behrendt, Johanna E.: Auf der Suche nach<br />

dem Adamsapfel, in: GRM NF, 29, 3 (<strong>19</strong>69),<br />

S. 313-326<br />

3. Behrendt, Johanna E.: Die Ausweglosigkeit<br />

der menschlichen Natur. Eine Interpretation<br />

von Günter Grass’ ”Katz und Maus”, in:<br />

Geissler, Rolf (Hrsg.): Günter Grass: ein Materialienbuch,<br />

Darmstadt <strong>19</strong>76, S. 115-135<br />

4. Bruce, James C.: The equivocating narrator in<br />

Gunter Grass’ ”Katz und Maus”, in: Monatshefte<br />

58, 1 (Madison, Wisconsin <strong>19</strong>66)<br />

5. Cepl-Kaufmann, G.: Günter Grass. Eine Analyse<br />

des Gesamtwerks unter dem Aspekt von<br />

Literatur und Politik, Kronberg/Ts. <strong>19</strong>75<br />

6. Friedrichsmeyer, Erhard M.: Aspects of<br />

Myth, Parody, and Obscenity in Grass’ ”Die<br />

Blechtrommel” and ”Katz und Maus”, in:<br />

Germanic Review 40 (<strong>19</strong>65), S. 240-252<br />

7. Frizen, W.: Anna Bronskis Röcke – ”Die<br />

Blechtrommel” in ’ursprünglicher Gestalt’,<br />

in: Neuhaus/Hermes (Hg.): Die ’Danziger<br />

Trilogie’ von Günter Grass. Texte, Daten,<br />

Bilder, Frankf. a. M. <strong>19</strong>91, S. 144-169.<br />

8. Hensing, Dieter: Günter Grass und die Geschichte<br />

– Camus, Sisyphos und die Aufklärung,<br />

in: Labroisse, Gerd / van<br />

Stekelenburg, Dick (Hrsg.): Günter Grass: ein<br />

europäischer Autor?, Amsterdamer Beiträge<br />

zur neueren Germanistik 35 (<strong>19</strong>92), S. 85-122<br />

9. Hermes: siehe Neuhaus<br />

10. Hille-Sandvoss, Angelika: Überlegungen zur<br />

Bildlichkeit im Werk von Günter Grass,<br />

Stuttgart <strong>19</strong>87<br />

11. Jurgensen, M.: Kritik, Thesen, Analysen,<br />

Bern 5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 43.<br />

12. Just, G.: Darstellung und Appell in der<br />

”Blechtrommel” von Günter Grass. Darstellungsästhetik<br />

versus Wirkungsästhetik,<br />

Frank-furt a. M. <strong>19</strong>72<br />

13. Kaiser, Gerhard: Günter Grass: ”Katz und<br />

Maus”, München <strong>19</strong>71<br />

14. Karthaus, Ulrich: ”Katz und Maus” von<br />

Günter Grass – eine politische Dichtung, in:<br />

Deutschunterricht 23, 1 (<strong>19</strong>71) S. 74-85<br />

Beweise genug dafür, dass ethisches Verhalten<br />

durchaus möglich war, und jeder einzelne wird auf<br />

seine individuelle Schuld und Verantwortung festgehalten.<br />

15. Koopmann: siehe Neuhaus<br />

16. Krumme, Detlef: Der suspekte Erzähler und<br />

sein suspekter Held. Überlegungen zur Novelle<br />

”Katz und Maus”. In: Durzak, Manfred<br />

(Hg.): Zu Günter Grass. Geschichte auf dem<br />

poetischen Prüfstand, Stuttgart <strong>19</strong>85, S. 65-<br />

79 (= LGW-Interpretationen 68, Klett-Verlag)<br />

17. Neuhaus, Volker (1): Günter Grass, 2. überarb.<br />

u. erw. Ausg., Sammlung Metzler 179,<br />

Stuttg./Weimar <strong>19</strong>93<br />

18. Neuhaus, Volker (2): Schreiben gegen die<br />

verstreichende Zeit. Zu Leben und Werk von<br />

Günter Grass, München <strong>19</strong>97<br />

<strong>19</strong>. Neuhaus/Hermes (Hg.): Die ’Danziger Trilogie’<br />

von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder,<br />

Frankf. a. M. <strong>19</strong>91, insbes. S. 170-181: Hermes,<br />

Daniela: ”Was mit Katz und Maus begann”<br />

- ein Kabinettstück Grassscher Prosakunst,<br />

und S. <strong>20</strong>0-221: Koopmann, Helmut:<br />

Der Faschismus als Kleinbürgertum und was<br />

daraus wurde.<br />

<strong>20</strong>. Pickar, Gertrud Bauer: Intentional Ambiguity<br />

in Günter Grass’ ”Katz und Maus”, in: Orbis<br />

Litterarum 26 (<strong>19</strong>71) S. 232-245<br />

21. Richter, F.: Die zerschlagene Wirklichkeit.<br />

Überlegungen zur Form der Danzig-Trilogie<br />

von Günter Grass, Bonn <strong>19</strong>77, S. 51-67.<br />

22. Ritter, Alexander: Günter Grass: Katz und<br />

Maus, Erläuterungen und Dokumente, Reclam<br />

UB 8137, ergänzte Ausg., Stuttgart<br />

<strong>19</strong>90.<br />

23. Roberts, David: The Cult of the Hero. An<br />

Interpretation of ”Katz und Maus”, in: German<br />

Life and Letters XXIX, 3 (April <strong>19</strong>76),<br />

S. 307-322<br />

24. Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos<br />

in verbesserter Ausführung: Zeitgeschichte<br />

als Thema und Aufgabe des Prosawerks, Heidelberg<br />

<strong>19</strong>76 (S. 33-61: Kap. <strong>II</strong> zu ”Katz und<br />

Maus”)<br />

25. Stallbaum, Klaus: Kunst und Künstlerexistenz<br />

im Frühwerk von Günter Grass, Köln<br />

<strong>19</strong>89<br />

26. Tiesler, Ingrid: Günter Grass: Katz und Maus,<br />

Interpretationen zum Deutschunterricht 771,<br />

München <strong>19</strong>71<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 257


