ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II
ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II
ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN DER SPRACHE IM WERK VON<br />
HELMUT HEISSENBÜTTEL<br />
Nicht ohne Grund bezeichnet Helmut Heißenbüttel<br />
den Sprachphilosophen Ludwig<br />
Wittgenstein als seinen Lehrer. Dessen Einfluß<br />
auf das literarische Schaffen von Helmut Heißenbüttel<br />
und auf die experimentelle Literatur<br />
ist durch zwei seiner bekanntesten Werke, dem<br />
Tractatus logico-philosophicus und den Philosophischen<br />
Untersuchungen unschwer zu<br />
erkennen.<br />
"Experimentell meint das Experiment, die Prüfung,<br />
Sondierung, den methodischen Umgang mit Sprache<br />
und ihren Möglichkeiten, die Trennung der festen Fügungen,<br />
die Zerschlagung des Satzklischees, das Hervorlocken<br />
des Weichtiers Sprache aus seinen Verkrustungen,<br />
die Denunziation der bürgerlichen «Botschafts»-Sprache,<br />
sucht die Verfremdung, Neuformung,<br />
Montage, die Kombinatorik der zerlegten Satz- und<br />
Wortteile, ein bewußtes technisches Machen, den<br />
Dichter Schriftsteller als literarisches Ingenieur" 1 .<br />
"Experimentell" besagt im allgemeinsten<br />
Experimentieren mit der Sprache; die Sprache<br />
selbst wird zum Objekt und Thema, sie hört<br />
auf, nur Medium zu sein, in dem man über<br />
Menschen und Dinge redet 2 .<br />
"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die<br />
Grenzen meiner Welt" 3 , heißt es im Tractatus;<br />
die Grenzen der Welt - oder besser gesagt: die<br />
Grenzen der möglichen Welten - sind durch<br />
das gegeben, was sich in der Sprache zeigen<br />
kann.<br />
Die Grenzen und Möglichkeiten des Experimentierens<br />
mit Sprache sollen im Folgenden<br />
anhand Heißenbüttels Roman Projekt <strong>Nr</strong>. 1:<br />
D'Alemberts Ende (<strong>19</strong>70) ermittelt werden.<br />
Heißenbüttels Projekt <strong>Nr</strong>. 1 wirft die Frage<br />
auf, ob damit Theorie eingelöst und "sprachimmanente<br />
Organisation der erzählerischen<br />
Großform, eines Romans neuer Art" 4 gelang.<br />
Heißenbüttel ist vor allem durch seine litera-<br />
1 Heinrich Vormweg, Eine andere Leseart. Über neue<br />
Literatur, Neuwied, Berlin <strong>19</strong>72, S. 85.<br />
2 S. J. Schmidt (Hrsg.), Konkrete Dichtung. Texte und<br />
Theorie, München <strong>19</strong>72, S. 9 f.<br />
3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus.<br />
Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.<br />
<strong>19</strong>69, 5.6, S. 89.<br />
4 Helmut Heißenbüttel/Heinrich Vormweg, Briefwechsel<br />
über Literatur, Neuwied, Berlin, <strong>19</strong>69, S. 65.<br />
Delia Esian<br />
turtheoretischen Arbeiten zum führenden Repräsentanten<br />
der experimentellen Literatur geworden.<br />
Sein theoretischer Ansatz kann auch<br />
als Ansatz zur Analyse seiner poetischen<br />
Werke dienen. Konsequenteste Beispiele für<br />
seine experimentellen Formen sind seine Textbücher<br />
1-6. Bezeichnenderweise handelt es<br />
sich bei den überzeugenden Beispielen um<br />
Kleinformen. D'Alemberts Ende ist darum ein<br />
Versuch auf dem Gebiet der Großform, besonders<br />
nachdem Heißenbüttel im Briefwechsel<br />
mit Vormweg über die Möglichkeit<br />
einer 'sprachimmanent' experimentierenden<br />
Großform spekuliert hatte 5 .<br />
Der Roman scheint in seinem Aufbau alles<br />
andere als ein Experiment zu sein, insofern er<br />
einem bewährten Schema folgt; er ist in 3<br />
Teilen aufgebaut, nach traditionellem triadischen<br />
Schema: "Der erste Teil stellt vor und<br />
gibt den Aufriß. Der zweite enthält die Diskussion.<br />
Der dritte führt zu Ende löst Knoten,<br />
löst auf" 6 .<br />
So ist es kaum zufällig, daß er sich auf den<br />
am strengsten gebauten Roman Goethes zurückbezieht.<br />
Das Buch ist aber nicht eine Literatursatire<br />
auf den klassischen Roman, sondern<br />
eine Satire auf außerliterarische zeitgenössische<br />
Wirklichkeit. Heißenbüttel selbst nennt es<br />
eine "Satire auf den Überbau. Durchgeführt am<br />
Beispiel Bundesrepublik Juli <strong>19</strong>68" 7 . Damit<br />
erklärt sich auch die Untergattung 'satirischer<br />
Zeitroman'. "Heißenbüttels eigener Aufriß liest<br />
sich wie die verkürzte Strukturbeschreibung<br />
eines Zeitromans, der mit konventionellen<br />
erzählerischen Mitteln arbeitet". Dieser Befund<br />
führte Hartung zum folgenden Schluß:<br />
"Die Frage nach Großformen, die sich ohne außersprachliche<br />
Fiktionen, also rein aus dem sprachlichen<br />
5 Bodo Heimann, Experimentelle Prosa der Gegenwart,<br />
München <strong>19</strong>78, S. 91.<br />
6 Helmut Heißenbüttel, "Erfundenes Interview mit mir<br />
selbst über das Projekt <strong>Nr</strong>. 1: D'Alemberts Ende". In:<br />
Ders., Zur Tradition der Moderne, Neuwied, Berlin<br />
<strong>19</strong>69, S. 373.<br />
7 Ebd., S. 374.
Grenzen und Möglichkeiten der Sprache im Werk von Helmut Heißenbüttel<br />
Material kreieren lassen, ist, jedenfalls für dieses Exempel,<br />
negativ beantwortet" 8 .<br />
Die Großform geht hier nicht aus dem Experimentieren<br />
mit Sprache hervor, wie das<br />
Heißenbüttel in seinen literaturtheoretischen<br />
Arbeiten forderte. Auch wenn hier mit Zitaten,<br />
Montage, Redensarten und literarischen Versatzstücken<br />
gearbeitet wird, bleibt Heißenbüttel<br />
nicht dabei stehen, sondern versucht, die<br />
Welt seiner Zitate und Anspielungen in einen<br />
größeren fiktiven Zusammenhang zu integrieren<br />
9 .<br />
Betrachtet man die Erzählstruktur dieses<br />
Romans genauer, so stellt man fest, daß Heißenbüttel<br />
sich doch noch an seine Theorie hält.<br />
Das betrifft vor allem die Erzählweise: Da wir<br />
es überall in diesem Buch, offen oder versteckt,<br />
mit Zitaten zu tun haben - Goethe, E. T.<br />
A. Hoffmann, Heine, Joyce, Böll, Marx,<br />
Freud, Marcuse, Adorno u.a. -, wird nirgends<br />
erzählt, sondern Erzählung zitiert. Das gilt<br />
auch für den Erzähler, den es eigentlich nicht<br />
mehr gibt, und für die Personen, denn auch sie<br />
haben Zitatcharakter 10 . Ihre fiktionale Glaubwürdigkeit<br />
und ihr Personencharakter wird<br />
dadurch aufgehoben.<br />
Schon der Anfang des Buches weist darauf<br />
hin. Nur scheinbar beginnt ein auktorialer<br />
Erzähler eine Geschichte, die Goethes Wahlverwandtschaften<br />
in die Gegenwart verlegt:<br />
"Eduard - so nennen wir einen Rundfunkredakteur<br />
im besten Mannesalter - Eduard<br />
hatte im D-Zug München - Hamburg (Ankunft<br />
Hauptbahnhof 21. <strong>19</strong>) die schönsten Stunden<br />
eines Julinachmittags (25.7.<strong>19</strong>68) zugebracht<br />
und betrachtete mit Vergnügen die Gegend<br />
zwischen Lüneberg und Hamburg" 11 .<br />
Der scheinbar auktoriale Erzähler - wir - ist<br />
Bestandteil eines Zitats und nicht der Erzähler<br />
dieser Geschichte. Die erste Aussage des Buches<br />
erweist sich damit schon als uneigentlich.<br />
Die zweite Person wird auch auf eine bezeichnende<br />
Art und Weise eingeführt:<br />
"In Hannover zugestiegen, von Kassel kommend, wo<br />
sie die internationale Kunstaustellung der 4. Documenta<br />
besucht hatte, war eine Kollegin vom Hamburger Fern-<br />
8<br />
Harald Hartung, Experimentelle Literatur und konkrete<br />
Poesie, Göttingen <strong>19</strong>75, S. 87 f.<br />
9<br />
Bodo Heimann, a. a. O., S. 65.<br />
10<br />
Ebd. 67.<br />
11<br />
Helmut Heißenbüttel, Projekt <strong>Nr</strong>. 1 D'Alemberts<br />
Ende, Neuwied, Berlin <strong>19</strong>70, S. 11.<br />
sehen, die dort Filme über Themen der bildenden Kunst<br />
produzierte und die auch für das Ressort, das Eduard<br />
verwaltete (Kulturpolitik im Bayrischen Rundfunk),<br />
eben etwas über die Documenta schreiben wollte. Ihr<br />
Name war Ottilie Wildermuth" 12 .<br />
Die Angaben "Hannover", "Kassel", das<br />
"Hamburger Fernsehen", der "Bayrische Rundfunk"<br />
erstellen zunächst eine Wirklichkeit, die<br />
nicht nur im fiktionalen, sondern auch im außerfiktionalen<br />
Zusammenhang zu stimmen<br />
scheint. Durch den Namen der Person wird<br />
diese Wirklichkeit dann insofern gestört, als<br />
Ottilie allein zu Eduard und Goethe, nicht aber<br />
in die hier beschriebene Landschaft zu passen<br />
scheint 13 . Die nichtfiktiven Ortsnamen kontrastieren<br />
nicht nur die fiktive Person - das wäre<br />
auch im konventionellen Roman nichts besonderes<br />
-, sondern der Personenname hat vor<br />
allem Signalwirkung, insofern er an den obengenannten<br />
Eduard erinnert und die erstellte<br />
Wirklichkeit wieder auf die Ebene des ironischen<br />
Spiels mit dem Zitat zurückführt.<br />
Es sind aber nicht nur die Namen der Personen,<br />
was diese Figuren in Gegensatz zu ihrer<br />
Umwelt bringt, sondern vor allem auch das,<br />
was sie sagen. Mehr noch als der zitierte Erzähler<br />
durch seinen Stil in Widerspruch zu Zeit<br />
und Raum des Romans gerät, zerstören die<br />
Figuren durch den historischen Stil ihrer zitierten<br />
Rede den Eindruck ihrer Authentizität:<br />
"Da wir denn ungestört hier allein sind, sagt eben<br />
Eduard: und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so muß ich<br />
Ihnen gestehen, daß ich schon einige Zeit etwas auf<br />
dem Herzen habe, was ich Ihnen vertrauen muß und<br />
möchte, und nicht dazu kommen kann" 14 .<br />
Auch Plenzdorf übernimmt seine Figurenkonstellation<br />
aus einem Roman Goethes, aber<br />
er versetzt sie nicht nur in eine moderne Umwelt,<br />
sondern läßt sie auch die moderne Sprache<br />
reden. Nicht zuletzt durch diese linguistische<br />
Authentizität und die pointiert ausgespielte<br />
Distanz zu Goethes Werther gewinnen<br />
Die neuen Leiden des jungen W. ihre<br />
Glaubwürdigkeit und ihr eigenes Leben 15 . In<br />
D'Alemberts Ende wird die Glaubwürdigkeit<br />
der Figuren gerade durch die Beibehaltung der<br />
Goetheschen Sprache verhindert. Eduard und<br />
Ottilie können gar nicht im D-Zug von Kassel<br />
nach Hamburg fahren, weil sie gar nicht leben,<br />
12 Ebd.<br />
13 Bodo Heiman, a. a. O., S. 68.<br />
14 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 68.<br />
15 Ebd.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (17-18) / <strong>20</strong>00 141
und sie können nicht leben, weil sie sonst nicht<br />
so sprechen würden:<br />
"Es ist recht schön und liebenswürdig von Ihnen, versetzte<br />
Ottilie, daß Sie D'Alemberts Zustand mit soviel<br />
Teilnahme bedenken; allein erlauben Sie mir, Sie aufzufordern,<br />
auch Ihrer, auch unser zu gedenken" 16 .<br />
Durch ihre Sprache geben sie sich als literarische<br />
Konserve zu erkennen. Sie sind nicht<br />
nur fiktive Figuren, sondern verlieren durch<br />
ihre Versetzung aus Goethes in Heißenbüttels<br />
Welt ihr Leben; da sie einerseits in Zitaten<br />
reden und selber Zitat sind, andererseits als<br />
fiktive Figuren im neuen Roman fungieren,<br />
müssen sie ihre alte Identität verlieren 17 , ohne<br />
eine neue gewinnen zu können.<br />
Ähnlich wie Eduard und Ottilie gewinnt<br />
auch die Titelfigur kein eigenes Profil. D'Alembert<br />
wird in eine reale Umwelt (Hamburg)<br />
eingepaßt und u.a. auch mit realen Personen<br />
(z. B. Bense) verknüpft, aber eine eigene Realität<br />
gewinnt er dabei nicht. Seine Unauffälligkeit<br />
und Durchschnittlichkeit werden deutlich<br />
ausgedrückt:<br />
"Er hat gelegentlich mit Max Bense geredet. Er hat<br />
nie einen Posten gehabt, weder als Beirat noch als Berater,<br />
Korrespondent oder Herausgeber. Er hat niemals<br />
etwas veröffentlicht. Er hat eine Dissertation geschrieben<br />
über das Kolorit bei Januarius Zick, der mit<br />
Goethe befreundet war. Er ist einmal Zeichenlehrer gewesen.<br />
Er hat den Schuldienst aufgeben müssen wegen<br />
Unregelmäßigkeit in dem Gebrauch seiner Kräfte.<br />
Niemand zitiert ihn. Er fällt nicht auf. Er mischt sich<br />
unter die Leute. Er ist der bekannte ortsansässige<br />
Kritiker" 18 .<br />
Die äußere Unauffälligkeit wird bei D'Alembert<br />
nicht durch eine problematisierte Innerlichkeit<br />
ausgegeglichen. Auch darin folgt<br />
Heißenbüttel durchaus seiner Theorie. D'Alembert<br />
hat keine Subjektivität und leidet auch<br />
nicht darunter. Er hat keine Identität, und er<br />
sucht sie auch nicht, und das unterscheidet ihn<br />
von Musils und Frischs problematischen Figuren.<br />
Er erscheint nicht einmal depersonalisiert,<br />
weil er von vornherein keine Person ist <strong>19</strong> .<br />
Gerade weil solche Innenseite Heißenbüttels<br />
Figuren ganz fehlt, gerade weil sie weder eine<br />
Identität haben noch eine suchen, noch eine<br />
16 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 12.<br />
17 Bodo Heimann, a. a. O., S. 69.<br />
18 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 27.<br />
<strong>19</strong> Bodo Heimann, a. a. O., S. 70.<br />
142<br />
Delia Esian<br />
verlorengegangene beklagen, sind sie beliebig<br />
austauschbare Träger von Zitaten. Selbst ihre<br />
Träume sind Zitat. D'Alemberts Traum ist<br />
nicht der erzählte Traum einer Person, sondern<br />
eine Paraphrase von Freuds Traumdeutung:<br />
"Der Traum ist ein Hüter des Schlafs. Triebregungen<br />
finden in ihm eine mit dem Schlafzustand verträgliche<br />
Erfüllung. Über die Gestaltung des Traums wacht eine<br />
Kontrollinstanz der Persönlichkeit, die solche Regungen,<br />
die vom moralischen Wachbewußtsein mißbilligt<br />
werden, namentlich sexueller und agressiver Art, nur in<br />
einer Form zur Darstellung gelangen läßt, welche durch<br />
die sogenannte Traumarbeit unkenntlich gemacht worden<br />
ist. Es ist daher bei jedem Traum zwischen dem<br />
chiffrierten Traum und dem sogenannten latenten<br />
Traumgedanken, dem Klartext der Triebansprüche, zu<br />
unterscheiden" <strong>20</strong> .<br />
Die scheinbare Konstanz fiktionaler Figuren<br />
wird unterlaufen und ausgehöhlt durch den<br />
Collagecharakter des Buches. Die Verbindung<br />
von Personen und Situationen bleibt Vorwand<br />
zur Textcollage, zur Verbindung literarischer<br />
Zitate unterschiedlichster Art, von Goethe,<br />
Marx, Freud, Marcuse, Adorno u.a., versetzt<br />
mit Nachrichten und Wettervorhersagen oder<br />
banalen Redewendungen des Alltags. Während<br />
einerseits die Zitate aus ihren ursprünglichen<br />
Kontexten und Funktionszusammenhängen<br />
gelöst werden, verlieren andererseits die übernommenen<br />
Personen ihre konkreten Züge und<br />
fungieren als Zitatmasken ohne eigene Konsistenz<br />
21 .<br />
Was die Personen konkret treiben, in welche<br />
Beziehungen sie zueinander treten, bleibt<br />
uneigentlich und verfällt dem distanziert ironischen<br />
Spiel mit dem Selbstzitat:<br />
"D'Alembert liebt Ottilie. Andie liebt Liselotte, er ist<br />
vollkommen verrückt. D'Alembert liebt Andie. Ottilie<br />
Wildermuth hat eine Schwäche für D'Alembert. Die<br />
Schildkröte verehrt Andie. Helmut Maria und Bertolt<br />
betreuen ihre Schwester Ottilie. Ottilie liebt Andie. Dr.<br />
Johnson hat das ist nun schon lange her Ottilie gekannt.<br />
[...] Eduard mag Eduard, aber er hat Angst vor ihm.<br />
Eduard flieht vor Ottilie" 22 .<br />
Die uneigentliche Sprache der Sätze repräsentiert<br />
das uneigentliche Leben derer, von<br />
denen die Sätze sprechen. Da die Figuren gar<br />
nicht leben, sondern als Zitatmasken fungieren,<br />
ist nicht zufällig das Gespräch diejenige Form,<br />
<strong>20</strong> Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 48.<br />
21 Bodo Heimann, a. a. O., S. 71.<br />
22 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 130.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Grenzen und Möglichkeiten der Sprache im Werk von Helmut Heißenbüttel<br />
durch die sie zueinander in Beziehung treten,<br />
und zugleich die von diesem Roman bevorzugte<br />
Erzählweise. Es ist schließlich gleichgültig,<br />
was die Figuren überhaupt sagen, beteuern,<br />
vermuten. Die Inhalte sind austauschbar,<br />
die Sprechakte ein leeres Ritual, das<br />
Resumé kann auf Inhalte ganz verzichten.<br />
Die Namengebung "D'Alembert" und die<br />
Titelgebung "D'Alemberts Ende" wirkt auch<br />
repräsentativ. Der Spekulation des Lesers sind<br />
keine Grenzen gesetzt, und die Lektüre des<br />
Buches kann sogar provozieren, sich mit dem<br />
historischen D'Alembert (1717-1783) und<br />
Diderot (1713-1784) und der historischen<br />
Bedeutung ihres gemeinsamen Projekts, der<br />
Encyclopédie, ou dictionaire raisonné des<br />
sciences, des arts et des métiers (1751-1780)<br />
zu beschäftigen. Der Autor sagt: "Der Name<br />
klingt gut. Prägt sich leicht ein." Der Klang<br />
also, nicht die symbolische Bedeutung dieses<br />
Namens zählt. Ganz so einfach ist es nicht.<br />
Auch wenn der Autor den Namen bagatellisiert,<br />
schließt er die Spekulationen nicht aus,<br />
sondern ermuntert sie geradezu: "Man kann<br />
sich was dabei denken, wenn man weiß, aber<br />
auch, wenn man nicht viel weiß" 23 . Dem Leser<br />
steht frei, den Inhalt des Romans samt seiner<br />
Titelfigur ebenso ironisch auf den historischen<br />
D'Alembert und die Enzyklopädisten zurückbeziehen<br />
wie die Form auf die Erzählweise<br />
Goethes 24 .<br />
23 Ders., Zur Tradition der Moderne, S. 369.<br />
24 Bodo Heimann, a. a. O., S. 79.<br />
Eine satirische Spitze gegen aufklärerischen<br />
Zukunftsoptimismus enthält auch<br />
die Figur 'Der kommende Mann' am Ende des<br />
Buches; wie eben der bereits analysierte Anfang<br />
seine satirische Spitze gegen diejenigen<br />
richtet, die sich nach dem allwissenden Erzähler<br />
und dem konventionellen Erzählen zurücksehnen.<br />
Vielsagend und symbolisch deutbar ist<br />
auch das Ende D'Alemberts. Seine Todesursache<br />
ist unbekannt, man findet ihn<br />
"skalpiert wie ein von Indianern überfallenes<br />
Bleichgesicht". Dieser Tod ist rätselhaft und<br />
wenig eindeutig, aber als groteske Metapher<br />
zum Ganzen passend:<br />
"Das verklebte rothaarige Toupet liegt auf dem Teller<br />
des angestellten Plattenspielers und dreht sich gleichmäßig<br />
um sich selbst" 25 .<br />
Mit der Reduktion auf Sprache stellt sich<br />
das Problem, inwieweit aus bloß sprachimmanenten<br />
Impulsen epische Großformen<br />
wie der Roman überhaupt entstehen kann.<br />
Heißenbüttel hat im Briefwechsel mit Vormweg<br />
dieses Problem des Romans aufgeworfen,<br />
aber weder gelöst noch präzise genug gestellt.<br />
Heißenbüttel hegte die Hoffnung, daß das<br />
Experimentieren mit Sprache den Anfang zu<br />
einer neuen Literatur darstellen könnte:<br />
"Und die Grenze, die erreicht wird, ist nicht eine zum<br />
Nichts, zum Sprachlosen, zum Chaos [...], es ist die<br />
Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist" 26 .<br />
25 Helmut Heißenbüttel, D'Alemberts Ende, S. 373.<br />
26 Ders.,Über Literatrur, München <strong>19</strong>72, S. 211.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (17-18) / <strong>20</strong>00 143
PATRICK SÜSKINDS PARFUM IN RUMÄNISCHER ÜBERTRAGUNG.<br />
EINE ÜBERSETZUNGSKRITISCHE BETRACHTUNG DER AUTOR- UND<br />
PERSONENSPRACHE<br />
Patrick Süskinds Parfum (<strong>19</strong>85) war ein<br />
Riesenerfolg nicht nur in den Vereinigten<br />
Staaten sondern auch in Europa. Eine der<br />
aufregensten Entdeckungen der letzten Jahre.<br />
Fesselnd. Ein Meisterwerk, behauptete<br />
die San Francisco Chronicle. Kraftvoll und<br />
mitreißend. Seine Wirkung wird lange andauern<br />
stand in der Time Magazine New<br />
York. Grete Tartler übersetzte diesen Roman<br />
ins Rumänische (1. Auflage – Univers Verlag<br />
<strong>19</strong>89, 2. Auflage – Humanitas Verlag<br />
<strong>20</strong>00) und ermöglichte dadurch der rumänischen<br />
Leserschaft, das Buch kennenzulernen.<br />
Der vorliegende Beitrag ist eine Fortsetzung<br />
vorangehender Beschäftigungen mit<br />
der Übersetzung des Romans Das Parfüm<br />
von Patrick Süskind. Die hier unternommene<br />
Übersetzungskritik hat ihre Aufmerksamkeit<br />
insbesondere der mikrostrukturellen Ebene<br />
geschenkt und beschränkt sich auf die Untersuchung<br />
der Stilschichten an einigen Textbeispielen.<br />
Der erste Teil der Analyse hebt<br />
die Bedeutung der unterschiedlichen Sprachregister<br />
in der Übertragung der Autor- und<br />
Personensprache hervor. Der zweite Teil<br />
veranschaulicht die lexikalischen Schwierigkeiten<br />
in der Übertragung der Autorsprache;<br />
der Übersetzung der Autorsprache wird<br />
hiermit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt,<br />
um die Bemühungen der Übersetzerin,<br />
dem Stil der Autorsprache gerecht<br />
zu werden, anzuerkennen.<br />
Nach einer aufmerksamen Lektüre des<br />
AS- und ZS-Textes aus übersetzungskritischer<br />
Perspektive hat sich die Grenzziehung<br />
zwischen Autor- und Personensprache als<br />
notwendig erwiesen. In den folgenden Textstellen,<br />
auf die sich die übersetzungskritische<br />
Betrachtung berufen wird, hat die Übersetzerin<br />
Grete Tartler die Unterschiede bezüglich<br />
der Stilschicht der Autor- und Personensprache<br />
in der Zielsprache nicht markiert<br />
und mehrere inadäquate Entscheidungen getroffen.<br />
Folglich lässt sich eine einführende theoretische<br />
Auseinandersetzung mit den Be-<br />
Delia Anca Şeiculescu<br />
griffen Autor- und Personensprache, bevor<br />
die konkreten Übersetzungavarianten analysiert<br />
werden, nicht ausblenden, da die Terminologie<br />
diesbezüglich in der Fachliteratur<br />
nicht einheitlich gehandhabt wird. Autor-<br />
bzw. Figurenrede, Autor- bzw. Personenstil<br />
sind Bezeichnungen, die sich auf die Sprechweise<br />
des Autors bzw. der Personen beziehen.<br />
Die vorliegende Betrachtung setzt<br />
sich auf eine konsequente Wiederaufnahme<br />
der Bergriffe Autor- und Personensprache<br />
fest.<br />
Unter Autorsprache versteht man die eigentlichen<br />
Stilmerkmale des auktorialen<br />
Sprechens, sichtbar im Autortext. Der Autortext<br />
wird als der eigentliche Berichts–<br />
oder Erzähltext aufgefasst, 1 wie das folgende<br />
Beispiel diese Aussage veranschaulicht.<br />
Im achtzehnten Jahrhundert lebte in<br />
Frankreich ein Mann, der zu den genialsten<br />
und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen<br />
und abscheulichen Gestalten nicht<br />
armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll<br />
hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste<br />
Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz<br />
zu den Namen anderer genialer Scheusale,<br />
wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches,<br />
Bonapartes usw., heute in Vergessenheit<br />
geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil<br />
Grenouille diesen berühmteren Finstermännern<br />
an Selbstüberhebung, Menschenverachtung,<br />
Immoralität, kurz an Gottlosigkeit<br />
nachgestanden hätte, sondern weil sich<br />
sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein<br />
Gebiet beschränkte, welches in der<br />
Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das<br />
flüchtige Reich der Gerüche. (S. 5)<br />
Die Personensprache ist eine Redeweise<br />
einer im Text auftretenden Person im Unterschied<br />
zur eigentlichen Autorsprache. Die<br />
Personensprache wird im personalen Text<br />
sichtbar. Dieser ist der Text, den der Autor<br />
seinen Personen als geäußert oder nur ge-<br />
1 Siehe Krahl, Siegfried/Kunz, Josef: Kleines Wörterbuch<br />
der Stilkunde. Leipzig, <strong>19</strong>79, S. <strong>20</strong>.
Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />
dacht, gefühlt zuschreibt, im Unterschied<br />
zum eigentlichen Autortext. 2 Die Personensprache,<br />
oft in der direkten Rede aktualisiert,<br />
hat die Funktion, die Redeweise der Personen<br />
zu charakterisieren und dadurch Rückschlüsse<br />
auf deren Wesen zuzulassen.<br />
Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht<br />
meht zurück. "Aber sie sind doch alle da, die<br />
man braucht, die Grüche, sind doch alle da,<br />
in diesem Raum" sagte er und deutete wieder<br />
ins Dunkle. "Rosenöl da! Orangenblüte da!<br />
Nelke da! Rosmarin da ...!" (S. 98)<br />
Autorsprache und Personensprache können<br />
bei bestimmten Formen der Rededarstellung<br />
und der Reflexionsdarstellung teilweise<br />
verschmelzen. Zu gemeinsamen Stilmerkmalen<br />
der Redeweise kommt es entweder<br />
durch partielle Identität der<br />
Perspektive von Autor und Person oder in<br />
der erlebten Rede bzw. in der erlebten<br />
Reflexion. Der Autor identifiziert sich stark<br />
mit der Person und zwingt auch den Leser<br />
suggestiv zu einer Betrachtung aus dieser<br />
Perspektive. 3 Der vorliegende Beitrag wird<br />
auf die Übersetzung der Stilmerkmale Autor-<br />
Personen-Sprache nicht näher eingehen,<br />
sondern nur einen Textausschnitt in<br />
deutscher Sprache als Beispiel liefern.<br />
Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren<br />
ohne Geruch, am stinkendsten Ort der Welt,<br />
stammend aus Abfall, Kot und Verwesung,<br />
aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme<br />
menschliche Seele, einzig aus Widerborstigkeit<br />
und der Kraft der Ekels, klein,<br />
gebuckelt, hinkend, hässlich, gemieden, ein<br />
Scheusal innen wie außen - er hatte es erreicht,<br />
sich von der Welt beliebt zu machen.<br />
Was heißt beliebt! Verehrt! Vergöttert! (S.<br />
304)<br />
Die normative Konnotation der Wörter<br />
ist im Rahmen dieser Betrachtung von Bedeutung.<br />
Darunter versteht man die Zugehörigkeit<br />
der lexikalischen Einheiten zu einer<br />
bestimmten Stilschicht bzw. die Normierungen<br />
des Sprachgebrauchs auf unterschiedlichen<br />
Stilhöhen 4 . Die Übersetzung des Stils<br />
der Autorsprache ist gelungen, jedoch treten<br />
Fehler bei der Übertragung der stilistischen<br />
Eingentümlichkeiten der Personensprache<br />
2 Ebd., S. 79.<br />
3 Ebd. S. <strong>20</strong>.<br />
4 Siehe Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft.<br />
München: dtv, <strong>19</strong>78, S. 181.<br />
auf. Diese Inkonsequenzen kann der hier<br />
unternommene übersetzungskritische Versuch<br />
nicht übersehen.<br />
"Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz<br />
leicht zu sagen, weil ... weil, sie riechen nicht überall<br />
gleich, obwohl sie überall gut riechen, Pater, verstehen<br />
Sie, also an den Füßen zum Beispiel, da<br />
riechen sie wie ein glatter warmer Stein – nein eher<br />
wie Topfen ... oder wie Butter, wie frische Butter, ja<br />
genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Körper<br />
riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch<br />
gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem<br />
Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen sie<br />
, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist ... ", und sie<br />
tippte Terrier, der über diesen Schwall detaillierter<br />
Dummheit für einen Moment sprachlos geworden war<br />
und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die<br />
Glatze," ... hier, genau hier, da riechen sie am besten.<br />
Da riechen sie nach Karamel, das riecht so süß, so<br />
wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung!<br />
Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie,<br />
ganz gleich ob es die eigenen oder fremde sind. (S.<br />
16)<br />
- Păi, începu doica, nu e prea uşor de zis, fiindcă...<br />
fiindcă nu miros peste tot la fel, deşi peste tot e ceva<br />
plăcut, înŃelegeŃi, pater, adică de pildă la picioare miros<br />
a piatră netedă calduŃă – nu, mai degrabă a branză<br />
de vaci, sau ca untul, ca untul proaspăt: exact, ca untul<br />
proaspat miros. Iar pe corp parc-ar fi ... un pişcot<br />
înmuiat în lapte. Şi pe cap, aici sus, spre ceafa, unde<br />
face părul vârtej, vedeŃi, pater, aici, unde domniavoastră<br />
nu mai aveŃi nimic... şi pipăi chelia lui Terrier,<br />
care rămăsese o clipa fără grai în faŃa unui asemenea<br />
torent de amănunŃite aiureli, înclinând ascultător<br />
capul, ...aici, chiar aici au mirosul cel mai plăcut. Aici<br />
miros a caramel, atât de dulce, de minunat, nici nu<br />
vă puteŃi închipui, pater! O dată ce i-ai adulmecat<br />
acolo, îi iubeşti, indiferent că sunt ai tăi sau ai altuia.<br />
(S.14)<br />
In dem zitierten Abschnitt spricht eine<br />
Figur des Romans. Es ist offenkundig, dass<br />
es sich um Personensprache handelt, die kurz<br />
von der Autorsprache unterbrochen wird.<br />
Die vom Autor ihr zugeschriebene Sprache<br />
charakterisiert die Amme zugleich: sie ist<br />
ungebildet, wiederholt sich andauernd, verfügt<br />
über keine besondere Sprachfähigkeiten.<br />
In der Übersetzung kommen jedoch Wörter,<br />
wie pater, exact, indiferent, domnia-voastră<br />
vor, die als Übersetzungsfehler zu betrachten<br />
sind. Pater wird kein ungebildeter Mensch<br />
gebrauchen, üblich ist das Wort părinte. Eine<br />
Amme wird wahrscheinlich das Wort exact<br />
nicht benutzen, um die Genauigkeit auszudrücken,<br />
indiferent ist ein Neologismus, der<br />
dieser Frau mit Sicherheit unbekannt ist; sie<br />
wird nach einem anderen Wort greifen, um<br />
die Idee der Gleichgültigkeit (im engen Sinne)<br />
zu vermitteln. Domnia-voastră sollte die<br />
Gestalt als Anredeformel kennen, aber im<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 145
Original erscheint Ihre Hoheit nicht, weil<br />
man vermutlich einen Priester nicht mit Ihre<br />
Hoheit anspricht. Die Übersetzerin verwechselt<br />
Autorsprache und Personensprache,<br />
und deshalb ist im Rumänischen die Sprache<br />
der Amme vom gehobenen Stil der Autorsprache<br />
geprägt.<br />
Eine andere Inadäquatheit ergibt sich<br />
beim Übersetzen mancher Präpositionalphrasen:<br />
an den Füßen – la picioare, am Körper<br />
– pe corp. A mirosi la picioare ist auch für<br />
eine ungebildete Frau nicht üblich, denn die<br />
Präposition la hat eine situative Bedeutung,<br />
deshalb in diesem Kontext nicht annehmbar.<br />
Piciorele miros, diese Wortwahl wäre eher<br />
den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten<br />
dieser Frau zuzuschreiben. Dasselbe gilt<br />
auch für den Ausdruck am Körper:<br />
Iar corpul [...] (miroase) ca un pişcot înmuiat în<br />
lapte anstatt Iar pe corp parcă – ar fi [...] un pişcot<br />
înmuiat în lapte.<br />
Die Übersetzerin markiert die stilistischen<br />
Unterschiede zwischen Autorsprache<br />
und Personensprache in der Zielsprache<br />
nicht, die Personesprache ist von den stilistischen<br />
Merkmalen des auktorialen Sprechens<br />
gekennzeichnet, und folglich sind die Übersetzungsvarianten<br />
als inadäquat zu betrachten.<br />
Die Übersetzung von Autorsprache<br />
ist jedoch gelungen.<br />
[...] und sie tippte Terrier, der über diesen Schwall<br />
detaillierter Dummheit für einen Moment sprachlos<br />
geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte,<br />
auf die Glatze, [...]<br />
[...] şi pipăi chelia lui Terrier, care rămăsese o clipă<br />
fără grai în faŃa unui asemenea torent de amănunŃite<br />
aiureli, înclinănd ascultător capul.<br />
Die Wortwahl, dem Autorstil entsprechend,<br />
ist gut getroffen. Die rumänische Variante<br />
wird sogar stilistisch aufgewertet: das<br />
deutsche Plusquamperfekt büßt seine Stellung<br />
gegenüber einer Partzipialkostruk-tion<br />
(constructie gerunziala) ein – gesenkt hatte,<br />
înclinând. Sprachlos werden ist mit a rămâne<br />
fără grai übersetzt worden, und nicht mit<br />
a rămâne mut. Die Übersetzerin entscheidet<br />
sich für die Variante, die sich durch einen<br />
gehobenen Stil charakterisiert, und die Entscheidung<br />
wird von der hier unternommenen<br />
Übersetzungskritik auch anerkannt.<br />
Die Geruchsbeschreibungen im ersten<br />
Teil sind adäquat übersetzt worden – der<br />
Übersetzerin gelingt es, dem Stil der Autor-<br />
146<br />
Delia Anca Şeiculescu<br />
sprache gerecht zu werden. Im Fogenden<br />
wird ein Textausschnitt des ersten Kapitels<br />
eingehender betrachtet, um die gelungene<br />
Übersetzung der Autorsprache hervorzuheben.<br />
Die sprachlich anspruchsvolle Stelle<br />
versetzt den Leser in das flüchtige Reich der<br />
Gerüche und bereitet dem Übersetzer<br />
Schwierigkeiten bei den zu treffenden Entscheidungen.<br />
Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den<br />
Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer<br />
Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist,<br />
es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die<br />
Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck,<br />
die Küchen nach verdorbenem Kohl und<br />
Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach<br />
muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken,<br />
nach feuchten Federbetten und nach dem stechend<br />
süßen Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen<br />
stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die<br />
ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das<br />
geronnen Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß<br />
und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund<br />
stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihren Mägen<br />
nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht<br />
mehr ganz jung waren, nach altem Käse und saurer<br />
Milch und nach Geschwulstkrankheiten. (S. 5)<br />
Pe vremea de care vorbim, în oraşe domnea o duhoare<br />
pentru noi, modernii, de neînchipuit. Străzile<br />
trăsneau a gunoi şi bălegar, curŃile dosnice a urină,<br />
casele scărilor a lemn putrezit şi murdărie de şobolan,<br />
bucătăriile a varză stricată şi seu; încăperile neaerisite<br />
duhneau a praf mucegăit, dormitoarele a cearceafuri<br />
unsuroase, a paturi de puf umed şi a mirozna înŃepător-dulceagă<br />
din oalele de noapte. Din cămine trăsnea<br />
pucioasa, din tăbăcării leşiile corozive, din căsăpii<br />
sângele scurs. Oamenii puŃeau a sudoare şi haine nespălate;<br />
gura le duhnea a dinŃi stricaŃi, stomacurile a<br />
zeamă de ceapa, iar corpurile, când nu mai erau prea<br />
tineri, a brânză veche, lapte acru şi bube. (S. 5)<br />
Bei der Lektüre des Ausgangstextes wird<br />
dem Übersetzer die Vielfalt der hervorgerufenen<br />
Empfindungen bewusst, und er ist<br />
bemüht durch die Übersetzung, diese Geruchs-empfindungen<br />
an die ZS zu vermitteln.<br />
Bevor man zur konkreten Übersetzungskritik<br />
vorgeht, sollte der Begriff Geruch erläutert<br />
werden.<br />
Geruch: mit dem Geruchssinn über die<br />
Nase aufzunehmender, wahrnehmbarer, oft<br />
angenehmer oder unangenehmer Duft 5 .<br />
Duft: als angenehm empfundener, zarter<br />
bis intensiver Geruch 6 .<br />
5 Bunting, (Hg.): Deutsches Wörterbuch, <strong>19</strong>96.<br />
6 Drosdowski: Duden - Universalwörterbuch, <strong>19</strong>89.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />
Parfüm: alkoholische Flüssigkeit, in der<br />
Duftstoffe gelöst sind; Flüssigkeit mit intensivem,<br />
langhaltendem Geruch. 7<br />
Teilsynonyme für Duft sind Geruch und<br />
Parfüm, den Begriff Geruch – Duft, Odeur,<br />
Aroma, Arom, Gestank, Bukett. Parfum kann<br />
man auch als Duft, Duftwasser, Duftessenz,<br />
Riechstoff, Toilettenwasser, Duftstoff verstehen<br />
oder wahrhaben. Der Definitionsversuch<br />
veranschaulicht die Komplexität des<br />
sprachlichen Feldes Geruch, die zahlreichen<br />
sprachlichen Möglichkeiten, Geruchsempfindungen<br />
durch Sprache zu benennen.<br />
Der Geruch im Ausgangstext ist durch<br />
folgende Ausdrücke nachvollziehbar: Gestank,<br />
stinken, Mist, Urin, fauliges Holz,<br />
Rattendreck, verdorbener Kohl, Hammelfett,<br />
ungelüftete Stuben, muffiger Staub, fettige<br />
Laken, Schwefel, Laugen, der stechend süße<br />
Duft der Nachttöpfe, Blut, Schweiß, ungewaschene<br />
Kleider, verrottete Zähne, Zwiebelsaft,<br />
alter Käse. Die Arbeit des Übersetzers<br />
wird auch dadurch erschwert, dass<br />
Süskind das sprachliche Feld der Gerüche<br />
bewusst erweitert und dadurch penetrante<br />
Effekte erzielt. Der Geruchsinn des Lesers<br />
wird nicht nur durch den Gestank, den Duft<br />
angeregt, sondern auch durch sprachliche<br />
Bilder, durch das konsequente Einsetzen von<br />
rhetorischen Stilmitteln: die Wiederholung<br />
und die Akkumulation. Im Roman dominieren<br />
unangenehme Düfte, die Wiederaufnahme<br />
des Verbs stinken imprägniert den Leser,<br />
er kann den Abschnitt olfaktiv aufnehmen.<br />
Die Übersetzerin entscheidet sich jedoch<br />
nicht für die konsequente Wiederholung des<br />
Verbs stinken – rumänisch a mirosi urât, a<br />
puti, sondern für die äquivalenten Ausdrücke:<br />
a trăsni, a duhni. Der Prozess von<br />
Monosemierung zu Polysemierung wird<br />
bewusst eingesetzt; durch die Polysemierung<br />
aber wird im Gesamttext ein Ausgleich erreicht.<br />
Die Konnotationssphäre des deutschen<br />
Verbs stinken ist umfangreicher als<br />
diejenige des rumänischen a puŃi. Durch eine<br />
konsequente Wiederaufnahme des Verbs a<br />
puŃi hätte der Text in der rumänischen Leserschaft<br />
nicht dieselbe Pluralität der Geruchsempfindungen<br />
auslösen können, er hätte eine<br />
monotone, sogar vulgäre Auswirkung haben<br />
können.<br />
7 Ebd.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 147<br />
***<br />
Im Folgenden wird sich der Beitrag mit<br />
den lexikalischen Schwierigkeiten in der<br />
Übertragung von Autorsprache eingehender<br />
befassen. Die Begriffe, mit denen der Geruch<br />
assoziiert wird, rufen sprachliche Bilder hervor:<br />
stinken – Mist, im Rumänischen trăsneau<br />
– gunoi şi bălegar. In diesem Fall handelt<br />
es sich wieder um den Vorgang Monosemierung<br />
– Polysemierung. Mit Mist wird<br />
immer ein schlechter Geruch assoziiert, deshalb<br />
auch das Verb stinken. In der rumänischen<br />
Variante wird Mist durch gunoi si balegar<br />
übersetzt, und durch die zusätzliche<br />
Konnotation des Verbs a trasni wirkt die<br />
Aussage intensiviert. Diese Hervorhebung<br />
jedoch wird auf der Ebene des Gesamttextes<br />
einen Ausgleich erfahren.<br />
Nun wird der Begriff Geruch mit Hinterhöfen,<br />
Treppenhäusern, Rattendreck, Hammelfett,<br />
Federbett in Beziehung gebracht. Es<br />
ist schwierig, diese Zusammensetzungen ins<br />
Rumänische zu übersetzen, da diese nicht als<br />
Zusammensetzungen aktualisierbar sind,<br />
deshalb müssen die Komposita aufgelöst<br />
werden. Äquivalent für Hinterhof ist curŃile<br />
dosnice – aber das durch diese Auflösung<br />
erhaltene Ergebnis ist nicht intersubjektiv<br />
überprüfbar; curŃile dosnice erhält eine zusätzliche<br />
Konnotation, denn für dosnic werden<br />
folgende Synonyme angeführt: ascuns,<br />
ferit, dosit, izolat, lăturalnic, retras, singuratic,<br />
tainic, tăinuit, lăturaş (reg.), săcret<br />
(reg.) 8 Im Lexikon steht bei dosnic: (Despre<br />
locuri, străzi, clădiri etc.) Care se afla mai<br />
la o parte, mai ascuns vederii; retras, lăturalniş,<br />
izolat 9 . Dosnic wird mit dunkel, klein<br />
assoziiert, und Hinterhof kann ein einfacher<br />
hinterer Hof darstellen. Eine andere Möglichkeit<br />
für die Auflösung dieser Zusammensetzung<br />
ist der Ausdruck curte interioară,<br />
aber wegen der unterschiedlichen Positionierung<br />
entspricht er auf inhaltlicher Ebene<br />
nicht. Bei der Wortwahl im Rumänischen<br />
muss man auch den historischen Kontext in<br />
Betracht ziehen: die Handlung spielt im 18.<br />
Jahrhundert, die Gebäude und Höfe waren<br />
klein und dunkel. Foglich erfährt die Variante<br />
curŃile dosnice eine stilistische Auf-<br />
8 DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />
9 Dex. Bucureşti, <strong>19</strong>75.
wertung durch die zusätzlichen Konnotationen<br />
des Adjektivs dosnic. Diese Übersetzung<br />
wird von der hier unternommenen Übersetzungskritik<br />
als adäquat betrachtet.<br />
Rattendreck wird mit murdarie de şobolan<br />
und nicht rahat de şobolan übersetzt. Im<br />
Wörterbuch findet man für Dreck folgende<br />
Äquivalente: murdărie, excremente, rahat 10<br />
oder murdărie, noroi, excremente 11 . Das<br />
rumänische Synonymwörterbuch gibt bei<br />
rahat - excrement, fecale und căcat 12 an.<br />
Diese Übersetzungsvariante, murdărie für<br />
Dreck, obwohl das Wörterbuch murdărie als<br />
Äquvalent angibt, könnte als Fehlentscheidung<br />
angesehen werden, da der Begriff<br />
Dreck stark vulgär geprägt ist und murdărie<br />
der Alltagssprache zugeschrieben wird.<br />
Durch diese Wortauswahl jedoch gleicht sich<br />
der rumänische Text aus, die durch die Assoziation<br />
von a trăsni - gunoi, bălegar erreichte<br />
Hervorhebung wird annuliert.<br />
Bei der Übersetzung des Kompositums<br />
Hammelfett lässt sich leicht feststellen, dass<br />
nur ein Teil davon in die ZS übermittelt wurde,<br />
Hammel geht durch die Übersetzung verloren.<br />
Für den Begriff Fett gibt es folgende<br />
Entsprechungen: grăsime, unsoare, untură 13 .<br />
Keines von diesen aber ist im rumänischen<br />
Tex zu finden. Die Übersetzungavariante für<br />
Fett ist seu in diesem Fall, ein optimaler<br />
Ausdruck, denn seu ist umgangssprachlich,<br />
ruft im Leser mehrere Geruchsempfindungen<br />
hervor als die anderen Übersetzungsmöglichkeiten.<br />
Gab es bis jetzt manche Schwierigkeiten<br />
bei der Übersetzung zusammengesetzter<br />
Wörter, sind sie von der Übersetzerin gelöst<br />
worden. Im Falle der Nominalphrase das<br />
feuchte Federbett ist weder eine optimale<br />
noch eine annehmbare Lösung gefunden<br />
worden. Der Begriff Federbett ist ins Rumänische<br />
nicht übersetzbar, pat de puf gibt es<br />
nicht. Man muss sich die Frage stellen, was<br />
pături de puf umed in rumänischen bedeuten<br />
könnte, ob dieser Ausdruck für das rumänische<br />
Leserpublikum auch verständlich ist.<br />
10<br />
Isbăşescu, Mihai: DicŃionar german-român. Bucureşti,<br />
<strong>19</strong>99.<br />
11<br />
DicŃionar german-român. Editura Academiei. Bucureşti,<br />
<strong>19</strong>89 (weiter als DGR angeführt).<br />
12<br />
DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />
13 Isbăşescu, Mihai: a.a.O.<br />
148<br />
Delia Anca Şeiculescu<br />
Das Wörterbuch gibt als Äquivalent das<br />
Nomen pilotă 14 an. Im Lexikon findet man<br />
folgende Erklärung für pilotă: un fel de plapumă<br />
călduroasă, de forma unei perne mari<br />
umflate, umplută cu fulgi sau cu puf 15 . Die<br />
Übersetzerin hat auf das Äquivalent pilota<br />
verzichtet und die Variante pături de puf<br />
vorgezogen. Es stellt sich nun die Frage, ob<br />
das Kompositum durch eine Paraphrasierung<br />
ersetzt werden kann. Vielleicht wäre die Lösung<br />
paturi cu plăpumi jilave angebrachter.<br />
Die aufgelöste Zusammensetzung ist als ein<br />
Übersetzungsfehler zu betrachten, paturi de<br />
puf ist kein äquivalenter Ausdruck für das<br />
deutsche Federbett. Der rumänische Leser ist<br />
verwirrt, der Sinn des Textes kann nicht<br />
richtig erfasst werden.<br />
Diese kontrastive Analyse hat bewiesen,<br />
welche Schwierigkeiten das Übersetzen der<br />
Komposita bereiten kann. Der Grund dafür<br />
ist, dass in der deutschen Sprache das Mittel<br />
der Zusammensetzung sehr produktiv ist,<br />
wobei im Rumänischen das Hauptmittel zur<br />
Erweiterung des Wortschatzes die Ableitung<br />
ist.<br />
Im Folgenden wird der Ausdruck stechend<br />
süßer Duft und dessen Entsprechung<br />
mirozna inŃepător-dulceagă der Übersetzungskritik<br />
unterzogen. Aufgebaut auf das<br />
Stilmittel der Synästhesie, stellt diese Nominalphrase<br />
eine Herausforderung für den<br />
Übersetzer dar. Für den Begriff Duft gibt es<br />
folgende Übersetzungsmöglichkeiten: miros<br />
delicat, parfum, aromă, abur fin, vapori,<br />
mucezeală, jilăveală, îmbâcseală. 16 Süß kann<br />
mit dulce, plăcut, delicios übersetzt werden.<br />
Ein süßer Duft ist dem rumänischen Leser als<br />
miros dulce bekannt. Das Synonymwörterbuch<br />
gibt folgende Kollokationen an: un<br />
miros / aer dulce, o mâncare dulceagă 17 .<br />
Man muss die Wortwahl der Übersetzerin in<br />
Frage stellen, weshalb sie sich für miros dulceag,<br />
wo dulceag für das deutsche süßlich<br />
steht und für mirozna und nicht mireasma<br />
entschieden hat. Mirozna wird den Regionalismen<br />
eingeordnet, hat denselben Bedeu-<br />
14<br />
DGR.<br />
15<br />
Dex. Bucureşti, <strong>19</strong>75.<br />
16<br />
DGR.<br />
17<br />
DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Patrick Süskinds "Parfum" in rumänischer Übertragung<br />
tungsinhalt wie der Begriff mireasma 18 , jedoch<br />
durch den Lautkörper und durch die<br />
Kollokation mit dem Adjektiv dulceag wird<br />
in dem Rumänischen eine Intensivierung erreicht.<br />
Für die ätzenden Laugen trifft die Übersetzerin<br />
auch eine gute Wahl – leşiile corozive,<br />
denn überrascht dieser äquivalente Ausdruck<br />
das rumänische Leserpublikum, ergeht<br />
es dem deutschen Leser nicht anders.<br />
Ein weiteres Problem für den Übersetzer<br />
stellt die Pluralform dar: aus ihren Mägen –<br />
stomacurile. Man sollte sich auch über das<br />
Weglassen der Präposition aus Gedanken<br />
machen, denn es heißt nicht ihre Mägen<br />
stanken, sondern aus ihren Mägen. Aus orientiert<br />
die Handlung, vermittelt der Nominalphrase<br />
eine zusätzliche Konnotation, die<br />
in der ZS nicht zu finden ist. Vielleicht wäre<br />
die Variante din stomacurile lor duhnea a<br />
zeamă de ceapă angebrachter, da sie dem<br />
Original inhaltlich näher steht und der rumänischen<br />
Leserschaft nicht verfremdend vorkommt.<br />
Dasselbe gilt für den Ausdruck an den<br />
Körpern – ihre Körper stanken, aber gleichzeitig<br />
haftet der Geruch an ihren Körpern:<br />
die Präposition führt zu einer Intensivierung<br />
der Aussage. Diese zusätzliche Information<br />
geht durch die Übersetzung verloren, sie<br />
kann in die ZS nicht übermittelt werden.<br />
Bei Geschwulstkrankheiten kommt die<br />
Übersetzungskritik in Schwierigkeiten. Für<br />
Geschwulst werden tumoare und umflătură <strong>19</strong><br />
angegeben. Das rumänische bube hat folgende<br />
Synonyme: leziune, plagă, rană; der Begriff<br />
bube / zgaibe dulci <strong>20</strong> wird auch angeführt.<br />
Für die Rückübersetzung bietet das<br />
Wörterbuch folgende Äquivalente an: buboi<br />
- Eiterbeule, Blutgeschwulst, -geschwür,<br />
Furunkel; bubos: beulig, geschwürig, voller<br />
Beulen. 21 Das Adjektiv geschwürig hat als<br />
Äquivalente in der rumänischen Sprache<br />
18 Ebd.<br />
<strong>19</strong> Mihai Isbăşescu: a.a.O.<br />
<strong>20</strong> DicŃionar de sinonime. Bucureşti, <strong>19</strong>97.<br />
21 AnuŃei, Mihai: DicŃionar român-german. Bucu-<br />
reşti, <strong>19</strong>98.<br />
bubos, plin de bube 22 . Folglich ist das Übersetzen<br />
des Nomens Geschwulstkrankheiten<br />
mit bube als eine adäquate Entscheidung zu<br />
betrachten.<br />
Die übersetzungskritische Betrachtung<br />
hat bewiesen, dass die Übersetzerin stets<br />
bemüht ist der Autorsprache gerecht zu werden.<br />
Die ausgewählte Stilschicht der Autorsprache<br />
im Rumänischen ist als äquivalent<br />
zum Original zu betrachten, der rumänische<br />
Text erfährt sogar eine stilistische Aufwertung<br />
durch die optimalen Entscheidungen.<br />
Vorliegender übersetzungskritischer Versuch<br />
wollte hervorheben, dass eine Grenzziehung<br />
zwischen Autorsprache und Personensprache<br />
ein wichtiger Ausgangspunkt im<br />
Rahmen der literarischen Überstzung ist,<br />
denn das Verwechseln der verschiedenen<br />
Stilschichten kann zu inadäquaten Entscheidungen<br />
in der Übersetzung führen.<br />
L i t e r a t u r :<br />
Primäriteratur:<br />
1. Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte<br />
eines Mörders. Zürich: Diogenes <strong>19</strong>85<br />
2. Süskind, Patrick: Parfumul. În româneşte de<br />
Grete Tartler. Bucureşti: Univers <strong>19</strong>93<br />
Sekundärliteratur:<br />
1. AnuŃei, Mihai: DicŃionar român-german.<br />
Bucureşti: Editura ŞtiinŃifică <strong>19</strong>98<br />
2. Bünting, K. (Hg.): Deutsches Wörterbuch.<br />
Schweiz: Iris <strong>19</strong>96<br />
3. DicŃionar german-român. Bucureşti: Editura<br />
Academiei <strong>19</strong>89<br />
4. Drosdowski, G.(Hg.): Duden - Universalwörterbuch<br />
A-Z. Mannheim/Leipzig/Zürich:<br />
Dudenverlag <strong>19</strong>89<br />
5. Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft.<br />
Band 1. München: dtv. Wissenschaftliche<br />
Reihe, <strong>19</strong>78<br />
6. Isbăşescu, Mihai: DicŃionar german-român.<br />
Bucureşti: Teora <strong>19</strong>99<br />
7. Krahl, S. und J. Kunz: Kleines Wöterbuch der<br />
Stilkunde. Leipzig: VEB Bibliographisches<br />
Institut <strong>19</strong>84<br />
8. Seche, Luiza / Seche, Mircea: DicŃionarul de<br />
sinonime al limbii române. Bucureşti: univers<br />
enciclopedic <strong>19</strong>97.<br />
22 Mihai Isbăşescu: a.a.O.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 149
„THEATER AN SICH HAT MICH SCHON IMMER FASZINIERT” – ZU<br />
THOMAS BERNHARDS DRAMATIK<br />
Auf der Deutung der Faszination im<br />
Krankhaften versteht sich vorliegende Arbeit<br />
als Versuch einer Annährerung an die<br />
Dramatik Thomas Bernhards, mit besonderer<br />
Berücksichtigung der Jagdgesellschaft (<strong>19</strong>73;<br />
<strong>19</strong>74 im Wiener Burgtheater uraufgeführt).<br />
Eine Analyse seines dramatischen Schaffens<br />
bis zu diesem Bühnenspiel, das Thomas<br />
Bernhard selbst für sein bestes hält, zeigt,<br />
daß die Jagdgesellschaft auf früheren – aber<br />
auch späteren (Die Macht der Gewohnheit) –<br />
thematischen und sprachlichen Schwerpunkten<br />
seines dramatischen Schaffens aufbaut.<br />
Bernhards Theaterinteresse vor allem seit<br />
<strong>19</strong>70 hat tiefe Wurzeln: „Und Theater an<br />
sich hat mich schon immer fasziniert, von<br />
Kind an“, meint der Autor. 1 Er hat als<br />
Theaterkritiker für die österreichische Wochenzeitschrift<br />
Die Furche gearbeitet, und<br />
als Student eine Arbeit über Brecht und<br />
Artaud geschrieben. Von den kommerziellen<br />
Erwä-gungen abgesehen, bemerkt Thomas<br />
Bernhard:<br />
„Das Theater bringt mir außer viel Geld einfach die<br />
Erhaltung meiner Freundschaften, oder Menschen,<br />
Beziehungen zu Menschen. Weil Sie im Theater<br />
zwangsweise, ob Sie wollen oder nicht, mit Leuten<br />
zusammenkommen.“ 2<br />
Es ist schwer, spürbare Einflüsse in Bernhards<br />
Theaterpraxis zu verfolgen, und er läßt<br />
sich kaum in eine Theatertradition einreihen.<br />
Die Bernhard-Kritik hat die Namen Georg<br />
Büchner, Heinrich von Kleist, Samuel Beckett<br />
und Eugen Ionesco erwähnt, Dramatiker,<br />
denen Bernhard verwandt sein soll.<br />
Die Vernachlässigung der Auseinandersetzung<br />
mit Bernhards Dramen ist der Auffassung<br />
zu verdanken, daß die Stücke genau-<br />
1 Kurt Hofmann, Aus Gesprächen mit Thomas<br />
Bernhard (München: Deutscher Taschenbuchverlag,<br />
<strong>19</strong>88), 89. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />
durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
2 Hofmann, 91.<br />
Roxana Nubert<br />
so seien wie seine Prosa, nur nicht so gut. Es<br />
heißt, Bernhard schreibe seine Dramen nur<br />
zur Entspannung, als „Moment der Erholung.“<br />
3 Man beklagt „Authentizitätsverlust“ 4 ,<br />
eine Veräußerung des einstmaligen utopischen<br />
Horizonts 5 und eine „Trivialisierung<br />
der einstmals großen Inhalte“ 6 .<br />
Christian Klug 7 zeigt, daß Thomas<br />
Bernhard mit den Theaterstücken einen veränderten<br />
Zugang zur Subjektivitätsproblematik<br />
wählt: Die frühen Fluchtmechanismen<br />
werden entzaubert und mit komplementären,<br />
aber ebenfalls defizitären Verhaltensweisen<br />
kontrastiert. Parallel zu diesem Wandel geht<br />
Bernhard von der Reflexionspoetik seiner<br />
frühen Prosa zu einer Art Reduktionspoetik<br />
über. Der Rezipient wird nicht mehr eingeladen,<br />
sich in der Überfülle der Analogien<br />
und Bedeutungsbeziehungen des sprachlichen<br />
Materials zu verlieren; vielmehr wird er<br />
im Sinne der „indirekten Mitteilung“ Kirkegaards<br />
irritationsdramatisch auf seine Wahrheit<br />
aufmerksam gemacht.<br />
Unwillkürlich bestehen deutliche Strukturparallelen<br />
zwischen Thomas Bernhards<br />
epischen und dramatischen Texten. Sie sind<br />
bedingt durch den theatralischen Inszenierungscharakter<br />
seiner Prosa, das szenische<br />
Arrangement aller Schauplätze in den Romanen,<br />
und vor allem durch die Tendenz der<br />
3 Thomas Sorg, Thomas Bernhard (München: Beck<br />
<strong>19</strong>77), 189. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />
durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
4 Erich Jooß, Aspekte der Beziehungslosigkeit. Drei<br />
Studien zum Monolog des Fürsten in Thomas<br />
Bernhards Roman Verstörung (Selb <strong>19</strong>75), 11.<br />
5 Herbert Gamper, Thomas Bernhard (München:<br />
Beck <strong>19</strong>77), 160. Weitere Hinweise auf dieses Werk<br />
werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
6 Sorg, 160.<br />
7 Christian Klug, Thomas Bernhards Theaterstücke<br />
(Stuttgart: Metzler <strong>19</strong>91). Weitere Hinweise auf<br />
dieses Werk werden durch die Angabe der jeweiligen<br />
Seiten angegeben.