GÜNTER GRASS: EIN WEITES FELD - EIN FONTANE-ROMAN<br />

Der <strong>19</strong>95 fertiggeschriebene Roman Ein<br />

weites Feld wird von Marcel Reich-Ranicki<br />

besonders begrüßt, indem er den Autor beglückwünscht,<br />

daß ihm etwas „Ungeheuerliches“<br />

gelungen sei, nämlich eine Erzählung<br />

mit Essays zu verknüpfen. Mit seiner Buchbesprechung<br />

im „Spiegel“ wird der Kritiker<br />

einen Medienskandal auslösen, der seinen<br />

Höhepunkt in der Sendung „Literarisches<br />

Quartett“ vom 24.08.<strong>19</strong>95 erfährt.<br />

Zu den Jubelausrufen der Rezensenten<br />

kommen viele kritische Stimmen hinzu, die<br />

den Roman regelrecht „zerreißen“. Tilmann<br />

Krause beispielsweise bezeichnet den gekünstelt<br />

komponierten Roman als „Fontaniana“,<br />

der zu plakativ die Fontanischen<br />

Leitmotive in den „stockenden“ Erzählfluß<br />

einbettet und dabei ganze Episoden aus dem<br />

Leben des Schriftstellers hinzuzieht.<br />

„Er zählt auf, ordnet ein und klappt das imaginäre<br />

Album wieder zu. Das Denken erfaßt noch ‘wann’<br />

und ‘wer mit wem’. Das ‘wie’ und ‘warum’ übersteigt<br />

schon den Horizont. […] Wo es mit dem Bezug auf<br />

die Biographie Fontanes und ihrem geschichtlichen<br />

Umfeld nicht hinhaut, holt Grass dann die Romane<br />

hervor.” (Tilmann: in: Görzel, 100 f.)<br />

Die Vorwürfe gehen viel weiter und noch<br />

tiefer, doch Zweck dieser Studie ist es gerade<br />

diesen Positionen zu widersprechen, indem<br />

versucht wird, andere Positionen und<br />

Lesarten zu suggerieren. Ausgangspunkt ist<br />

der Romantext selbst und auch die positiven<br />

Stimmen der Literaturkritiker, die sich mit<br />

dem Schriftsteller Günter Grass solidarisch<br />

zeigen. Der Kritiker Martin Lüdke wertet das<br />

Prosawerk als den großen Roman zur deutschen<br />

Einheit. Grass hat einen Roman als<br />

Jahrhundert-Werk angelegt, wobei der Autor<br />

in seinem Buch einen Bogen über mehr als<br />

100 Jahre deutscher Geschichte schlägt. Der<br />

Kunsthistoriker Peter Ludwig lobt die geschichtlichen<br />

Kenntnisse und den Sprachstil<br />

des Erzählwerkes:<br />

„Als subtiler Kenner der DDR, in die ich wieder<br />

und wieder gereist bin und wo ich viele Freunde unter<br />

den Bildenden Künstlern gewonnen habe, bin ich begeistert<br />

von Ihrer Fähigkeit, die Welt des Denkens<br />

und Fühlens dort für Heutige erlebbar zu machen...<br />

Sie haben in Ihrem dichterischen Lebenswerk unserer<br />

deutschen Sprache neuen Glanz gegeben, und Sie<br />

Eleonora Pascu<br />

sollten sich durch des Pöbels Geschrei, das im Fall<br />

Ihres neuen großen Buches als selbstgefällige Fachkritik<br />

daherkommt, nicht irremachen lassen. Ein<br />

Glück, daß es Sie gibt.“ (Ludwig: in: Neuhaus, 230)<br />

Walter Jens befindet sich ebenfalls unter<br />

den gutgesinnten Literaturwissenschaftlern,<br />

da er das neue Werk von Grass positiv einschätzt.<br />

„Ich lese Ein weites Feld ganz anders als die Kritiker.<br />

Ich lese es mit den Werken von Fontane, Bismarck,<br />

Nietzsche und den Fontane-Biographien auf<br />

der linken Seite des Tisches – auf der rechten liegt<br />

das Buch von Günter Grass. Eine vielleicht etwas altväterliche,<br />

auch viel Zeit verschlingende Lektüre,<br />

aber es ist nötig. Um einem Autor wie Grass auf die<br />

Schliche zu kommen, muß man genau lesen, sich auf<br />

ein Gespräch mit ihm einlassen und den Dialog, den<br />

er anbietet, fortspinnen. Ein Buch wie dieses, in dem<br />

Altes und Neues in wechselseitiger Erhellung sich<br />

begegnen – dessen Sprache in der Schwebe zwischen<br />

ureignester Grass-Diktion und Fontaneschem Plauderton<br />

sehr angenehm ist -, braucht viel Zeit – nicht<br />

nur zum Lesen, sondern auch zur Kritik.“ (Jens: in:<br />

Neuhaus, 229)<br />

Den Standpunkt des Germanisten vertretend<br />

und der Stimme des Autors folgend<br />

wird sich der Wert des Romans herauskristalisieren,<br />

indem sich der aufmerksame Leser<br />

die notwendige Zeit nimmt, um das Erzählwerk<br />

zu lesen, mit Liebe und Distanz.<br />

Günter Grass selbst erklärt seine Absicht,<br />

mit seinem Roman eine „literarische Korrektur<br />

und Gegenstimme“ zu der Geschichtsdarlegung<br />

von einer „gelungenen<br />

Einheit“ vorzulegen. Schon in seinen Reden<br />

und essayistischen Aufsätzen protestiert der<br />

Schriftsteller gegen den falschen „pharisäenhaften“<br />

Umgang der Westdeutschen mit den<br />

Ostdeutschen, gegen die politische, wirtschaftliche<br />

und ideologische „Vereinnahmung“<br />

der DDR seitens der BRD: so in Ein<br />

Schnäppchen namens DDR (<strong>19</strong>93) und Die<br />

Deutschen und ihre Dichter (<strong>19</strong>95).<br />

Thematisch betrachtet kann der Roman<br />

Ein weites Feld mehreren Romantypen zugeordnet<br />

werden. So gibt es darin Elemente,<br />

die auf einen Zeitroman bzw. historischen<br />

Roman hinweisen. Dieser Interpretationsansatz<br />

legitimiert sich durch das weit gefächerte<br />

zeitliche Spannungsfeld, das hun-


Günter Grass: "Ein weites Feld" - ein Fontane-Roman<br />

dertfünfzig Jahre deutsche Geschichte einbezieht,<br />

vom Vormärz und der Revolution<br />

von 1848 bis zum Spätsommer <strong>19</strong>91. Die<br />

Überlagerung von historischer Vergangenheit<br />

und Gegenwart berechtigt die Lesart als<br />

historischen Roman. „Das weitreichende Gedächtnis<br />

der Protagonisten macht aus dem<br />

vermeintlichen Zeitroman einen historischen<br />

Roman.“ (Moser: <strong>20</strong>00, 164) Textuelle<br />

Argumente aus dem Prosawerk bekräftigen<br />

insbesondere die Deutung als „Wenderoman“,<br />

die aber nur partiell dem Werk gerecht<br />

wird.<br />

„Wende-Roman? DDR-Reminiszenz? Stasi-Groteske?<br />

Wanderungen durch die Großstadt Berlin? Literatur<br />

über Literatur? Von allem etwas und in allem<br />

ein Schelmenroman, in dem Fonty als Widergänger<br />

von Theodor Fontane auftritt...“ (Herbert Glossner,<br />

Cover der DTV-Ausgabe)<br />

Hinzu kann auch die Lesart als Berlin-<br />

Roman gezählt werden, da sich die Haupthandlung<br />

in dieser Großstadt abspielt, sowohl<br />

auf der Ebene der Gegenwart als auch<br />

der Vergangenheit. Berlin bietet den richtigen<br />

Rahmen für die Abschweifungen in das<br />

„historische Feld“, das aus den verschiedensten<br />

Perspektiven dargestellt wird.<br />

Eine Zusammenfassung der möglichen<br />

Romantypen bietet auch Gisella Zimmermann-Thiel<br />

in ihrer Romanbesprechung.<br />

„Günter Grass’ jüngster Roman Ein weites Feld,<br />

der Zeitroman und Mentalitätsgeschichte ist, ein Fontane-<br />

und Berlin-Roman und nicht zuletzt ein Roman<br />

über die prekäre gesellschaftliche Stellung des<br />

Schriftstellers, ist das ästhetisch gelungene Ergebnis<br />

einer Verbindung, die der im vergleichenden Sehen<br />

geschulte Zeichner und Bildhauer Günter Grass mit<br />

dem historisch versierten Erzähl-Künstler Günter<br />

Grass eingegangen ist.“ (Zimmermann-Thiel: 15)<br />

Die Genialität des Schriftstellers Günter<br />

Grass besteht gerade darin Stoffe der alten<br />

und neuen Zeit zu verknüpfen, in seinem<br />

berüchtigten Montagestil, indem er Texte<br />

aus Texten schafft, die auf seiner weitgehenden<br />

Lektüre und intensiven Werkstattarbeit<br />

beruhen – Romane, Erzählungen,<br />

Entwürfe, Fragmente, Balladen, Theaterkritiken,<br />

Kriegsbücher, Reiseberichte, autobiographische<br />

Werke, Tagebücher, Briefe<br />

und verschiedene Forschungsarbeiten. (Vgl.<br />

Neuhaus: 217)<br />

Günter Grass greift in seinem Roman<br />

vorwiegend zum kollektiven „wir“, bestehend<br />

aus dem Erzählkollektiv vom<br />

Fontane-Archiv, das eine pluralistische<br />

Erzählposition einführt. Schon der erste Satz<br />

des Romans kündet diese Erzählperspektive<br />

an: Wir vom Archiv nannten ihn Fonty.<br />

(EWF, 9). Die Erzähler sind somit die anonymen<br />

Mitarbeiter des Fontane-Archivs in<br />

der Potsdamer Dortustraße, die in Fonty eine<br />

lebendige Kopie des „Unsterblichen“ sehen.<br />

Sie beobachten Theo Wuttke alias Fonty<br />

genau, hören ihm aufmerksam zu und<br />

recherchieren in seiner Abwesenheit den<br />

Fontane-Nachlaß mit größter Genauigkeit.<br />

Die Fonty-Wuttke Gestalt wirkt stimulierend<br />

auf das Archivkollektiv, das sich verpflichtet<br />

fühlt, die Geschichte des Verschollenen<br />

niederzuschreiben. Nach dem Verschwinden<br />

Wuttkes im Spätsommer <strong>19</strong>91, womit der<br />

Roman schließt, beginnt das Erzählerkollektiv<br />

die früheren Beobachtungen mit<br />

Recherchen zu ergänzen und festzuschreiben,<br />

Fakten, die dem Leser aus dem Gesamtgeschehen<br />

des Erzählwerkes schon bekannt<br />

sind. Damit wird die Geschichte der Wiedervereinigung<br />

Deutschlands erzählt und niedergeschrieben.<br />

Günter Grass stellt die<br />

neuesten geschichtlichen Ereignisse aus der<br />

Perspektive der DDR-Intelektuellen dar, deren<br />

Existenzen von diesem System dominiert<br />

wurden. Eine besondere Position wird<br />

mittels der „verkrachten“ Existenz von Theo<br />

Wuttke thematisiert, der im System um den<br />

Preis gelegentlicher Spitzeldienste überleben<br />

konnte. Sein lebenslanger Begleiter und<br />

„Tagundnachtschatten“, der Führungsoffizier<br />

Ludwig Hoftaller, ist letzendlich auch nur<br />

ein gescheiterter kleiner Stasi-Agent. Grass<br />

intendiert gerade am Beispiel der Kleinen<br />

seine Geschichtsschreibung zu begründen:<br />

„Mein Roman ist aus dem Blickwinkel der Geschlagenen<br />

und Beladenen geschrieben. Ich denke,<br />

daß jeder Schriftsteller, unabhängig von seinem Thema,<br />

gut daran tut, sich auf die Seite der Geschlagenen,<br />

der Verlierer zu stellen.“ (Grass, in: Neuhaus:<br />

222)<br />

Das gegenwärtige Paar Fonty-Hoftaller,<br />

das zwischen <strong>19</strong>89 und <strong>19</strong>91 den Großraum<br />

Berlin, die Insel Hiddensee, Neuruppin und<br />

die Lausitz durchwandern, und dabei das<br />

aktuelle Geschehen mit Abschweifungen ins<br />

„historische Feld“ der Fontane-Zeit kommentiert,<br />

wird doppelwertig besetzt. Auf der<br />

Ebene der Wiederspiegelungen der DDR-<br />

Realität sind Fonty und Hoftaller die Vertreter<br />

der sich mit der Staatssicherheit im<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 259