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
Mittelpunktsfiguren zum Monolog. Dazu<br />
kommt noch, daß Theater und Schauspielkunst<br />
selbst wichtige thematische Bildkomplexe<br />
als Modelle des Weltbezugs und der<br />
Wirklichkeitserfahrung in der Prosa wie im<br />
Drama darstellen:<br />
„Und wenn man meine Arbeiten aufmacht, ist es<br />
so: Man soll sich vorstellen, man ist im Theater, man<br />
macht mit der ersten Seite einen Vorhang auf, der<br />
Titel erscheint, totale Finsternis – langsam kommen<br />
aus dem Hintergrund, aus der Finsternis heraus,<br />
Wörter, die langsam zu Vorgängen äußerer und<br />
innerer Natur, gerade wegen ihrer Künstlichkeit besonders<br />
deutlich zu einer solchen werden.“ 8<br />
Im Zentrum von Bernhards Dramen steht<br />
nicht das Geschehen, denn in seinen<br />
dramatischen Werken gibt es meistens nur<br />
eine spärliche Folge von Ereignissen. Viel<br />
wichtiger ist die Sprache selbst, und außerhalb<br />
ihrer Sprache hat Bernhard seinen Dramengestalten<br />
wenig Eigenleben einzuflößen<br />
vermocht. Wendelin Schmidt-Dengler spricht<br />
von Bernhards „Sprache der Ausschließlichkeit“:<br />
Kaum wird etwas angedeutet, setzt<br />
schon ein Prozeß der Verabsolutisierung ein,<br />
indem das Gemeinte mit einem Ausdruck der<br />
Totalität oder Ausschließlichkeit bedacht<br />
wird. 9 So befindet sich alles in Extremzuständen,<br />
und zwar dauernd und überall. Alles<br />
menschliche Handeln unterliegt dem zum<br />
Prinzip erhobenen Paradox, das der Maler<br />
Strauch im Roman Frost für sich so zu<br />
beschreiben versucht: „Gerade das muß man<br />
tun, wovor einem immer gegraut hat, gerade<br />
das muß man sein, was einen immer abgestoßen<br />
hat.“ 10 Ob das „muß“ nun dem<br />
Schicksal entspringt oder als eine Aufforderung<br />
aufzufassen ist, bleibt gleichgültig.<br />
Entscheidend ist das Absolute, das in „muß’<br />
zum Audruck kommt.<br />
8 Thomas Bernhard, Drei Tage in Der Italiener<br />
(Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch <strong>19</strong>89),<br />
83. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden durch<br />
die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
9 Wendelin Schmidt-Dengler, Der Übertreibungskünstler.<br />
Studien zu Thomas Bernhard (Wien: Sonderzahl<br />
<strong>19</strong>86), 7-8. Weitere Hinweise auf dieses<br />
Werk werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten<br />
angegeben.<br />
10 Thomas Bernhard, Frost (Frankfurt am Main:<br />
Suhrkamp <strong>19</strong>63), 154. Weitere Hinweise auf dieses<br />
Werk werden durch die Angabe der jeweiligen Seiten<br />
angegeben.<br />
Genauso wie seine Prosa bauen<br />
Bernhards Dramen ein Universum der<br />
Dekonstruktion auf. Der Stoff beruht überwiegend<br />
auf Katastrophen und Katastrophenphantasien,<br />
Zerstörungsphobien und Vernichtungswünschen,<br />
wobei eine existenzbedrohte<br />
Welt vorgeführt wird. Offensichtlich<br />
bekennt sich der Autor zur Negation, die seinem<br />
Werk die eigentümliche Kombination<br />
zwischen Faszination und Provokation verleiht.<br />
Er ist ein Vetreter des „reaktionären<br />
Denkens“, wie es Emil Cioran 11 beschrieben<br />
hat, ein treuer Nachfolger von Eugen Ionesco<br />
und Samuel Beckett.<br />
Die Besessenheit vom Tode und die<br />
Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz veranlassen<br />
Thomas Bernhard dazu, keine traditionelle<br />
begriffliche Unterscheidung zwischen<br />
Komödie und Tragödie zu machen.<br />
Der Schriftsteller selbst erläutert diese theoretische<br />
Position in der kleinen Ich-Erzählung<br />
Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie?,<br />
die im Jahre <strong>19</strong>67 in dem Band Prosa<br />
erschienen ist. Hier verdeutlicht der Autor,<br />
daß die alten Kategorien „Komödie“ und<br />
„Tragödie“ nicht mehr zu den heutigen<br />
Dramen passen, eben weil sie – jede für sich<br />
– die heutige tödliche und sinnlose Wirklichkeit<br />
nicht erfassen: Diese Wirklichkeit ist<br />
tragisch und komisch zugleich und doch<br />
keines ganz. In diesem Text kommt es für<br />
den Erzähler, einen jungen Medizinstudenten,<br />
nicht mehr zu dem geplanten Theaterbesuch,<br />
weil ein älterer, das Theater liebender<br />
Mann in Frauenkleidung ihn anspricht<br />
und ihn mit einem Monolog aufhält. Es stellt<br />
sich heraus, daß dieser merkwürdige Herr<br />
vor vielen Jahren seine Frau umgebracht hat,<br />
dafür im Zuchthaus gesessen hat und daher<br />
ihre Kleidung trägt. Im Verlauf seiner Unterredung<br />
versichert der Fremde, es würde in<br />
dem Theater eine Komödie gespielt. Er<br />
schließt dies aus dem Verhalten und der<br />
Verfassung des jungen Mannes, der zwar von<br />
Haß gegen die Welt als Theater erfüllt ist, ihr<br />
aber verhaftet bleibt. Der Kontrast zwischen<br />
Theater und Wirklichkeit ist offensichtlich,<br />
aber nur scheinbar: Während der Ich-<br />
11 Emil Mircea Cioran, Über das reaktionäre Denken<br />
(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>80), 43.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 151
Erzähler das Theater eigentlich haßt, liebt es<br />
der Frauenmörder, dessen eigenes theatralisches<br />
Auftreten eine Szene aus einer Komödie<br />
sein könnte, dessen Mord aber an seiner<br />
Frau eher in die Richtung einer Tragödie<br />
weist. Am Schluß bleibt unentschieden, ob<br />
das Leben des Mörders tragisch oder komisch<br />
zu nennen wäre und ob im Theater<br />
eine Tragödie oder eine Komödie gespielt<br />
wird; der Unterschied zwischen den beiden<br />
wird annuliert.<br />
Thomas Bernhards erste Dramen sind auf<br />
die Jahre <strong>19</strong>56 bis <strong>19</strong>69 zurückzufühen (Der<br />
Berg, <strong>19</strong>56; Die Totenweiber; die Libretti<br />
Rosen der Einöde, <strong>19</strong>59; Köpfe, <strong>19</strong>60 und<br />
mehrere Einakter (Frühling; Rosa oder die<br />
Erfundene, <strong>19</strong>60, die Keime künftiger Dramatik<br />
enthalten). Im Mittelpunkt dieser dramatischen<br />
Texte, die mit Samuel Becketts<br />
„Marionettismus“ verwandt sind, steht der<br />
Tod.<br />
Auch das mit Figurentypik verbundene<br />
allegorische Zustandsdrama Ein Fest für<br />
Boris (<strong>19</strong>67; <strong>19</strong>70 in Hamburg uraufgeführt)<br />
setzt dieses Leitmotiv fort: Die Gute, eine<br />
Greisin, die infolge eines Unfalls beide<br />
Beine verloren hat, füllt ihr sinnloses Leben<br />
als Krüppel durch ein grausames Hobby aus;<br />
unter dem Deckmantel duldsamer Güte<br />
tyrannisiert und quält sie zynisch die Pflegerin<br />
Johanna und ihren ebenfalls beinlosen<br />
Gatten Boris. Auf diese Weise möchte sie<br />
ihre Illusion unerfüllter Machtgier durchsetzen.<br />
Die Herrin beherrscht ihre Bediente<br />
Johanna durch unablässige Gegenwärtigkeit<br />
ihrer Sprache, eine Hilflosigkeit, die nicht<br />
Hilfe, sondern Haß hervorruft. Gleichzeitig<br />
spricht sie, in totaler Einsamkeit lebend, in<br />
die Kälte des „leeren Raumes“ hinein, gegen<br />
eine fast stets schweigende Johanna, unfähig<br />
zum Dialog, von einem Gegenstand zum andern<br />
assoziativ springend, sich selbst vorwärtstreibend.<br />
Aber ohne ein Ziel, ohne Hoffnung<br />
mehr auf das Auftauchen eines solchen<br />
Ziels. Deshalb setzt sie immer wieder von<br />
neuem an, scharfsichtig und gleichzeitig<br />
monomanisch beschränkt: Anordnungen für<br />
einen bevorstehenden Ball mit der „feinen<br />
Gesellschaft“ der Stadt und für das Fest der<br />
Asylbewohner wechseln miteinander ab.<br />
152<br />
Roxana Nubert<br />
In dieses Geschehen schieben sich immer<br />
wieder Selbstbeobachtungen, Anklagen, Ausbrüche<br />
von Angst und Haß, die gespenstisch<br />
echohaft klingen, so als würden sie jeden<br />
Tag mit erneuter und doch versiegender<br />
Kraft ausgestoßen. Die Krüppelexistenz führt<br />
die Erfahrungen auf einen engen Kreis<br />
zurück, den die Sprache nachvollzieht, aber<br />
sie weitet den Blick für die Krüppelexistenz<br />
aller, auch der scheinbar Gesunden. Intensiver<br />
als sie durchlebt die Gute ihre Existenz,<br />
intensiver ihre Angst, intensiver ihre Erkenntnis.<br />
Und manchmal, zwischen Demonstrationen<br />
ihrer Herrschaft und der Verzweiflung,<br />
die sie geschwätzig und sprachlos<br />
macht, gibt es Andeutungen eines Einverständnisses<br />
mit ihrem Schicksal, das<br />
verstanden wird als Einübung auf die tödliche<br />
Erstarrung:<br />
„Es ist gut / daß ich Schluß gemacht habe / Schluß<br />
gemacht / (ganz leise) Schluß gemacht.“ 12<br />
Seine makabre Geburtstagsfeier, ein Fest<br />
der Demütigungen, zu dem Boris dreizehn<br />
beinlose Leidesgefährten aus dem nahen<br />
Asyl eingeladen hat, überlebt der Gefeierte<br />
jedoch nicht mehr. Das Fest der Krüppel ist<br />
ein in sich kunstvoll steigernder, absurde und<br />
tragisch-ernste Momente mischender Worttanz<br />
bis hin zum Tode Boris, der von allen<br />
am wenigsten gesprochen, gegen Ende die<br />
fieberhaften, hektischen Sätze der anderen<br />
mit Trommelschlägen begleitet hat bis zum<br />
Zusammenbruch. Die dreizehn Beinlosen sitzen<br />
um den Tisch, essend, trinkend, redend,<br />
singend. Das Tempo der Sätze nimmt immer<br />
mehr zu, ihre Sinnlosigkeit und trostlose Komik.<br />
Die Gute steckt „im Kostüm einer Königin“<br />
(38), die ihren Rollstuhl schiebende<br />
Johanna hat die Maske aufgenommen, die<br />
Gute zwingt sie, sie wieder aufzusetzen: Es<br />
ist ein Schweinskopf. Erschöpft und rauschhaft<br />
zählt die Gute die Teilnehmer des Festes<br />
auf, ihre eigene Rolle als beinlose Königin,<br />
das lächerliche Spiel der Eitelkeiten und der<br />
leeren Geselligkeit: „Die Leute versuchen es<br />
immer wieder / Kostümbälle / Feste Bälle /<br />
12 Thomas Bernhad, Ein Fest für Boris (Frankfurt am<br />
Main: Suhrkamp <strong>19</strong>70), 34. Weitere Hinweise auf<br />
dieses Werk werden durch die Angabe der jeweiligen<br />
Seiten angegeben.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
sind das Traurigste“ (45). Die Herrschaft, die<br />
sie in der Kostümierung als Spiel ausgeübt<br />
hat, erzwingt sie in der Realität: Sie schafft<br />
sich Geschöpfe, die ihrer Macht unterworfen<br />
sein müssen, weil deren Existenz ebenso ausweglos<br />
ist wie ihre. Sie hat Boris aus dem<br />
Asyl geholt, aber die Art und Weise, wie sie<br />
davon spricht, zeigt, daß es ihr von Beginn<br />
an darum geht, einen Willenlosen an sich zu<br />
ziehen.<br />
Die Atmosphäre von Gewalt und Unterdrückung,<br />
die von Anfang um die Gute war,<br />
entlädt sich in wüsten Beschimpfungen auf<br />
das Asyl, die Ärzte, Pfleger, die Asylordnung.<br />
Natürlich handelt es sich um keine<br />
konkrete Sozialkritik. Menschliche Todesbestimmtheit,<br />
mitmenschlicher Zerstörungstrieb<br />
und monomanische Selbstvernichtungssucht<br />
dominieren die langen Monologe der<br />
Guten. „Alles ist jeden Tag tagtäglich / eine<br />
Wiederholung von Wiederholungen.“ (10).<br />
Ein despotischer Herrschaftsmechanismus<br />
charakterisiert ihre verkümmerten Beziehungen<br />
zur Mitwelt durch mißtrauische Angst<br />
und bedrohenden Haß, die sie schließlich<br />
dazu bestimmen, sogar die gesunde Johanna<br />
in einen Rollstuhl zu zwingen, weil sie sich<br />
wegen ihrer körperlichen Verkrüppelung von<br />
ihrem „Machtobjekt“ dennoch abhängig<br />
weiß. Der von der Guten gekaufte Boris<br />
dagegen dient dieser als Betätigungsobjekt<br />
für den unaufhaltsamen Verfall des Menschen.<br />
Helmut Motekat meint, daß eine solche<br />
chaotische Welt „als Modell der heutigen<br />
Menschheit, ihres Zustands und Verhaltens<br />
sowie der in ihr herrschenden Verhältnisse“<br />
aufgefaßt und als eine „absurde<br />
Existenz des unaufhaltsamen Verfalls zum<br />
Tode“ 13 bejaht werden könnte.<br />
Widerspruchvoll ist das „fürchterliche<br />
Gelächter“ (107), in das die Gute kurz nach<br />
Boris’ Tod ausbricht. Dieses Gelächter signalisiert<br />
den Versuch der Guten, ihrer plötzlichen<br />
Verzweiflung und ihrem Schrecken zu<br />
entkommen, eigentlich den Tod mit ihrem<br />
Lachen zu konfrontieren. Bernhards Verflechtung<br />
von Tod und Gelächter mag, aber<br />
13 Helmut Motekat, Sinnlosigkeit als Thema: Das<br />
zeitgenössische Drama des Absurden (Stuttgart:<br />
Metzler <strong>19</strong>77), 131-132.<br />
soll nicht überraschen, denn diese Situation –<br />
die Angst des Menschen vor dem Tode und<br />
seine lächerlichen Versuche, dieser Angst<br />
durch Tabuisierung oder Denkverweigerungen<br />
Herr zu werden – wird in seinen Werken<br />
immer wieder thematisiert. In seiner Rede<br />
zur Verleihung des Büchner-Preises im Jahre<br />
<strong>19</strong>70 betont Thomas Bernhard das schöpferische<br />
Potential dieser menschlichen Grunderfahrung:<br />
„Wir sind (und das ist Geschichte und das ist der<br />
Geisteszustand der Geschichte): die Angst, die Körper-<br />
und die Geistesangst und die Todesangst als das<br />
Schöpferische.“ 14 Er unterstreicht auch die<br />
Doppeldeutigkeit dieser Situation, die seinen Stücken<br />
zugrunde liegt: „ […] es ist ein Theater der Körper-<br />
und in zweiter Linie der Geistesangst und also der<br />
Todesangst […] wir wissen nicht, handelt es sich um<br />
die Tragödie um der Komödie, oder um die Komödie<br />
um der Tragödie willen […] aber es handelt von<br />
Fürchterlichkeit, von Erbärmlichkeit, von Unzurechnungsfähigkeit<br />
[…]." 15<br />
Es ist eine Situation, die das übliche Begriffsverständnis<br />
des Komischen und Tragischen<br />
sprengt.<br />
Die im erzählerischen Werk Thomas<br />
Bernhards immer wiederkehrende barocke<br />
Metapher von der Welt als Bühne, auf der<br />
die Menschen ihre „Todesrolle“ spielen,<br />
wird im Theaterstück Der Ignorant und der<br />
Wahnsinnige (<strong>19</strong>72 bei den Salzburger Festspielen<br />
uraufgeführt) vom Autor inhaltlich,<br />
formal und stilistisch konsequent in das<br />
Medium des Schauspiels transponiert. Auf<br />
den ersten Blick hat dieses Drama wenig<br />
gemeinsam mit Ein Fest für Boris. Nicht von<br />
einer deprimierenden Krüppelwelt ist hier<br />
die Rede, sondern von den Sphären künstlerischer<br />
Perfektion und wissenschaftlicher<br />
Errungenschaften. Die Absage an die Möglichkeit<br />
einer sinnhaften Existenz, ein zentrales<br />
Thema der Gegenwartsliteratur, entwickelt<br />
der Autor auf originelle Weise,<br />
indem er dem Individuum eine energische<br />
Manifestation seines Existenzwillens im „naturgemäß“<br />
scheiternden Versuch, eine Gegen-Welt<br />
zu schaffen, zugesteht. Die Radika-<br />
14 Thomas Bernhard, Büchnerpreisrede in: Bücher-<br />
Preis-Reden: <strong>19</strong>51-<strong>19</strong>71, Stuttgart: Metzler <strong>19</strong>72,<br />
215-216. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden<br />
durch die Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
15 Bernhard, Büchnerpreisrede, 215.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 153
lität dieser pessimistisch-nihilistischen Weltauffassung,<br />
die letztlich auf den Stillstand<br />
der Geschichte zielt, hat für das Drama eine<br />
extreme Reduktion der szenischen Dynamik<br />
zur Folge: Die Figuren sprechen vorzugsweise<br />
in Monologen, in denen sie ihre<br />
Obsession ausbreiten, und die den Stücken<br />
Bernhards den Charakter einer monotonen<br />
Sprechpartitur verleihen. Auch auf diese<br />
Weise haben seine Stücke einen provokatorischen<br />
Effekt. Sie sind Gegenstücke zum<br />
Dialog.<br />
Ein faszinierendes Erlebnis hinter den<br />
Kulissen der Oper, unmittelbar vor Beginn<br />
der Vorstellung von Mozarts Zauberflöte,<br />
das Mit- und Gegeneinanderwirken einer<br />
Koloraturprimadonna, ihres blinden Vaters,<br />
der Garderobiere und des diensthabenden<br />
Arztes als Symbol der Sinnlosigkeit des<br />
Lebens, stellt die Anregung zu diesem Fünfpersonendrama<br />
dar. Den ersten Teil des Geschehens<br />
füllen die ausführlichen Stellungnahmen<br />
des Arztes, während er mit dem<br />
Vater der Sängerin auf diese wartet. Der seit<br />
dem Beginn der künstlerischen Laufbahn<br />
seiner Tochter dem Alkoholismus verfallene<br />
Vater wird zum Opfer des Arztes, einer<br />
weltweit anerkannten Kapazität im Bereich<br />
der Anatomie. Der Arzt (der „Wahnsinnige“<br />
im Titel) vertreibt nämlich den immer nervöser<br />
werdenden Trunkenbold (er ist der<br />
„Ignorant“ im Titel) die Zeit, indem er ihm<br />
detailliert die Sektion einer menschlichen<br />
Leiche erklärt. In seine Ausführungen flicht<br />
er Bemerkungen über Karriere und Kunst der<br />
„Königin der Nacht“ ein. Angestrebt wird die<br />
gleiche Präzision beim Sezieren der Kunst<br />
wie beim Sezieren der Toten. Offensichtlich<br />
begeht das Theater bzw. die Oper nur mehr<br />
noch pompöse Leichenfeiern, in deren Mittelpunkt<br />
eine der Kunst- und Koloraturmaschinen<br />
steht, die in der zweiten Hälfte des<br />
ersten Aktes auftritt, die gerühmte Sängerin,<br />
die Tochter des Säufers, die Königin der<br />
Nacht:<br />
„Die Stimme Ihrer Tochter / die perfekteste einerseits<br />
/ makellos andererseits.“ 16<br />
16 Thomas Bernhard, Der Ignorant und der Wahnsinnige<br />
(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>72), 27.<br />
154<br />
Roxana Nubert<br />
Die Ouverture ist bereits intoniert, da<br />
betritt sie, eigentlich eine gefühllose Marionette,<br />
die Garderobe, wird kostümiert und<br />
weiß geschminkt, was die Künstlichkeit<br />
unterstreicht, und enteilt auf die Bühne. Die<br />
Gerühmte repräsentiert für den Arzt die Verkörperung<br />
seiner Überzeugung, daß Kunst,<br />
um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu<br />
werden, radikal künstlich werden muß und<br />
damit den einzig möglichen Ausweg von der<br />
Bedrohung durch das Zerstörerische der<br />
Natur bietet. Ein solcher Zustand äußerster<br />
Entfremdung von den Wonnen der Gewöhnlichkeit<br />
vernichtet notwendigerweise das<br />
künstlerische, künstliche Geschöpf: Dem<br />
Kunstgeschöpf gebricht es an der Möglichkeit<br />
und Fähigkeit zur Reflexion seines Zustandes<br />
und dem der Kunst; dies leistet der<br />
Arzt als Wissenschaftler, Naturwissenschaftler,<br />
der der Kunst in unentrinnbarer Haßliebe<br />
verbunden scheint, ihren Leichnam unter<br />
ständigem Reden auseinandernimmt. Trotz<br />
aller Übereinstimmungen bleiben für ihn<br />
Kunst und Natur getrennt, Natur als minderwertige<br />
Seinsweise, Kunst bei aller Verachtung<br />
gerade wegen ihrer extremen Künstlichkeit<br />
und Unnatürlichkeit der Zufluchtsort vor<br />
der Barbarei. In der Gewißheit der völligen<br />
Erschöpfung am Ende pendelt der Künstler<br />
stets zwischen Ignoranz und Wahnsinn.<br />
Nach der Aufführung nehmen die Figuren<br />
in den Drei Husaren ein Diner ein. Während<br />
des Abendessens ändert die Künstlerin<br />
ihr Verhalten. In einer plötzlichen Aufwallung<br />
des Gemüts beschließt sie, ihre nächsten<br />
Termine in Stockholm und Kopenhagen abzusagen<br />
und in die Berge zu fahren. Wir<br />
erfahren aber nicht, ob die Sängerin die Kraft<br />
zum Abbrechen besitzt, oder durch ihre<br />
Krankheit dazu gezwungen wurde, denn sie<br />
hustet des öfteren, wobei ihr Husten ein<br />
Symptom ihrer tödlichen Erkrankung darstellt.<br />
Der Doktor setzt indessen seine ausführlichen<br />
Erläuterungn zur Leichenöffnung<br />
und seine Reflexionen zum Verhältnis von<br />
Kunst und Natur fort. Nachdem der Arzt<br />
Leben und Kunst seziert hat, senkt sich totale<br />
Finsternis auf die Szene – wie später im<br />
Weitere Hinweise auf dieses Werk werden durch die<br />
Angabe der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
Bühnenspiel Die Jagdgesellschaft: Ist endlich<br />
der Leichnam völlig auseinandergenommen,<br />
ist auch mit dem Leben und der<br />
Kunst abgerechnet: Das Schlußwort hat das<br />
Kunstgeschöpf: „Erschöpfung / nichts als Erschöpfung“<br />
(121). Die vollkommene Finsternis<br />
des Schlusses, die über die drei hereinbricht<br />
wie ein Verhängnis, ist mehr als jene<br />
Finsternis, in der sich die Texte Bernhards<br />
nach seiner eigenen Selbstinterpretation abspielen,<br />
aus der sich Figuren und Sätze herauslösen,<br />
nur um wieder in ihr zu versinken.<br />
Es erinnert stärker an die geistige Verfinsterung<br />
der Protagonisten, die die Überhelle<br />
ihres Gehirns, die qualvoll gesteigerte Erkenntnis-<br />
und Leidensfähigkeit, an einem<br />
Punkt nicht mehr ertragen und „in die zweite,<br />
in die endgültige Finsternis vor einem“ 17<br />
hineingehen. Diese Finsternis, im Stück<br />
durch den stets betrunkenen Vater verkörpert,<br />
wird vom Arzt als Ziel dargestellt.<br />
Das Motiv der totalen Finsternis steht für<br />
die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz.<br />
Insofern kann der Skandal anläßlich der<br />
Uraufführung des Bühnenspiels – die Theaterleitung<br />
hat sich geweigert, die Notbeleuchtung<br />
im Zuschauerraum abzuschalten,<br />
das Stück wurde vom Spielplan der Salzburger<br />
Festspiele <strong>19</strong>72 abgesetzt – als<br />
exemplarisch für das weitverbreitete Unverständnis<br />
gegenüber Bernhards Texten gelten.<br />
Daß so ein Stück weniger Theater als<br />
vielmehr Philosophie und Literatur darstellt,<br />
ist offensichtlich: Dieses philosophierende<br />
Drama, das die vollkommen intellektuelle<br />
und künstlerische Existenz beschreibt, bietet<br />
aber dem Intellektuellen wenig Trost. Ignoranz<br />
ist für diesen Menschen keine Alternative,<br />
ebensowenig wie Wahnsinn. Er kann<br />
sich aber auch nicht mit einfachem Zeitvertreiben<br />
trösten, und letzten Endes versagen<br />
sogar alle geistigen Versuche. Eine solche<br />
Lebensphilosophie, oder genauer gesagt,<br />
eine solche Philosophie des Künstlertums ist<br />
düster, aber bei Thomas Bernhard nicht neu.<br />
Die Königin der Nacht personifiziert hier das<br />
Schicksal des Künstlers und die Philosophie<br />
des Arztes. Sie ist durch ihre künstlerische<br />
17 Bernhard, Drei Tage, 161.<br />
Rücksichtslosigkeit zu einer „Koloraturmaschine“<br />
geworden. Sie wird ganz von ihrer<br />
Kunst, von ihren Koloraturen beherrscht<br />
(nicht umgekehrt), und ihre Zauberflötekoloraturen<br />
gehen ihr die ganze Nacht nicht aus<br />
dem Kopf. Deswegen haßt sie ihre Kunst; sie<br />
lebt am Rande des Zusammenbruchs, und<br />
trotzdem fühlt sie sich der Gefahr ausgesetzt,<br />
daß ihre Kunst zur Gewohnheit wird und ihre<br />
Spontaneität verlieren wird, weshalb sie<br />
genötigt ist, immer größere Perfektion anzustreben.<br />
Die Existenz der Königin der Nacht<br />
ist also ein tödlicher Prozeß allmählicher<br />
Auflösung, der einer Leichensektion nicht<br />
unähnlich ist.<br />
Als eine tragische Komödie kann auch<br />
Die Macht der Gewohnheit (<strong>19</strong>73; <strong>19</strong>74 bei<br />
den Salzburger Festspielen uraufgeführt) betrachtet<br />
werden. Den szenischen Hintergrund<br />
des Stückes bilden ein kleiner Zirkus und der<br />
Wohnwagen des Direktors Caribaldi. Täglich<br />
proben der Jongleur und der Spaßmacher,<br />
die Enkelin des Direktors und sein Neffe, der<br />
Dompteur, unter Anleitung Caribaldis Franz<br />
Schubert Forellenquintett – oder besser genauer:<br />
Caribaldi versucht verzweifelt, diese<br />
Musik, die stellvertretend für große Kunst<br />
steht, mit den gelangweilten und gequälten<br />
Mitgliedern seiner Truppe zu üben, die<br />
darauf mit Gleichgültigkeit, Aggressivität,<br />
kleinen Erpressungen (Hinweise auf mögliche<br />
auswärtige Engagements) reagieren. Das<br />
Stück kann nicht gespielt werden und wird<br />
nicht gespielt werden, Caribaldi weiß das<br />
natürlich, hält aber unerschütterlich an dem<br />
Ritual der Probenvorbereitungen und Proben<br />
fest, die zunehmend grotesker, lächerlicher<br />
und tragischer werden. Weniger Caribaldi als<br />
die Macht der Gewohnheit zwingt alle wieder<br />
zusammen. Caribaldis Mitspieler kümmert<br />
freilich weder das eine noch das andere<br />
so recht – am ehesten vielleicht den Jongleur,<br />
in der ersten Szene der Gesprächspartner des<br />
Direktors. Dessen Macht ist eigentlich Macht<br />
über vier gescheiterte Existenzen, die ihm<br />
ausgeliefert sind, die er auf verschiedene Art,<br />
und am schlimmsten mit seiner Idee der<br />
großen Kunst, peinigt und die ihrerseits ihn<br />
peinigen durch ihre Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit<br />
und Brutalität. Die Verhältnisse<br />
von Herrn und Knecht erscheinen offenge-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 155
legt und in ihrer Dialektik entwickelt. Der<br />
Jongleur sagt:<br />
„Sie beherrschen Ihren Neffen / wie Ihre Enkelin /<br />
Der Spaßmacher macht seine Späße nur / weil Sie ihn<br />
dazu zwingen / Alle diese Leute sind Ihnen ausgeliefert.“<br />
18<br />
Dasselbe gilt aber auch für den Direktor,<br />
wie später ebenfalls vom Jongleur angedeutet<br />
wird:<br />
„Aber natürlich leiden Sie auch / und zwar in dieser<br />
Ihnen eigenen / größenwahsinnigen Vorgansweise /<br />
an Ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit“ (33).<br />
Wenn die Enkelin passives Objekt seiner<br />
Ermahnungen und Übungen ist, so fühlt sich<br />
Caribaldi von der stumpfsinnigen Rohheit<br />
des Dompteurs, seines Neffen, angewidert,<br />
der den Onkel beschuldigt, die Enkelin zu<br />
„halten / wie ein Tier“ (69). Die Demütigungen<br />
des Direktors gibt er an den Spaßmacher,<br />
als das schwächste Mitglied des<br />
Quintetts, weiter. Dieser muß die Verachtung<br />
aller herunterschlucken und seine Späße in<br />
der Manege machen.<br />
Leitmotivisch werden von Anfang an bis<br />
Ende die Erbärmlichkeit der Realität und das<br />
sehnsüchtig erweckte Bild vollkommener<br />
Kunst kontrastiert. Wenn zum Beispiel für<br />
Caribaldis Mitspieler die Beschäftigung mit<br />
der Kunst nur Zwang und sinnlose Quälerei<br />
ist, so kommt bei ihm als entscheidendes<br />
Moment der Traum von der Vollkommenheit<br />
hinzu, die ihn andauernd verfolgt:<br />
„Wenn es nur einmal / nur ein einziges Mal gelänge<br />
/ das Forellenquintett / zu Ende zu bringen / ein einziges<br />
Mal eine perfekte Musik“ (21).<br />
Auf diese Weise bleibt die tägliche<br />
Kunstübung zweideutig: einerseits ihres Sinnes<br />
völlig entkleidet, fungiert sie nur noch<br />
als Möglichkeit zu masochistischem Lustgewinn,<br />
andererseits hält Caribaldi im Bewußtsein<br />
des Vergänglichen an ihr fest, so<br />
wie alle, Spieler und Zuschauer, an der Qual<br />
und dem Vergeblichen ihres Lebens festhalten.<br />
Dieses Bühnenspiel beruht, wie die meisten<br />
Stücke von Thomas Bernhard, auf einem<br />
18 Thomas Bernhard, Die Macht der Gewohnheit<br />
(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>74), 32. Weitere<br />
Hinweise auf dieses Werk werden durch die Angabe<br />
der jeweiligen Seiten angegeben.<br />
156<br />
Roxana Nubert<br />
Paradoxon. Dem Inhalt - dem künstlerischen<br />
Scheitern und lebenslänglichen Dilletantismus<br />
- entspricht eine sprachlich meisterhafte<br />
Form: Bildlichkeit, gedankliche Präzision,<br />
das Ineinandergreifen von Pantomime und<br />
Sprache, die beziehungsvollen Figurenkonstellationen<br />
prägen die Macht der Gewohnheit.<br />
Bernhards Bühnenwerk Die Jagdgesellschaft<br />
„ist in drei Sätzen“ geschrieben, der<br />
letzte Satz ist der „langsame Satz“ <strong>19</strong> . Eine<br />
Analogie zur Musik also, zur Sonate oder<br />
Sinfonie, bei der jedoch, anders als bei den<br />
klassischen Werken, das Adagio am Ende<br />
steht, „Nach der Jagd“. Durch den Selbstmord<br />
der Hauptfigur wandelt es sich, gleichsam<br />
rückwirkend, in einen Todesmarsch.<br />
In Die Jagdgesellschaft entfaltet Thomas<br />
Bernhard das Motiv der „Todeskrankheit“<br />
als Allegorie eines Identitätszerfalls <strong>20</strong> . In der<br />
Rolle, die der Autor der Literatur und dem<br />
Schriftsteller in diesem Zerfallsprozeß zuweist,<br />
reflektiert er zugleich seine eigene<br />
Ästhetik.<br />
Die Jagdgesellschaft beginnt mit der<br />
Wiedervergegenwärtigung einer Irritation<br />
des Schriftstellers. Von einem Aphorismus<br />
über die Ruhe ist ihm nur der erste Teil eingefallen,<br />
nicht aber dessen Fortsetzung. Er<br />
schildert die Generalin, die durch diesen<br />
Vorfall unruhig geworden ist. Generell vermittelt<br />
der erste Satz des Stücks eine<br />
ambivalente Stimmung: Sie ist bestimmt vom<br />
Wechsel zwischen Ablenkung und Evidenz,<br />
zwischen unwillkürlichen Erinnerungen und<br />
Versuchen, sich dieser zu entledigen. Zu<br />
einem bedeutenden, aber nicht genau bestimmbaren<br />
Anteil wiederholt die aktuelle<br />
Bühnenhandlung frühere Begegnungen im<br />
Jagdhaus. In mehrfacher Hinsicht gleicht das<br />
gegenwärtige Geschehen dem, was Schriftsteller<br />
und General über vergangene Treffen<br />
berichten. Das dramatische Geschehen wird<br />
hier ähnlich aufgebaut wie im Drehbuch Der<br />
Italiener. Das Erzählen springt aus dem<br />
Präteritum ins iterative Präsens und wieder<br />
<strong>19</strong> Thomas Bermhard, Die Jagdgesellschaft (Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>74), 112. Weitere Hinweise<br />
auf dieses Werk werden durch die Angabe der<br />
jeweiligen Seiten angegeben.<br />
<strong>20</strong> Klug, 260-297.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
zurück. Das Konversationsspiel von Frage<br />
und Antwort ist häufig nur äußerlicher Natur,<br />
denn der Fragende weiß die Antwort selber.<br />
Die gemeinsamen verbrachten Tage während<br />
der Jagden vergangener Jahre müssen sich<br />
ganz ähnlich abgespielt haben. Die Einladung<br />
des Schriftstellers und die umständlichen<br />
Vorbereitungen auf seinen Besuch<br />
sind zur Zeremonie, zum Ritual geworden.<br />
Der Dialog ergänzt die Details. Trotz der<br />
Monotonie der Szenenwiederholung ist der<br />
Ton in der ersten Szene der Jagdgesellschaft<br />
behutsam. Der Schriftsteller widersteht der<br />
Versuchung, sich durch Kartenspiel abzulenken,<br />
und die Sprache beider Figuren<br />
drückt ihre Bereitschaft aus, den Resonanzen<br />
von Worten und Erinnerungen nachzuhorchen.<br />
Die Konversation zwischen Schriftsteller<br />
und Generalin dient also weniger der<br />
Mitteilung von Neuigkeiten, als der Einstimmung<br />
aufeinander, indem man auf Bekanntes<br />
und gemeinsame Erinnerungen nur<br />
kurz verweist. In dieser Stimmung wird die<br />
Vorgeschichte des Stücks bruchstückartig<br />
wiederholt. Die Vorgeschichte umfaßt auch<br />
eine Charakterisierung des Schriftstellers<br />
sowie die Rekonstruktion der Todeskrankheit,<br />
an der der General leidet. Durch diese<br />
Form der Exposition bauen die Figuren mit<br />
Andeutungen und Hinweisen Vergangenes<br />
auf. Man verweist nur auf den symbolischen<br />
Wert von Gegenständen, ohne daß das Erinnerte<br />
selbst näherer Erläuterung bedürfte:<br />
„meine polnische Weste/Der sofortige Gedanke an<br />
Polen natürlich“ (9); „Fortwährend habe ich gedacht/ich<br />
habe ja meine polnische Weste an“ (11).<br />
Die Exposition setzt vor allem Stimmungszeichen,<br />
d.h. es geht um „musikalische“<br />
Stimmigkeit der Ausdrucksmittel. Daß<br />
es normalerweise nicht „klar“ (11) ist, wenn<br />
es „ununterbrochen schneit“ (10), spielt<br />
keine Rolle für das musikalische Zusammenwirken<br />
dieser Stimmungszeichen verwendeten<br />
Angaben zum Wetter. Wetter und Kälte<br />
sind in Bernhards Zeichensystem stereotyp<br />
assoziierte Befindlichkeiten, die keiner<br />
metereologischen Bestätigung bedürfen. 21<br />
21 Klug, 263.<br />
Tod und Verfall dominieren. Der General<br />
leidet an einer tödlichen Krankheit, einer Erkrankung<br />
der Nieren, und am Grauen Star.<br />
Die Minister betreiben den Sturz des Generals,<br />
der ein offenbar bedeutendes politisches<br />
Amt innehat. Der Wald, der in mehrfacher<br />
Hinsicht die Vergegenständlichung seiner<br />
Lebensgeschichte darstellt, ist vom Borkenkäfer<br />
befallen und muß gefällt werden. Dem<br />
körperlichen Verfall und der Bedrohung<br />
seiner gesellschaftlichen Stellung entspricht<br />
seine „Todeskrankheit“, eine Erkrankung des<br />
Geistes, des Gemüts. Seit der Schlacht bei<br />
Stalingrad, wo er seinen linken Arm verloren<br />
hat, verfolgen ihn Bilder des Todes. Die<br />
Gespräche zwischen Schriftsteller und Generalin<br />
sowie die Äußerungen des Generals<br />
über sich selbst deuten bruchstückhaft den<br />
Konflikt an, der sich in der ambivalenten<br />
Figur des Generals zuträgt: Die immer unausweichlicher<br />
ihn bedrängenden Erinnerungen<br />
und Erfahrungen des Todes bedrohen<br />
seine zwanghaft verteidigte Rollenidentität,<br />
die er weder preisgeben kann noch will . Der<br />
Schriftsteller spricht sehr oft vom Sterben.<br />
Mit seiner scharfen Intelligenz erinnert er an<br />
den Doktor in Der Ignorant und der Wahnsinnige,<br />
und er benutzt sein Wissen über den<br />
General dazu, um ihn zu vernichten. Am<br />
Ende des Stückes, während der Schriftsteller<br />
noch mit der Jagdgesellscahft (Generalin,<br />
Minister, Prinzen und Prinzessin) Konversation<br />
führt, geht der General wortlos aus<br />
dem Zimmer und erschießt sich. Draußen, im<br />
Morgengrauen, beginnen die Holzfäller ihre<br />
Arbeit. Der Schriftsteller, in der Auffassung<br />
der Generalin der „rücksichtsloseste Mensch<br />
/ den ich kenne“ (64), behält das letzte Wort,<br />
so wie er das erste Wort hatte und den größten<br />
Teil des Textes. Die Distanz, die seine<br />
Rolle und seine Intelligenz ihm ermöglichen,<br />
erlaubt ihm nicht nur die schneidende Beschreibung<br />
des hinfälligen privaten und<br />
kollektiven Zustands, der ohne jede Hoffnung<br />
auf Verbesserung ertragen werden muß,<br />
sondern verschafft ihm auch die Fähigkeit,<br />
sich das Schicksal des Generals und seines<br />
Besitztums als Komödie vorzustellen, nicht<br />
ohne Hinweis auf den Unterschied zwischen<br />
der Realität und der beschriebenen, als<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 157
Komödie veränderten Realität (104 – 105).<br />
Das ahnt der General:<br />
„Der Vorhang geht auf / Da sitzen wir / und sind<br />
eine Komödie“ ( 96).<br />
Im Grunde genommen gibt es hier nichts<br />
zu lachen, oder allerdings ein Lachen, wie<br />
das der Guten im Ein Fest für Boris. Die Gesellschaft<br />
bereitet sich auf den Tod vor, aber<br />
nur der Schriftsteller ist in der Lage, die<br />
Kostüme als Leichenkleider und die Geschäftigkeit<br />
als Bestattungsinstitut zu durchschauen.<br />
Wie des öfteren in der Kritik hingewiesen<br />
wurde 22 , dürfte die Grundidee zu<br />
Die Jagdgesellschaft durch einen Gedanken<br />
des Philosophen Blaise Pascals beeinflußt<br />
worden sein, den Thomas Bernhard neben<br />
Michel de Montaigne und Arthur Schopenhauer<br />
als einen seiner Lehrer nennt. Pascal<br />
konstruiert das Beispiel eines bedeutenden<br />
Mannes des politischen Lebens, der den<br />
ganzen Tag durch seine Geschäfte und durch<br />
Menschen abgelenkt ist, und der plötzlich in<br />
die Situation versetzt wird, an sich selbst<br />
denken zu müssen. Bernhards General und<br />
Präsident haben politische Macht nur im<br />
Dienste poetischer Deutlichkeit: Ihre Fallhöhe<br />
motiviert erst das Gefühl, um eine errungene<br />
Position befürchten zu müssen.<br />
Einerseits erfordern politisches Amt und<br />
militärischer Rang in besonderem Maße<br />
Disziplin und Unterordnung unter Rollenzwängen,<br />
andererseits verschafft dem Bedrohten<br />
seine Machtposition aber auch einzigartige<br />
Möglichkeiten, innere wie äußere<br />
Irritationen mit der größten „Rücksichtslosigkeit“<br />
gewaltsam zu beseitigen. Der General<br />
existiert in radikaler Abschirmung von<br />
der Außenwelt. Wie die meisten Bernhardschen<br />
Figuren, mit Ausnahme der Intellektuellen<br />
wie dem Schriftsteller, hat der General<br />
die für autoritäre Charaktere typische,<br />
äußerst geringe „Ambiguitätentoleranz“ 23 . Er<br />
duldet nicht die geringste Irritation.<br />
22 Klug, 264-265.<br />
23 Lothar Krappmann, „Neuere Rollenkonzepte als<br />
Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse“, in<br />
Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität<br />
(Frankfurt am Main: Suhrkamp <strong>19</strong>76), 3<strong>20</strong>.<br />
158<br />
Roxana Nubert<br />
Was den General am Schriftsteller und<br />
am „Theater hoher Kunst“ (94) irritiert, ist<br />
die ihm durch bloße Verdoppelung auf der<br />
Bühne aufgezwungene Reflexion seiner Existenz.<br />
Der Schriftsteller ist ein „Kommentator“<br />
aus „einer anderen Welt“ (79), der<br />
das, was er beobachtet, auf die Bühne bringt.<br />
Er hat bereits die letzte Begegnung mit dem<br />
General dramatisiert und aufgeführt. Der<br />
General muß den Anblick des Spiegels<br />
fliehen, den ihm die bloße Anwesenheit des<br />
Schriftstellers und erst recht die Dramatisierung<br />
seiner Existenz vorhalten. Die Bedrohung<br />
durch bloße Widerspiegelung wird<br />
dadurch noch potenziert, daß sein gelebtes<br />
Leben in der Optik des Schriftstellers als<br />
Komödie erscheint. Der General weigert<br />
sich, seine Existenz als Reflexion wie von<br />
außen zu sehen. Das Komische ist aber in<br />
Bernhards Gattungstheorie gerade die<br />
Außenperspektive aufs Tragische. Der<br />
General unterliegt ohnehin schon Irritationen,<br />
die aus ihm selbst kommen. Seine<br />
Selbstgewißheit droht, an inneren Widersprüchen<br />
zu zerbrechen. Die Kriegserlebnisse<br />
holen ihn in Träumen, Halluzinationen<br />
und paradoxen Zwangshandlungen immer<br />
wieder ein. Bei jeder Gelegenheit erzählt er<br />
die Geschichte, wie ihm der Arm abgerissen<br />
wurde. Wie eine Reliquie bewahrt er auf dem<br />
Dachboden den Soldatenmantel und die Uniform<br />
auf, die er damals in Stalingrad getragen<br />
hat (61).<br />
Der große, nun vom Borkenkäfer befallene<br />
Wald steht in einer besonderen Beziehung<br />
zur Lebensgeschichte des Generals.<br />
Nach dem Kriege haben sich der General<br />
und seine Frau im Wald versteckt. Wären sie<br />
im Jagdhaus geblieben, hätte man sie gefunden<br />
und umgebracht (38-39). Der Wald<br />
erinnert ihn sowohl an den Schutz, den er<br />
einst gespendet hat, als auch an die in ihm<br />
durchlittene Todesangst. Für den General ist<br />
der Wald gleichsam die Materialisation seiner<br />
Lebensgeschichte. Er ist nicht nur Stätte<br />
wichtiger Erfahrungen, sondern symbolisiert,<br />
neben der Mutter des Generals (59) und<br />
seiner Kriegsverletzung (58), die das weitere<br />
Leben determinierende Instanz.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
Wann immer bei Thomas Bernhard vom<br />
Wald die Rede – und dies gilt vor allem für<br />
die bis <strong>19</strong>75 erschienenen Werke – fungiert<br />
dieser als allegorischer Ort. Überwiegend<br />
nachts, in der Finsternis, ist der Wald Stätte<br />
von Selbsterfahrung, unwillkürlicher Erinnerung<br />
und Wesensschau, aber auch von<br />
Orientierungsverlust und existentieller Bedrohung.<br />
Eine heillose und oft tödliche Verwirrung<br />
ist die Folge, mitunter auch Selbstevidenz<br />
und mystische Klarheit. Auch wenn<br />
der Wald nicht zur komplexen Allegorie<br />
ausgearbeitet wird, weist die übertragene<br />
Bedeutung des Waldes eine klare Beziehung<br />
zu einem Ort der Transzendenzerfahrung auf.<br />
Aus dieser Funktion des Waldes als Erfahrungs-<br />
und Erkenntnisbezirk erklären sich<br />
auch seine allegorischen und kausalen Korrespondenzen<br />
zur „Finsternis“-Metapher. Im<br />
Wald ist die Abenddämmerung nämlich kürzer,<br />
die Finsternis tritt „plötzlich“ ein, wie in<br />
Die Jagdgesellschaft immer wieder hervorgehoben<br />
wird.<br />
Der Wald ist Erinnerungsstätte und als<br />
solche Inbegriff der rückblickenden Erfahrung<br />
von Geschichtlichkeit. Der Tod,<br />
dessen Chiffren der General überall im Wald<br />
sieht, ist ein im doppelten Sinne geschichtlicher<br />
Tod: erstens in seinem Erscheinungsbild,<br />
denn seine konkrete Gestalt ist durch<br />
den Krieg gesellschaftlich produziert; zweitens<br />
in seiner determinierenden Wirkung für<br />
die Lebensgeschichte des Generals. Darüber<br />
hinaus ist der Wald in Die Jagdgesellschaft<br />
Projektionsrahmen und Aktionsraum paradoxer<br />
Verrichtungen, die Blaise Pascals<br />
„verworrenem Trieb“ entsprechen: In all<br />
diesen paradoxen Verrichtungen und Besetzungen<br />
vertritt der Wald keine bestimmten<br />
Inhalte oder Aussagen von Bernhards poetischer<br />
Metaphysik, sondern ist Vollzugsraum<br />
für das Verhalten seiner Protagonisten<br />
zu sich selbst und ihrer Existenz. Die paradoxen<br />
Überdeterminationen, die die affektive<br />
Beziehung der Hauptfigur zum Wald darstellen,<br />
erklären sich nicht als diese oder jene<br />
Besetzung, sondern nur als Konkretisationen<br />
im Horizont einer Dialektik des Selbstbewußtseins.<br />
So ist der Wald in diesem Stück<br />
in dem Sinne paradox überdeterminiert, als<br />
er zur Bühne widersprüchlicher, symboli-<br />
scher Aktionen des Generals wird. Bezogen<br />
auf die Existenz und Todeskrankheit des<br />
Generals hat der Wald nach Klug 24 folgende<br />
Funktionen: Stätte der Erinnerung an die<br />
Schlacht von Stalingrad; Versteck während<br />
des Krieges, als das Jagdhaus ein „Schlachthaus“<br />
war; Ort, an dem der General Motivation<br />
schöpft und Gedanken entwickelt; Ort,<br />
an dem der General seiner Ablenkung, der<br />
Jagd, nachgeht; Ursache für das abrubte Eintreten<br />
der Finsternis; durch das Fenster sichtbarer<br />
Szenenhintergrund für das Geschehen<br />
im Jagdhaus; vom Borkenkäfer angefressen<br />
und schließlich gefällte Materialisation der<br />
Lebensgeschichte des Generals.<br />
Die paradoxe Weise, in der der General<br />
den Wald symbolisiert besetzt, zeigt sich zunächst<br />
in der Einheit von Todesangst und<br />
Schutz, wie sie der General und seine Frau in<br />
der unmittelbaren Nachkriegszeit, sich im<br />
Wald versteckend, erfahren haben. Ein wieterer<br />
Widerspruch besteht zwischen dem<br />
Aufwand, den der General für die Pflege des<br />
Waldes treibt, und der Angst, von den zu<br />
diesem Zwecke angestellten Holzknechten<br />
hintergangen zu werden. Der Besitzende lebt<br />
in fortwährender Angst um seinen Besitz.<br />
Schon vor dem Ausbruch der Todeskrankheit<br />
und bevor die Generalin vom Borkenkäfer<br />
des Waldes erfahren hat, hat bereits der<br />
General – offenbar in Angst um die Gesundheit<br />
seines Waldes – vom Borkenkäfer gesprochen<br />
(23-24). In mehrfacher, tatsächlicher<br />
wie symbolischer Hinsicht ist das<br />
Vermögen, das der Wald repräsentiert, ein<br />
„ungeheures Vermögen“ (38).<br />
Der Wald ist auch Schauplatz von<br />
Fluchtbewegungen wie die Jagd, zu der der<br />
General eingeladen ist. Mit diesem Motiv<br />
spielt Thomas Bernhard auf einen Gedanken<br />
Blaise Pascals an, der am Exempel der Jagd<br />
das Wesen der Zerstreuung und deren dialektischen<br />
Bezug zur Beunruhigung erläutert:<br />
Die spezifische Dynamik der Zerstreuung<br />
besteht darin, die Tätigkeit und nicht deren<br />
Effekt, die Jagd und nicht die Beute zu<br />
suchen. Die Jagd stellt für den österreichischen<br />
Autor eine typische Form der Zer-<br />
24 Klug, 269-270.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 159
streuung dar, sie vermeidet den Anblick von<br />
Tod und Elend, während sie gleichzeitig,<br />
paradoxerweise, den Tod bringt.<br />
Im Zusammenhang mit der Jagdgesellschaft<br />
des Generals erhält auch seine Augenkrankheit<br />
eine besondere Bedeutung. Das<br />
Schießen ist trotziges Aufbegehren gegen<br />
Augen- als Todeskrankheit, denn der General<br />
schließt und zielt wie „durch einen Schleier“<br />
(62). Indem er den sehbehinderten General<br />
auf die Jagd schickt, betont Bernhard einmal<br />
mehr, daß es seiner Figur bei dieser Form der<br />
Ablenkung um die Handlung und nicht um<br />
die Beute geht. Der General regeneriert sich<br />
bei der Jagd. Die Zerstreuung, die die Jagd<br />
ihm bietet, ist nicht Ablenkung von etwas,<br />
sondern „Ablenken auf die Konzentration“ 25 .<br />
Sie wehrt Irritation ab und bestätigt Rollenidentitäten.<br />
Für den General ist das Jagen<br />
nicht nur eine beliebige Form der Ablenkung<br />
unter anderen, sondern zugleich zwanghafte<br />
Wiederholung Stalingrads.<br />
Allegorischer Wert weist auch die<br />
Motorsäge auf, mit der der vom Borkenkäfer<br />
befallene Wald gesägt werden muß. Auch in<br />
Ein Fest für Boris wurde ein Wald niedergelegt.<br />
Die Gute hat ihn abholzen lassen, um<br />
Boris den Blick auf seine Herkunft, das<br />
Krüppelasyl, zu ermöglichen. Die Besetzung<br />
des Waldes ist in Die Jagdgesellschaft demgegenüber<br />
komplexer. Der symbolische Versuch<br />
des Generals, die Chiffren seiner Lebensgeschichte<br />
als einer Geschichte erlittener<br />
und verübter Gewalt umzusägen, wird in seiner<br />
Selbstwidersprüchlichkeit gestaltet. Der<br />
Wunsch, die eigene Geschichte zu annullieren,<br />
löscht sich selbst als Resultat dieser Geschichte<br />
logisch mit aus. Deshalb gerät der<br />
symbolische Akt zur tatsächlichen Selbstverstümmelung:<br />
Der General sägt sich ins Bein.<br />
In diesem Stück gruppiert der Autor zwei<br />
komplementäre Männerfiguren um eine<br />
weibliche Mittlergestalt. Der Schriftsteller,<br />
eine Art philosophierender Hausfreund und<br />
Damenunterhalter, gehört zu den Gleichgültigen<br />
und Relativisten, während der General<br />
den Typus des Bernhardschen Apokalyptikers<br />
verkörpert, der in ständiger, bewußter<br />
Verzweiflung existiert, ohne Distanz<br />
dazu gewinnen zu können. Er spricht immer<br />
„von zwei Welten“:<br />
25 Klug, 273.<br />
160<br />
Roxana Nubert<br />
„ […] die eine ist hinter dem Rücken / in welche<br />
plötzlich geschaut werden muß / wie er sagt / überraschend“<br />
(27).<br />
Während der Schrifttsteller Verzweiflung<br />
als quasi-ontologische Voraussetzung versteht,<br />
erfährt der General seine Krankheit<br />
zum Tode als Skandal, als permanente Entwertung<br />
des Lebens. Der Schriftsteller ist ein<br />
Beobachter, während der General den unverhüllten<br />
Anblick seiner Abgründlichkeit nicht<br />
erträgt und darum in symbolische Ersatzhandlungen<br />
flüchtet. Der Kontrast zwischen<br />
den beiden Typen wird um so deutlicher<br />
dadurch, daß beide ähnliche Erlebnisse<br />
hinter sich haben. Beide haben nur zufällig<br />
überlebt, beide existieren seither im Bewußtsein<br />
der Allgegenwart des Todes. Die<br />
Aussicht auf den eigenen Tod wird dem<br />
Schriftsteller zur einzigen Gewißheit, wie er<br />
mit einem Abschnitt aus Lermontovs Ein<br />
Held unserer Zeit andeutet, den er der<br />
Generalin bereits vor der Jagd vorliest.<br />
Während der Schriftsteller ähnlich Lermontovs<br />
Petschorin eher fatalistisch eingestellt<br />
ist, läßt sich vom General nicht mit Bestimmtheit<br />
sagen, welcher Art seine Beschäftigung<br />
mit dem Tod ist. Der Schriftsteller<br />
hat eine abstraktere Perspektive auf<br />
den Tod als der General, der eine viel unmittelbarere<br />
Anschauung des Todes als der<br />
Schriftsteller aufweist. Die Stalingrader<br />
Todeserfahrungen sind von so unterschiedlicher<br />
Qualität, daß man sie nur bedingt vergleichen<br />
kann: Während der General vor<br />
Stalingrad „beinahe verblutet“ wäre (57, 58),<br />
hat der Schriftsteller in Warschau nur mit<br />
angesehen, wie ein herunterfallender Eiszapfen<br />
eine sechs oder sieben Schritte vor<br />
ihm gehende Frau tötete. Die Ursachen für<br />
die Unterschiede der existentiellen Haltungen<br />
hält Thomas Bernhard dadurch in der<br />
Schwebe zwischen individueller Disposition<br />
und blindem Schicksal.<br />
Schriftsteller und General hassen einander,<br />
wie die beiden Konkurrenten selber zugeben<br />
(60). Der General meint, indem er sich<br />
auf den Schriftsteller bezieht:<br />
„Sehen Sie diese Innenwände in seinem Gehirn /<br />
schreibt er voll / ein vollgeschriebenes Gehirn / ein<br />
gänzlich vollgeschriebenes / und dadurch völlig verfinstertes<br />
Gehirn / mit einer solchen Geschwindigkeit<br />
vollgeschrieben / daß schon alles übereinandergeschrieben<br />
ist / wie ein Wahnsinniger / Die ganze<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />
Innenseite seines Gehirns / die er selber schon nicht<br />
mehr lesen kann.“ ( 97)<br />
Dem General erscheint der Schriftsteller<br />
als ein freier Mensch, was dieser mit lautem<br />
Lachen quittiert (77). Sie begegnen einander<br />
nur notgedrungen. Die Generalin, die gleichermaßen<br />
Ekel und Angst vor ihrem Mann<br />
empfindet, lädt sich den Schriftsteller ein,<br />
um während der von ihr verabscheuten Jagd<br />
(80) nicht allein im Jagdhaus bleiben zu<br />
müssen (62). Auch in Die Jagdgesellschaft<br />
ist eine „Dreiecksgeschichte“ Grundmodell<br />
der Interaktion. Wie beispielsweise der Doktor<br />
in Der Ignorant und der Wahnsinnige so<br />
ist auch hier der philosophierende Typus, der<br />
eine bestehende Beziehung zweier Personen<br />
bedroht:<br />
„Mein lieber Schriftsteller / Sie betreiben eine verabscheuungswürdige<br />
Kunst / meine Frau bewundert<br />
Sie“ (94-95).<br />
Es sind immer wieder die gleichen drei<br />
Typen von Figuren, die in Thomas Bernhards<br />
Dreiecksgeschichten die Hautprollen<br />
spielen: der erfolgreiche Zwangsneurotiker;<br />
die in Ansätzen reflektierende, aber entschlußunfähige<br />
Mittlerfigur; und der intellektuelle<br />
Freigeist. Der Logik dieser Dreiecksgeschichten,<br />
mit denen Bernhard identitäts-<br />
und subjektphilosophische Probleme<br />
poetisiert, zufolge ist das Leben ein Nullsummenspiel,<br />
in welchem für alle Anpassungsleistungen<br />
und Erfolge mit Neurosen<br />
und Ängsten bezahlt werden muß. Die Mächtigen<br />
haben unter anderem damit zu zahlen,<br />
daß konspirative Schriftstellerfiguren in ihre<br />
Ehen eindringen, die naturgemäß hausgemachte<br />
Privathöllen sind.<br />
Im Stück kommt es zu keiner direkten<br />
Kommunikation zwischen Schriftsteller und<br />
General. Beide reden nur über einander und<br />
erläutern den Umstehenden den Charakter<br />
des jeweils anderen, und zwar auch während<br />
dessen Anwesenheit. Der Schriftsteller tut<br />
dies auf eine zunächst indirekte Weise. Sein<br />
Vortrag über Todeskrankheit und prinzipielle<br />
Andersheit ist offenkundig, aber unausdrücklich<br />
auf diesen augerichtet. Beide Männer<br />
verachten die vom anderen jeweils<br />
bevorzugte Form der Ablenkung. Der General<br />
haßt das Kartenspiel (62) und überhaupt<br />
alle Einflüsse des Schriftstellers auf seine<br />
Frau (80). Kartenspiel, Nichtstun und<br />
Schreiben sind ihm gleichermaßen widerlich<br />
(96). Umgekehrt fühlt sich der Schriftsteller<br />
von der Jagd abgestoßen. Doch während der<br />
General die Anwesenheit und den Zeitvertreib<br />
des anderen als eine Bedrohung empfindet,<br />
deren Abschaffung er fordert, liefert<br />
sich der Schriftsteller dem Abstoßenden<br />
gleichsam zu Studienzwecken aus. Auch die<br />
Generalin ist sich einer ähnlich gespaltenen<br />
Affektstruktur bewußt, denn sie schätzt<br />
gerade dessen Entsetzlichekeit und Rücksichtslosigkeit.<br />
In der Beurteilung des<br />
Schriftstellers unterscheidet sich die Generalin<br />
also gar nicht so sehr von ihrem Mann.<br />
Die Differenz liegt im Verhalten zu des<br />
Schriftstellers Bedrohlichkeit. Doch während<br />
der General den Kontakt mit dem Schriftsteller<br />
am liebsten vermeiden würde, ist die<br />
paradoxe Einstellung seiner Frau am treffendsten<br />
mit dem Terminus „Angstlust“ zu<br />
bezeichnen – eine Einstellung, welche die<br />
Beziehung aller Bernhardschen Frauenfiguren<br />
zu ihren geistlichen oder philosophierenden<br />
Hausfreunden charakterisiert. Der<br />
symmetrische Widerspruch zeigt sich noch in<br />
einer weiteren Hinsicht: Der General interpretiert<br />
die Kunst des Schriftstellers existentiell,<br />
während der Schriftsteller die Stalingrad-Erfahrung<br />
des Generals ästhetisch aufnimmt,<br />
als „[s]eine beste Geschichte“ (57).<br />
Das komplementäre Verhalten der Figuren<br />
veranschaulicht ein anderes wesentliches<br />
Prinzip von Bernhards dramatischen Texten,<br />
die Aufhebung der Gegensätze. Dieses Verfahren<br />
fördert die Unsicherheit des Zuschauers:<br />
In jedem Satz wird der vorangehende<br />
aufgehoben, um wiederum im nächsten<br />
seinen Widerruf zu erfahren.<br />
Am Ende des Bühnenspiels erfahren wir<br />
nicht die „wirklichen“ Ursachen der Todeskrankheit<br />
des Generals. Thomas Bernhard<br />
präsentiert die allegorischen Zusammenhänge<br />
nicht als Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit<br />
für den Rezipienten. Am Schluß ist<br />
der Schuß unsicher. Mit dem Abholzen des<br />
Waldes wird der Schauplatz der Existenzkomödie<br />
gleichsam abgebaut wie Kulissen eines<br />
Theaterstücks. Der theatralische Aspekt,<br />
den alle Mittel und die Existenz selbst annehmen,<br />
dominiert das Drama: Umwelt wird<br />
zur Kulisse und Welt zum Theater. Die Figuren<br />
werden zu Kunstfiguren, deren Künstlichkeit<br />
es einem verbietet, sie mit kritischem<br />
Maß an der Realität unmittelbar zu messen.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 161
Selbst dort, wo der Aktualitätsgrad Verschlüsselung<br />
nahelegt, verwehrt die radikale<br />
Stilisierung die provokant angestrebte Identifikation<br />
mit einer historischen Persönlichkeit.<br />
26<br />
In Jagdgesellschaft wird ein Vorgang<br />
dargestellt, dem die Beteiligten fassungslos<br />
und behext zusehen:<br />
„Bernhards Werk endet meist dort, wo der Leser<br />
das Ende noch nicht ansetzen möchte, da er die<br />
Ursache der fortwährenden Irritation nicht geklärt<br />
sieht […] Die Möglichkeit, mit seinem Werk den<br />
Verdacht eines vollkommenen Kunstwerkes, das es in<br />
der Tat nicht geben kann, zu erwecken, unterläuft<br />
Bernhard dadurch, daß er das Fragment zum Prinzip<br />
erhebt […] Auf der anderen Seite insistiert Bernhard,<br />
konsequent die Forderung nach dem stets Fragmentarischen<br />
aufhebend, auf dem Kunstwerk, dessen<br />
Vollendung alles andere als bloß fragmentarisch<br />
erweist.“ 27<br />
Die poetische Theorie Thomas Bernhards<br />
entspricht einer „Poetik der Künstlichkeit“,<br />
in der er den Versuch unternimmt, die<br />
„Figuren, Ereignisse und Vorkommnisse“ in<br />
ein Jenseits sozialer Existenz zu befördern,<br />
wo sie ihre befremdende dinglich-requisitenhafte<br />
Gestalt offenbaren können:<br />
„In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt,<br />
alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich<br />
auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total<br />
finster. Auftretende Figuren auf einem Bühnenraum,<br />
in einem Bühnenviereck, sind durch ihre Konturen<br />
deutlicher zu erkennen, als wenn sie in der natürlichen<br />
Beleuchtung erscheinen wie in der üblichen<br />
uns bekannten Prosa. In der Finsternis wird alles<br />
deutlich. Und so ist es nicht nur mit den Erscheinungen,<br />
mit dem Bildhaften – es ist auch mit der<br />
Sprache so.“ 28<br />
Die Finsternis, als poetisches Prinzip der<br />
Abtrennung von lebendigen sozialen Beziehungen,<br />
vom Leben „in der natürlichen<br />
Beleuchtung“, steht stellvertretend für die<br />
„end-gültige Finsternis“ des Todes, dem<br />
Bezugspunkt, von wo aus die Welt als<br />
künstliche Szene erscheint, als Schauspiel<br />
und Maske:<br />
„Der Österreicher Thomas Bermhard ist der deutschen<br />
Literatur düsterster Poet und bitterster Prophet.<br />
An ihm, dem hartnäckigen Sänger der Krankheit und<br />
der Auflösung des Untergangs und des Todes, dem<br />
26 Schmidt-Dengler, 107-108.<br />
27 Schmidt-Dengler, 109.<br />
28 Bernhard, Drei Tage, 150-151.<br />
162<br />
Roxana Nubert<br />
unerbittlichen Dichter dieser finsteren Wollust,<br />
scheiden sich nach wie vor die Geister. Die einen<br />
empfinden sein Werk als unerträglich und abstoßend,<br />
die anderen halten es für unvergeßlich und hinreißend.<br />
Während ihm die einen ermündende Geschwätzigkeit<br />
und außergewöhnliche Monotonie vorwerfen,<br />
rühmen die anderen seine virtuose Beredsamkeit<br />
und irritierende Suggestivität. Verurteilen die<br />
einen seine Grausamkeit und Bestialität, so preisen<br />
die anderen seine Unbedingtheit und Radikalität.“ 29<br />
Thomas Bernhard selbst spricht von der<br />
Faszination des Leeren und Leblosen, aus<br />
dem der Künstler als Beobachter und Gestalter<br />
die „ungeheure Bewegung“ der Dinge<br />
herauszuarbeiten aufgefordert wird:<br />
„Wenn man eine weiße Wand anschaut, stellt man<br />
fest, daß sie ja nicht weiß, nicht kahl ist […] An einer<br />
Wand entdeckt man Risse, kleine Sprünge, Unebenheiten,<br />
Ungeziefer. Es ist eine ungeheure Bewegung<br />
an den Wänden.“ 30<br />
Seine Theaterstücke sind unmittelbar als<br />
eine Herausforderung aufzufasssen.<br />
„Die Unsicherheit, die Bernhards Werk vermittelt,<br />
ist nicht negativ zu werten, schon gar nicht, um sein<br />
Werk zu verurteilen. Sie auch nicht leichtfertig aufzulösen<br />
als Spiel, das innerhalb der Sprache gespielt<br />
werden darf, sondern zu betrachten als ein Mittel, das<br />
den Erkenntnisprozeß fördert, indem es auf Glättung<br />
im herkömmlichen Sinne verzichtet, auf eine Glättung,<br />
die erreichbar ist durch Finalisierung und die<br />
Ergebnisse vortäuscht, die den Anschein der Abrundung<br />
vermitteln und dadurch nur die Scheinhaftigkeit<br />
des Kunstwerks unterstreichen. Das Kunstwerk<br />
löst keine Widersprüche, sondern verschärft sie.<br />
Unter diese Widersprüchlichkeit hat Bernhard sein<br />
Schaffen gestellt. Indem er sich dem Publikum verweigert,<br />
insinuiert er sich diesem nur umso unwiderstehlicher.“<br />
31<br />
Die Erfahrung der paradoxen Situation<br />
als Schriftsteller ist für Bernhard eine<br />
schmerzhafte:<br />
„Nur weil ich mich gegen mich stelle und tatsächlich<br />
immer gegen mich bin, bin ich befähigt, zu<br />
sein.“ 32<br />
29<br />
Marcel Reich-Ranicki, Thomas Bernhard (Zürich:<br />
Ammann <strong>19</strong>90), 45.<br />
30<br />
Bernhard, Drei Tage, 152.<br />
31<br />
Schmidt-Dengler, 111.<br />
32<br />
Thomas Bernhard, Der Keller. Eine Entziehung<br />
(München: Deutscher Taschenbuchverlag <strong>19</strong>90), 73.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
ZU EINIGEN ASPEKTEN DER DRAMENTHEORIE IN DER DEUTSCHEN<br />
LITERATUR<br />
Die Urform des Theaters hat eigentlich<br />
sehr wenig mit dem zu tun, was wir heute<br />
unter diesem Begriff verstehen. Theater war<br />
ursprünglich weniger Kunst, sondern eher<br />
soziales Verhalten und läßt sich auf jeden<br />
Fall mit der natürlichen Gabe des Menschen<br />
zur Nachahmung in Verbindung bringen.<br />
Dies ist leicht zu demonstrieren, indem man<br />
die Tierspiele der verschiedenen Eingeborenen<br />
Sippen anführt, die nicht nur dazu<br />
gedacht waren, der täglichen Unterhaltung<br />
zu dienen, sondern eher ein magisches Ritual<br />
darstellten. Es ging in der Urform eigentlich<br />
um den Versuch der Steinzeitmenschen, die<br />
Kraft der Tierfelle auf sich zu übertragen,<br />
denn "das Urdrama der Menschheit ist der<br />
Kampf mit dem Tier" 1 .<br />
Der Wendepunkt in der Geschichte des<br />
Dramas erfolgte im alten Griechenland, wo<br />
man damit beschäftigt war, für den neuen<br />
Gesellschaftstypus auch eine neue Art von<br />
Mensch heranzubilden. So kam es dazu, daß<br />
"das Festspiel um Fruchtbarkeit und Totenkult<br />
zur politischen Festversammlung umfunktioniert<br />
und verweltlicht" 2 wurde. Hier<br />
begann sich Theater nicht mehr zwischen<br />
Schauspieler und Gottheit zu bewegen,<br />
sondern es wurde nun an das Publikum gerichtet,<br />
das von nun an eine passive aber gut<br />
determinierte Rolle spielte. So kam es dazu,<br />
daß sich Aristoteles, der größte Theoretiker<br />
der Antike mit der Beziehung zwischen<br />
Theater und Publikum beschäftigte, um<br />
daraus auch die Rolle des Theaters herauszuarbeiten:<br />
Das, was Aristoteles von seinem<br />
Zuschauer verlangt, ist die Identifikation mit<br />
dem Helden durch Mitempfinden, er spricht<br />
in seiner Poetik von den inzwischen allbekannten<br />
Begriffen von Mitleid und Furcht:<br />
"Die Tragödie ist die Nachahmung einer<br />
edlen und angeschlossenen Handlung, von<br />
einer bestimmten Größe in gewählter Rede,<br />
derart, daß jede Form solcher Rede in ge-<br />
1 Gronemeyer, Andrea Theater, Köln, Du Mont<br />
Buchverlag, <strong>19</strong>95, S. 9.<br />
2 ebd., S. 13.<br />
Daniela Ionescu<br />
sonderten Teilen erscheint und daß gehandelt<br />
und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe<br />
von Mitleid und Furcht eine Reinigung von<br />
eben derartigen Affekten bewerkstelligt<br />
wird." 3 . Das Schema nach dem die Funktion<br />
des Theaters erfolgt, ist nach Aristoteles also<br />
ganz einfach: Zuerst empfindet man einen<br />
Schrecken durch die Bedrohung des Helden<br />
(phobos) und dieser Schrecken wird dann,<br />
nach dem Wendepunkt des Dramas durch<br />
Jammer abgearbeitet (eleos), damit der Zuschauer<br />
am Ende des Stückes kathartisch<br />
(gereinigt) das Theater verläßt.<br />
Diese Auffassung wird lange Zeit die<br />
Theorie des Dramas beherrschen, und die<br />
Neuerungen erfolgen praktisch nur im Bereich<br />
des Aufbaus und des Stoffes und nicht<br />
im Bereich der Wirkung auf den Zuschauer.<br />
Im Mittelalter wurde das Theater als Unterhaltung<br />
verbannt, ja sogar als Sünde angesehen.<br />
In diesem Sinne ist die Aussage des<br />
heiligen Augustinus anzuführen, der in<br />
seinen Bekenntnissen schrieb:<br />
"Und doch sündigte ich mein Herr und mein Gott,<br />
nicht in der Absicht, Besseres…zu erwählen, war ich<br />
ungehorsam, sondern aus Liebe zu Spielereien, und<br />
aus Begierde nach stolzen Siegen in Wettspielen, um<br />
durch erdichtete Märlein meine Ohren zu reizen, daß<br />
sie immer lüsterner wurden und mir dieselbe Neugierde<br />
immer mehr und mehr aus den auf die Schauspiele<br />
und die Spiele der Alten gehefteten Augen<br />
leuchtete." 4<br />
Das Theater wurde aber in derselben Zeit<br />
auch als erzieherisches Kirchenwerk verstanden<br />
(wie z.B. die Passionsspiele). Damit<br />
gelagen wir zur Aufklärung, in der das neue<br />
Menschenideal auch nach neuen Formen des<br />
Theaters verlangte. Erst im 18. Jahrhundert<br />
kam es dann dazu, daß die Gelehrten das<br />
Bedürfnis verspürten, das Theater zu verteidigen,<br />
so Gottsched in seiner Rede von<br />
1729:<br />
3 siehe auch Staehle, Ulrich (Hrsg) Theorie des<br />
Dramas, Stuttgart, Phillip Reclam jun., <strong>19</strong>92, S. 9.<br />
4 siehe auch Gronemeyer, Andrea Theater, Köln, Du<br />
Mont Buchverlag, <strong>19</strong>95, S. 35.