Konflikt befindenden Kultur. Dieses Altmännerpaar<br />

ähnelt mancherorts mit dem<br />

komischen Figuren-Paar Don Quijote – Sancho<br />

Panza, eine Ähnlichkeit, die somit die<br />

beklemmende Stasi-Thematik ins befreiend<br />

Groteske überführt. Zugleich ist eine Parodie<br />

des traditionellen Herr-Knecht Verhältnisses<br />

aufzudecken, da Fonty nur auf der psychischen<br />

Ebene Erscheinungsformen des Herrn<br />

aufweist, während auf der Ebene der realen<br />

Macht es der Stasi-Knecht Hoftaller ist, der<br />

als Herr über Fonty gebietet.<br />

Der siebzigjährige Ost-Berliner Theo<br />

Wuttke erlebt zwei Diktaturen, das Dritte<br />

Reich und die DDR, während seine persönliche<br />

Erfahrung als Hintergrund dient, die<br />

„neue Zeit“ zu beobachten und zu kommentieren.<br />

Die Gegenwartshandlung setzt im<br />

Dezember <strong>19</strong>89 ein und endet im Oktober<br />

<strong>19</strong>91. Die ersten drei Bücher des Romans<br />

entwickeln ein Bild der letzten Phase der<br />

untergehenden DDR, die als sozialistischer<br />

Arbeiter- und Bauernstaat bezeichnet wird.<br />

Die anderen zwei Bücher zeigen die Aktivitäten<br />

im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung<br />

Deutschlands. Vergleichsweise<br />

kann das Theaterstück Schlußchor von<br />

Botho Strauß herangezogen werden, in dem<br />

ebenfalls dieses historische Ereignis thematisiert<br />

wird, das als Hintergrund für menschliche<br />

Schicksale steht. Beide Autoren beschäftigen<br />

sich intensiv mit der Gegenwart<br />

und schreiben in ihren Werken die jüngste<br />

Geschichte nieder, gefiltert durch ihre ganz<br />

persönlichen Positionen und Weltanschauungen.<br />

Günter Grass bettet die chronologisch erzählte<br />

Gegenwartshandlung in die Geschichte<br />

der Deutschen seit 1848 ein, indem<br />

historische Fakten aus der Zeit Theodor<br />

Fontanes durch Theo Wuttke „wiederbelebt“<br />

werden. Das Konstruktionsprinzip des Pendelns<br />

zwischen den historischen Ereignissen<br />

der Vergangenheit und denen der Gegenwart<br />

erlaubt es dem Schriftsteller die Lebensgeschichten<br />

des reellen Fontane und der<br />

Kunstfigur Fonty parallel darzustellen.<br />

Somit erlebt der Leser in einer manieristisch<br />

konzipierten Darstellungsform Theodor<br />

Fontanes Leben (18<strong>19</strong>-1898) und das imitatorische<br />

Nachleben von Theo Wuttke, alias<br />

Fonty (<strong>19</strong><strong>19</strong>-<strong>19</strong>91).<br />

260<br />

Eleonora Pascu<br />

Schon der Romantitel verweist auf die<br />

enge Beziehung zu Theodor Fontane, wobei<br />

ersichlich ist, daß das Zitat aus dem Effi<br />

Briest-Roman stammt. Günter Grass zitiert<br />

diese Textstelle mehrmals im Romantext,<br />

insbesondere mit dem Ziel, die Wahrheit in<br />

Frage zu stellen. Es handelt sich auch um das<br />

Problem der Schuld, die zur Diskussion gestellt<br />

wird, und um die Frage nach der deutschen<br />

Einheit. Als Illustration werden folgende<br />

zwei Textstellen herangezogen:<br />

"Das ist furchtbar richtig. Aber was richtig ist, muß<br />

nicht wahr sein. Die Wahrheit ist ein weites Feld."<br />

(EWF, 140)<br />

oder<br />

"Doch die Schuld ist ein weites Feld und die Einheit<br />

ein noch weiteres, von der Wahrheit gar nicht zu<br />

reden." (EWF, 295f.)<br />

Das „weite Feld“ ist demnach nicht nur<br />

das Lebens-Feld seines Helden Theo Wuttke,<br />

sondern auch das seines Idols Theodor<br />

Fontane; hinzu kommt noch das „weite<br />

Feld“ deutscher Geschichte des <strong>19</strong>. und <strong>20</strong>.<br />

Jahrhunderts.<br />

Der Roman Ein weites Feld hat somit<br />

zwei Zentren: einerseits die Figur des Fontane-Imitators,<br />

Theo Wuttke, auch „Fonty“<br />

genannt, dessen familiäre Verhältnisse und<br />

Konflikte denen Fontanes nachgebildet sind,<br />

und andererseits die des Schriftstellers<br />

Theodor Fontane, der im Roman ausschließlich<br />

„der Unsterbliche“ genannt wird. (Vgl.<br />

Thomas Manns Fontane-Projekt)<br />

Günter Grass schafft aus fremden Texten<br />

einen eigenen Text, in dem Theodor Fontane<br />

als „lebendige“ Gestalt auftritt. Der Gegenwartsautor<br />

verbindet die Künstlerbiographie<br />

seines Vorgängers mit der Gattung des Zeitromans<br />

dadurch, daß Fontanes Zeiten als<br />

Spiegelbild für die gegenwärtige Geschichte<br />

fingieren.<br />

Somit kann Ein weites Feld als biographischer<br />

Roman bzw. romanhafte Biographie<br />

gelesen werden, aber auch als Zeitroman<br />

bzw. historischer Roman, der einen<br />

„weiten“ Querschnitt durch die deutsche<br />

Geschichte unternimmt. Grass greift zu einem<br />

Kunstgriff, indem er Theo Wuttke erfindet,<br />

einen kauzigen Verehrer von Theodor<br />

Fontane, der genau 100 Jahre nach dem<br />

Dichter, am 30. Dezember <strong>19</strong><strong>19</strong>, in Neuruppin<br />

geboren wird.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Günter Grass: "Ein weites Feld" - ein Fontane-Roman<br />

"Seinen Papieren nach hieß er Theo Wuttke, weil<br />

aber in Neuruppin, zudem am vorletzten Tag des<br />

Jahres <strong>19</strong><strong>19</strong> geboren, fand sich Stoff genug, die Mühsal<br />

einer verkrachten Existenz zu spiegeln, der erst<br />

spät Ruhm nachgesagt, dann aber ein Denkmal gestiftet<br />

wurde, das wir, mit Fontys Worten, die<br />

'sitzende Bronze' nannten." (EWF, 9)<br />

Seine Gesichtszüge, von Max Liebermann<br />

in Zeichnungen festgehalten, seine<br />

eigentümliche Art sich zu kleiden erleben<br />

eine Wiederholung im <strong>20</strong>. Jahrhundert in der<br />

Gestalt Fontys.<br />

"So sehr ähnelte er, daß man vermuten konnte: er<br />

ist es; wenn Unsterblichkeit – oder anders gesagt, das<br />

ideelle Fortleben nach dem Tod - ein beschreibbares<br />

Aussehen hat, gaben seine Gesichtszüge im Profil wie<br />

frontal den Unsterblichen wieder.[...] Auch er war<br />

über die Ohren hinweg und bis in den Nacken vollhaarig<br />

geblieben. Auch er liebte es, die silbrigen<br />

Strähnen unordentlich über den Kragen fallen zu lassen.<br />

Und seine Koteletten wucherten gekräuselt bis<br />

flaumig an den Ohrläppchen vorbei. Nicht etwa wilhelminisch<br />

gezwirbelt, kaum gebürstet, als unbeschnittener<br />

Wildwuchs hing ihm der Schnauzbart<br />

über die Oberlippe hinweg und verdeckte mit den<br />

Mundwinkeln deren häufiges, weil nervöses Zucken."<br />

(EWF, 45f.)<br />

Diese Beschreibung folgt bis ins kleinste<br />

Detail der Libermann-Lithographie, indem<br />

sie die bildlichen Elemente versprachlicht<br />

und aus dem Abbild eines Abbilds eine „lebendige“<br />

Figur schafft. Diese manieristische<br />

Schreibtechnik intendiert das Konstrukthafte<br />

der Romanfigur zuzulassen, die aus bekanntem<br />

zeitgeschichtlichem und historischem<br />

Material zusammengebastelt ist. Der Schriftsteller<br />

läßt seinen Erzähler die Romanfigur<br />

mit der Lithographie von Liebermann vergleichen,<br />

wobei gleichzeitig die Entstehungsgeschichte<br />

zweier Kunstwerke, die<br />

Fontane darstellen, skizziert werden. (Vgl.<br />

EWF, 45ff.)<br />

Der Rückgriff auf den Lebenslauf des berühmten<br />

Vorgängers reicht bis in die Konstruktion<br />

der Familienverhältnisse und der<br />

Verwandschaft. Demnach ist Fonty mit einer<br />

Frau verheiratet, die Emmi gerufen wird; sie<br />

haben drei Söhne namens Georg, Theodor<br />

und Friedrich und auch noch eine Tochter<br />

Martha, die Mete genannt wird. Ähnlich wie<br />

bei Fontane gibt es Probleme in der Ehe,<br />

dennoch dauert die Ehe von Fonty ziemlich<br />

lange, ebenso wie seine Partnerschaft, die als<br />

„Bund“ bezeichnet wird.<br />

"Die Ehe war schwierig, die eine, die andere, doch<br />

beide hielten. Jene mit Emilie Rounaet [...] dauerte<br />

achtundvierzig Jahre, und der Bund mit der geborenen<br />

Emmi Balunek [...] blieb gleichfalls krisenfest,<br />

trotz brüchiger Nähte." (EWF, 186)<br />

Wie Fontane erlebt sein Doppelgänger<br />

schwere Krisen, sogenannte „Nervenpleiten“<br />

und rettet sich vor einer schweren Krankheit,<br />

indem er auf Anraten des Arztes seine Erinnerungen<br />

aus der Kindheit niederschreibt.<br />

Die Tatsache, daß Fontane an Gehirnanämie<br />

litt, ist bekannt, ebenso der Umstand, daß<br />

sein Arzt ihm empfohlen hatte, weiterzuschrieben,<br />

wobei der Roman Effi Briest vollendet<br />

wurde. Bei Günter Grass übernimmt<br />

Hoftaller die Rolle des Arztes, der seinem<br />

kranken Freund ebenfalls suggeriert, schriftstellerisch<br />

tätig zu sein.<br />

"Und hat nicht dazumal der Hausarzt dem Unsterblichen,<br />

der aufgeben wollte, dem seine Effi entschwunden<br />

und alle Romanschreiberei nichtsnutz zu<br />

sein schien, nen prima Rat gegeben und ihn, den<br />

Dauerkranken, sozusagen am Hemdzipfel gepackt<br />

und mit nem anspornenden Auftrag aus dem Bett<br />

getrieben? Wie wär´s, wenn ich mal den Onkel<br />

Doktor spiele. Kleiner Vorschalg: Sie bringen Ihre<br />

Kinderjahre, von mir aus in doppelter Ausführung, zu<br />

Papier." (EWF, 226)<br />

Der Versuch, Identitäten zu schaffen geht<br />

soweit, daß die Wohnung und die Umgebung,<br />

in der Fonty lebt, sich mit Fontanes<br />

Arbeitszimmer aus Berlin, Potsdamerstraße<br />

134C, identifizieren. Das Spiel mit den Fakten<br />

bezieht auch die Wanderungen in der<br />

Mark Brandenburg ein, die der Schrifsteller<br />

oft unternahm. Andererseits lebt Fonty in<br />

einer Welt, die sich mit Landschaften und<br />

Erlebnissen der Romanwelt seines Idols dekken.<br />

Fiktion in der Fiktion stehen somit neben<br />

reellen Fakten und vervollständigen das<br />

Bild der Romanfigur, die sich als ein komplexer<br />

Konstrukt entpuppt. Um auf die angespielten<br />

Assoziationen zurückzukehren,<br />

sollen ein paar Beispiele gennant werden:<br />

Emmi wird andauernd mit Corina Schmidt<br />

verglichen; Wuttkes Tochter trägt Züge der<br />

Mathilde Möhring; Metes Hochzeit mit<br />

Grundmann erinnert an Graf Petöfi. Elemente<br />

aus Effi Briest, Irrungen, Wirrungen<br />

und Stechlin werden immer wieder angespielt.<br />

Eine ganz merkwürdige Ähnlichkeit ist<br />

mit Romanfiguren aus Fontanes Werken<br />

festzustellen, nehmen wir nur das Beispiel<br />

des alten Stechlin, dessen Beschreibung sich<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 261


mit der des Unsterblichen sowie mit jener<br />

Fontys teilweise deckt.<br />

"Kein Wuttke mehr, Fonty genannt, saß angeschnallt,<br />

vielmehr erwartete der Unsterbliche den<br />

Start, diese Beschleunigung, dieses Abheben... Leicht<br />

zitterten die Flusen des Schnauzbarts.[...] Er schloß<br />

die Augen und erzählte sich weit zurück, erzählte<br />

vom See und vom aufsteigenden Wasserstrahl, von<br />

Wetterfahnen im Spinnwebmuseum und dann vom<br />

alten Stechlin, der komischerweise mit Vornamen<br />

Dubslav hieß. (EWF, 678f.)<br />

Fonty ist der liebevoll-spöttische Spitznamen<br />

von Theo Wuttke, einem Fontane-<br />

Spezialisten, der es besonders liebt, sich mit<br />

dem Schriftsteller zu identifizieren. Aus<br />

Fontanes Briefen und aus den Spracheigentümlichkeiten<br />

seiner Romanhelden hat er<br />

sich ein Sprachidiom geschaffen, das er für<br />

„Fontaneisch“ hält.<br />

Er identifiziert sich mit Leben und Werk<br />

von Fontane und zitiert bei wiederholten<br />

Gelegenheiten aus den literarischen Produktionen<br />

seines Vorbildes. Obzwar er kein<br />

schriftstellerisch agierender Held ist, arbeitet<br />

er in einem Archiv. Grass erlaubt sich, nicht<br />

überlieferte Details aus Fontanes Leben neu<br />

zu erfinden, indem Fonty die Existenz des<br />

„Unsterblichen“ nochmals erlebt, sondern er<br />

erzählt in einem neuen Kontext eine neue<br />

Lebensgeschichte, die sich mit Fakten aus<br />

dem Leben und Werk seines Vorgängers und<br />

Vorbildes deckt.<br />

Auf der Ebene der Schreibtechnik ergibt<br />

sich eine überaus gelungene intertextuelle<br />

Erzählstruktur. Sehen, Beobachten und<br />

Montage des Beobachteten und Recherchierten<br />

vervollkommnen die kollagierten<br />

Textstellen aus Fontanes literarischen Produktionen,<br />

Aufsätzen, Tagebucheintragungen,<br />

Briefen. Hinzu kommen die verschiedenen<br />

Allusionen, die eine Pluralität ergeben.<br />

262<br />

Eleonora Pascu<br />

Es entsteht ein Geflecht aus Realität und<br />

Phantasie, historischen Fakten und Fitktion,<br />

die über literarische Spiegelungen den romanhaften<br />

Konstrukt motivieren.<br />

Jedenfalls ist schlußfolgernd zu bemerken,<br />

daß Günter Grass keine Fontane-Biographie<br />

zu schreiben intendierte, sondern mit<br />

Fonty eine Kunstfigur geschaffen hat, eine<br />

Fiktion. Die Annäherung an Fontane läßt<br />

den Roman Ein weites Feld den Realismusbegriff<br />

mit der „beobachtenden“ Zeitgenossenschaft<br />

kombinieren, deren Intention die<br />

Vermittlung des Wahren ist.<br />

L i t e r a t u r :<br />

Primärliteratur:<br />

1. Ein weites Feld. Roman. Deutscher Taschenbuchverlag,<br />

München <strong>19</strong>95 (Abgekürzt:<br />

EWF)<br />

Sekundärliteratur:<br />

1. Moser, Sabine: Günter Grass. Romane und<br />

Erzählungen. Erich Schmidt Verlag, Berlin<br />

<strong>20</strong>00.<br />

2. Neuhaus, Volker: Schreiben gegen die verstreichende<br />

Zeit. Zu Leben und Werk von<br />

Günter Grass. Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

München <strong>19</strong>97.<br />

3. Reich-Ranicki, Marcel: „...und es muß gesagt<br />

werden“. Ein Brief von Marcel Reich-Ranicki<br />

an Günter Grass zu dessen Roman Ein weites<br />

Feld. In: Oskar Negt (Hrsg.): Der Fall Fonty.<br />

die Rolle des Arztes Ein weites Feld von<br />

Günter Grass im Spiegel der Kritik. Steidl<br />

Verlag, Göttingen <strong>19</strong>96.<br />

4. Tilmann, Krause: Der Tagesspiegel. 23.08.<br />

<strong>19</strong>95 In: Klaus Görzel: Der Lustmord. „Ein<br />

weites Feld“ von Günter Grass und die Kritik.<br />

Deutschunterricht, H. 5, <strong>19</strong>96.<br />

5. Zimmermann-Thiel, Gisella: Günter Grass:<br />

„Ein weites Feld“. Romanbesprechung ein<br />

Jahr danach. In: Kulturchronik, <strong>Nr</strong>. 2, <strong>19</strong>97.<br />