"Die Tragödie ist […] ein Bild der Unglücksfälle,<br />
die den Großen dieser Welt begegnen und von ihnen<br />
entweder heldenmütig und standhaft ertragen oder<br />
großmütig überwunden werden. Sie ist eine Schule<br />
der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu<br />
Trübsal, eine Aufmunterung zur Tugend, eine<br />
Züchtigung der Laster. Die Tragödie belustiget, indem<br />
sie erschrecket und betrübet. Sie lehret und<br />
warnet in fremden Exempeln; sie erbauet, indem sie<br />
vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit<br />
klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause." 5<br />
Gotthold Ephraim Lessing ist hier der<br />
Name der angeführt werden muß, da er sich<br />
nicht nur aktiv vorgenommen hatte, durch<br />
seine Theaterstücke eine neue Art der<br />
Dramaturgie zu gestalten, sondern auch<br />
theoretisch, in der Hamburgischen Dramaturgie,<br />
neue Maßstäbe setzte. Das, was<br />
Lessing eigentlich macht, ist Kritik an der<br />
bisherigen Art der Dramendichtung zu üben,<br />
vor allem an den Modellen und der Manier,<br />
in der sie übernommen wurden. Inhaltlich<br />
wendet er sich sowohl gegen die strenge<br />
Einhaltung der drei Einheiten, die seiner<br />
Meinung nach bei den Franzosen nicht nur<br />
als Anweisung galt, sondern mechanisch<br />
erfolgte, als auch gegen die Vorschriften<br />
bezüglich der Helden. Hier, in diesem letztgenannten<br />
Punkt, tritt die erste bahnbrechende<br />
Neuerung auf: Lessings Meinung<br />
nach, können wir uns mit Helden, die uns<br />
persönlich und ranggemäß näher stehen, eher<br />
identifizieren als mit Göttern und alten<br />
Heldengestalten:<br />
"Die Namen von Fürsten und Helden können einem<br />
Stücke Pomp und Majestät geben, aber zur Rührung<br />
tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren<br />
Umstände den Unsrigen am nächsten kommen, muß<br />
natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen;<br />
und wenn wir mit Königen mitlitten, so haben wir es<br />
mit ihnen als mit Menschen. Macht ihr Stand schon<br />
öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum<br />
nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker<br />
darein verwickelt werden; unserer Sympathie erfordert<br />
einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein<br />
viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen."<br />
6 .<br />
Mit diesen Worten besiegelt Lessing<br />
praktisch das Entstehen des bürgerlichen<br />
Trauerspiels. Der Aufklärung kam also die<br />
5 siehe auch Fischer-Lichte, Erika Kurze Geschichte<br />
des deutschen Theaters, Tübingen, Francke, <strong>19</strong>93.<br />
6 Lessing, Gotthold Ephraim Hamburgische<br />
Dramaturgie - 14. Stück in Lessing, Schriften,<br />
Frankfurt am Main, Insel, <strong>19</strong>67, S. 176-180.<br />
164<br />
Daniela Ionescu<br />
Rolle zu, auch im Drama die Gesellschaft so<br />
darzustellen, wie sie ist, jedoch die kritische<br />
Auseinandersetzung damit sowie mit den<br />
menschlichen Trieben und Gefühlen war das<br />
Attribut der folgenden bedeutenden<br />
dichterischen Strömung, des Sturm und<br />
Drang.<br />
Im Sturm und Drang spielte das Theater<br />
bekanntlich eine sehr wichtige Rolle. Es galt<br />
um Entfessellung der Kräfte, um Genie, und<br />
wer konnte da ein besseres Beispiel geben<br />
als Shakespeare, der von Herder und Goethe<br />
selbst als das Genie schlechthin dargestellt<br />
wurde. In seinen Anmerkungen über das<br />
Theater nahm Lenz ebenfalls das Genie<br />
Shakespeare als Vorbild und forderte das<br />
Originelle:<br />
"Da ein eisernes Schicksal die Handlungen der<br />
Alten bestimmte und regierte, so konnten sie als<br />
solche interessieren, ohne den Grund in der menschlichen<br />
Seele aufzusuchen und sichtbar zu machen.<br />
Wir aber hassen solche Handlungen, von denen wir<br />
die Ursache nicht einsehen, und nehmen keinen Teil<br />
dran. Daher sehen sie die heutigen Aristoteliker, die<br />
bloß Leidenschaften ohne Charaktere malen (und die<br />
ich übrigens in ihrem anderweitigen Wert lassen<br />
will), genötigt, eine gewisse Psychologie für alle ihre<br />
handelnden Personen anzunehmen, aus der sie darnach<br />
alle Phänomene ihrer Handlungen so geschickt<br />
und ungezwungen ableiten können und die im Grunde<br />
mit Erlaubnis dieser Herren nichts als ihre eigene<br />
Psychologie ist. Wo bleibt aber da der Leser, Christlicher<br />
Leser! Wo bleibt die Folie? Große Philosophen<br />
mögen diese Herren immer sein, große allgemeine<br />
Menschenkenntnis, der Gesetze der menschlichen<br />
Seele Kenntnis, aber wo bleibt die individuelle?…<br />
Für den mittelmäßigen Teil des Publikums wird<br />
Rousseau (der göttliche Rousseau selbst) unendlichen<br />
Reiz mehr haben, wenn er die feinsten Adern der<br />
Leidenschaften seines Busens entblößt und seine<br />
Leser mit Sachen anschaulich vertraut macht, die sie<br />
alle vorhin schon dunkel fühlten, ohne Rechenschaft<br />
davon geben zu können, aber das Genie wird ihn da<br />
schätzen, wo er aus den Schlingen und dem Graziengewebe<br />
der feinern Welt Charaktere zu retten weiß…<br />
. […] Was heißen die drei Einheiten? Hundert Einheiten<br />
will ich euch angeben, die alle immer doch die<br />
eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache,<br />
Einheit der Religion, Einheit der Sitten,- ja was wird's<br />
denn nun? Immer dasselbe, immer und ewig dasselbe.<br />
Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit<br />
fühlen, aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins<br />
in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch<br />
sein, wie groß oder klein sein Wirkungskreis auch<br />
immer sein mag. Aber fort mit dem Schulmeister, der<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Zu einigen Aspekten der Dramentheorie in der deutschen Literatur<br />
mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger<br />
schlägt." 7<br />
Mit diesem plastischen Bild wird die<br />
Kritik am unüberlegten strengen Einhalten<br />
der Regeln dargestellt. Es ist äußerst klar,<br />
daß eine neue Form des Theaters angestrebt<br />
wird, in der Gesellschaft und Individuum<br />
naturgetreu und frei, unmittelbar dargestellt<br />
werden sollen. Schiller maß dem Theater<br />
eine erzieherische Wirkung zu in seinem<br />
Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische<br />
Anstalt betrachtet:<br />
"Die Schaubühne ist mehr als jede andere<br />
öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der<br />
praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das<br />
bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den<br />
geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. […]<br />
Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in<br />
welchem von dem denkenden besseren Teil des Volks<br />
das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus<br />
in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.<br />
Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze,<br />
reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des<br />
Volkes; der Nebel der Barbarei, des finstren Aberglaubens<br />
verschwindet, die Nacht weicht dem<br />
siegenden Licht." 8<br />
Jedoch war das Publikum nicht ganz von<br />
diesem Gedanken begeistert und so wurde er<br />
von den Klassikern Goethe und Schiller aufgegeben.<br />
Sie entfernten sich von den Ideen,<br />
die sie in ihrer Jugend geprägt hatten und<br />
schrieben klassische Musterstücke für das<br />
"Weimarer Hoftheater", in denen statt der<br />
moralischen Erziehung des Publikums, die<br />
ästhetische den Vorrang hatte. Wichtig wird<br />
jedoch zur Zeit der Klassik ein Konzept, das<br />
auch schon von den Aufklärern angestrebt<br />
wurde, das des Nationaltheaters. Es geht<br />
nicht nur um den lehrenden Wert des<br />
Theaters, sondern auch um die Tatsache, daß<br />
Theater durch Mit-leiden und Mit-fürchten<br />
die Menschen verbrüdern kann, in einem<br />
mystischen Sinn:<br />
"Und dann endlich - welch ein Triumph für dich,<br />
Natur - so oft zu Boden getretene, so oft wieder aufstehende<br />
Natur - wenn Menschen aus allen Kreisen,<br />
Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der<br />
7 Lenz, Jakob Michael Reinhold Anmerkungen übers<br />
Theater in Glaser (Hrsg.) Wege der Deutschen<br />
Literatur-Ein Lesebuch, Ullstein Verlag, Frankfurt<br />
am Main, <strong>19</strong>75, S. 51.<br />
8 Schiller, Friedrich Die Schaubühne als eine<br />
moralische Anstalt betrachtet in Friedländer (Hrsg.)<br />
Schiller Ein Lesebuch unserer Zeit, Weimar,<br />
Thüringer Volksverlag, <strong>19</strong>53, S. 236-237.<br />
Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem<br />
Drange des Schicksals, durch eine allwebende<br />
Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst<br />
ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem<br />
himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder einzelne<br />
genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert<br />
aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, uns<br />
seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum - es<br />
ist diese: ein Mensch zu sein." 9<br />
Nach der klassischen Periode folgen<br />
einige neue Anschauungen des Dramas, die<br />
auf die tiefgreifenden Änderungen der<br />
Theorie im <strong>20</strong> Jh. hinausdeuten. Die ersten<br />
Unterschiede erwiesen sich schon bei der<br />
romantischen Anschauung, von August<br />
Wilhelm Schlegel in seinem Aufsatz über<br />
dramatische Kunst und Literatur. Hier finden<br />
wir eigentlich schon den zugrundeliegende<br />
Unterschied zwischen der klassischen Kunst<br />
und der neuen, in diesem Fall romantischen<br />
Kunst: Schlegel charakterisiert die alte Kunst<br />
als "rhythmischen Nomos, eine harmonische<br />
Verkündigung der auf immer festgestellten<br />
Gesetzgebung einer schön geordneten und<br />
die ewigen Urbilder der Dinge in sich abspiegelnden<br />
Welt" 10 und die romantische<br />
Kunst als "Ausdruck des geheimen Zuges zu<br />
dem immerfort nach neuen und wundervollen<br />
Geburten ringenden Chaos, welches<br />
unter der geordneten Schöpfung, ja in ihrem<br />
Schosse sich verbirgt" 11 .<br />
So gut begründet ihre theoretischen<br />
Grundlagen auch waren, nahmen die<br />
Romantiker jedoch keinen direkten Einfluß<br />
auf das Drama. Die Neuerungen, die sich zu<br />
der Zeit ereignen, beziehen sich lediglich auf<br />
das Aufblühen der Regisseur-Funktion, beziehungsweise<br />
betrifft hauptsächlich die Inszenierungen.<br />
Auch später im Anschluß an<br />
die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft<br />
und die Historienwidmung, begann<br />
man auch in der Inszenierung der klassischen<br />
Stücke möglichst naturgetreu<br />
vorgehen zu wollen. Die immer komplizierteren<br />
ästhetischen Ansichten richteten<br />
sich auf die Dramentheorie aus. So beschäftigte<br />
sich zum Beispiel im Jahre 1844<br />
Friedrich Hebbel in seinem Aufsatz Mein<br />
9 ebd. S. 238.<br />
10 Schlegel, August Wilhelm Über dramatische Kunst<br />
und Literatur in Staehle, Ulrich (hrsg.) Theorie des<br />
Dramas, Stuttgart, Philipp Reclam jun., <strong>19</strong>92, S. 53.<br />
11 ebd. S. 54.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 165
Wort über das Drama mit den Unterschieden<br />
zwischen Kunst und Leben und der neuen<br />
Aufgabe der darstellenden Kunst. Seiner<br />
Auffassung nach ist Kunst "des Lebens<br />
reinste Form und sein höchster Gehalt" 12 .<br />
Aber das Leben selbst ist Hebbels Auffassung<br />
nach etwas zwischen Sein und<br />
Werden, demnach müssen für die Kunst<br />
Gegenwart und Zukunft gleichbedeutend<br />
sein. Das Drama soll also den Lebensprozeß<br />
als Gegenüberstellung Individuum/Ganzes<br />
auffassen. Es soll sowohl das Veränderliche<br />
um den Menschen herum darstellen,<br />
während die Natur dieselbe bleibt, als auch<br />
das, was ewig so bleibt, die "ewige Wahrheit"<br />
13 . Das Drama braucht die Geschichte,<br />
weil sie die Atmosphäre der Zeit mitveranschaulicht.<br />
Georg Büchner nimmt auch diesen<br />
Aspekt in seinen Brief an die Familie auf<br />
und erkennt die erzieherische Rolle der im<br />
Drama abgebildeten Geschichte. Schiller<br />
greift er in seinen erzieherischen Absichten<br />
an, denn Büchners Meinung nach seien seine<br />
Charaktere keine wirklichen gewesen. Diese<br />
sollten wirklichkeitsgetreu dargestellt werden,<br />
und dem Zuschauer kommt die Rolle<br />
zu, aus deren Beobachtung zu lernen wie aus<br />
dem Studium der Geschichte.<br />
Mit Absicht lasse ich an dieser Stelle<br />
andere Theoretiker aus (Georg Kaiser,<br />
August Strindberg, u.a.), die durch ihre<br />
Werke auch zur Entstehung des modernen<br />
Theaters beitrugen, um einen Sprung zu dem<br />
Namen zu wagen, der es als erster schaffte,<br />
das Drama völlig neu zu betrachten: Bertold<br />
Brecht. Wenn wir heute, als moderne Leser,<br />
uns mit Brechts Texten befassen, erscheinen<br />
uns seine Schlußfolgerungen so logisch und<br />
selbstverständlich, als daß wir fast geneigt<br />
wären dabei zu vergessen, was es für die<br />
damalige ästhetische Auffassung bedeutete.<br />
Brecht selbst führt die Gründe an, die zur<br />
Entstehung des epischen Theaters beigeführt<br />
haben: die technischen Errungenschaften,<br />
komplexe menschliche Beziehungen, da die<br />
Psychoanalyse aufblüht, das Auftauchen des<br />
neuen Begriffs der Umwelt. Alles im Ganzen<br />
wird das Leben der Menschen komplexer<br />
und verlangt nach neuen, komplizierteren<br />
12 Hebbel Friedrich Mein Wort über das Drama, in<br />
Staehle Ulrich (Hrsg.) Theorie des Dramas, Stuttgart,<br />
Reclam, Universal Bibliothek, <strong>19</strong>92, S. 58.<br />
13 ebd. S. 59.<br />
166<br />
Daniela Ionescu<br />
Formen der Kunst. Der moderne Mensch<br />
denkt über sich selbst und seine Umwelt<br />
nach, demnach muß ihm keine Kopie<br />
menschlicher Gestalten oder Begebenheiten<br />
vor die Augen geführt werden, sondern nur<br />
Schauspieler, die all dies darstellen. Anstelle<br />
von Mitleid und Furcht treten nun Hilfsbereitschaft<br />
und Wissensbedürfnis, an die<br />
des Helden, der das Schicksal in sich trägt,<br />
treten nun solche auf, bei denen nichts<br />
bekannt oder einleuchtend ist und bei denen<br />
deshalb die Einfühlung nicht mehr möglich<br />
ist, sondern nur Beobachtung.<br />
Diese Verwandlung läßt sich auch nicht<br />
nur alleine durch die Evolution der Menschheit<br />
rechtfertigen, sondern auch noch mit der<br />
großen Konkurrenz: das Kino.<br />
"Die Menschheit hatte nicht auf das Kino gewartet.<br />
Es entsprang keinem kommunikativen Bedürfnis und<br />
keinem Kultus, wie das Theater, die Musik oder die<br />
Malerei. Das Kino war Zufallsprodukt des technischen<br />
Fortschritts und wäre wohl ohne das Profitstreben<br />
der sich gleichzeitig entwickelnden<br />
Filmindustrie nur eine technisch-wissenschaftliche<br />
Spielerei geblieben. Das filmische Kunstwerk mußte<br />
sich seine spezifische Öffentlichkeit und seine eigenständige<br />
künstlerische Sprache erst schaffen. So ist es<br />
kaum verwunderlich, daß die Theaterwelt - wie<br />
übrigens die gesamte Kulturszene - dem neuen Medium<br />
zunächst keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Als<br />
technisches Kuriosum hatte es seinen Platz auf<br />
Rummelplätzen und in Kneipen und zog ein fast<br />
ausschließlich plebejisches Publikum an." 14<br />
Doch die Entwicklung erfolgte rasch und<br />
die Filmgesellschaften erkannten frühzeitig<br />
die Zeichen der Zeit. Von hier und bis zum<br />
Übergriff auf das kulturelle Besitztum des<br />
Theaters war es nur noch ein kleiner Schritt.<br />
Beim Kino blieb es nicht dabei, denn schon<br />
bald entdeckte man, daß nicht Theaterverfilmungen<br />
die Publikumsrenner sind.<br />
Im <strong>20</strong>. Jahrhundert wurde "Kommunikation"<br />
zum Schlagwort:<br />
"Wir leben im Zeitalter der neuen Medien. Film,<br />
Fernsehen und Computer haben das Freizeitverhalten<br />
der Menschen auf der ganzen Welt entscheidend verändert<br />
und die alten Medien - Literatur, Malerei und<br />
Theater -, wenn auch nicht verdrängt, so doch in ihrer<br />
Eigenschaft als Vermittler zwischen Mensch und<br />
Umwelt zu einem kostspieligen (aber zum Glück auch<br />
oft genug noch köstlichen) Luxus gemacht. Jahrhundertelang<br />
hatten in Europa Schauspieler, Theaterunternehmer<br />
und Dramatiker gegen kirchliche und<br />
14 Gronemeyer, Andrea Theater, Du Mont<br />
Buchverlag, Köln, <strong>19</strong>95, S. 128-129.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Zu einigen Aspekten der Dramentheorie in der deutschen Literatur<br />
staatliche Zensur für ihre Kunst und die gesellschaftliche<br />
Anerkennung ihres Berufstandes gekämpft.<br />
Zu Beginn des <strong>20</strong>. Jahrhunderts erfuhr das<br />
Theaterwesen tatsächlich die lang ersehnte Würdigung<br />
sowohl als autonome Kunstform. Wie auch als<br />
Medium, mit dem man verändernd in die gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit einzugreifen können glaubte.<br />
Das künstlerische und politische Avantgarde Theater<br />
des frühen <strong>20</strong> Jahrhunderts setzte große Erwartungen<br />
in seine Fähigkeit, bei der Schaffung einer neuen,<br />
dem gesellschaftlichen Wandel entsprechenden Kultur,<br />
maßgeblich mitzuwirken. Doch in der Konkurrenz<br />
mit den Massenmedien Film und Fernsehen<br />
geriet das Theater, vormals beliebteste Unterhaltungsform<br />
aller sozialen Schichten, Hoffnungsträger der<br />
emanzipatorischen Bewegung und Statussymbol der<br />
bürgerlichen Gesellschaft scheinbar ins Abseits." 15<br />
Die Form des Theaters geriet sodann<br />
immer wieder in Verwandlungen, die bis<br />
heute auf immer komplexere Darbietungen<br />
ausgerichtet sind. Das Avantgarde Theater<br />
oder das folgende Absurde Theater bilden<br />
Kapitel für sich, die nur zu wenig in ein paar<br />
Worten dargestellt werden können. Sie entspringen<br />
einer auf den Kopf gestellten<br />
Logik, falschen Schlußfolgerungen und<br />
freien Assoziationen. Im neuen Theater gibt<br />
es keine nennenswerte Handlung oder<br />
Intrigen mehr, es gibt keine Figuren, die man<br />
als Charaktere bezeichnen könnte, sondern<br />
eher als Marionetten, es gibt weder Anfang<br />
noch Ende und die Stücke selbst scheinen<br />
Spiegelbilder von Träumen oder Angstvorstellungen<br />
zu sein. Das einzige was bleibt ist<br />
ein, auf den ersten Blick, zusammenhangloses<br />
Geschwätz. Diese Art von Theater ist<br />
auf jeden Fall Exponent unserer Evolution,<br />
Produkte des neuen, modernen rationalen<br />
Menschen, über den Freud sagte:<br />
"Die Lust am Unsinn hat ihre Wurzeln in dem Gefühl<br />
der Freiheit, das uns überkommt, wenn wir die<br />
Zwangsjacke der Logik ablegen können" 16 .<br />
Der Impakt dieser Neuerungen ist so<br />
groß, daß inzwischen nicht nur die neuen<br />
Texte modern auf der Bühne aufgeführt<br />
werden, sondern auch Klassiker wie zum<br />
Beispiel Shakespeare. Und ich möchte diesbezüglich<br />
meinen Vortrag mit einem Zitat<br />
von Simon McBurney, dem Regisseur des<br />
Londoner Ensembles "Théâtre de Complicité",<br />
beenden:<br />
15 ebd. S. 132-133.<br />
16 Freud, Sigmund in Esslin Theater des Absurden, S.<br />
260.<br />
"Theater passiert immer in der Gegenwart, nicht in<br />
der Zukunft, wie der Film, wo es nur wichtig ist, was<br />
als nächstes passiert. Theater passiert jetzt in diesem<br />
Moment, und dann ist es vorbei und kann nicht festgehalten<br />
werden- außer in unserer Erinnerung. Das ist<br />
das Altmodische und das Großartige am Theater, daß<br />
es die Gegenwart behauptet und wichtig nimmt in<br />
einer Gesellschaft, die die Gegenwart abgeschafft hat.<br />
Unsere Gesellschaft kennt nur die Vergangenheit und<br />
die Zukunft - meine Investition von gestern wird mir<br />
morgen Profit bringen -, und deshalb will eine Gesellschaft,<br />
die nur ein einziges Ziel kennt, nämlich das<br />
Kapital und seine Vermehrung, nichts mehr vom<br />
Theater wissen. Aber dieser extreme Materialismus<br />
hat eine soziale Wüste geschaffen, und die Menschen<br />
mit ihrem Bedürfnis, zusammen zu sein und etwas zu<br />
erleben, brauchen das Theater dringender denn je.<br />
Theater ist wie Wasser und Brot." 17<br />
L i t e r a t u r ( e i n e A u s w a h l ) :<br />
1. FRIEDLÄNDER, Paul (Hrsg.), Schiller Ein<br />
Lesebuch unserer Zeit, Weimar, Thüringer<br />
Volksverlag, <strong>19</strong>53<br />
2. ESSLIN, Martin, Das Theater des Absurden,<br />
Frankfurt am Main, Athenäum Verlag, <strong>19</strong>65<br />
3. FISCHER-LICHTE, Erika, Kurze Geschichte<br />
des deutschen Theaters, Tübingen, Francke<br />
Verlag, <strong>19</strong>93<br />
4. GLASER, Hermann (Hrsg.) Wege der<br />
Deutschen Literatur-Ein Lesebuch, Ullstein<br />
Verlag, Frankfurt am Main, <strong>19</strong>75<br />
5. GRONEMEYER, Andrea, Theater, Köln,<br />
DuMont, <strong>19</strong>95<br />
6. LESSING, Gotthold Ephraim, Schriften, Bd.<br />
1-3, Frankfurt am Main, Insel, <strong>19</strong>67<br />
7. STAEHLE, Ulrich Theorie des Dramas,<br />
Stuttgart, Philipp Reclam jun., <strong>19</strong>92<br />
17 Gronemeyer, Andrea Theater, Du Mont<br />
Buchverlag, Köln, <strong>19</strong>95, S. 171.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 167
ICH, KÖRPER, HIRN, TIER, TOD, STADT, MASSE, WENDE, ZEIT – ZUR<br />
LYRIK DURS GRÜNBEINS<br />
In dieser barocken Titelzeile sind die<br />
wichtigsten lyrischen Themen des heute<br />
38jährigen Dichters versammelt, der im<br />
Jahre <strong>19</strong>95 mit dem Georg-Büchner-Preis<br />
ausgezeichnet wurde. All diese Themen sind<br />
in Grünbeins dichterischem Werk derart<br />
enggeführt, daß sie sich in zahlreichen Gedichten<br />
wechselseitig intensivieren und in<br />
ihnen nicht selten als Themencluster zur<br />
Sprache kommen. Wenn sich die folgenden<br />
Ausführungen nun auf das Thema der Großstadt<br />
in Grünbeins Lyrik konzentrieren, so ist<br />
dies nicht restriktiv, sondern vielmehr inklusiv<br />
zu verstehen: im Großstadtthema<br />
spiegeln sich die Zentralmetaphern von<br />
Grünbeins Lyrik und gestalten dieses zugleich<br />
durch ihre jeweils unterschiedliche<br />
Fokussierung. Im Gedicht In Tunneln der U-<br />
Bahn 1 beispielsweise finden sich Formulierungen,<br />
die - ohne im folgenden eigens<br />
kommentiert zu werden - diese thematisch<br />
intensivierende Engführung gleichwohl<br />
bestätigen: „und wer war ich: / ein genehmigtes<br />
Ich“; „Eine träge Masse war ich, /<br />
ein Passagier, / unter Tiermasken flüchtig“;<br />
„Fleisch tätowiert von Tabus“; „Schwitzendes<br />
Fleisch in Kolonnen“; „auf dieser<br />
Fahrt / unterm Nachtrand / an leeren Stationen<br />
vorbei, / Mit dem Suchbild der Toten“;<br />
„Passagen durchgeistert vom Taucherblick /<br />
eines schläfrigen Fahrgasts“; „So beruhigt,<br />
so verwirrt / hinter vermauerter Stirn“; „Ortlos,<br />
zeitlos, / als seist du / verdammt durch<br />
Geschichte / Zu eilen“; „Und siehst dich<br />
geschlagen / im Graubrotstaub / des enteigneten<br />
Alltags / Eines kleinen Mannes in<br />
Deutschland“ (Sch 113-117).<br />
1 Durs Grünbein, Von der üblen Seite. Gedichte<br />
<strong>19</strong>85-<strong>19</strong>91, Frankfurt am Main <strong>19</strong>94, S. 113-117. In<br />
der bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ‘Von der<br />
üblen Seite’ sind die beiden ersten Gedichtbände Grünbeins<br />
‘Grauzone morgens’ (<strong>19</strong>88) und ‘Schädelbasislektion’<br />
(<strong>19</strong>91), die jeweils erstmals bei Suhrkamp publiziert<br />
wurden, enthalten. Diese beiden Gedichtbände<br />
werden im Text mit den Seitenzahlen aus ‘Von der<br />
üblen Seite’ zitiert, und zwar mit folgenden Abkürzungen:<br />
‘Grauzone morgens’ = Gm; ‘Schädelbasislektion’ = Sch.<br />
Markus Fischer<br />
In seinem <strong>19</strong>94 erstmals in der FAZ erschienenen<br />
Essay Vulkan und Gedicht 2<br />
bringt Durs Grünbein sein poetisches Initiationserlebnis<br />
mit einer Großstadt in Verbindung,<br />
genauer gesagt mit seiner Heimatstadt<br />
Dresden, dem „Barockwrack an der<br />
Elbe“ (Sch <strong>19</strong>4), wo er <strong>19</strong>62 geboren worden<br />
war und aufwuchs. Der Müll- und<br />
Schuttberg vor den Toren Dresdens wird<br />
dem jungen Dichter zur lyrisch-historischen<br />
Fundgrube:<br />
"Mit siebzehn stieg ich zum letztenmal auf den<br />
Müllberg, der nun auch meinem Unbewußten ein<br />
Synonym geworden war für Dreck, Ungeziefer,<br />
Krankheit und Tod. Unter den Schichten jahrzehntelang<br />
aufgeschütteten Mülls, so besagte die Chronik,<br />
lag das Alte Dresden, im Weltkrieg zerstört, ein<br />
barockes Pompeij. Hier am nördlichen Stadtrand<br />
hatte man seine Trümmer zu einem riesigen Tafelberg<br />
aufgetürmt, die gestürzten Kirchenportale über die<br />
leeren Balkone, die Emporen zerbombter Theater<br />
über Rümpfe brandgeschwärzter Statuen. Und als<br />
hätte der glorreiche Schutt alles spätere nach sich gezogen,<br />
war seither sämtlicher Müll aus den Wohnhäusern<br />
hierher geschafft worden, abgelagert auf dem<br />
Ruinenkehricht einer untergegangenen Stadt.<br />
Damals hatte ich angefangen, mir Notizen zu<br />
machen, kleine emphatische Schreibereien, die wie<br />
Gedichte aussahen und nur im engsten Kreis vorzeigbar<br />
waren." 3<br />
Vulkan und Stadt, die in der Antike als<br />
Vesuv und Pompeij noch geschieden waren,<br />
werden in Grünbeins postmoderner Sichtweise<br />
identisch und gleichsam austauschbar.<br />
Dresden wird zum Vulkan und speit seine<br />
Trümmer in die Umgebung, verschüttet seine<br />
Geschichte schließlich unter seinem eigenen<br />
Müll. Der Müllberg seinerseits wird zur<br />
Stadt, der unter den Auswürfen der Industrie<br />
und den Ausstößen der Warenwelt, unter<br />
dem niedergehenden Ascheregen der Zivilisation<br />
Geschichte, Leben, Erinnerung birgt.<br />
Der Archäolyriker Grünbein wendet sich<br />
2 Wieder abgedruckt in: Durs Grünbein, Galilei vermißt<br />
Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen.<br />
Aufsätze <strong>19</strong>89-<strong>19</strong>95, Frankfurt am Main <strong>19</strong>96, S. 35-<br />
39.<br />
3 Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, (Anm. 2), S. 38f.