*<br />

* *<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


LITERATURA CA PRIVEGHI AL ISTORIEI *)<br />

Vestea-surpriză s-a lăsat aşteptată mai<br />

bine de treizeci de ani. Şi a fost salutată mai<br />

de toată lumea ca un eveniment remarcabil şi<br />

ca binemeritată răsplată atât pentru creaţia<br />

literar-artistică a lui Günter Grass, cât şi pentru<br />

întreaga sa activitate în plan social. Hans-<br />

Georg Gadamer afirma:<br />

“Nu sunt surprins. Într-adevăr, trebuie să recunoaştem<br />

că primele romane ale lui Günter Grass au<br />

avut un efect amplu asupra literaturii germane postbelice,<br />

efect mult mai puternic decât literatura care a<br />

apărut după aceea pe aceste meleaguri. N-am fost<br />

întotdeauna încântat de ceea ce a mai publicat el mai<br />

apoi. Dar enormul său talent, înrădăcinat profund în<br />

originea sa şi în istoria epocii sale, a fost întodeauna o<br />

realitate de netăgăduit.“<br />

La rândul său Jürgen Habermas scotea şi<br />

el în evidenţă impactul operei sale asupra<br />

contemporaneităţii, acea “mentalitate care l-a<br />

marcat pe Grass, o atitudine spirituală din<br />

care se hrăneşte şi astăzi Republica Federală.“<br />

Regizorul de film Volker Schlöndorff,<br />

care îi preluase ca scenariu Toba de tinichea,<br />

făcând un film mult discutat în <strong>19</strong>79, consideră<br />

că figurile fanteziei sale populează deja<br />

mitologia germană, de parcă n-ar fi zămisliri<br />

ale minţii sale, ci derivate ale unor legende şi<br />

basme. Criticul literar Michael Krüger reliefa<br />

noul statut pe care profesiunea de scriitor<br />

şi-l câştigase de-a lungul deceniilor prin operele<br />

acestui mare prozatort: “El /scriitorul;<br />

G.G./ îşi putea exprima părerea în calitatea<br />

sa de scriitor.“ În fine, un alt glas sonor saluta<br />

acordarea celebrului premiu marelui scriitor<br />

german – glasul Christei Wolf, autoare cu<br />

care Grass s-a simţit întotdeauna într-o destul<br />

de largă comuniune de gânduri şi idealuri,<br />

dacă n-ar fi decât să ne gândim la celebrele<br />

fresce de istorie literară şi a mentalităţilor<br />

zugrăvite cu o impresionantă forţă<br />

imagistică şi într-un limbaj de o certă savoare<br />

intelectuală în Treffen in Telgte (Întâlnirea<br />

de la Telgte) de Grass şi Kein Ort.<br />

Nirgends (Nici un loc. Nicăieri) de Christa<br />

Wolf. Fosta autoare estgermană declara:<br />

“Grass a fost şi este, ca artist şi contemporan, un<br />

însoţitor critic al istoriei germane postbelice, iar în<br />

ultimii zece ani şi al procesului de unificare a Germaniei;<br />

să vezi cum această atitudine şi rangul său literar<br />

sunt atât de apreciate, ne încurajează şi pe noi. Consider<br />

că literatura germană postbelică este reprezentată<br />

cu demnitate prin premiile Nobel primite de Nelly<br />

Sachs, Heinrich Böll şi Günter Grass.“<br />

George Guţu<br />

Presa germană a marcat la loc de frunte<br />

evenimentul, acordându-i semnificaţii care<br />

trec adesea de zona literaturii şi artei, vizând<br />

dimensiunea socială şi istorică a premiului<br />

norvegian de anul acesta: “Nici un alt scriitor<br />

german n-ar fi putut fi luat în consideraţie …<br />

În finalul unui secol al grozăviilor germane<br />

iată, simbolic, o imensă victorie spirituală“,<br />

scrie Frank Schirrmacher, un publicist cu<br />

care premiantul a polemizat într-un registru<br />

destul de dur. Schirrmacher nu a fost singurul<br />

care a emis o anumită reţinere faţă de<br />

decernarea premiului Nobel lui Günter<br />

Grass, numărul acestora fiind chiar apreciabil.<br />

Iată ce spunea, de pildă, Alfred Hrdlicka<br />

din Austria:<br />

“Scriitorul suprem al naţiunii se simte competent,<br />

se pare, să formuleze şi interdicţia de a scrie şi de a<br />

vorbi, considerând ca pe o impertinenţă faptul că mai<br />

scriu şi alţii câte o carte…“<br />

Ironia răzbate şi din afirmaţiile lui Wiglaf<br />

Droste: “Cel mai mult i-ar place lui<br />

Grass să fie preşedintele întregii lumi.“ În<br />

timp ce tinerii se distanţează de generaţiile<br />

de cărturari şi scriitori mai vârstnici, preferând<br />

să-şi caute singuri propria lor identitate,<br />

decât să accepte sfaturi sau “apeluri“<br />

precum cel adresat de Grass tinerilor scriitori.<br />

Unul dintre aceştia, Matthias Altenburg,<br />

ripostează prompt:<br />

“S-ar prea putea ca nouă, tinerilor scriitori, gestul<br />

preceptorial şifonat al unui Günter Grass să ne fie la<br />

fel de străin ca şi tonul de pensionar ponosit al unui<br />

Frank Schirrmacher. S-ar prea putea ca noi să exclamăm<br />

pur şi simplu: Mai ţine-ţi fleoanca, Günter,<br />

shut up, Frank; acum e rândul nostru. Iar noi suntem<br />

zgomotoşi sau silenţioşi, exact după cum avem chef.<br />

Scriem când despre iubire, când despre spiritul vremii,<br />

când despre primăvară. Ba chiar uneori şi despre<br />

politică.“<br />

Înafara Germaniei ecourile au fost puternice,<br />

îndeosebi în Austria, unde autori<br />

precum Elfriede Jelinek, Milo Dor, Ernst<br />

Jandl sau Friederike Mayröcker l-au semnalat<br />

cu deplină aprobare, dar şi în Polonia,<br />

Japonia, Spania şi Statele Unite ale Americii.<br />

Evenimentul fusese intuit, aşteptat cu tenacitate,<br />

timp de peste treizeci de ani… Căci<br />

în <strong>19</strong>56 literatura germană intra într-o nouă<br />

etapă a dezvoltării sale, iar inovaţia purta<br />

numele lui Günter Grass: după ce publicase<br />

un volumaş de poeme, desene şi proză intitu-


lat Vorzüge der Windhühner (Avantajele<br />

cocoşilor de vânt, <strong>19</strong>56) şi marcat vizibil de<br />

poemele lui Gottfried Benn, autorul, se duce<br />

împreună cu familia la Paris, locuind în<br />

Avenue d’Italie din al 13-lea arondisment, cu<br />

intenţia declarată: “M-am pus pe un amplu<br />

şezut epic, începându-mi romanul.“ Grass<br />

are 30 de ani, eroul romanului, Oskar Matzerath,<br />

idem. Aşa se năştea primul roman, primul<br />

succes fulgerător al lui Günter Grass:<br />

Die Blechtrommel (Toba de tinichea).<br />

Matzerath îşi începe rememorarea propriei<br />

stranii biografii la vârsta de treizeci de<br />

ani. Fundalul autobiografic este şi el prezent<br />

– născut la Danzig/Gdansk, Grass îşi<br />

plasează eroul tot acolo, numai că fantasticul<br />

atât de caracteristic în canavaua epică se instalează<br />

auctorial atât în viaţa lui Oskar, care<br />

la vârsta de trei ani refuză să mai crească,<br />

bătând necontenind din tobă, cât şi a autorului<br />

care se lasă pur şi simplu purtat – într-o<br />

senină complicitate – de o naratologie de o<br />

inconfundabilă fizionomie. Debilul matur<br />

cântă asurzitor, sfărâmând obiecte de sticlă,<br />

şi-i ia drept model pe Goethe şi Rasputin, se<br />

încarcă de vinovăţia morţii celor doi taţi şi a<br />

mamei sale, se expune în permanenţă pericolului<br />

iminent de a fi tras pe linie moartă ca<br />

orice handicapat “nedemn de a mai trăi“,<br />

copulează o progenitură cu viitoarea sa<br />

mamă vitregă, străbate istoria vremii sale<br />

bătând din tobă, jucând teatru, îmbogăţinduse<br />

şi ajungând în final la casa de alienaţi<br />

min-tali, închizând astfel spirala ciclului<br />

narativ deschis cu prima frază a romanului:<br />

“Recunosc: sunt locatarul unui sanatoriu de<br />

handicapaţi.“<br />

Gerd Ueding reflecta peste ani că unicitatea<br />

romanului de debut al lui Grass consta în<br />

faptul că<br />

“scrierea lui este totodată vorbire, naraţiune vie,<br />

singura lectură posibilă, comprehensibilă şi dătătoare<br />

de satisfacţii, fiind aceea la care îţi participă şi urechile…<br />

Când a apărut în <strong>19</strong>59, Toba de tinichea a<br />

adus în literatura germană mai recentă nu doar o tonalitate<br />

nouă, ci, în general, o primă tonalitate – şi cât de<br />

substanţială şi de polifonică!“<br />

La vârsta de 31 de ani, Grass îşi luă în<br />

geamantan manuscrisul romanului la care<br />

lucrase îndeosebi în ultimii ani petrecuţi la<br />

Paris, poposind pe “scaunul electric“ al celebrei<br />

grupări literare intrată în istorie sub<br />

denumirea de “Gruppe 47“. Hans-Werner<br />

Richter, spiritus rector al acesteia, îl ascultă<br />

bântuit de un oarecare scepticism, împreună<br />

cu ceilalţi scriitori aflaţi de faţă – printre care<br />

Literatura ca priveghi al istoriei<br />

Peter Weiss, Paul Celan, Ingeborg Bachmann<br />

şi cel care mai apoi avea să devină<br />

“papa“ scenei literare germane, criticul literar<br />

Marcel-Reich Ranicki, cu care avea să<br />

poarte mai târziu dispute grave… Impresia<br />

auditoriului este copleşitoare, i se acordă ad<br />

hoc premiul grupei, fiind salutat de tânărul<br />

Hans Magnus Enzensberger ca “solitar sălbatic<br />

al domesticitei noastre literaturi“ şi<br />

aşezându-i romanul alături de “stânci precum<br />

Berlin Alexanderplatz de Döblin sau Baal de<br />

Brecht.” Exegeza a extins aceste punţi de<br />

similitudine pe numitorul comun al primei<br />

opere, al unui debut fulminant, în care talentul<br />

original, inconfundabil, al autorului se<br />

descarcă cu o intensitate egală cu aceea a<br />

forţelor naturii, mimând peste veacuri ceva<br />

din spontaneitatea şi naturaleţea geniilor<br />

Sturm und Drang-ului, îmbogăţită cu rafinamentul<br />

naratologic al epocii moderne şi<br />

cu aliura barocă a fanteziei epice şi a polifoniei<br />

limbajului.<br />

Efectul prim este şocul, atacul brutal la<br />

adresa unei băltiri morale şi sociale, argumentarea<br />

cu ajutorul vomitivului capabil să-i<br />

scoată pe cei din jur din amorţeală şi inerţie,<br />

din autoamăgire şi din plictis degenerant. Ca<br />

şi cum un vraci ar scoate o oglindă din buzunar,<br />

ţinând-o cu brutalitate sub nasul contemporanilor<br />

săi, pentru ca aceştia să se vadă<br />

în adevărata lor stare de fapt, ca la Andersen,<br />

într-o dezarmantă şi deziluzionantă goliciune.<br />

Exegeza le-a dăugat operelor de debut<br />

enumerate de Enzensberger şi pe altele precum<br />

Suferinţele tânărului Werther de Johann<br />

Wolfgang Goethe, Hoţii de Friedrich Schiller,<br />

Străinul de Albert Camus, Procesul de<br />

Franz Kafka, Casa Buddenbrock de Thomas<br />

Mann, Se scrie de Friedrich Dürrenmatt,<br />

Cântăreaţa cheală de Eugen Ionescu… O<br />

galerie strălucită de creaţii prin care autorii<br />

respectivi aplicau o puternică terapie de şoc<br />

semenilor lor din contemporaneitate şi posteritate.<br />

Creaţii care întemeiază şi consolidează<br />

o nouă estetică, estetica celebrelor Les fleurs<br />

du mal, a Florilor de mucigai, aşa cum o<br />

întrezărise, cutremurat de consecinţe, tânărul<br />

Schiller: “Să înfrumuseţezi lumea prin cruzime”.<br />

Kantianul din el realiza, însă, că astfel<br />

era periclitat “întregul edificiu moral al<br />

lumii”, aşa încât evoluează în timp până la<br />

formula “imperiului frumoasei aparenţe”<br />

(Reich des schönen Scheins). Debutul lui<br />

este însă, ca şi al celorlalţi şi al multor altor<br />

autori, matricea a tot ceea ce mai târziu avea<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 265