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
dieser unter zivilisatorischer Lava begrabenen,<br />
konservierten und versiegelten Wirklichkeit<br />
zu:<br />
„Das wenige, worauf später die Spitzhacke stößt,<br />
der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers,<br />
dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte<br />
sind.“ 4<br />
So wie sich im Bilde jenes Müllberges<br />
Ausgeworfenes und Verschüttetes bis zur<br />
Ununterscheidbarkeit vermengen, so ist auch<br />
die Sprache und die Poetik des postmodernen<br />
Lyrikers notgedrungen jener Ambiguität<br />
unterworfen. Mit Blick auf die antike<br />
Poetik unter den Bedingungen der Postmoderne<br />
kommt Grünbein denn auch zu folgendem<br />
Schluß:<br />
„Das Horazische decorum wäre dann beides, der<br />
zivilisatorische Auswurf und jene Lava, in der die<br />
Ersten Augenblicke, Dinge und Gesten, Szenen und<br />
Gedanken konserviert sind gleich überraschten<br />
Lebewesen.“ 5<br />
Für den politisch und zeitdiagnostisch<br />
aufmerksamen wie kritischen poeta doctus<br />
Durs Grünbein stellt die antike Tradition,<br />
namentlich Horaz, Lukrez und Juvenal, einen<br />
unauslöschlichen Bezugsrahmen seines Werkes<br />
dar. Heiner Müller hat dies in seiner<br />
Laudatio auf Durs Grünbein anläßlich der<br />
Verleihung des Georg-Büchner-Preises <strong>19</strong>95<br />
noch einmal betont:<br />
„Es ist keine Koketterie, wenn Grünbein behauptet,<br />
daß Juvenal ihm näher steht, der Autor einer anderen<br />
Endzeit mit dem kalten Blick auf einen barbarischen<br />
Neubeginn, auf die teuren Toten und die billigen<br />
Tode.“ 6<br />
So trägt denn auch der jüngste, <strong>19</strong>99 erschienene<br />
Gedichtband Grünbeins nicht von<br />
ungefähr den Titel Nach den Satiren. 7 Er<br />
4<br />
Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, (Anm. 2), S.<br />
39.<br />
5<br />
Ebd.<br />
6<br />
Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />
Grenzhund. Laudatio auf Durs Grünbein, in: Deutsche<br />
Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch <strong>19</strong>95,<br />
Darmstadt <strong>19</strong>96, S. 174-176; hier: S. 175.<br />
7<br />
In seinen Anmerkungen zu diesem Gedichtband<br />
gibt Grünbein folgende Erläuterung des Titels: „Nach<br />
den Satiren, das war, wenn alles gesagt und durchgekaut<br />
war, der Heimweg, der Katzenjammer, die Zeit der<br />
Gedankenspiele und der Verdauung. Während der Magen<br />
arbeitete, kehrten die mit vollem Munde ver-spotteten<br />
Dämonen langsam zurück. Die meisten Todesfälle<br />
unter den reichen Römern traten während der Nacht<br />
oder am Morgen nach solcher fetten Mahlzeit ein. Nach<br />
stellt einen bewußten Rückgriff auf die<br />
Satiren des Juvenal dar, und zwar in einem<br />
mehrfachen Sinne: er kennzeichnet zum<br />
einen die Situation des Nachgeborenen, der<br />
sich zeitlich später auf die vorhandene Tradition<br />
bezieht; er kennzeichnet außerdem die<br />
Situation dessen, der sich über die Zeiten<br />
hinweg mit dem spät- und endzeitlichen Denken<br />
eines anderen Dichters identifiziert und<br />
nach, d.h. gemäß dessen Satiren zu dichten<br />
sich anschickt; er kennzeichnet schließlich<br />
die Situation des postmodernen Dichters, der<br />
auch nach den Nihilismen der Moderne noch<br />
nach lyrischen Worten sucht, er kennzeichnet<br />
- mit den Worten Heiner Müllers - „die<br />
Generation der Untoten des kalten Krieges,<br />
die Geschichte nicht mehr als Sinngebung<br />
des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur<br />
noch als sinnlos begreifen kann.“ 8<br />
In seinen Satiren hat Juvenal das Gift<br />
maßloser Verdammung über alle Bereiche<br />
der damaligen Zivilisation ausgegossen. Insbesondere<br />
die Ewige Stadt, die er allerdings<br />
selten verließ, bildete die immerwährende<br />
Zielscheibe seines beißenden Spotts und<br />
zugleich die ubiquitäre Kulisse für sein<br />
ceterum censeo, es sei difficile saturam non<br />
scribere. Vor allem in Juvenals dritter Satire,<br />
der Grünbein das Motto 9 für seine eigene<br />
erste entnommen hat, kommt die Verachtung<br />
des Großstadtlebens ungehemmt zur Sprache.<br />
Es heißt da bei Juvenal:<br />
„Welcher Ort ist so elend, so einsam, daß nicht<br />
schlimmer wäre die ständige Angst vor Bränden, vor<br />
dauerndem Einsturz von Häusern, vor den tausend<br />
Gefahren der grausamen Stadt und vor Dichtern, die<br />
im August öffentlich vortragen?“ 10<br />
Mehrmals wird Juvenal von Grünbein in<br />
seiner ersten Satire namentlich genannt, und<br />
zwar in identifikatorischer Absicht: Juvenalis<br />
erscheint dem lyrischen Ich als der Ahnherr<br />
den Satiren, - kamen die üblen Schatten zurück, die<br />
Sarkasmen, Grund für die Schlaflosigkeit. Überall<br />
Knochen und Rülpser, und die schöne Zeit war vorbei.“<br />
(Durs Grünbein, Nach den Satiren, Frankfurt am Main<br />
<strong>19</strong>99, S. 223). ‘Nach den Satiren’ wird im Text mit der<br />
Sigle ‘NdS’ abgekürzt.<br />
8 Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />
Grenzhund, (Anm. 6), S. 174.<br />
9 Es lautet: „In der Stadt zu schlafen kostet viel Geld,<br />
/ Davon rühren alle Übel her.“ (NdS 93).<br />
10 Juvenal, Satiren, Stuttgart <strong>19</strong>94, S. 27.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 169
„urbaner Widergänger“ 11 (NdS 95), „Hunderte<br />
Leben seit Juvenalis“ (NdS 96) steht<br />
das lyrische Ich nun selbst inmitten des Getriebes<br />
der modernen Großstadt und registriert<br />
die in ihr waltenden und von ihr ausgehenden<br />
Gefahren.<br />
Nicht nur Juvenal, sondern eine ganze<br />
Ahnenreihe von Dichtern begleitet Grünbeins<br />
lyrisches Ich durch die Labyrinthe der<br />
Metropolen. Das Gedicht Grauzone morgens<br />
aus Grünbeins gleichnamigem erstem Lyrikband<br />
wendet sich mit seinen Anfangszeilen<br />
„Grauzone morgens, mon frère, auf dem /<br />
Weg durch die Stadt / heimwärts / oder zur<br />
Arbeit (was macht das schon)“ (Gm 10) an<br />
den Leser wie einst Baudelaire in seinem<br />
Widmungsgedicht zu Les Fleurs du Mal mit<br />
dem berühmten Schlußvers: „- Hypocrite<br />
lecteur, - mon semblable, - mon frère!“ 12<br />
Neben Baudelaire sind es vor allem Edgar<br />
Allan Poe, Walt Whitman, Ezra Pound,<br />
James Joyce, Thomas Stearns Eliot und<br />
William Seward Burroughs, die in der<br />
Sekundärliteratur 13 als literarische Vorbilder<br />
Grünbeins - nicht zuletzt in Bezug auf die<br />
Großstadtthematik - zu Recht immer wieder<br />
genannt werden. So findet sich im gesamten<br />
Werk Grünbeins eine Fülle von Zitaten, Anspielungen<br />
und intertextuellen Bezügen, die -<br />
vergleichbar etwa der wissenschaftlichen Beschäftigung<br />
mit der Dichtung Paul Celans -<br />
den Kommentar zur unabdingbaren Voraussetzung<br />
der Interpretation und der Kritik<br />
machen. In Grünbeins oben bereits erwähnter<br />
erster Satire beispielsweise identifiziert sich<br />
das die Großstadtwelt registrierende lyrische<br />
Ich unter anderem mit einem, der „Verse auf<br />
eine Banknote schrieb“ (NdS 98): diese<br />
Wendung spielt auf Hugo von Hofmannsthals<br />
Gedicht Verse, auf eine Banknote ge-<br />
11 Im Wort „Widergänger“ schwingt freilich auch der<br />
Revenant, der Wiedergänger mit.<br />
12 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, übers. v.<br />
Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart <strong>19</strong>80, S. 8.<br />
13 Vgl. z.B.: Verleihung des Bremer Literaturpreises<br />
<strong>19</strong>92. Ror Wolf, Durs Grünbein, Laudationes und Dankesworte,<br />
Bremen <strong>19</strong>92; Franz Josef Czernin, Falten<br />
und Fallen. Zu einem Gedichtband von Durs Grünbein,<br />
in: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, <strong>Nr</strong>. 45, Mai<br />
<strong>19</strong>95, Essen <strong>19</strong>95, S. 179-188; Durs Grünbein, Kurzer<br />
Bericht an eine Akademie, in: Deutsche Akademie für<br />
Sprache und Dichtung, Jahrbuch <strong>19</strong>95, Darmstadt<br />
<strong>19</strong>96, S. 185-188.<br />
170<br />
Markus Fischer<br />
schrieben an und ruft insbesondere dessen<br />
dritte Strophe ins Gedächtnis:<br />
Doch manchmal, ohne Wunsch, Gedanke,<br />
/Ziel,<br />
Im Alltagstreiben, mitten im Gewühl<br />
Der Großstadt, aus dem tausendstimmigen<br />
/Chor,<br />
Dem wirren Chaos, schlägt es an mein<br />
/Ohr<br />
Wie Märchenklang, waldduftig, nächtig<br />
/kühl,<br />
Und Bilder seh ich, nie geahnt zuvor. 14<br />
Inwieweit dieses intertextuelle Spiel in<br />
Grünbeins Lyrik - wie noch in der Dichtung<br />
der Moderne - semantische Strukturen zu<br />
transportieren und geistige Horizonte wachzurufen<br />
in der Lage ist, oder ob Tradition,<br />
wie etwa Franz Josef Czernin 15 kritisch anmerkt,<br />
bei Grünbein zum bloßen Verfahren<br />
degradiert und zur postmodernen Designer-<br />
Droge umfunktioniert wird, mag sich am<br />
einzelnen Gedicht erweisen. Für uns steht<br />
zunächst jedoch nicht diese literaturkritische<br />
Frage im Vordergrund der Betrachtung, sondern<br />
die Großstadtthematik und damit<br />
zusam-menhängend die Frage der Einordnung<br />
des Grünbeinschen Oeuvres in die Tradition<br />
deutscher Großstadtlyrik.<br />
Vor allem drei Großstädte sind es, die in<br />
Grünbeins lyrischem Werk eine zentrale<br />
Rolle spielen: seine Heimatstadt Dresden,<br />
seine Wahlheimatstadt Berlin, in die er <strong>19</strong>85<br />
übergesiedelt war, und New York, für den in<br />
der DDR geborenen Poeten in potenziertem<br />
Maße Inbegriff einer westlichen Megalopolis.<br />
Alle drei Städte hat Grünbein mit<br />
Essays 16 bedacht: die Stadt seiner Kindheit<br />
und Jugend mit dem Essay Chimäre Dresden,<br />
die Stadt seines poetischen Werkes 17<br />
14 Hugo von Hofmannsthal, Gedichte. Dramen I<br />
(1891-1898), hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit<br />
Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main <strong>19</strong>79, S. 94.<br />
15 Vgl. Anm. 13.<br />
16 Wieder abgedruckt in dem in Anm. 2 erwähnten<br />
Essayband (S. 129-151).<br />
17 In ‘Transit Berlin’ bezeichnet Grünbein es als<br />
unsinnig, angesichts der ubiquitären Transitorik noch<br />
von einem Werk zu sprechen: „Sprachlich hat es, gerade<br />
wegen seiner Polyvalenz, jeglichen Zusammenhang<br />
verloren, doch als Fragment, Ereignis, Willkürakt,<br />
Durchsage einer Einzelstimme im Gewirr beansprucht<br />
es den ganzen Stellenwert eines ‘moment juste’“ (Anm.<br />
16, S. 143).<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
mit dem Essay Transit Berlin und mit seinem<br />
Essay Manhattan Monolog die Stadt, in und<br />
mit der er den Osten wie den Westen gleichermaßen<br />
zu überwinden sich vorgenommen<br />
hatte. Freilich kommen auch andere<br />
Städte in seinen Gedichten zur Sprache, Los<br />
Angeles beispielsweise, Moskau, Paris, Rom<br />
und vor allem Venedig in seinem an die<br />
große Tradition deutscher Venedig-Dichtung<br />
anknüpfenden Zyklus Veneziana aus Nach<br />
den Satiren. Zahlreiche Gedichte lassen sich<br />
zudem keiner bestimmten Stadt zuordnen, sie<br />
haben einfach die Großstadt als solche zum<br />
Gegenstand mit ihrem ganzen Arsenal an<br />
Themen, die seit dem Ausgang des <strong>19</strong>.<br />
Jahrhunderts in die deutsche Literatur Einzug<br />
gehalten haben. Die Industrie- und Sozialkritik<br />
des Naturalismus, ergänzt durch die<br />
zeitgenössische ökologische Komponente, ist<br />
in Grünbeins Gedichten ebenso präsent wie<br />
die eskapistische und dadurch gleichwohl bedeutsame<br />
Tradition des Ästhetizismus, man<br />
denke beispielsweise an das Einer Gepardin<br />
im Moskauer Zoo (NdS 55) gewidmete<br />
Poem, das eine lyrische Antwort auf Rilkes<br />
Der Panther darstellt, oder auch an die Fünf<br />
Impromptus (NdS 133-141), von denen das<br />
Yoni betitelte zweite ebenfalls auf ein Gedicht<br />
Rilkes, das Sonett Die Fensterrose,<br />
antwortet. Die Blüte der deutschen Großstadtlyrik,<br />
die expressionistische Großstadtdichtung,<br />
manifestiert sich bei Grünbein<br />
nicht nur in der Wiederaufnahme der Motive<br />
des Todes, des Verfalls, des Untergangs und<br />
des Weltendes, sondern auch im Rückgriff<br />
auf die Topoi der existenziellen Einsamkeit<br />
und der Anonymität in der Masse, wie diese<br />
vor allem in seinen zahlreichen U-Bahn-Gedichten<br />
in Erscheinung treten. Die Stadt als<br />
Ort der Vergnügung und der Verführung, wie<br />
sie aus der Großstadtlyrik der zwanziger<br />
Jahre bekannt ist, kommt bei Grünbein<br />
ebenso zur Geltung wie das schon im Expressionismus<br />
übliche Ensemble städtischer<br />
Treffpunkte und Begegnungsräume wie zum<br />
Beispiel Cafés und Hotels. Die Großstadtdichtung<br />
der Kriegs- und Nachkriegszeit mit<br />
ihrer Trümmer- und Ruinenthematik ist insbesondere<br />
in Grünbeins Gedichten auf und<br />
über Dresden präsent. Vor allem die Großstadtlyrik<br />
der sog. Alltagsdichter 18 , nament-<br />
18 Darauf weist u.a. auch Kurt Drawert in seiner<br />
Rezension zu ‘Schädelbasislektion’ hin; vgl. dazu: Kurt<br />
lich Nicolas Born, Jürgen Theobaldy und<br />
allen voran Rolf Dieter Brinkmann, stellt<br />
dann wieder einen literarhistorischen Fixpunkt<br />
in Grünbeins Oeuvre dar. Schließlich<br />
ist Grünbeins Großstadtdichtung ohne die<br />
politische Lyrik der Wendezeit, ohne den<br />
Prenzlauer Berg und die Reflexion auf die<br />
Problematik des posttotalitären Menschen <strong>19</strong><br />
schlechthin nicht denkbar.<br />
Nach diesem kurzen Überblick über die<br />
Großstadtdichtung Durs Grünbeins, ihre<br />
Themen, Vorbilder und literarischen Traditionen,<br />
wollen wir uns nun in einem zweiten<br />
Teil anhand von exemplarischen Interpretationen<br />
einzelnen ausgewählten Gedichten zuwenden.<br />
Im Vordergrund wird dabei neben<br />
der Großstadtthematik auch die literarische<br />
Entwicklung, die literaturkritische Wertung<br />
und die literaturgeschichtliche Bedeutung<br />
des viel geehrten und hoch gepriesenen jungen<br />
Dichters stehen. Die Anfänge Durs<br />
Grünbeins stehen im Zeichen der sog.<br />
Alltagslyrik. Sein Gedicht Eine einzige silberne<br />
Büchse (Gm 26) aus seinem ersten<br />
Lyrikband, das eine weggeworfene Sardinenbüchse<br />
zum Gegenstand hat, ist ganz im Ton<br />
dieser literarischen Strömung der siebziger<br />
Jahre gehalten. Während aber Rolf Dieter<br />
Brinkmann beispielsweise in seinem Gedicht<br />
Die Konservendose <strong>20</strong> auf jede Poetisierung<br />
des alltäglichen Dinges verzichtet - „[...] was<br />
// hat das zu be- / deuten, fragte / er, sie gab<br />
ihm / darauf keine Ant- // wort [...]“ 21 -,<br />
steigert Grünbein die Realität dieses weggeworfenen<br />
Müllobjekts, das er zunächst als<br />
„ziemlich / bedeutungsarm“ (Gm 26)<br />
charakterisiert, durch die ästhetisch über-<br />
Drawert, Die leeren Zeichen, in: neue deutsche literatur,<br />
40. Jg., 474. Heft, 6/92, Berlin, Weimar <strong>19</strong>92, S. 132-<br />
137.<br />
<strong>19</strong> Sibylle Cramer spricht in ihrer Laudatio anläßlich<br />
der Verleihung des Bremer Literaturpreises <strong>19</strong>92 an<br />
Durs Grünbein von der „Krise des Subjekts nach dem<br />
Zerfall des totalitären Staates und beim Eintritt in die<br />
mediale Kommunikationsgesellschaft des Westens“<br />
(Anm. 13, S. 29); der posttotalitäre Mensch ist einerseits<br />
dem Zugriff der Politik entzogen und andererseits<br />
noch nicht Beutetier der Medien geworden, oder, anders<br />
ausgedrückt, er ist noch kein „kapitalistischer Idiot und<br />
sozialistisches Staatstier“ (ebd.) nicht mehr!<br />
<strong>20</strong> In: Rolf Dieter Brinkmann, Künstliches Licht.<br />
Lyrik und Prosa, hg. v. Genia Schulz, Stuttgart <strong>19</strong>94, S.<br />
36.<br />
21 Ebd.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 171
höhenden Schlußverse: „sie allein / unter<br />
sovielem Strandgut / im Landesinneren hält<br />
schon // was dieser Morgen an Schönheit<br />
verspricht“ (Gm 26). Die Sardinenbüchse,<br />
idiomatisch bereits Metapher für Massenhaftigkeit,<br />
Eingesperrtsein und Enge, wird durch<br />
die Kennzeichnung als „Strandgut im Landesinneren“<br />
ein zweites Mal personifiziert:<br />
die Menschen in Grünbeins großstädtischer<br />
Grauzone - „eingesperrt in // überfüllte<br />
Straßenbahnen, gepanzert auf / engstem<br />
Raum“ (Gm 15) - sind Gefangene „unten am<br />
Schlammgrund der Straßen“ (Sch 109) auf<br />
ihren Wegen durch das Labyrinth der Großstadt.<br />
Allein die Sardine evoziert durch ihre<br />
Farbe (nicht grau, sondern silbern) und durch<br />
ihren natürlichen Lebensraum, das Meer,<br />
etwas, das diese Grauzonenlandschaft durchbricht:<br />
Schönheit und Weite. So wird das<br />
Alltagsgedicht über eine weggeworfene Konservenbüchse<br />
bei Grünbein zu einem Poem<br />
auf die Schönheit der Freiheit.<br />
Dieselbe Tendenz der Beerbung der Alltagslyrik<br />
im Ton bei gleichzeitiger Überwindung<br />
dieses Genres durch Semantisierung<br />
und Poetisierung wird auch in dem Gedicht<br />
Was alles klar wird (Gm 22) deutlich:<br />
172<br />
Was alles klar wird an so einem Morgen. Du<br />
bist noch immer<br />
derselbe wie gestern<br />
oder<br />
jedenfalls scheint es so, ganz<br />
egal was<br />
du selbst von dir hältst. (‘Lieber erstickt<br />
als erfroren’, sagen die<br />
Leute hier, aus Erfahrung.) In dieser<br />
Grauzonenlandschaft am Morgen<br />
ist vorerst alles ein<br />
toter Wirrwarr abgestandener Bilder, z.B.<br />
etwas Rasierschaum im<br />
Rinnstein, ein Halsband<br />
oder im Weitergehn ein Verbotsschild. Du<br />
fliegst nicht auf. Vor den letzten Ruinen<br />
haften Eltern für ihre<br />
Kinder (was hier so<br />
Brauch ist). Und schon<br />
bist du eingeschlossen<br />
geduldig im Leib des Tausendfüßlers, der<br />
seinen Gang geht.<br />
Entlang der Straßen tobt<br />
architektonischer Kalter Krieg, stalineske<br />
Fassaden, an denen noch immer<br />
Markus Fischer<br />
kein Riß sichtbar wird<br />
(Traum oder Trauma)<br />
schattenlos -<br />
wie der idiotische alte Zeppelin schwarz<br />
über ‘Europas Balkon’.<br />
Der unscheinbare Anfang des Gedichts<br />
läßt sogleich das Thema der Selbstvergewisserung<br />
des lyrischen Ichs anklingen. Die<br />
Identität dieses Ichs wird nicht von innen her<br />
konstituiert, sondern von außen aufgezwungen,<br />
was durch die sächsisch-humorvolle<br />
Redewendung „lieber erstickt als erfroren“<br />
und die durch sie evozierte drangvolle Enge<br />
in einer Masse auch bildhaft noch unterstrichen<br />
wird. Allein über die selektive Wahrnehmung<br />
von Details (Rasierschaum, Halsband,<br />
Verbotsschild) gelingt dem lyrischen<br />
Ich die indirekte und vermittelte Selbstaussage,<br />
die zudem gesellschaftlich verborgen<br />
bleibt: „Du // fliegst nicht auf“ heißt es in der<br />
exakten Mitte des Gedichts! Der Hiatus<br />
zwischen Vers 15 und 16, der das Gedicht<br />
dichotomisch gliedert, symbolisiert die leere<br />
Mitte, die fehlende Vermittlung von Ich und<br />
Gesellschaft. Der Doppelsinn des Wortes<br />
‘auffliegen’ bringt den Schutz des lyrischen<br />
Ichs durch seine Anonymität in der Masse,<br />
aber zugleich auch seine Unfreiheit zum<br />
Ausdruck, was im Bild des Tausendfüßlers<br />
zusätzlich hyperbolisch verdichtet wird. Das<br />
an jeder Baustelle angebrachte Verbotsschild<br />
‘Eltern haften für ihre Kinder’, ein alltäglicher<br />
Gegenstand, erhält durch seine spezifische<br />
Montage in diesem Gedicht einen<br />
anderen, zudem historischen Sinn: die ältere<br />
Generation haftet hier nicht dafür, was die<br />
jüngere anstellt, sondern sie haftet umgekehrt<br />
zum Wohle der jüngeren dafür, was sie selbst<br />
angestellt hat! Die historischen Details evozieren<br />
markante Punkte der Geschichte des<br />
<strong>20</strong>. Jahrhunderts: Zweiter Weltkrieg, Stalinismus,<br />
Sozialismus und Kalter Krieg. So wie<br />
in der Gegenwart dieses Gedichts Eltern<br />
immer noch nicht für ihre Kinder haften, so<br />
sind auch die Fassaden der Vergangenheit<br />
noch intakt. Vergangenheitsbewältigung findet<br />
nicht statt, nur als Traum erscheint das<br />
Trauma, Schattenlosigkeit als Schicksal.<br />
Über der Brühlschen Terrasse, dem ‘Balkon<br />
Europas’ schwebt wie ein Menetekel der<br />
Geschichte ein alter Zeppelin und zeigt<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
durch seine schiere Präsenz im Gedicht an,<br />
was alles klar wird an so einem Morgen in<br />
Dresden.<br />
Bereits in Grünbeins frühen Gedichten<br />
zeigt sich eine weitere Tendenz deutscher<br />
Gegenwartslyrik, die literaturgeschichtlich<br />
betrachtet bisher kaum eine Verbindung mit<br />
der Alltagsdichtung eingegangen ist, ja diese<br />
vielmehr auszuschließen schien: die auf<br />
Gottfried Benn fußende Tendenz zur bis ins<br />
Manieristische gehenden Sprachartistik. So<br />
hebt beispielsweise Hans-Jürgen Heise Grünbeins<br />
„Faible für die Wortkunst“ 22 hervor. Er<br />
bezeichnet außerdem Grünbeins Denken als<br />
kopflastig, hypertroph und solitär – Vorurteile,<br />
die man auch Benn gegenüber vorbrachte<br />
- und sieht in Grünbeins Vorliebe für<br />
Fremdworte und medizinische Fachbegriffe<br />
sowie im Zerebralen seiner Dichtung eine<br />
große Nähe zu Gottfried Benn. 23 So ist beispielsweise<br />
das Gedicht Singende Hirne (Sch<br />
218) ganz im Bennschen Ton abgefasst:<br />
Singende Hirne, mein Freund, verkapselt<br />
wie Mohn,<br />
Hoch montiert auf Stativen: Das sind wir -<br />
(O helles Walnußmark)<br />
Innen so fruchtfleischweich<br />
Außen so knochenstark;<br />
Antenne, Höhlung, Traumration.<br />
Benns „armer Hirnhund“ 24 ist in Grünbeins<br />
lyrischem Selbstbildnis, dem Portrait<br />
des Künstlers als junger Grenzhund (Sch<br />
175), ebenso gegenwärtig wie Benns Nachtcafé<br />
25 in Grünbeins Gedicht Zerebralis (Sch<br />
216; vgl. Gm 15), wo die Bennsche Synekdoche<br />
im Bild der bloßgelegten Gehirne<br />
kulminiert:<br />
Stell dir vor: Ein Café voller Leute, alle<br />
22 Hans-Jürgen Heise, S-Bahn-Surfing oder stilles<br />
Betrachten?, in: die horen. Zeitschrift für Literatur,<br />
Kunst und Kritik, 41. Jg., 3. Quartal <strong>19</strong>96, Heft 183, S.<br />
<strong>19</strong>3.<br />
23 Ähnlich auch Peter Hamm in seiner Lobrede auf<br />
Durs Grünbein mit dem Titel ‘Vorerst - oder: Der<br />
Dichter als streunender Hund’ in: manuskripte. Zeitschrift<br />
für Literatur 122/93, Graz <strong>19</strong>93, S. 103-106.<br />
24 Gottfried Benn, Untergrundbahn, in: Ders., Das<br />
Hauptwerk, Bd. 1: Lyrik, hg. v. Marguerite Schlüter,<br />
Wiesbaden, München <strong>19</strong>80, S. 31.<br />
25 Anm. 24, S. 18f.<br />
Mit abgehobenen Schädeldecken, Gehirn<br />
Bloßgelegt<br />
(Dieses Grau!) und dazwischen<br />
Nichts mehr was eine Resonanz auf den<br />
Terror ringsum<br />
Dämpfen könnte.<br />
Zahlreiche Kritiker 26 haben auf das große<br />
und schillernde Spektrum der lyrischen<br />
Redeweisen im Werk Durs Grünbeins hingewiesen.<br />
Da finden sich Strophengedichte,<br />
Oden, Lieder, freier Vers, reine Prosa, Gereimtes<br />
und Ungereimtes, kurze und lange<br />
Gedichte, verschiedenste Metra, Montagen,<br />
flächenhafte und zyklische Kompositionen.<br />
Tendenzen zur Hermetik und Abstraktion<br />
sind bei Grünbein ebenso zu beobachten wie<br />
eine starke poetologische Komponente. So<br />
heißt es beispielsweise in dem Fast ein Gesang<br />
(Gm 62-64) betitelten Gedicht: „Dann<br />
geht plötzlich alles / schief / du bist nur noch<br />
/ aufgelegt zu geduldigen / Elegien / montierst<br />
lustlos / ein bißchen an diesen /<br />
verbogenen Mobiles aus / Tele- / graphendrähten<br />
und altem / Gitterwerk“ (Gm 62);<br />
„Klar daß / fast jedes Gedicht dir / vor<br />
Müdigkeit schlaff wie / ein loses Spruchband<br />
zum / Hals heraushängt: / dieser Vers / so gut<br />
wie ein anderer / hier / auf einer Grautonskala“<br />
(Gm 62). Aber auch in anderen Gedichten<br />
Grünbeins, etwa im MonoLogische<br />
Gedichte überschriebenen Zyklus aus Grauzone<br />
morgens (Gm 71-81), der seinerseits<br />
wiederum auf Benns Diktum von der Monologizität<br />
der Lyrik verweist, wird die Reflexion<br />
auf das Entstehen und Verfertigen von<br />
Gedichten Teil des poetischen Prozesses.<br />
Manieristische Tendenzen zeigen sich<br />
bei Grünbein nicht nur im Alltagsgedicht,<br />
sondern auch in seiner politischen Lyrik. In<br />
seinen Sieben Telegrammen aus Schädelbasislektion<br />
beispielsweise, die sich allesamt<br />
auf die Wendemonate in der DDR vom Sturz<br />
Erich Honeckers im Oktober <strong>19</strong>89 bis zur<br />
Volkskammerwahl <strong>19</strong>90 beziehen, findet<br />
sich auch das Gedicht 12/11/89 (Sch 143),<br />
das die Tage nach der Maueröffnung reflektiert:<br />
Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist<br />
/offen jetzt.<br />
Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels<br />
26 Vgl. Anm. 13.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 173
174<br />
/Schmalland<br />
Vorbei wie das stählerne Schweigen...Heil<br />
/Stalin.<br />
Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern<br />
/verschanzt.<br />
Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede<br />
/geht anders.<br />
Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser<br />
/abgesackt.<br />
Revolutionsschrott en masse, die Massen<br />
/genasführt<br />
Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt<br />
/ein Gebet:<br />
Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs, bitt<br />
/für uns.<br />
Wie die Maueröffnung den Deutschen<br />
die Möglichkeit gab, zu einander und zu sich<br />
zu finden, so ist auch das Berlin-Gedicht, das<br />
seit fast einem halben Jahrhundert ein Gedicht<br />
über das geteilte Deutschland - um es<br />
mit den Worten Hans Magnus Enzensbergers<br />
zu sagen: ein Gedicht über „ein aufgetrenntes,<br />
inwendig geschiedenes herz“ 27 - zu<br />
sein verurteilt war, in diesem historischen<br />
Moment dazu aufgerufen, zu sich zu kommen,<br />
und zwar in einem doppelten Sinne: im<br />
Sinne des Austausches zwischen sozialistischem<br />
und kapitalistischem System, zwischen<br />
östlicher und westlicher Lebensart,<br />
aber auch im Sinne des Aufwachens aus<br />
einem Zustand der Bewußtlosigkeit und<br />
Lethargie. Der programmatische Anfang des<br />
Gedichts, der Aufbruchsstimmung und neue<br />
Horizonte verheißt, findet aber in Vers 3 ein<br />
jähes Ende an den drei Punkten, die eine<br />
Auslassung, einen Bruch, vielleicht aber<br />
auch nur ein blasiertes „und so weiter“<br />
markieren. „Heil Stalin“, Ausruf der Regression<br />
und Restauration, leitet die Wende<br />
im Gedicht ein: die bislang nur sparsam eingesetzten<br />
Alliterationen und Assonanzen<br />
werden in den folgenden Versen in manieristischer<br />
Weise potenziert. Die Sprache verselbständigt<br />
sich bis zum Stilbruch („die<br />
Uhren auf Touren“), die Phonetik gebiert die<br />
Semantik! Die im Brackwasser räubernden<br />
Kopffüßler sind abgesackt, die Nomenklatura<br />
auf Tauchstation gegangen, dennoch bleiben<br />
die Massen genasführt, obwohl die Tatsache,<br />
daß nun jede Uhr anders geht, auf den<br />
27 Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Gedichte,<br />
Frankfurt am Main <strong>19</strong>69, S. 11.<br />
Markus Fischer<br />
Gewinn von Individualität hindeutet. Statt<br />
revolutionärem Neubeginn und Vorwärtsdrang<br />
Revolutionsschrott und bankrotter<br />
Trott in Rotten. Die Anrufung Kim Il Sungs,<br />
des Inbegriffs kommunistischer Diktatur<br />
nach dem Ende des Kommunismus, in der<br />
Schlußzeile des Gedichts knüpft an das „Heil<br />
Stalin“ in Vers 3 an und vollendet mit einer<br />
Mixtur aus christlicher Fürbitte und antiker<br />
Erneuerungssymbolik das revolutionäre Potpourri,<br />
in dem sich Wende und Ende, Befreiung<br />
und Knechtschaft, Individualität und<br />
Masse manieristisch amalgamieren. Der<br />
Manierismus ist in diesem Gedicht Grünbeins<br />
jedoch Programm: er zeigt, wie sich in<br />
dieser Zeit des Übergangs und der Wende<br />
Inhalte noch nicht herauskristallisiert haben,<br />
semantische Strukturen noch diffus sind, und<br />
wie Gleichklang Differenzen verräterisch zudeckt<br />
wie auch verratend aufzudecken<br />
vermag.<br />
Ein weiteres Berlin-Gedicht aus<br />
Schädelbasislektion, das Durs Grünbein auch<br />
in seine <strong>19</strong>94 erschienene Sammlung von<br />
Epitaphen Den Teuren Toten aufgenommen<br />
hat, folgt ebenfalls der Logik des Manierismus.<br />
Das Gedicht Berlin (Sch 1<strong>20</strong>) 28 beschreibt<br />
den in Großstädten immer wieder<br />
auftretenden Fall, daß Menschen bei laufendem<br />
Programm vor ihrem Fernsehgerät sterben<br />
und infolge ihres isolierten Daseins erst<br />
lange nach ihrem Ableben bei immer noch<br />
laufendem Programm entdeckt werden. Dieses<br />
makabre Sinnbild anonymer Großstadtexistenz<br />
wird nun von Grünbein durch einen<br />
manieristischen Kunstgriff entpathetisiert<br />
und veralltäglicht: der Sprachlaut „och“ bzw.<br />
„ochen“, der sich in unterschiedlicher phonematischer<br />
Realisation durch das ganze<br />
Gedicht zieht, zeigt an, daß in der modernen<br />
Großstadtwelt Zynismus wie moralische Betroffenheit,<br />
Sarkasmus wie Entrüstung gleichermaßen<br />
ihr Recht verloren haben, daß in<br />
diesem Habitat alles egal und einerlei geworden<br />
ist. Die distanzierte Neutralität einer<br />
Pressemeldung, die das Gedicht eröffnet und<br />
die im drittletzten Vers litaneiartig wiederholt<br />
wird, zeugt von der postmodernen Attitüde<br />
eines „anything goes“ wie von einem<br />
denkbar unaufgewühlten und entspannten<br />
„don’t worry be happy“!<br />
28 Auch in: Durs Grünbein, Den Teuren Toten. 33<br />
Epitaphe, Frankfurt am Main <strong>19</strong>94, S. 8.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen<br />
Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick<br />
Gebrochen. Im Fernsehn gab ein<br />
/Fernsehkoch<br />
Den guten Rat zum Kochen.<br />
Verwesung und Gestank im Zimmer,<br />
Hinter Gardinen blaues Flimmern, später<br />
Die blanken Knochen.<br />
Nichts<br />
Sagten Nachbarn, die ihn scheu beäugten,<br />
/denn<br />
Sie alle dachten längst dasselbe: „Ich hab’s<br />
/Gerochen.“<br />
Ein Toter saß an dreizehn Wochen...<br />
Es war ein fraglos schönes Ende.<br />
Jahrhundertwende.<br />
Ernst Osterkamp hat in seiner Nach dem<br />
Glückskind 29 betitelten Rezension zu Nach<br />
den Satiren die Tendenz zur Zyklusbildung<br />
in Grünbeins gesamtem Werk konstatiert und<br />
diese folgendermaßen gedeutet: „Dahinter<br />
steht der Wille, die Erscheinungsfülle der<br />
Welt in sich aufzunehmen, ohne sich von ihr<br />
überwältigen zu lassen. Zur poetischen Organisation<br />
der Vielfalt der Phänomene bieten<br />
sich zyklische Strukturen an. Auf Durs Grünbeins<br />
Formbewußtsein ist Verlaß.“ 30 Nicht<br />
nur der Wille zur Reduktion von Komplexität,<br />
sondern auch der Wille zur Polyperspektivität<br />
und der Wille zur Form, der sich<br />
als poetisches Prinzip der Variation manifestiert,<br />
bilden bei Grünbein die Basis und den<br />
inneren Grund für die Tendenz zur Zyklizität.<br />
Bezeichnenderweise finden sich deshalb<br />
im Hinblick auf die Großstadtthematik<br />
bei Grünbein nicht nur Einzelgedichte, sondern<br />
auch und gerade Zyklen. In den Lyrikband<br />
Nach den Satiren beispielsweise sind<br />
ein elf Gedichte umfassender Dresden-Zyklus<br />
mit dem Titel Europa nach dem letzten<br />
Regen (NdS 143-153), ein fünf Gedichte umfassender<br />
Berlin-Zyklus mit dem Titel<br />
Berliner Runde (NdS 159-163) und ein<br />
Nachbilder betitelter und aus elf Gedichten<br />
bestehender Sonett-Zyklus aufgenommen,<br />
der das Phänomen Großstadt aus der Perspektive<br />
dessen schildert, der im Einschlafen,<br />
Träumen und Aufwachen die Tagesreste und<br />
die Nachbilder des Wachzustandes, die<br />
Wahrnehmungsschocks und Erlebnissplitter<br />
29 In: FAZ vom 23. März <strong>19</strong>99, Seite L 5.<br />
30 Ebd.<br />
erinnert, wiederholt und durcharbeitet. Wir<br />