să se cheme nihilism, solipsism, destructivism.<br />

Joc gratuit? Câtuşi de puţin. Noua tonalitate<br />

ce răsuna triumfător în literatura germană<br />

îngemăna un limbaj neobişnuit de suculent<br />

şi o forţă imagistică copleşitoare cu o<br />

schemă narativă complexă şi o tematică densă<br />

şi complexă. Zugrăvindu-şi biografia,<br />

Matzerath zugrăveşte epoci ample ale istoriei<br />

moderne – de la procrearea mamei sale în<br />

anul 1899 până la perioada de dinaintea, din<br />

timpul şi de după cel de al <strong>II</strong>-lea Război<br />

Mondial (<strong>19</strong>54) – într-o zonă frământată<br />

cum a fost aceea oraşului său natal Danzig/Gdansk.<br />

Grass recurge la elemente ale<br />

tehnicii şi conţinutului romanului picaresc,<br />

ale Bildungs- şi Entwicklungsroman-ului,<br />

combinându-le cu problematica artistului,<br />

într-un amalgam fascinant de fantezie şi<br />

creativitate lingvistică, de semiotică a imagisticii<br />

rezultate dintr-un sincretism unic al<br />

talentului literar şi pictural. Grass însuşi e un<br />

amalgam: “Sunt scriitor sau desenator?” –<br />

repeta el însuşi o întrebare pe care el însuşi o<br />

definea ca fiind “pe cât de neavenită, pe atât<br />

de ridicolă”. Un amalgam capabil să pună în<br />

evidenţă conexiuni altfel greu de depistat:<br />

“Înfingându-şi lopata în trecut, Günter Grass<br />

sapă mai adânc decât mulţi alţii şi descoperă<br />

cât de întrepătrunse sunt rădăcinile Binelui şi<br />

Răului“ – se spune în expunerea de motive a<br />

Academiei Suedeze.<br />

Trecutul, istoria – cunoaşterea lor profundă,<br />

autentică, deschide perspective de<br />

viitor, căci “trecutul nu vrea să se sfârşească“:<br />

istoria “îşi aruncă umba asupra secolului<br />

următor. Nu putem să ne sustragem istoriei.<br />

Ea ne face să devenim rumegători.“ Iată<br />

o imagine terifiant de inedită: Günter Grass,<br />

scriitorul în genere, ca “rumegător“ al meandrelor<br />

istoriei. Cea mai recentă confesiune a<br />

premiantului Nobel, făcută cu ocazia decernării<br />

în octombrie <strong>19</strong>99 a unui alt premiu<br />

renumit “Prinţul de Asturia“, confirmă<br />

procesualitatea scriiturii, nonconformismul<br />

unei interminabile provocări:<br />

“De la primul meu roman, Toba de tinichea, până la<br />

cea mai recentă progenitură a toanelor mele aflată sub<br />

denumirea posesivă Secolul meu, am fost un serv revoltat.“<br />

Cu nemiloasa lupă a binevăzătorului,<br />

scriitorul decupează din istoria-fluviu acele<br />

configuraţii care curg şi curg, ca în fluviul de<br />

sub luntrea lui Vasudeva din Siddhartha lui<br />

Hermann Hesse, adică destine umane în şi<br />

prin care există, se în-făptuieşte istoria. Lite-<br />

266<br />

George Guţu<br />

ratura “deschide drumul privirii spre acele<br />

evenimente infime, destabilizatoare, care se<br />

nasc îndărătul tribunei care susţine un stat“;<br />

“astfel cursul istoriei se revarsă în apele reziduale<br />

din care se hrăneşte neţărmurita mare<br />

a absurdului.“ De unde apartenenţa proprie a<br />

lui Grass la tipologia picarului care scotea la<br />

iveală adevărul prin intermediul minciunilor.<br />

Ca precursor şi-l revendică pe Cervantes,<br />

“părintele acelui gen romanesc european, în ţarcul<br />

larg al căruia Candide al lui Voltaire smulgea penele<br />

‚celei mai bune dintre lumi‘, Tristram Shandy al lui<br />

Laurence Sterne îşi datora procrearea întrebării referitoare<br />

la starea ceasornicului, Tyll Ullenspiegel a lui<br />

Charles de Coster simulează o nebunie vicleană în<br />

lupta de eliberare a flamanzilor de sub stăpânirea<br />

străină a spaniolilor, iar eroul lui Grimmelshausen,<br />

Simplicissimus, caută să supravieţuiască schimbând<br />

mereu armatele bulucite.“<br />

Iar ideea de bază, de la Cervantes,<br />

trecând prin Schiller, până la George Orwell<br />

sau scriitorul spaniol de origine franceză<br />

Max Aub, este următoarea:<br />

“Marginalizată, cartea va redeveni subversivă. Şi se<br />

vor găsi cititori pentru care cărţile vor reprezenta nişte<br />

mijloace de supravieţuire.“<br />

Postistoria, a cărei expresie se vrea a fi<br />

postmodernismul, se remarcă prin starea de<br />

dezagregare şi confuzie. Ceea ce înseamnă,<br />

după Grass, în mod paradoxal, o şansă pentru<br />

literatură:<br />

“Ea trăieşte din crize. Floarea ei se deschide printre<br />

dărâmături. Ea aude cum roade viermele. Sarcina ei<br />

este să jefuiască cadavrele. Fără să fie plătită sau cu<br />

plată, ea ţine priveghi, povestindu-le rudelor răposaţilor<br />

vechile poveşti, iară şi iară.“<br />

Ce istorii a mai narat, în felul său inconfundabil,<br />

Günter Grass? Lista este destul de<br />

lungă, cele mai multe dintre opusuri fiind de<br />

o consistenţă copleşitoare. Toba de tinichea<br />

avea să fie prima parte a “Trilogiei Danzigului“,<br />

celelalte două fiind Katz und Maus<br />

(Şoarecele şi pisica, <strong>19</strong>61) şi Hundejahre<br />

(Ani câineşti, <strong>19</strong>63). “Tragedia germană“<br />

intitulată Die Plebejer proben den Aufstand<br />

(Plebeii fac proba unei răscoale, <strong>19</strong>66) face<br />

referire la atitudinea lui Brecht în timpul<br />

revoltei anticomuniste din <strong>19</strong>53 din Berlinul<br />

de Est, örtlich betäubt (anestezie locală,<br />

<strong>19</strong>69) încearcă să facă distincţia dintre<br />

“normalitate“ şi revolta anului <strong>19</strong>68, dintre<br />

resemnarea vârstnicilor şi protestul idealist al<br />

tinerilor. În <strong>19</strong>72 publică o introspecţie severă<br />

a propriei deveniri, a implicării sale în<br />

campaniile electorale ale social-democraţilor,<br />

glosând pe marginea rolului scriitorului<br />

şi cetăţeanului în societatea modernă. Der<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


Butt (Calcanul, <strong>19</strong>77), asociat desoeri ca<br />

tehnică şi vigoare a limbajului cu Toba de<br />

tinichea, imaginează numeroase planuri narative,<br />

tema centrală fiind aceea a rolului<br />

femeii în devenirea umană, în istorie, prin<br />

aspectul particular al procurării hranei, eroinele<br />

centrale fiind bucătărese, temă îmbinată<br />

cu impactul mitului şi magiei. Prezent şi<br />

trecut se împletesc în planul fanteziei, prezentul<br />

este radiografiat critic prin prisma<br />

istoriei. În <strong>19</strong>79 apare fermecătoarea ficţiune<br />

a întâlnirii idilice a unor poeţi de pe vremea<br />

barocului la sfârşitul Războiului de treizeci<br />

de ani. Această “Grupă 1647“ este un travesti<br />

literar cu aluzii la propria experienţă şi la<br />

ceea ce ar fi putut fi în trecut prin proiecţia<br />

prezentului. A urmat un volum de proză<br />

Kopfgeburten (Zămislirile minţii, <strong>19</strong>80) şi<br />

controversatul roman Die Rättin (Şobolanca,<br />

<strong>19</strong>86), un adevărat recviem după un holocaust<br />

atomar, în acre trecutul şi viitorul se<br />

întrepătrund într-o nouă dimensiune temporală<br />

numită “Vergegenkunft” (trecpreyviitor.<br />

După o şedere la Calcuta îi apare volumul<br />

ilustrat de el însuşi Zunge zeigen (Scoate<br />

limba, <strong>19</strong>88). În <strong>19</strong>95 îi apărea naraţiunea<br />

Ein weites Feld (Un câmp vast) cu trimiteri<br />

la istoria literară, în speţă la Theodor Fontane<br />

şi epoca acestuia. Critica literară a constatat<br />

epuizarea vânei narative a lui Grass,<br />

din celebritatea sa rămânând moralistul,<br />

“conştiinţa naţiunii”. Revine masiv în atenţia<br />

opiniei publice printr-un volum în care<br />

trăiesc din nou în simbioză scriitorul şi pictorul<br />

Grass: Mein Jahrhundert (Veacul meu,<br />

<strong>19</strong>99), în care nu rareori găsim intarsii autobiografice<br />

reflectate prin prisma inocenţei<br />

copilăreşti dotată cu un bun ochi critic.<br />

După Dario Fo şi José Saramago, iată<br />

încă un autor laureat al premiului Nobel<br />

“care s-a considerat întotdeauna şi critic al<br />

societăţii, spirit contradictoriu, uneori ca<br />

vociferator, uneori un tip enervant” – cum<br />

afirma Claudius Seidl.<br />

Grass nu este câtuşi de puţin un One-<br />

Work-Author, chiar dacă nu s-a mai ridicat<br />

niciodată pe acele culmi pe care le escaladase<br />

cu Toba de tinichea. Ceea ce intrigă<br />

Literatura ca priveghi al istoriei<br />

este faptul că tinerii autori au păstrat o semnificativă<br />

tăcere, poate şi pentru că nu au<br />

atins acea rodnică vârstă de, să spunem, 30<br />

de ani… Cel puţin privind dinafara Germaniei,<br />

după scriitorul Grass domneşte un îngrijorător<br />

pustiu, după cum constată critici<br />

literari precum Uwe Wittstock şi Sven Boedecker:<br />

“După el urmează puţinătatea… În general, dincolo<br />

de graniţa germanofonă interesul faţă de literatura<br />

germană contemporană se stinge.”<br />

Günter Grass este o reuşită a unei lumi<br />

spirituale aflată în continuă căutare de sine,<br />

într-o istorie care se face prin asumarea<br />

conştientă a trecutului şi a viitorului. O<br />

reuşită cu suficiente pete negre în solarul<br />

univers al fanteziei creatoare.<br />

La priveghiul istoriei, al clipei şi al faptei<br />

trecute în ireversibil, în negura din ce în ce<br />

mai deasă a trecutului, scriitorul, artistul – ne<br />

spune Günter Grass – jefuieşte cadavrele,<br />

furându-le istoriile, biografiile proprii sau ale<br />

celor care l-au înconjurat, cu care s-a interferat,<br />

dând şi luând, construind şi distrugând,<br />

cântând şi urlând de disperare. El se jefuieşte<br />

şi pe sine însuşi, cu fiecare clipă murind şi<br />

el. Priveghiul literaturii a început odată cu<br />

cuvântul originar şi se va termina odată cu<br />

sfârşitul lumii. E un priveghi cât o eternitate.<br />

Bibliografie:<br />

1. Walter Killy (ed.), Bertelsmann Lexikon<br />

Deutsche Autoren, <strong>19</strong>94, Bd. 2.<br />

2. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur<br />

seit <strong>19</strong>45. Begründet von<br />

Hermann Kunisch, fortgeführt von Herbert<br />

Wiesner u. Sybille Cramer, dtv, München<br />

<strong>19</strong>93.<br />

3. “Süddeutsche Zeitung“, <strong>Nr</strong>. 227, 1. Oktober<br />

<strong>19</strong>99, S. 17.<br />

4. Birgit Lahann, Trommelwirbel für die Bauchgeburt,<br />

in: “Der Stern”, <strong>Nr</strong>. 41, 7.10.<strong>19</strong>99, S.<br />

63f.<br />

5. “Fachdienst Germanistik”, <strong>Nr</strong>. 11, November<br />

<strong>19</strong>99.<br />

*) Der Beitrag erschien auch in: "Secolul XX", 10-<br />

12, <strong>19</strong>99, 1-3, <strong>20</strong>00, S. 245-252.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 267


“SCHULDIGE KUNST, SCHULDIGE KÜNSTLER” – EINE UNTERSUCHUNG<br />

DER KÜNSTLERGESTALTEN AUS GÜNTHER GRASS’ "DANZIGER<br />

TRILOGIE"<br />

Infolge einer Debatte bezüglich der<br />

Verhaltensweise verschiedener deutscher<br />

Künst-ler in der Nazizeit, entschied Grass<br />

daß er nicht darüber urteilen will. Das regte<br />

ihn aber an, sich selbst als Künstler im<br />

Hitlerdeutschland vorzustellen, also zehn<br />

Jahre älter, denn die Tatsache daß er<br />

Jahrgang 27 ist, nennt er einen<br />

fragwürdigen Glücksfall.(Grass, S. 127)<br />

Von der Emigration zum Freitod, oder zu<br />

inneren Emigration, von stillhalten bis<br />

weiterhin dichten und schreiben, schienen<br />

ihm alle Möglichkeiten offen, denn<br />

“das große, bis heute anhaltende Entsetzen über das<br />

Ausmaß der geduldeten, direkt oder indirekt<br />

geförderten, in jedem Fall mitzuverantwortenden<br />

Verbrechen kam erst später (…) und dieses Entsetzen<br />

wird bleiben.” (Grass, S. 129.)<br />

Die "Danziger Trilogie" ist mit den<br />

unterschiedlichsten Künstlergestalten bevölkert:<br />

Schriftsteller/Erzähler, Musiker,<br />

Bildhauer, Maler, Schauspieler, die neben<br />

den anderen Gestalten einen Teil aller<br />

bewußten oder unbewußten Schuldigen<br />

bilden.<br />

Ihre direkte oder indirekte Schuld an<br />

allen Geschehnissen ist ein Leitmotiv in der<br />

Trilogie.<br />

Oskar Matzerath, macht uns selbst die<br />

Einladung, das Motiv der Schuld und damit<br />

in Verbindung der Sühne im Roman “Die<br />

Blechtrommel” zu untersuchen.<br />

“Man könnte ein Traktat über Oskars verlorene<br />

Unschuld beginnen, könnte den trommelnden,<br />

permanent dreijährigen Oskar neben den Buckligen,<br />

tränen- und trommellosen Oskar stellen”. ( Bt, S. 615 ).<br />

Dieses Motiv ist eng mit der<br />

Vergangenheit (Vor- und Kriegszeit) und<br />

der Gegenwart (Zeit der Entstehung des<br />

Romans) verbunden.<br />

Es gibt im Roman eine Gestalt die<br />

Raskolnikoff heißt. Raskolnikoff, Student<br />

auf der Kunstakademie, und Maler, wurde<br />

von den anderen so genannt, weil er “ewig<br />

von Schuld und Sühne sprach.” ( Bt, S. 580<br />

)<br />

Ioana Diaconu<br />

Dieser Maler spricht nicht nur davon,<br />

sondern versucht seine Obsession auch<br />

künstlerisch zu gestalten. Oskar Mazerath<br />

soll in verschiedenen Posen immer die<br />

Schuld darstellen, weil seine Schuld, so wie<br />

der Maler meint, offensichtlich sei. Auch<br />

ist er der Meinung sich auf Oskars, aber<br />

nicht nur dessen Vergangenheit beziehend,<br />

daß nichts vorbei ist, “alles kommt wieder,<br />

Schuld, Sühne, abermals Schuld”. (Bt, S.<br />

582). Diese Gestalt soll darauf aufmerksam<br />

machen, daß man irgend wann, in irgend<br />

einer Form - so wie Dostoievskis<br />

gleichnamiger Held - für seine Schuld<br />

büßen wird.<br />

In der “Blechtrommel” wird gerade die<br />

Kunst als erste mit “schuldig” bestempelt.<br />

Oskar Mazerath, den sein Wärter Bruno<br />

einen “prominenten Künstler” (Bt, S. 8)<br />

nennt, sagt diesem eines Tages: “Ach<br />

Bruno, würdest du mir fünfhundert Blatt<br />

unschuldiges Papier kaufen?” (Bt, S.8), und<br />

die Niederschrift der Erzählung bezeichnet<br />

er mit “Beflecken”. Oskar will schreiben,<br />

um seine Vergangenheit zu bewältigen. Er<br />

sagt aber selbst daß seine Erzählungen<br />

Lügen sind. Aus seiner Vergangenheit<br />

schildert er nur was ihm paßt, vieles fügt er<br />

nur später hinzu. Er erzählt über seine<br />

Vergangenheit als Trommler, Glaszersinger<br />

und wieder einmal Trommler, also ein<br />

vielseitiger Künstler.<br />

Als Kind trommelt er ständig, was allen<br />

auf die Nerven geht. Sein Trommeln nennt<br />

er Kunst. Um seiner Trommel nicht<br />

abhanden zu kommen, zersingt er Glas. Das<br />

heißt, er schreit und Glas wird zu Scherben.<br />

Glas zersingen nennt er ebenfalls Kunst.<br />

Später wird dies ein Kunststück im<br />

Programm des Fronttheaters.<br />

Diese Kunst ist, genau wie das Erzählen,<br />

auch schuldig, denn:<br />

“Wenn er in jener ersten Periode nur notfalls, dann<br />

allerdings gründlich Quarzsandprodukte zersang,<br />

machte er später während der Blüte und Verfallzeit<br />

seiner Kunst Gebrauch von seinen Fähigkeiten ohne


“Schuldige Kunst, schuldige Künstler” – eine Untersuchung der Künstlergestalten<br />

in Günther Grass´ "Danziger Trilogie"<br />

äußeren Zwang zu verspüren. Aus bloßen Spieltrieb, Sein Versuch mit der Wirklichkeit etwas<br />

dem Manierismus, muß einer Spätepoche verfallend anzufangen, muß scheitern. Umsonst will er<br />

dem l,art pour l,art ergeben, sang Oskar sich dem Glas<br />

ins Gefüge und wurde älter dabei” (Bt, S. 78/79). sich aktiv am sozialen Leben beteiligen. Er<br />

“diskutierte mit den Katholiken und<br />

Darin besteht die Schuld des Künstlers Protestanten die Kollektivschuld” (Bt, S.<br />

der sich komplett von der Welt gewandt hat, 525), er versucht den Rausch der<br />

und dessen Kunst sogar zerstörerisch wirkt. Nachkriegszeit mitzuerleben, er betätigt sich<br />

Oskar meint er hätte den Tod seiner Mutter als Künstler und wird dadurch bekannt und<br />

verursacht, und sagt, daß er sie “ins Grab berühmt. Doch gelingt es ihm nicht, sich<br />

getrommelt hatte” (Bt, S. 299). Um der auch tatsächlich in dieser Wirklichkeit<br />

Kunst Willen zersingt er wertvolle einzuschließen.<br />

Gegenstände aus Glas, und er wird dafür<br />

sogar bewundert.<br />

Symbolisch dafür, daß er keinen Platz in<br />

der Wirklichkeit findet, ist der Versuch des<br />

Die Zwecklosigkeit seiner Kunst kommt Bildhauers Maruhn, ihn als Modell zu<br />

auch in seiner zweiten Trommelperiode zum benützen. Er bildet für sein Modell ein<br />

Vorschein. Nach dem Krieg, um Bebras Gerüst das so perfekt ist, daß Oskar, der<br />

Beschuldigung loszuwerden, um sich seine eigentlich abgebildet werden soll, keinen<br />

Unschuld von ihm zu erkaufen, tritt er als Platz mehr darin hat.<br />

Oskar der Trommler öffentlich auf. Durch<br />

sein Trommeln soll er seine Zuhörer, sein<br />

Oskar kann seiner Schuld nicht<br />

Publikum an die Vergangenheit erinnern,<br />

loswerden. Er wirft die Trommel ins Grab<br />

die alle vergessen wollen. Dieses Ziel wird<br />

seines Vaters, – was auch als Schuldbekenn-<br />

aber nicht erreicht. Sein Trommeln macht<br />

tnis betrachtet werden kann, – muß sie aber<br />

seine Zuhörer zu “glückselig hallenden<br />

wieder als Modell annehmen, obwohl er das<br />

Kindern”. (Bt, S. 615)<br />

nicht will, und auch sagt Oskar hat gebüßt<br />

(Bt, S. 583), denn “nichts ist vorbei, alles<br />

Oskar verfolgt eigentlich überhaupt kommt wieder, Schuld, Sühne, abermals<br />

nichts mit seiner Kunst. Trommeln tut er Schuld.” (Bt, S. 582)<br />

nur für sich selbst, was für Auswirkungen<br />

sein Trommeln hat, ob positive oder<br />

In derselben Lage befindet sich auch<br />

negative, ist ihm egal. Er muß die<br />

Walter Mattern, Mitglied des<br />

Verpflichtungen respektieren, die im<br />

Autorenkollektivs der Hundejahre, Erzähler<br />

Vertrag enthalten sind, und ist vom Gewinn<br />

der Materniaden. Er erzählt so wie Oskar,<br />

angelockt.<br />

um seine Vergangenheit zu bewältigen, um<br />

Täter und Mittäter an die Vergangenheit zu<br />

Somit ist seine dreifache Kunst - erinnern. Jedoch ist er nicht dazu bereit,<br />

Erzählen, Trommeln, Glaszersingen - eine sich selbst zu den Tätern zu rechnen, er ist<br />

ziellose Kunst die ihn als Künstler schuldig nicht bereit seine Schuld zu<br />

macht.<br />

vergegenwärtigen und zu gestehen.<br />

Oskars größte Schuld als Mensch und Auch als Schauspieler, Künstler in der<br />

Künstler wird von David Roberts in seiner Nachkriegszeit, ist er Oskar sehr verwandt.<br />

Analyse “Aspects of psychology and Er leiht seine Stimme für Kinderhörspiele,<br />

mythology in «Die Blechtrommel»” darin hat aber keine Neigung dazu. Er würde sich<br />

gesehen, daß er nicht imstande ist, seine gerne diesen Aufträgen entziehen. Mit<br />

abgekapselte Welt der Illusionen und diesem Auftreten bringt er das Vergessen in<br />

Träume, also sich selbst, mit dem damaligen Verbindung das er als “produktive<br />

Deutschland in Verbindung zu setzen. Beschäftigung” bezeichnet.<br />

Zwar macht Oskar den Versuch aus So wie auch Oskars Trommelkunst ihr<br />

dieser Lage herauszukommen, und Ziel nicht erreicht, erreicht auch Walter<br />

entschließt sich zum Wachstum, aber das Matterns Kunst nicht ihr Ziel. Eltern, und<br />

Ergebnis ist erbärmlich: aus dem Gnom durch sie auch ihre Kinder, vernachläßigen<br />

wird ein buckliger, lächerlicher Mann. den eigentlichen Sinn der Hörspiele, ihre<br />

Seine dämonische, magische Kraft, die Finalität und machen aus Mattern und seine<br />

Fähigkeit Glas zu zersingen, verliert er. Stimme etwas Furchterregendes. Schlimme<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 269


Kinder werden mit der erschreckenden<br />

Stimme des Radioonkels ermahnt.<br />

Auch Pilenz schreibt um seine<br />

Vergangenheit zu bewältigen. Er schreibt<br />

über sein Verbrechen an Mahlke, über Katz<br />

und Maus und mea culpa. (K.u.M, S. 96)<br />

Seine Kunst ist eine Art Sühne. Bebra und<br />

Amsel sehen auch in der Kunst eine<br />

Möglichkeit zu büßen, und bringen Oskar<br />

und Mattern dazu, in der Öffentlichkeit<br />

aufzutreten, um durch ihre Kunst an die<br />

Vergangenheit, also an die vergessene<br />

Schuld, zu erinnern.<br />

Amsel/Brauchsel, der Leiter und zu<br />

gleicher Zeit Mitglied des Autorenkollektivs<br />

das Das Handbuch über den Bau von<br />

wirksamer Vogelscheuchen, eine Festschrift<br />

zum zehnjährigen Bestehen seiner Firma,<br />

schreiben soll, ist auch ein vielseitiger<br />

Künstler. Als Erzähler berichtet er über die<br />

am weitesten gelegene Periode, die<br />

Vorkriegszeit, da er das beste Gedächtnis<br />

hat, und den besten Überblick auf alle<br />

Verhältnisse. Obwohl er sich gerade durch<br />

sein Erinnerungsvermögen von Walter<br />

Matern unterscheidet, ist er aber auch Oskar<br />

in den meisten Hinsichten sehr ähnlich.<br />

Seine künstlerischen Neigungen beweist er<br />

schon als Kind. Er baut ganz wirkungsvolle<br />

Vogelscheuchen, eigentlich um sich, so wie<br />

Oskar in dessen ersten Trommelperiode, vor<br />

der Welt zu schützen.<br />

Seine Kunst in ihrer nächsten Phase, ist<br />

genau wie die Oskars, art pour l'art. Er sagt<br />

selbst “daß (er) keinerlei Kritik äußern<br />

woll-te (Hj, S. 237 ). Sie wirkt sogar<br />

zerstörerisch, zwar indirekt, denn er benützt<br />

Matern als seine Verbindung zur<br />

Außenwelt, und läßt diesen so dem<br />

Nationalsozialismus verfallen.<br />

Durch Matern gelingt es ihm, sich als<br />

Künstler von der Wirklichkeit zu<br />

distanzieren, was einst auch Oskar, durch<br />

dessen permanente Dreijährigkeit gelungen<br />

war, der die Welt, wie kein anderer, von<br />

unten beobachten konnte und so, wie später<br />

Amsel alles sah, was andere nicht sehen<br />

konnten.<br />

Die Wirkung Amsels ersten<br />

Vogelscheuchen ist verblüffend. Die<br />

Produkte seiner Kunst werden vorerst im<br />

konkretesten Sinne nützlich. Danach fängt<br />

270<br />

Ioana Diaconu<br />

er an, Scheu-chen nach dem Bild des<br />

Menschen anzufertigen. Er produziert mit<br />

künstlerischen Mitteln “Pfundskerle wie<br />

Schweinehunde, gemischt und gewürfelt, wie<br />

nun mal das Leben spiele.” ( Hj, S. 237),<br />

und ist wieder Oskar verwandt, der gegen<br />

Rot, Schwarz und Braun trommelt, gegen<br />

alles.<br />

So sind seine SA Vogelscheuchen nicht<br />

nur Nazigrößen, sondern unter ihnen<br />

befinden sich Gerhard Hauptmann, Willi<br />

Bir-gel, Emil Jennings, Max Schmelling,<br />

Pacelli, Friedrich von Schiller, Goethe,<br />

Herbert Morkus, Horst Wessel, Otto<br />

Weininger und er selbst.<br />

Mattern kann dieses Spiegelbild, das<br />

ihm gezeigt wird, “eine Gruppe von<br />

automati-sierten, mechanisierten Gestalten,<br />

die durch Druck eines Knopfes jede<br />

gewünschte Hand-lung vollziehen”,<br />

(Schwefe, S. 49) - das die Essenz der SA<br />

darstellen soll, nicht aushalten, und<br />

organisiert so den Überfall auf Amsel.<br />

Während aber Oskars Gründe rein<br />

ästhetisch, sind, wirken Amsels Gründe –<br />

der dem Menschen ein Ebenbild durch seine<br />

Kunst schafft – eher aufklärerisch.<br />

Seine Scheuchen sollen die Essenz des<br />

Erschreckenden im Menschen zeigen, dem<br />

Deutschen die Essenz der SA. Die Drohung<br />

die seine Scheuchen ausüben wird auch von<br />

Mattern verspürt, der eigentlich nicht fähig<br />

ist sich selbst in der Vergangenheit zu<br />

erkennen.<br />

Was ihn aber am meisten von Oskar, der<br />

das Böse als Triebkraft seiner Kunst sieht,<br />

unterscheidet, ist die Tatsache daß die<br />

Motivation seiner Kunst die Liebe für den<br />

Menschen und vor allem für den Deutschen<br />

ist “Mein lieber Walter, du magst deinem<br />

Vaterland so sehr grollen, ich aber, liebe<br />

die Deutschen.”(Hj, S. 646)<br />

So wie Oskar ist auch Amsel ein<br />

dreifacher Künstler. Er baut<br />

Vogelscheuchen, ist Balettmeister und<br />

Erzähler.<br />

Balletmeister wird er nach dem Überfall<br />

und funktioniert, wie Bebra auch, als<br />

Kulturoffizier. Durch die Inszenierung des<br />

Vogelscheuchenballets zeigt er wie die<br />

Wirklichkeit in einer höchst stilisierenden<br />

Kunst ihren Platz hat.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01


“Schuldige Kunst, schuldige Künstler” – eine Untersuchung der Künstlergestalten<br />

in Günther Grass´ "Danziger Trilogie"<br />

Kunst ist für ihn aber nicht nur eine das Handbuch entstehen. Als Opfer, aber<br />

Materialisierung seiner Beobachtung der gleichzeitig als Einziger, der einen<br />

Wirklichkeit und Auseinandersetzung<br />

damit, sondern auch ein Weg daraus zu<br />

flüchten. Er spielt mit Felsner Imbs und<br />

Jenny Klavier, während die anderen<br />

Bewohner des Mietshauses in ihren<br />

Überblick auf alle Verhältnisse behalten hat,<br />

erzählt er die am weitesten liegende<br />

Vergangenheit. Die Gegenwart, die Zeit der<br />

Buße erzählt Walter Matern, der Täter der<br />

zu Rechenschaft gezogen werden muß.<br />

alltäglich Problemen verstrickt sind, aber Diese vier Erzähler, die die<br />

zugleich die Berühmtheit Harras` steigern. Vergangenheit nicht los lassen können, und<br />

Brunies ist ihnen in dieser Hinsicht ähnlich. sie durch ihre Wiedergabe in die<br />

Er bemüht sich um die künstlerische Gegenwart bringen, verkörpern Grassens<br />

Erziehung seiner Ziehtochter und flüchtet in Erzählintention, und zwar:<br />

Heines und Eichendorffs Welt Zuflucht in “zu erinnern, an all das, was alle vergessen wollen,<br />

die Kunst ist für sie eine Alternative zur damit man “weiß wie es dahin gekommen, wie man es<br />

Verhaltensweise der Anderen, unter den so weit gebracht. Was Deutschland das Ungeteilte war,<br />

herrschenden Verhältnissen, und zugleich und sein könnte, wer die Schuld trägt an all dem, wo sie<br />

heute wieder sitzen, und wie man verhindern kann, daß<br />

ein Zeichen dafür, daß Amsel der Jude und<br />

es dahin kommt.” ( Hj, S. 514)<br />

Jenny das Zigeunerkind, Außenseiter sind.<br />

Für den Künstler Amsel hat Kunst eine<br />

lebenserhaltende Kraft einerseits und<br />

Literatur:<br />

überdauert das Leben andererseits:<br />

Erzählt Kinder, erzählt, … laßt den Faden nicht<br />

abreißen, Kinder! Solange uns etwas einfällt, mit oder<br />

1. Günter Grass: “Die<br />

Luchterhand, Berlin, <strong>19</strong>88<br />

Blechtrommel”,<br />

ohne Pointe (…) solange Geschichten noch zu<br />

unterhalten vermögen, vermag uns keine Hölle uns<br />

unterhaltsam sein. ( Hj, S. 641)<br />

Als Erzähler kann Amsel, über seine<br />

Kunst der Vogelscheuchenproduktion<br />

hinaus, die den Menschen nur ihr<br />

Spiegelbild zeigt, diese auch an ihre<br />

Vergangenheit erinnern.<br />

Matern hatte zwar erneut die Drohung<br />

der zweiunddreißig Scheuchen verspürt, soll<br />

aber für sein Vergehen an Amsel, für sein<br />

Verhalten während des Kriegs büßen. Dafür<br />

muß er daran erinnert werden, denn auch<br />

2. Günter Grass: “Katz und Maus”, Verlag<br />

Volk und Welt, Berlin, <strong>19</strong>84<br />

3. Günter Grass: “Hundejahre”, Luchterhand,<br />

Berlin, <strong>19</strong>63<br />

4. Günter Grass: “Der Autor als Fragwürdiger<br />

Zeuge” DtV, München, <strong>19</strong>97<br />

5. Göetze, Albrecht: ”Pression und Deformation”,<br />

Verlag Alfred Kümmerle, Göppingen,<br />

<strong>19</strong>72<br />

6. Neuhaus, Volker: “Günter Grass” J. B. Metzlersche<br />

Verlagsbuchhandlung, Stuttgart,<br />

<strong>19</strong>93<br />

diese erneute Zusammenkunft mit den 7. Schwarz, Wilhelm Johannes: “Der Erzähler<br />

Scheuchen weckt in ihm keine Erinnerung. Günter Grass”, Francke Verlag, Bern und<br />

Um ihn und zusammen mit ihm die München, <strong>19</strong>75<br />

ganze Gesellschaft ihre Schuld nicht 8. Schwefe, H. R. Müller: “Sprachgrenzen” J.<br />

vergessen zu lassen, läßt Amsel/Brauchsel<br />

*<br />

Pfeiffer Verlag, München, <strong>19</strong>78<br />

* *<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 271

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