wollen uns im folgenden mit diesen drei Zyklen<br />
detailliert interpretierend wie motivisch<br />
summierend näher auseinandersetzen.<br />
Schon in Grauzone morgens hatte Grünbein<br />
seiner Heimatstadt verschiedene Gedichte<br />
(z.B. Gm 22 oder Gm 35f.) gewidmet.<br />
Auch in seinen Lyrikband Schädelbasislektion<br />
hat er ein seinem Künstlerfreund Via<br />
Lewandowsky gewidmetes Gedicht über<br />
Dresden (Sch <strong>19</strong>4) aufgenommen. Darin sind<br />
bereits zahlreiche Motive enthalten, die<br />
Grünbeins Dresden-Bild charakterisieren.<br />
Als „Barockwrack an der Elbe“ verkörpert<br />
die sächsische Großstadt Höhepunkte der<br />
Kunst wie der Zerstörung gleichermaßen.<br />
Als „Werk des Malerlehrlings / Mit dem in<br />
Wien verstümperten Talent / Der halb Europa<br />
seinen Stilbruch aufzwang“ erinnert sie an<br />
den Zweiten Weltkrieg und die furchtbare<br />
Bombennacht im Februar <strong>19</strong>45 und stellt<br />
damit gleichsam „die anglo-sächsische Version<br />
von nevermore“ dar. „Groß im Verfall“<br />
besitzt sie „Ruinenwert“, die „Schönheit der<br />
Ruinen“ erzeugt dabei Melancholie und<br />
Nostalgie. „Ein Gesamtkunstwerk / Singt unter<br />
Trümmern noch in höchsten Tönen“:<br />
diese Verse spielen einerseits auf Richard<br />
Wagner an, den Königlich Sächsischen Hofkapellmeister,<br />
der nach seiner Teilnahme am<br />
Dresdner Mai-Aufstand 1849 ins Exil gehen<br />
mußte und über ein Jahrzehnt nicht mehr in<br />
das geliebte Elbflorenz zurückkehren konnte;<br />
zum anderen knüpfen diese Verse an Walter<br />
Benjamins Trauerspiel-Buch und an seine<br />
Deutung der Ruine und damit zusammenhängend<br />
der barocken Allegorie an. 31 Im Gegensatz<br />
zum barocken Gesamtkunstwerk jedoch,<br />
das „nichts als dauern“ 32 will und sich mit<br />
allen Organen ans Ewige klammert, betont<br />
Grünbein die Zeitlichkeit und Endlichkeit<br />
auch des „Ruinenwerts“. So lautet denn auch<br />
der letzte Vers des Gedichts: „Im Futur <strong>II</strong><br />
wird alles still geworden sein“.<br />
31 Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen<br />
Trauerspiels, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am<br />
Main <strong>19</strong>78, S. 155-160; vgl. insbes. den Satz: „Was da<br />
in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende<br />
Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der<br />
barocken Schöpfung“ (S. 156); vgl. auch die dortigen<br />
Ausführungen zum barocken „Gesamtkunstwerk“ (S.<br />
158).<br />
32 Anm. 31, S. 158.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 175
Der Dresden-Zyklus Europa nach dem<br />
letzten Regen (NdS 143-153), entstanden<br />
von August bis Oktober <strong>19</strong>96, erweitert nun<br />
den bereits aufgezeigten Motivfundus. Das<br />
erste Gedicht (I) schildert, ebenso wie X, die<br />
Heimkehr 33 in eine unerwartete Fremde, das<br />
Fremdgewordensein der Heimat, aus der die<br />
Erinnerung, aber auch die Hoffnung „evakuiert“<br />
sind. <strong>II</strong> evoziert, wie übrigens auch VI<br />
und IX, den Fliegerangriff auf Dresden in<br />
der Nacht vom 13. auf den 14. Februar <strong>19</strong>45,<br />
durch den die historische Altstadt nahezu<br />
völlig zerstört wurde: „Taghell für eine<br />
Nacht, / Ist das dieselbe Stadt im Tal, dieselbe<br />
/ (Im Anflug ein Las Vegas an der<br />
Elbe) / Wie der Pilot sie sah in Phosphorpracht?“<br />
(NdS 144). <strong>II</strong>I übersetzt den von<br />
Grünbein in seinem Essay Vulkan und Gedicht<br />
34 entfalteten Zusammenhang von Müll,<br />
Stadt und Tod ins lyrische Medium: „Die am<br />
Stadtrand begrabene Stadt. / Wo ein Müllberg<br />
sich breitmacht, der lokale Vesuv /<br />
Schwarzen Rauch ausstößt überm Kiefernwald<br />
[...] // Unter Schuttbergen sinkt, unter<br />
Null, alles Gestern / Aus Terrassen und<br />
Kuppeln, barocker Bau“ (NdS 145). Das<br />
Umweltthema, das in <strong>II</strong>I in der Formulierung<br />
„Italienische Luft / Heißt hier Smog um<br />
Pompeij“ (ebd.) anklingt, wird dann in IV<br />
weitergeführt: „Willkommen, Elbe. / In dieser<br />
trägen, gelblich braunen Brühe / Ist meine<br />
Mutter noch als Kind geschwommen. / Da<br />
lag kein Ölglanz auf dem Haar“ (NdS 146;<br />
vgl. auch Gm 35). Der umgekippte Fluß, die<br />
ökologische Katastrophe korrespondiert mit<br />
der historischen: „Ein Fluß, was ist das,<br />
wenn die Stadt versinkt / Vor seinen Wellen,<br />
die den Großbrand spiegeln“ (ebd.). V rückt<br />
die „Nachkriegsdschungelstadt“ (NdS 147)<br />
Dresden in ein verfremdend-exotisches<br />
Licht: ausgehend von der Zigarettenfabrik<br />
Yenidze, einem historistisch-orientalischen<br />
Bauwerk aus den Jahren <strong>19</strong>07-<strong>19</strong>12 am Ostrand<br />
der Friedrichstadt, die als „Phantasie-<br />
33 Vgl. Franz Kafkas gleichnamiges Prosastück, das<br />
ebenso wie X auf die Parabel vom „verlornen Sohn“<br />
(NdS 152) anspielt!<br />
34 Vgl. Anm. 2.<br />
176<br />
Markus Fischer<br />
Moschee“ (NdS 147) Dresden zu einem<br />
„Islamabad im Elbtal“ (ebd.) verwandelt,<br />
wird das Venedig des Ostens in diesem Gedicht<br />
zum mythischen Xanadu und zum<br />
monumentalen Angkor Vat, zu einem „Blauen<br />
Wunder“ (ebd.), dessen Doppelsinn sich<br />
auch in der Gebrochenheit der stilistischen<br />
Ebenen manifestiert. V<strong>II</strong> thematisiert die<br />
Vorstellung von einem Atombombenabwurf<br />
auf Dresden, mithin „die Vision, wie stilvoll<br />
hier die legendäre / Finale Wolke aufgegangen<br />
wäre“ (NdS 149). V<strong>II</strong>I hat den kriegsbedingten<br />
Verlust von Kulturgütern zum Gegenstand:<br />
der Dresdner Fürstenzug an der<br />
Außenseite des Langen Ganges, der auch in<br />
<strong>II</strong>I erwähnt wird, wird zum Symbol der<br />
historischen Auslöschung: „Gepflügt wird<br />
hier mit Bomben, und kein Bauer / Kennt<br />
sich mehr aus. Der Löwenzahn / Nimmt den<br />
Figuren auf dem Fries die Dauer. / Was geht<br />
Zerstörung, oben, einen Maulwurf an?“ (NdS<br />
150). XI schließlich, das den Zyklus vollendet,<br />
zitiert den Zeppelin aus Gm 22 und<br />
mit ihm das Motiv der Schwärze und Schattenlosigkeit,<br />
das auf die nicht geleistete<br />
Vergangenheitsbewältigung hindeutet. Die<br />
Haltung der Stadt gegenüber ist emotionslos,<br />
„ohne Tränen“ (NdS 153), „als sei gar nichts<br />
geschehn“ (ebd.). Die Frage, ob man angesichts<br />
dieser Stadt, deren Stadtbild „etwas<br />
abgenommen“ (NdS 146) hatte, melancholisch<br />
werden solle, wird mit einem achselzuckenden<br />
„was soll’s“ (NdS 153) abgetan:<br />
„Niemand, nach hundert Jahren, ließe sich<br />
soweit gehn“ (ebd.). In den ersten drei<br />
Worten dieses Gedichts, in der Anrede „Im<br />
Ernst, Max“ (ebd.), findet sich schließlich<br />
ein kryptischer Hinweis auf ein Gemälde von<br />
Max Ernst, das die Unfähigkeit zu trauern<br />
auch optisch unterstreicht: es handelt sich um<br />
das in Manchester aufbewahrte Bild des<br />
großen Surrealisten mit dem Titel ‘Versteinerte<br />
Stadt’, das auch schon andere Dichter<br />
deutscher Sprache zu Bildgedichten inspirierte.<br />
35<br />
35 Vgl. dazu: Deutsche Bildwerke im deutschen<br />
Gedicht, hg. v. Gisbert Kranz, München <strong>19</strong>75, S. 68-71.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
Nicht nur seine Heimatstadt Dresden,<br />
sondern auch seine Wahlheimatstadt Berlin,<br />
in die er <strong>19</strong>85 übergesiedelt war, nimmt eine<br />
markante Position in Grünbeins gesamtem<br />
poetischen Werk ein. In allen seinen bisher<br />
erschienenen Lyrikbänden finden sich Gedichte<br />
auf und über Berlin. Besonders ausgeprägt<br />
ist diese Fokussierung auf Berlin in<br />
Nach den Satiren, sowohl im Satiren-Zyklus<br />
als auch in einem eigenen Berlin-Zyklus. In<br />
der dritten Satire beispielsweise werden nicht<br />
nur einzelne Berliner Örtlichkeiten wie der<br />
Wannsee, Unter den Linden oder die Karl-<br />
Marx-Allee 36 erwähnt, sondern Berlin als<br />
ganzes wird thematisiert, das Berlin des<br />
Dritten Reichs („Mit Schaum / Vorm Mund<br />
war hier ein Gnom die Attraktion gewesen. /<br />
Und seine Nummer war der Haßtanz zwischen<br />
Eintopf-Tellern. / Vom Bierzelt führte<br />
ihn sein Weg in Sportpalast und Oper, / Bevor<br />
sein Publikum verstummte in Ruinenkellern“,<br />
NdS 106) wie auch das Berlin der<br />
Gegenwart (ebd.):<br />
Und man sah Mauern wachsen, untertunnelt,<br />
/Mauern fallen,<br />
Die Stadt, den Riesenspielplatz, unter den<br />
/Vier Mächten<br />
Zerstückelt und auf hellem Sand verhärten<br />
Zu transsibirischem Beton.<br />
Berlin, das letzte,<br />
Sah man verschwinden, wiederkehren und<br />
/erneut verschwinden<br />
Mit jeder Sprengung, wenn vorm Grau die<br />
/Staubwand fiel.<br />
Wenn unter halben Himmeln, auf den<br />
/Kellern, nie geräumt,<br />
Die neuen Häuser ihre Reihen schlossen, die<br />
/zerfetzten<br />
Platanen wieder Blätter trieben und die<br />
/Busse unter Linden<br />
Für Sozialismus warben und Persil.<br />
Die vierte Satire erwähnt neben dem Berliner<br />
Bahnhof Zoo auch den Zoo 37 selbst,<br />
einen wichtigen Gegenstandsbereich der<br />
36 „Eine kahlgeschlagene Allee / Heißt nach dem<br />
bärtigen Propheten“ (NdS 104).<br />
37 Vgl. auch Durs Grünbeins Essay ‘Bevor der<br />
Mensch mit sich allein ist. 150 Jahre Zoologischer Garten<br />
Berlin’ in: Anm. 2, S. 229-236.<br />
Grünbeinschen Großstadtlyrik. 38 Die enorme<br />
Bautätigkeit im Berlin der Nachwendezeit<br />
(„Baugruben sind hier Sammelplätze für Gespenster,<br />
/ Die aus dem Sickerwasser trinken“,<br />
NdS 110) kommt ebenso zur Sprache<br />
wie die Glitzerwelt der Einkaufspassagen,<br />
die vor allem im Berliner Osten in den neunziger<br />
Jahren neu entstanden (NdS, 113):<br />
In den Passagen machte, unter S-Bahn-<br />
/Bögen, unser Schritt<br />
Im Nachhall ein Geräusch, das uns vergessen<br />
/ließ,<br />
Daß wir die letzten auf den Beinen waren<br />
/weit und breit.<br />
So gingen wir vorbei an Grill,<br />
/Bestattungsfirma, Reisecenter,<br />
Und an Vitrinen, wo zu Stapeln aufgebahrt,<br />
/in bunter Eintracht<br />
Die Prosa der Saison auf Kundschaft wartete.<br />
/„So viele Bücher,<br />
Die keinen brauchen, der sie liest, weil sie an<br />
/nichts erinnern.<br />
So viele Seiten ohne Eigenschaften...“, raunte<br />
/er<br />
Mir hinterm Rücken mit der Stimme, die wie<br />
/meine klang.<br />
Der Zyklus Berliner Runde mit seinen<br />
fünf Einzelgedichten I / Tauentzienstraße), <strong>II</strong><br />
/ Anhalter Bahnhof), <strong>II</strong>I / Am Friedrichshain),<br />
IV / Potsdamer Platz) und V / Epilog<br />
hebt nun explizit markante und geschichtsträchtige<br />
Berliner Orte in die einzelnen Titelüberschriften<br />
und ins Zentrum des jeweiligen<br />
Gedichts. In I wird der urbane Mittelpunkt<br />
des Westberliner Lebens, Kurfürstendamm<br />
und Tauentzienstraße und dazwischen am<br />
Breitscheidplatz die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche,<br />
lyrisch inszeniert: „Eine Kirche<br />
steht hier, die erinnert streng an Bunker,<br />
/ Seit ihr Turm, ein abgebrochner Flaschenhals,<br />
plombiert ist / Mit demselben Baustoff<br />
der im Parkhaus höllisch von Motoren<br />
dröhnt“ (NdS 159); „Stecken Zähne im<br />
Asphalt, sind sie von Fahrradboten, / Die<br />
beim Slalom stürzten oder Fensterputzern,<br />
vom Gerüst gefallen. / Grün der Mittelstrei-<br />
38 Es sei nur an das bereits erwähnte Gedicht Einer<br />
Gepardin im Moskauer Zoo (NdS 55) erinnert!<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 177
fen wird zum Sprungtuch“ (ebd.). Die Ruine<br />
des Portals des Anhalter Bahnhofs am Askanischen<br />
Platz in Kreuzberg mit ihren mannigfaltigen<br />
historischen Assoziationen wird<br />
in <strong>II</strong> zum Thema wie in <strong>II</strong>I die strengen<br />
Kriegswinter am Friedrichshain im Stadtteil<br />
Prenzlauer Berg.<br />
Das vierte Gedicht des Zyklus, (IV /<br />
Potsdamer Platz), kehrt wieder zur Gegenwart<br />
zurück und stellt sich gleichzeitig in die<br />
große Tradition bedeutender Gedichte über<br />
den ehemals verkehrsreichsten Platz Europas,<br />
von denen hier nur Paul Boldts Auf der<br />
Terrasse des Café Josty oder René Schickeles<br />
Der Potsdamer Platz erwähnt seien. 39 In<br />
seinem Essay über Ilya Kabakow in Berlin 40<br />
hat Durs Grünbein diese leere Mitte Berlins,<br />
wie sie auch Wim Wenders in seinem Film<br />
Der Himmel über Berlin meisterhaft in Szene<br />
gesetzt hat, in ihrer historischen Entwicklung<br />
beschrieben:<br />
Einstmals Ort von Großstadtverkehr und Verwaltungsterror,<br />
bedrohlicher Urbanität und einer in<br />
Hochtouren rotierenden Presse, steht er nach dem<br />
Krieg für totale Verlorenheit, ausradiert Architektur<br />
und Gedächtnis, durch alle Feuer gegangen und am<br />
anderen Ende des Extrems angelangt, ein Nicht-Ort,<br />
Konsequenz seiner eigenen Geschichtsmächtigkeit.<br />
Die leere Mitte der Stadt, das Zentrum, von dem aus<br />
die Auslöschung des alten Europa so erfolgreich betrieben<br />
wurde, nun selbst ausgelöscht, nicht mehr in<br />
Trümmern und noch nicht neu maskiert, stand es<br />
lange im Zeitdepot, versiegelt unter der Rubrik Niemandsland.<br />
41<br />
Das vierte Gedicht der Berliner Runde<br />
(NdS 162) beschreibt nun die monströse<br />
Bautätigkeit - ein wichtiges Grundmotiv der<br />
meisten Großstadtgedichte Grünbeins - auf,<br />
an, um und unter dem Potsdamer Platz:<br />
Um und um wird die Erde gewühlt für die<br />
/Hauptstadt in spe.<br />
Der nächtlichen Menschenleere gehn Raupen<br />
/vorweg.<br />
Germania im Bunker, auf preußischem<br />
/Kanapee,<br />
39 Beide Gedichte sind in die Anthologie ‘Berlin!<br />
Berlin!. Eine Großstadt im Gedicht, hg. v. Hans-<br />
Michael Speier, Stuttgart <strong>19</strong>87’ aufgenommen: vgl. S.<br />
143 und 141f.<br />
40 Anm. 2, S. 210-218.<br />
41 Anm. 2, S. 215.<br />
178<br />
Markus Fischer<br />
Von Baggern im Schlaf gestört, wälzt die<br />
/Hüften im Dreck.<br />
Downtown Berlin hilft der Diva den Gürtel<br />
/zu lösen.<br />
Und schmachtend macht sie, Walküre, die<br />
/Schenkel breit.<br />
Das Gehirn, in den hellsten Momenten, den<br />
/bitterbösen,<br />
Wittert etwas, das nach Zerstörung schreit.<br />
Der Potsdamer Platz, der von den weltweit<br />
agierenden Konzernen Sony und Daimler<br />
Chrysler „neu maskiert“ und zu einer<br />
„Downtown Berlin“ stilisiert wird, soll das<br />
ökonomische Pendant zur politischen Neuinszenierung<br />
Berlins als „Hauptstadt in spe“<br />
werden. Er wird jedoch aus der Perspektive<br />
dieses Gedichts, was an den Downtowns<br />
amerikanischer Metropolen bereits sichtbar<br />
ist, ein Zentrum ohne Leben bleiben, ein Ort<br />
globaler Wirtschaft und lokaler Unwirtlichkeit.<br />
Wie Kaiser Friedrich Barbarossa im<br />
Kyffhäuser, so schläft auch Germania und<br />
träumt von einem neuen Reich: sie ruht allerdings<br />
- in Anspielung auf Historiographie<br />
und Topographie des Potsdamer Platzes -<br />
„im Bunker, auf preußischem Kanapee“ und<br />
wird zudem „von Baggern im Schlaf gestört“.<br />
Als keusche Diva 42 , die wie die Walküre<br />
Brünnhilde hinter einer schützenden<br />
Waberlohe schläft, bis Siegfried Wotans<br />
Speer zerschlägt und mit seinem Schwert auf<br />
Brünnhilde zudringt, schmachtet sie nun -<br />
einmal aufgeweckt - dem Liebesakt entgegen,<br />
der freilich durch den intertextuellen<br />
Bezug auf Wagners Oper Siegfried in destruktivem<br />
Licht erscheint. So ruft Brünnhilde<br />
am Ende des dritten und letzten Aufzugs von<br />
Siegfried vor der endgültigen Vereinigung:<br />
„Zerreißt, ihr Nornen / das Runenseil! /<br />
Götterdämmrung / dunkle herauf! / Nacht der<br />
Vernichtung, / neble herein!“ 43 Das Gehirn,<br />
Synonym des lyrischen Ichs, wittert also am<br />
Schluß des Gedichts in der Vereinigung von<br />
„Germania“ mit „Downtown Berlin“ den<br />
Anfang vom Ende, das Zulaufen auf die Zer-<br />
42 Im Kontext diese Gedichts ist der Bezug auf<br />
Wagners Ring-Tetralogie und die ‘Operndiva’ Brünnhilde<br />
offenkundig! Vgl. außerdem dazu das Gedicht<br />
‘Casta Diva’ (Sch <strong>19</strong>7-<strong>19</strong>9).<br />
43 Richard Wagner, Die Musikdramen, München<br />
<strong>19</strong>78, S. 737f.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
störung. In V / Epilog), dem letzten Gedicht<br />
der Berliner Runde, wird dann noch einmal<br />
auf den Potsdamer Platz aus der Zeit des<br />
Kalten Krieges zurückgeblickt: „Eben war da<br />
noch ein Brachfeld, Sand und etwas abgebrannte<br />
Wiese, / Die im Stadtplan fehlten.<br />
Daß dort Goyas Koloß saß, / Wartend auf die<br />
Wiederkehr der Steppe, glaubt dir keiner<br />
mehr“ (NdS 163). Das Gedicht schließt mit<br />
dem Ausblick auf eine videoüberwachte<br />
Welt, in der der Einzelne zum gläsernen<br />
Subjekt degradiert ist: „Einestags entdeckt<br />
man, hoch an Glasfassaden festgeschraubt,<br />
Reptile, // Die neutralen Augs den Kehraus<br />
überwachen“ (ebd.).<br />
In allen Lyrikbänden Durs Grünbeins<br />
finden sich zahlreiche Gedichte, in denen<br />
von der Großstadt als solcher, im allgemeinen<br />
und überhaupt die Rede ist, mit allen<br />
ihren spezifischen Phänomenen, Charakteristika<br />
und Eigenschaften, auch wenn diese<br />
keiner bestimmten Großstadt in besonderer<br />
Weise zugeordnet werden können. Die Stadt<br />
selbst, als Moloch, Monster und Morast,<br />
wird im Gedicht zum Protagonisten und zum<br />
proteischen Partner des lyrischen Ichs. Angefangen<br />
von Grauzone morgens, wo Umweltschmutz,<br />
Vermassung, Vereinsamung und<br />
Anonymität dominieren, über Schädelbasislektion,<br />
wo traumatische U-Bahn-Fahrten,<br />
Verkehrskollaps und Großstadttod poetisch<br />
inszeniert werden, über Falten und Fallen<br />
und Den Teuren Toten bis hin zu Nach den<br />
Satiren - überall bildet die Großstadt die<br />
Kulisse, die sich machtvoll in den Vordergrund<br />
schiebt und das lyrisch-dramatische<br />
Geschehen beherrscht. Im achten der Dreizehn<br />
Fantasiestücke untertitelten Zyklus<br />
Asche zum Frühstück aus Nach den Satiren<br />
beispielsweise, das den Halbsatz „Robinson<br />
in der Stadt“ (NdS 79) zum Motto hat,<br />
erscheint der moderne Großstädter als „tief<br />
im Landesinnern gestrandet[er]“ (ebd.; vgl.<br />
auch Gm 26) Schiffbrüchiger, als Robinson<br />
Crusoe der Postmoderne, dem nicht einmal<br />
mehr ein Freitag 44 zu Gebote steht und dem<br />
die Rückkehr in die Heimat in eine imaginäre<br />
Ferne gerückt ist. Die Stadt wandelt sich<br />
dabei selbst zum Meer, aber nicht zum<br />
44 Das Gedicht schließt süfissant mit den beiden Versen:<br />
„Wenn am Freitag zum Beispiel, auf hohem Absatz,<br />
genug zum Träumen, / Ein Chanson mit den Hüften<br />
schwenkt: ‘La mort vient et je suis nu...’“ (NdS 79).<br />
Rettung und Rückkehr verheißenden, sondern<br />
zum versteinerten, anti-utopischen Ozean<br />
par excellence: „Aus den Segeln wurde<br />
die Leinwand der Kinos. Was draußen brandet,<br />
/ Ist nur der Autoverkehr. Kein Mast, der<br />
ihm nicht droht ‘Dich leg ich flach’. /<br />
‘Verpiß dich!’ schallt es von jedem Friedhof,<br />
den die Bulldozer räumen, / Weil die Liegezeit<br />
um ist, verjährt sind die Abos für morsche<br />
Gebeine“ (NdS 79). Der gesamte Satiren-Zyklus<br />
in Nach den Satiren, insbesondere<br />
die erste Satire, können als Kompendium<br />
und Summe postmoderner deutscher<br />
Großstadtlyrik angesehen werden.<br />
Wir wollen uns jedoch abschließend mit<br />
einem anderen Zyklus aus Nach den Satiren,<br />
mit dem Zyklus Nachbilder. Sonette (NdS<br />
184-<strong>19</strong>4) näher befassen, weil in ihm weniger<br />
die objektive Seite - der zeitgenössische<br />
„Schild des Achill“ (NdS 93) 45 , auf dem der<br />
postmoderne ‘Kosmos’ detailliert und umfassend<br />
registriert ist - zur Sprache kommt, sondern<br />
vielmehr die subjektive Seite thematisiert<br />
wird, die Wirkung der Großstadt auf die<br />
Psyche, die Verarbeitung der Wahrnehmungsschocks<br />
46 und Erinnerungsbilder im<br />
Traum oder in den Übergangszuständen zwischen<br />
Wachheit und Schlaf. 47 „Dann wirst du<br />
müde, und dein Mund bricht ein / In ein<br />
Gebiet, das Greinen nicht erreicht. / Schlaf<br />
sucht die Wege, die du tags allein / Nicht finden<br />
konntest“ (NdS 184) - so eröffnet Grünbein<br />
mit dem Anfangsgedicht (I) programmatisch<br />
seinen Nachbilder-Zyklus. Unter den<br />
Bedingungen des Schlafes verwandelt sich<br />
der Mensch zu einem morpheisch-proteischen<br />
Doppelwesen, das in seiner Zwitterhaftigkeit<br />
als „Parasit“ und als „ein Anderer“<br />
gerade die Authentizität der menschlichen<br />
45 Vgl. den 18. Gesang in Homers ‘Ilias’!<br />
46 Vgl. dazu auch Walter Benjamins Ausführungen in<br />
seinem Essay ‘Über einige Motive bei Baudelaire’ in:<br />
Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im<br />
Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. von Rolf Tiedemann,<br />
Frankfurt am Main <strong>19</strong>74, S. 101-149, insbes. S.<br />
108ff.<br />
47 Das Motiv des Schlafs ist ein Leitmotiv in Grünbeins<br />
Lyrik: man könnte aus seinem Gesamtwerk spielend<br />
eine Anthologie morpheischer Gedichte zusammenstellen!<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 179
Erfahrung verbürgt und steigert: „Ein<br />
Mensch, der höflich seine Zähne bleckt, /<br />
Gewöhnt an Städte, Blutgerinnsel, Staus - /<br />
Das bist du, und kein Traum hält dich heraus“<br />
(NdS 184). <strong>II</strong> deutet die rastlose Bautätigkeit,<br />
wo „Haus / Verdrängt wird bald von<br />
Haus, auch ohne Bomben“ (NdS 185), als<br />
mißlungene Form der Vergangenheitsbewältigung,<br />
als Unfähigkeit zu trauern, etwa um<br />
Familien, von denen „nicht ein Goldzahn<br />
blieb“ (ebd.): „Asche“ und „Staub“, als Symbole<br />
der Vergänglichkeit wie der wenngleich<br />
schmerzhaften Erinnerung, verschwinden<br />
hinter Bauzäunen und gehen auf den<br />
Baustellen in den gewaltigen Erdbewegungen<br />
unter. <strong>II</strong>I, IV, V<strong>II</strong>I und IX thematisieren<br />
den Tod und das Sterben, bedeutsame Leitmotive<br />
der Grünbeinschen Großstadtlyrik:<br />
„Psyches Stimme“ (NdS 187), die „noch im<br />
dominanten / Rauschen des Stadtverkehrs“<br />
(ebd.) hörbar bleibt, verweist mythologisch<br />
auf die Entdeckung des Ersehnten im Schlaf<br />
und historisch auf das Gedächtnis und Gedenken<br />
dessen, „was aus den Kellern stöhnt,<br />
im Stein rumort“ (ebd.). V und X richten den<br />
Blick ins Weltall als Fluchtraum der<br />
Menschheit, aber auch als Projektionsraum<br />
für denjenigen, der den engen und einschnürenden<br />
menschlichen Verhältnissen wenigstens<br />
zeitweise entkommen möchte. Auch<br />
VI thematisiert die Weite des Kosmos, rückt<br />
ihn jedoch - aus der Perspektive des aus dem<br />
Schlaf Aufschreckenden - in ein bedrohliches<br />
Licht: „Der wahre Alptraum ist, es gibt nur<br />
Ferne. / Kein Trost ist die prekäre Nähe /<br />
Des Körpers zu sich selbst. So falsch vertraut<br />
/ Führt das Gehirn aus seiner Deckung diese<br />
Ehe“ (NdS 189). Die Einsamkeit des Großstädters<br />
wird dann in V<strong>II</strong> zum Gegenstand.<br />
Sie wiederholt und intensiviert die Einsamkeit<br />
des Kindes, mit dem Unterschied, daß<br />
der „aus langem Schlaf verstört“ (NdS <strong>19</strong>0)<br />
erwachte Erwachsene keinen Zuhörer mehr<br />
hat und keine Rückzugsmöglichkeit in die<br />
Welt der Grimmschen Märchen und der<br />
Gute-Nacht-Geschichten: „Der Wald ist leer,<br />
das Einhorn fort und von den Drachen /<br />
Blieb nur der Städtehimmel, dieser kolossale<br />
Rachen, / Dem er entgegenlebt. Schlaflos auf<br />
180<br />
Markus Fischer<br />
weiter Lichtung, / Erschrickt er, angelangt,<br />
wo vor ihm jeder war“ (ebd.). XI, das<br />
Schlußgedicht des Zyklus Nachbilder.<br />
Sonette, resümiert noch einmal die subjektive<br />
Rezeptionshaltung des lyrischen Ichs,<br />
das sich, wahrnehmend und erinnernd, registrierend<br />
und reflektierend, durch die Großstadt<br />
bewegt, auf der Jagd nach dem gelebten<br />
Leben und auf der Suche nach der verlorenen<br />
Zeit. „Dein Flüchtlingsbild in Fenstern,<br />
Kühlerhauben, Pfützen, / Treibt mit dem<br />
Bauch nach oben“ (NdS <strong>19</strong>4), d.h. das im<br />
einzelnen Augenblick der Wahrnehmung<br />
schockartig aufgenommene Momentbild des<br />
lyrischen Ichs von sich selbst ist bereits in<br />
actu nichts als abgestorbenes, ausgehauchtes<br />
Leben: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit, -<br />
gelebt, und gleich entfernt. / Zu fürchten,<br />
nein, zu wissen, daß der letzte Blick, die<br />
Frage, / Nicht auf die Sterne, auf Gerümpel<br />
fällt, erträgt man das? / Nachbilder sind es,<br />
Netzhautskizzen, die man lesen lernt, / Die<br />
Augen schliessend, wenn der Tag sich legt<br />
wie alle Tage“ (ebd.).<br />
Zahlreiche Kritiker haben den inzwischen<br />
mit einer Vielzahl von Preisen 48<br />
bedachten Dichter Durs Grünbein auf dem<br />
Parnaß der deutschen Literatur emphatisch<br />
bewillkommnet. Gustav Seibt 49 hat ihn als<br />
„hinreißenden Götterliebling“ bezeichnet,<br />
wie es ihn „seit den Tagen des jungen<br />
Enzensberger, ja, vielleicht seit dem ersten<br />
Auftreten Hugo von Hofmannsthals“ in der<br />
deutschsprachigen Lyrik nicht mehr gegeben<br />
hat. In das bewundernde Lob mischt sich bei<br />
manchen Kritikern aber auch ein gewisses<br />
Unbehagen, das sich gerade an der Virtuosität<br />
und ästhetischen Perfektion der Grünbeinschen<br />
Lyrik entzündet. Ernst Osterkamp 50<br />
bezeichnet manche von Grünbeins Gedichten<br />
als „Virtuosen-Poesie“ und in Anspielung<br />
auf das ‘Wunderkind’ Hofmannsthal Teile<br />
von Grünbeins Lyrik als „marmorglatt, zart<br />
48 Dabei sind neben dem bereits erwähnten Georg-<br />
Büchner-Preis (<strong>19</strong>95) auch der Bremer Literatur-<br />
Förderpreis (<strong>19</strong>92) und der Peter-Huchel-Preis (<strong>19</strong>95)<br />
zu nennen!<br />
49 Vgl. den vorderen Klappentext der Lyrikedition<br />
‘Von der üblen Seite’ (Anm. 1).<br />
50 Vgl. Anm. 29.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
und traurig“: „Entzücken wechselt mit Befremden.<br />
Der Leser wird von der Musikalität<br />
der Gedichte Grünbeins, ihrem Formenreichtum<br />
und ihrer Bildintensität hingerissen, von<br />
ihrer Sensibilität und ihrem Ernst bewegt.<br />
Dazwischen aber: Passagen des routinierten<br />
Leerlaufs.“ Thomas Mann hat in seiner<br />
Erzählung Das Wunderkind diese polare<br />
Spannung zwischen Virtuosität und Hingabe,<br />
Routine und Inbrunst, Artifizialität und<br />
Authentizität im Typus des Künstlers mit<br />
folgenden Worten zum Ausdruck gebracht:<br />
„Als Einzelwesen hat er noch ein Ende zu<br />
wachsen, aber als Typus ist er ganz fertig, als<br />
Typus des Künstlers. Er hat in sich des Künstlers<br />
Hoheit und seine Würdelosigkeit, seine Scharlatanerie<br />
und seinen heiligen Funken, seine Verachtung<br />
und seinen heimlichen Rausch.“ 51<br />
51 Thomas Mann, Das Wunderkind, in: Musik-<br />
Erzählungen, hg. v. Stefan Janson, Stuttgart <strong>19</strong>90, S.<br />
<strong>19</strong>5.<br />
Vieles, ja nahezu alles in Grünbeins<br />
Oeuvre ist gekonnt, aber weil manches auch<br />
oder womöglich nur gekonnt wirkt, ‘gemacht’<br />
erscheint, wie eine Formetüde oder<br />
eine Fingerübung, ist Behutsamkeit und Vorsicht<br />
geboten, für den Leser und für den<br />
Kritiker und nicht zuletzt für den Dichter<br />
selbst. In welche Richtung Grünbeins Werk<br />
weisen wird, ob Artifizialität oder Unmittelbarkeit<br />
dominieren werden, ob kapriziöse<br />
Virtuosität möglicherweise die spezifische<br />
Sageweise von Authentizität bei Grünbein<br />
werden wird, mag dahingestellt bleiben.<br />
Eines jedenfalls ist im Hinblick auf dieses<br />
Werk gewiß: „man wird lange daran zu lesen<br />
haben.“ 52<br />
52 Anm. 29.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 181
PARADIGMENWECHSEL IN DER RUMÄNIENDEUTSCHEN<br />
ERZÄHLLITERATUR DER NACHKRIEGSZEIT<br />
Im Bemühen, die Fülle der inhaltlichen<br />
Aspekte und des diskursiven Umfeldes der<br />
deutschsprachigen Regionalliteraturen aus<br />
Rumänien übersichtlich zu machen, mußte<br />
die Dominanz mehrerer Erzähldiskurse<br />
hervorgehoben werden, von denen jeder<br />
meines Erachtens ein Sammelbecken für die<br />
unterschiedlichsten Texte repräsentiert. In<br />
meinem Vortrag soll anhand der dominanten<br />
Erzähldiskurse der Nachkriegszeit die Analyse<br />
des Paradigmenwechsels vorgenommen<br />
werden, mit dem sich der Wandel inhaltlicher<br />
Schwerpunkte und des formalästhetischen<br />
Instrumentariums der Erzählliteratur<br />
vollzog.<br />
In der rumäniendeutschen Erzählliteratur<br />
beherrschen Mitte der sechziger Jahre zwei<br />
Erzähldiskurse die thematische und gestalterische<br />
Erzählproduktion: der Überzeugungsdiskurs<br />
und der Berichtigungs-<br />
oder Rechtfertigungsdiskurs, den letzteren<br />
kann man auch mit dem Begriff Versicherungsdiskurs<br />
verallgemeinernd überschreiben.<br />
Der Wandel, der Mitte der<br />
sechziger Jahre einsetzt, bewirkt meines Erachtens<br />
die Herausbildung eines dritten<br />
Erzähldiskurses, der neben den ersten beiden<br />
die literarische Landschaft bereichert.<br />
Der Überzeugungsdiskurs gehört der<br />
Vergangenheit an und bezeichnet die Grundeinstellung<br />
jener Erzählungen, die sich der<br />
sozialistischen Weltsicht anpaßten. Diese<br />
Literatur setzte sich als Überzeugungsmittel<br />
ein und sollte durch die Darstellung idealer<br />
Zustände, wie es sie in der Wirklichkeit gar<br />
nicht gab, den Leser zum Umdenken bewegen.<br />
Mit dem propagandistisch-aufklärerischen<br />
Anliegen standen formale Forderungen<br />
im Zusammenhang, auch wenn diese als<br />
zweitrangig abgetan wurden. Durch die<br />
Klarheit und Eindeutigkeit der Sprache,<br />
welche unausweichlich in sprachliche Sterilität<br />
mündeten, wurden die Herausbildung<br />
Olivia Spiridon<br />
von Erzählklischees, von thematischer<br />
Armut 1 und von psychologischem Schematismus<br />
geradezu vorprogrammiert. Diese<br />
Literatur als Produktionsstätte von gesellschaftlichen<br />
Wunschbildern mit universalistischem<br />
Anspruch ist eigentlich als unrealistisch<br />
zu bezeichnen, auch wenn sie den Anspruch<br />
auf realitätsgetreue Darstellung der<br />
Wirklichkeit erhebt, und ist als Folge der<br />
Anpassung der Autoren, deren Namen hier<br />
nicht unbedingt nennenswert sind, an den<br />
Kanon des sozialistischen Realismus<br />
entstanden.<br />
Versicherungsdiskurse hingegen haben in<br />
der rumäniendeutschen Literatur eine beträchtliche<br />
Vergangenheit. Versicherungsdiskurse<br />
führen jene literarischen Zeugnisse,<br />
die in der Tradition des bürgerlichen Realismus<br />
entstanden sind und welche dominante<br />
oder gar regressive Institutionen oder Verhaltensweisen<br />
durch die Handlungslogik der<br />
Texte bestätigen. Versicherungsdiskurse<br />
„versichern“, daß Altes und Bewährtes im<br />
existenziellen Umfeld der „Nation“ oder im<br />
Umgang mit den anderen Nachbar-Nationen<br />
weiterhin lebenstauglich ist. Kritische Bemerkungen<br />
haben innerhalb der Versicherungsdiskurse<br />
nicht die Rolle, das erzählte<br />
System in Frage zu stellen oder gar abzulehnen,<br />
sondern erziehend kleine Korrekturen<br />
vorzunehmen.<br />
In der Nachkriegszeit erscheinen die<br />
Versicherungsdiskurse in der besonderen<br />
Form, die als Berichtigungs- oder Rechtfertigungsdiskurs<br />
bezeichnet werden kann.<br />
In den in Rumänien erschienenen deutsch-<br />
1 Die Themen sind allzu bekannt, auch wenn sie bloß<br />
für die Literaturgeschichte von Interesse sind: die<br />
Aufgabe der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung,<br />
die Darstellung der Bemühungen um die<br />
Entwurzelung der archaischen Gewohnheiten, die<br />
Einführung der fortgeschrittenen Agrotechnik, die<br />
sozialistische Umwandlung der Landwirtschaft und<br />
die Darstellung der Umdenkens der Menschen, damit<br />
verbunden die Entstehung neuer Beziehungen zwischen<br />
den Menschen.
Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />
sprachigen Texten verdeckt, in jenen aus der<br />
Bundesrepublik offenkundig, gibt es die<br />
Tendenz, Historisches, besonders Ereignisse<br />
des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsjahre<br />
ins richtige Licht zu rücken.<br />
Diese Einstellung setzt bei den Autoren<br />
voraus, daß sie an die Möglichkeit der „Berichtigung“,<br />
implizit der Darstellung der<br />
Wahrheit, an Sinnstiftung durch das literarische<br />
Werk glauben. Die beeindruckende<br />
Anzahl der Werke, die sich stofflich und<br />
thematisch auf geschichtliches Geschehen<br />
festlegen 2 , belegen die innere Notwendigkeit<br />
der Autoren durch ihre Stoffwahl die durch<br />
das kommunistische Regime verbreiteten<br />
historischen Lügen und das schematischverschönernde<br />
Wirklichkeitsbild der Werke<br />
des Sozialistischen Realismus oft in episch<br />
breit angelegter Form zu widerlegen. Der<br />
Wahrheitsanspruch dieser Texte hat nicht<br />
nur thematische Konvergenzen bewirkt,<br />
sondern auch die Herausbildung bestimmter<br />
Erzählformen begünstigt, zum Beispiel des<br />
Bekenntnisromans, der Kindheits-, Kriegs-<br />
oder Nachkriegserinnerungen (Hans Liebhardts<br />
Weißkircher-Geschichten, Lillins<br />
Jodokus-Romane, Bergel „Der Tanz in<br />
Ketten“, „Wenn die Adler kommen“, Klaus<br />
Günther: „Der Regentänzer“, Schlattner<br />
„Der geköpfte Hahn“, Erwin Wittstock<br />
„Januar 45“ u. a.). Gerhard Csejka 3 zeichnet<br />
2 Andreas Birkner („Aurikeln“, <strong>19</strong>57; „Die<br />
Tatarenpredigt“, <strong>19</strong>73; „Das Meeresauge“, <strong>19</strong>76),<br />
Hans Bergel („Fürst und Lautenschläger“, <strong>19</strong>57; „Der<br />
Tanz in Ketten“, <strong>19</strong>72; „Wenn die Adler kommen“,<br />
<strong>19</strong>96), Klaus Günther („Der Regentänzer“, <strong>19</strong>73;<br />
„Geständnisse einer Drehorgel“, <strong>19</strong>77; „Spiel der<br />
bangen Jahre“, <strong>19</strong>83), Franz Heinz („Ärger, wie die<br />
Hund‘“,<strong>19</strong>91), Hans Wolfram Hocks („Regina unsere<br />
Mutter“, <strong>19</strong>82 u.v.a.), Hansjörg Kühn („Masken und<br />
Menschen“, <strong>19</strong>65), Heinrich Lauer („Kleiner Schwab,<br />
großer Krieg“, <strong>19</strong>87), zum Teil Hans Liebhardt, zum<br />
Teil Georg Scherg, Robert Schiff („Zither-Elegie“,<br />
<strong>19</strong>87), Eginald Schlattner („Der geköpfte Hahn“,<br />
<strong>19</strong>98), die Kriegserzählungen von Ludwig Schwarz,<br />
die Erzählungen und Romanfragmente Erwin Wittstocks,<br />
die nach <strong>19</strong>45 entstanden sind („Die Schiffbrüchigen“,<br />
„Das letzte Fest“, „Das jüngste Gericht in<br />
Altbirk“, „Januar 45 oder die höhere Pflicht“, <strong>19</strong>98),<br />
Joachim Wittstock („Ascheregen“, <strong>19</strong>85, aber auch<br />
andere kürzere Prosastücke), um einen Teil der Texte<br />
zu nennen, die in den Versicherungsdiskurs konvergieren.<br />
3 Gerhard Csejka: „Der Weg zu den Rändern, der Weg<br />
der Minderheitenliteratur zu sich selbst. Siebenbür-<br />
den sozialpsychologischen Prozeß nach, der<br />
zum Teil den Hintergrund der Versicherungsdiskurse<br />
bildet, indem er den Konservativismus<br />
der siebenbürgischen Schriftsteller<br />
als Abwehrhaltung gegen die Realität der<br />
Minderheitenexistenz erklärt. Der Rechtfertigungs-<br />
oder Berichtigungsdiskurs ist Ausdruck<br />
des nie aufgegebenen Bezugs zur<br />
Wirklichkeit, (diese Tatsache wurde oft<br />
hervorgehoben), und die Texte dieser Grundeinstellung<br />
sind demnach meistens regional<br />
verwurzelt.<br />
Die Entstehung eines neuen Erzählparadigmas<br />
ist sicherlich im Zusammenhang mit<br />
der Liberalisierungsphase zu sehen, die<br />
Mitte der sechziger Jahre eingeleitet wurde,<br />
als im Februar <strong>19</strong>65 an der Landeskonferenz<br />
des Rumänischen Schriftstellerverbandes<br />
Forderungen nach einer differenzierten und<br />
weniger dogmatischen Literatur gestellt<br />
wurden 4 .<br />
Es stellt sich die Frage, welche außergewöhnlichen<br />
Leistungen diese hier zu behandelnden<br />
Werke erbringen: Franz Storch:<br />
„Die Trompetenschnecke“ (<strong>19</strong>66), Arnold<br />
Hauser: „Der fragwürdige Bericht Jakob<br />
Bühlmanns“ (<strong>19</strong>68), Georg Scherg: „Der<br />
Mantel des Darius“ (<strong>19</strong>68), Paul Schuster<br />
„Vorwort. (Ein Fragment)“ (<strong>19</strong>68).<br />
In den unterschiedlichsten Formen<br />
erfolgt die Verabschiedung des Sozialistischen<br />
Realismus 5 : Storch gibt die Darstellung<br />
des Typischen, also des Nachahmenswerten<br />
durch den Verzicht auf den positiven<br />
Helden auf. Stattdessen tritt eine Frau mit<br />
ihrer gescheiterten Emanzipationsgeschichte<br />
in den Vordergrund 6 . Gesellschaftliches wird<br />
gisch-sächisische Vergangenheit und rumäniendeutsche<br />
Gegenwartsliteratur“. <strong>19</strong>93, S. 59f.<br />
4 Kegelmann (<strong>19</strong>95) S.23.<br />
5 Ähnliches bemerkt Georg Aescht, <strong>19</strong>89, bezüglich der<br />
Entwicklung der Kurzprosa.<br />
6 Franz Storchs Frauengeschichte erhält ihre Bedeutung<br />
im Kontext der zahlreichen Geschichten über Frauen,<br />
die in den siebziger Jahren in der DDR erschienen<br />
sind: Wolfs „Christa T.“ (<strong>19</strong>69), Irmtraud Morgners<br />
„Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach<br />
Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ (<strong>19</strong>74), Brigitte<br />
Reimann (<strong>19</strong>33-<strong>19</strong>73): „Franziska Linkerhand“ (<strong>19</strong>74,<br />
posthum erschienen), Gertie Tetzners Roman „Karen<br />
W.“ (<strong>19</strong>74), die Protokolle „Die Pantherfrau“ von<br />
Sarah Kirsch (<strong>19</strong>73, enthält 5 Tonbandgespräche),<br />
Maxie Wander: „Guten Morgen, du Schöne“ (<strong>19</strong>77,<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 183
ausgespart, der optimistische Erzählton<br />
aufgegeben. Hauser signalisiert schon im<br />
Titel mit der Spezifizierung „Kurzroman“<br />
die Distanzierung von dem im sozialistischen<br />
Realismus beliebten breit angelegten<br />
Gesellschaftspanorama in Romanform. 7 Statt<br />
dessen verschärft sich der Blick auf ein<br />
Detail, auf einen „Fall“. 8 Inhaltlich zeichnet<br />
sich die Erzählung durch das Brechen des<br />
Tabus der „Fehler der Anfänge“ aus, auf<br />
dieser Ebene wird demnach ein Berichtigungsdiskurs<br />
geführt. 9<br />
Paul Schuster parodiert die Ästhetik des<br />
sozialistischen Realismus in Autorenkommentaren,<br />
die sich nicht etwa auf die<br />
Handlung, sondern auf die Produktionsseite<br />
der Texte beziehen 10 , durch die Verwendung<br />
von Neologismen, die wegen ihres Schwierigkeitsgrades<br />
gegen die Forderung nach<br />
Schlichtheit verstießen und demnach verpönt<br />
waren 11 , durch die Darstellung der Einmischung<br />
politischer Kader in den<br />
Literaturbetrieb 12 , durch ironische Bemerkungen<br />
über die Multifunktionalität der<br />
Person im kommunistischen Zeitalter: der<br />
Schwager des Erzählers ist „Kommunist und<br />
enthält 17 Tonbandgespräche), Verena Stefan<br />
„Häutungen“ (<strong>19</strong>75).<br />
7 Eine Entkrampfung der Romanform gelingt auch Hans<br />
Liebhardt, der nach Gerhardt Csejka einen „Roman in<br />
Kurzprosaform“ schreibt. Zit. aus Aescht, <strong>19</strong>89, S.<br />
1<strong>20</strong>.<br />
8Am Beispiel Adolfs, einem <strong>19</strong>29 geborenen Siebenbürger<br />
Sachsen, wird der Weg eines Jugendlichen<br />
beschrieben, der schuldlos aufgrund seines Namens<br />
und seiner Herkunft, der Zuweisung verallgemeinerter<br />
Schuld aus der Gesellschaft hinausgejagt wird.<br />
9 In Hausers Kurzroman gehört Sommers Journalisten-<br />
Beruf, seine Mühe, die eigene Unschuld durch Taten<br />
zu beweisen, wie auch die Forschungen der beiden<br />
Erzählinstanzen Bühlmann und Micu in den semantischen<br />
Raum der Wahrheitssuche.<br />
10 „Ich muß mir schnellstens einen positiven Helden<br />
erfinden, wozu wäre ich denn sonst Schriftsteller?“<br />
(16)<br />
11 Zum Bespiel Chronaxie (37), Parorexie (32). Das<br />
ganze wird dadurch noch dicker aufgetragen, da sich<br />
der Autor demonstrativ für den Leser bemüht, in<br />
einem Wörterbuch nachzuschlagen um die Bedeutungserklärung<br />
gleich mitzuliefern.<br />
12 „Als Schriftsteller freut man sich natürlich über jede<br />
lobende Kritik; die Presse hat was Gutes gesagt, der<br />
Genosse sowieso, der möglicherweise nichts von<br />
Literatur versteht, aber eine sehr bedeutende, sehr<br />
einflußreiche Position innehat, hat öffentlich ein<br />
anerkennendes Wort von sich gegeben“ (34).<br />
184<br />
Olivia Spiridon<br />
Poet, Kesselschmied, Scherbensammler und<br />
Exmeister im Fechten“ (123).<br />
Kurzum: Schusters Text gestaltet einen<br />
Erziehungsprozeß, der sich gleichermaßen<br />
an den innerfiktionalen Sohn, als auch an<br />
den Leser richtet. Der Erziehungsprozeß<br />
demontiert sich aber selbst während des<br />
Lesens, da der Erzähler sich intensiv darum<br />
bemüht, die Fiktion dauernd als unrealistisch<br />
zu entlarven, das Konzept wiederholt für gescheitert<br />
erklärt (z.B.125), sich am Ende<br />
selbst aufhebt und den Leser gleich mit, indem<br />
er dominante Verhaltensstandards als<br />
reine Fassade anprangert 13 . Indem in<br />
Schusters Text an der Zerstörung des aufklärerischen<br />
Anliegens gearbeitet wird 14 , wie<br />
auch bei Franz Storch, der die Erziehung als<br />
Ursache weiblichen Scheiterns sieht, und bei<br />
Scherg, der sich in „Der Mantel des Darius“<br />
auch an aufklärerische Traditionen des<br />
didaktisch-philosophischen Romans anlehnt<br />
(siehe die Hinweise auf Wieland:<br />
„Geschichte der Abderiten“ und „Nachlass<br />
von Diogenes von Sinope“), wird auch die<br />
erzieherisch-propagandistische Aufgabe der<br />
sozialistischen Literatur demontiert (der<br />
Entwicklungsroman war eine der beliebtesten<br />
Gattungen). Dies geschieht in<br />
einer Zeit, in der Literatur als Mittel der Erziehung<br />
und des Umdenkens in der<br />
Resolution der Generalversammlung der<br />
Schriftsteller, (siehe NL 11/<strong>19</strong>68, S, 8)<br />
weiterhin in ihrer Aufgabe bekräftigt wurde.<br />
Wie es auch im Exkurs zu Paul Schuster<br />
deutlich geworden ist, arbeiten diese Werke<br />
intensiv an der Rehabilitierung des Subjekts,<br />
an der Verunsicherung gegenüber der konventionellen<br />
Realitätsdarstellung, und dies<br />
gelingt ihnen auch durch die Modifizierung<br />
der gängigen Erzählinstanz: Franz Storch<br />
bricht die Realität durch die Perspektive der<br />
weiblichen Subjektivität 15 , Hauser fragmen-<br />
13 Siehe Ende der Erzählung, die Geschichte um<br />
Tudorica.<br />
14 Man denke an den didaktischen Roman der Aufklärung,<br />
Schuster kannte sicherlich das rumänische<br />
Werk der Aufklärung: „InvăŃăturile lui Neagoe<br />
Basarab către fiul său Teodosie“.<br />
15 Statt der Wirklichkeit in typisierender Zeichnung<br />
werden entgegengesetzte innere Realitäten in symbolischer<br />
Sprache poetisch verdichtet. Das Erzählte besticht<br />
durch die Suggestionskraft der Bilder in<br />
mytholgischer Verkleidung. Der persönliche Raum<br />
der Ichsuche und Selbsterkenntnis wird motivisch<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />
tiert die dargestellte Wirklichkeit, indem er<br />
das auktoriale Erzählen durch dreifache<br />
Perspektivierung variiert, auch wenn ihm<br />
dies wenig gelingt 16 und er den sonst für die<br />
Zeit und die Umstände scharfen Konflikt<br />
wesentlich entschärft 17 . Dies wird zum Teil<br />
durch das Paradoxon, oder gar das Oxymoron<br />
aus dem Titel „fragwürdiger Bericht“<br />
wiedergutgemacht 18 .<br />
Die einzelnen Charakteristika des traditionellen<br />
Erzählens: Fabel, Handlung, Personen<br />
und Erzähler werden in Schergs „Der<br />
Mantel des Darius“ und in Paul Schusters<br />
„Vorwort“ ansatzweise abgebaut. Scherg<br />
wechselt mitten im Roman mehrmals die<br />
Erzählinstanz, läßt die Gattungsunterschiede<br />
durch das Bild der Windungen im Inneren der<br />
Muschel, der Treppenwindungen in der großen<br />
Moschee in Constanta dargestellt. Die sterile Welt der<br />
routinierten, abgestumpften Ehe suggeriert die Betontreppe<br />
im Wohnhaus bei der Rückkehr der Ich-Erzählerin<br />
aus dem Urlaub. Der Geliebte Wulf erscheint ihr<br />
in Anlehnung an den griechischen Meeresgott Triton<br />
schön und unheimlich zugleich, sie glaubt ihn auch in<br />
den antiken Skulpturen der ehemaligen griechischen<br />
Handelsstadt Tomis zu erkennen.<br />
16 Der geradlinige Stoff wird etwas gekünstelt in den<br />
drei Perspektiven gebrochen, so daß das Zusammenspiel<br />
zwischen den drei Erzählerstimmen oft inszeniert<br />
erscheint und der Eindruck der erzählerischen Polyphonie<br />
nicht vermittelt wird, sondern eher der<br />
Eindruck, daß das Erzählte von einer einzigen Erzählinstanz<br />
stammt. Ähnliche Einwände erhebt auch<br />
Gerhardt Csejka in: „Vor allem ein nützliches Buch“,<br />
Neue Literatur 4/<strong>19</strong>69.<br />
17 Der Konflikt wird allerdings durch die Distanz<br />
zwischen erzählter und Erzählzeit wesentlich<br />
entschärft, so daß offiziell zugelassene Interpretationen<br />
geradezu gefördert werden. So Valentin Lupescu,<br />
der die zeitliche Distanz zwischen der erzählten<br />
und der Erzählzeit in der Nachbemerkung der Berliner<br />
Ausgabe von <strong>19</strong>74 (Volk und Welt, DDR) beschwichtigend<br />
deutet: „Denn im Jahre <strong>19</strong>67, als die<br />
Romanhandlung endet, stehen die Probleme eines<br />
Adolf Sommer nicht mehr zur Debatte“. (<strong>19</strong>6) An<br />
solchen Interpretationsmöglichkeiten schließt auch<br />
teilweise berechtigt die scharfe Kritik der Erzählung<br />
in den Südostdeutschen Vierteljahresblättern (Lutz<br />
Tilleweid, <strong>19</strong>72, S. 289).<br />
18 Gerhardt Csejka („Vor allem ein nützliches Buch“)<br />
unterstreicht das Anliegen der Autoreninstanz,<br />
Sachliches zur Sprache zu bringen, deshalb auch die<br />
Wahl des „Berichts“ als Gattung. Doch es ist ein<br />
„fragwürdiger Bericht“, und so werden auf einem<br />
Schlag die möglichen Interpretationen, daß die Fehler<br />
der Vergangenheit in der Erzählgegenwart nicht<br />
wiederholt werden können, ins Ungewisse katapultiert.<br />
ineinanderfließen <strong>19</strong> , zerstört die Handlung <strong>20</strong> ,<br />
kreiert Ambivalenzen und wertet, wie auch<br />
Paul Schuster, den Kommentar der Erzählinstanz<br />
auf 21 . Der Erzählerkommentar verselbständigt<br />
sich gegen die wirklichkeitsabbildende<br />
Sinnstiftung und verunsichert den<br />
Leser über die Glaubwürdigkeit des Erzählten.<br />
22 Die Entwicklung in Richtung Reha-<br />
<strong>19</strong> Das Kapitel 47 von Schergs „Der Mantel des Darius“<br />
ist als ein Drama gestaltet, mit dem Titel „Die gläserne<br />
Maske“. Inhaltlich wird an der vagen Romanhandlung<br />
angeknüpft: Der Tod Theodoras wird hier in<br />
„trochäischen Versen“ dargestellt.<br />
<strong>20</strong> Bei Scherg registriert man den Rückgang der<br />
Erzählung, die Fabel wird zu einem zerredeten Irrweg.<br />
Im Roman werden Fragen nach Freiheit, Wahrheit<br />
aufgeworfen und gleichzeitig auf der Ebene der Stils<br />
die Ursachen für das Unbehagen des Individuums in<br />
der Gesellschaft verbildlicht. Der fehlende Zusammenhang<br />
der Handlung, die barocken Sprachwucherungen<br />
verweisen auf die Unmöglichkeit der Identifikation<br />
mit der institutionalisierten Wahrheit, so daß<br />
ein Verunsicherungsdiskurs gegenüber dem herrschenden<br />
Machtdiskurs geführt wird.<br />
21 Bei Paul Schuster fasziniert die Reflexion literarischer<br />
Gattungen: in manchen Passagen spielt er mit<br />
den spezifischen Wahrnehmungsmögichkeiten der<br />
Kurzgeschichte, die keine Charakterbildung und<br />
psychologische Introspektion mehr zuläßt, spricht sich<br />
über die Krise des Romans aus, der das Erzählen<br />
ablehnt. Schusters Gestaltung ist dialogisch, äußerst<br />
undogmatisch. Er läßt sich auf Gesprächen mit dem<br />
Leser ein, den er gelegentlich wegen seiner Unbildung<br />
auch beleidigt.<br />
22 Beispiele am Text: Scherg: „Ich will kurz sein und<br />
das Thema nicht von allen Seiten beleuchten,<br />
geschweige denn durchleuchten, weder in seiner<br />
monistischen noch dualistischen, existenzialistischen<br />
oder nihilistischen Problematik, um etwa die<br />
Dimensionen schlechthin abzustecken, wozu das Licht<br />
meiner Laterne keineswegs ausreichen würde, sondern<br />
nur die rein empirische Folgerung festhalten, von der<br />
alle übrigen Problemstellungen ausgehen, um letztlich<br />
im gewaltigen Kuppelbau einer mir – ich gestehe es<br />
neidlos - völlig unzulänglichen und daher unfaßlichen<br />
Hieroglyphe zu gipfeln (...) In Klammer: Hergott, was<br />
für ein Satz. Ich bin ordentlich stolz drauf. Ich hätte<br />
mir das gar nicht zugetraut. Besonders gefällt mir der<br />
gewaltige Kuppelbau der Hieroglyphe. Klammer zu.“<br />
(„Der Mantel des Darius“, 238). Wie auch im Falle<br />
Schergs, kann man bei Paul Schuster zahlreiche<br />
Beispiele finden. Im „Vorwort“ gibt es neben der an<br />
den Sohn gerichteten Erziehungsrede, Kommentare<br />
des Vaters und zahlreicher Freunde, welche die Rolle<br />
haben, die Glaubwürdigkeit des Erzählten ins<br />
Schwanken zu bringen: „(Nein, nein, Paul, das geht<br />
nicht, das glaubt dir niemand, sagt kopfschüttelnd<br />
mein Vater, also Dein Großvater, Sohn...)“(18) oder<br />
„(nein, Paul, das ist aber doch zu stark aufgeschnitten,<br />
sagt mein Vater)“ (22). Die Kommentare der Freunde<br />
über einen möglichen Schuß der Geschichte Lutz‘<br />
Schusters artet in einem Streit zwischen dem<br />
innerfiktionalen Erzähler und seinen Freunden über<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 185
ilitierung der Subjektivität erfolgt parallel<br />
zum Streben nach genauer, objektiver Darstellung<br />
von Gedankengängen, Empfindungen<br />
oder Begebenheiten. 23 Diese Tendenzen,<br />
die scheinbar auseinandergehen, laufen<br />
eigentlich auf das Gleiche hinaus, darauf hat<br />
auch Georg Aescht in seinem Aufsatz zur<br />
Kurzprosa der Jahre <strong>19</strong>62-<strong>19</strong>73 hingewiesen.<br />
24 Aescht schließt berechtigt auf den<br />
Prozeß des Mündigwerdens der im Regionalen<br />
verhafteten Literatur, also auf die<br />
„Emanzipation von Diktaten und Vorgaben<br />
jeglicher Faktur“ (S. 1<strong>20</strong>).<br />
Die formalästhetischen Erneuerungen in<br />
der zweiten Hälfte des sechsten Jahrzehnts<br />
deuten auf die Rezeption der Welle<br />
experimenteller Literatur, die Anfang der<br />
sechziger Jahre unter anderem mit Helmut<br />
Heißenbüttel (sein erstes „Textbuch“) und<br />
Peter Weiss („Der Schatten des Körpers des<br />
Kutschers“) einsetzt 25 , aber auch auf die<br />
Rezeption Brechts und der Konkreten<br />
Poesie, auf die Peter Motzan in seinem Beitrag<br />
„Von der Abneigung zur Abwendung.<br />
Der intertextuelle Dialog der rumäniendeutschen<br />
Lyrik mit Bertolt Brecht“ hinweist<br />
26 . Außerdem werden frühere literarische<br />
Strömungen wie Surrealismus und<br />
Avantgarde als Vorbilder wahrgenommen.<br />
Die DDR-Literatur geht in der zweiten<br />
Hälfte der sechziger Jahre ebenfalls durch<br />
den Liberalisierungskurs auf moderne<br />
formale Positionen und wechselt zu neuen<br />
thematischen Schwerpunkten. 27<br />
Auch in der DDR werden nicht hauptsächlich<br />
Fragen inhaltlicher Art und nach<br />
politischer Tabus gestellt, sondern auch<br />
Probleme der Schreibpraxis verhandelt. Es<br />
geht um Bücher, die ästhetisches Neuland<br />
eroberten: Fritz Rudolf Fries: „Der Weg<br />
die Autorenschaft des Textes aus, wonach sie der Ich-<br />
Erzähler kurzum aus der Erzählung ausschaltet.<br />
23 Paul Schuster zitiert die Hure Doda in Originalsprache,<br />
mit umgangssprachlich-regionalem Kolorit (41).<br />
24 Die Bestrebungen nach objektiver Realitätsbewältigung<br />
und subjektiver Entgrenzung „überschneiden<br />
sich und kongruieren sogar“. So Georg Aescht, <strong>19</strong>89.<br />
25 Hage, <strong>19</strong>82, S. 8f.: Literarische Collagen, Protokoll-<br />
Literatur und Reportagen häuften sich. Parallel dazu,<br />
werden Erzähldiskurse zurückgenommen.<br />
26 Vgl. Peter Motzan, <strong>19</strong>99, S. 139-165.<br />
27 Siehe Durzak, <strong>19</strong>76, DDR–Kapitel und Peter Weisbrod:<br />
<strong>19</strong>80, Teil I., Inovationserscheinungen.<br />
186<br />
Olivia Spiridon<br />
nach Oobliadooh“ (<strong>19</strong>66), Günter Kunert:<br />
„Im Namen der Hüte“ (<strong>19</strong>67), Christa Wolf:<br />
„Nachdenken über Christa T.“ (<strong>19</strong>69), Ulrich<br />
Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen<br />
W.“ (<strong>19</strong>72 in „Sinn und Form“), Jurek<br />
Beckers Roman „Jakob der Lügner“ (<strong>19</strong>69).<br />
Die Autoren der DDR nehmen in der<br />
Liberalisierungsphase, die <strong>19</strong>71 eingeleitet<br />
wurde, auch eine doppelte Abstandnahme<br />
vor, aber nicht von regionalen Stoffen wie in<br />
der rumäniendeutschen Literatur (die Mitte<br />
der fünfziger Jahre in Rumänien rehabilitiert<br />
wurden 28 ), sondern vom heiliggesprochenen<br />
literarischen Erbe. So wie der sozialistische<br />
Realismus Aktualität und reale gesellschaftliche<br />
Konditionen unterschlägt, stellt sich die<br />
Frage, ob nicht die deutlich idealisierende<br />
Theorie der Tradition das gleiche tut. 29 Die<br />
DDR-Autoren haben das Erbekonzept<br />
revidiert und die Doktrin des sozialistischen<br />
Realismus relativiert: Irmtraud Morgner:<br />
„Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz<br />
nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“<br />
(<strong>19</strong>74), die Experimente Heiner Müllers wie<br />
die z.B. <strong>19</strong>77 gedruckten Stücke: „Leben<br />
Gundlings Friedrich von Preußen Lessings<br />
Schlaf Traum Schrei bzw. Germania Tod in<br />
Berlin“. Mitstreiter eines neuen Erbeverständnisses<br />
werden auch Ulrich Plenzdorf:<br />
„Die neuen Leiden des jungen W.“ (<strong>19</strong>73),<br />
Künter Kunert: „Pamphlet für K.“ (Kleist<br />
steht im Mittelpunkt), Christa Wolf: „Kein<br />
Ort. Nirgends“ (<strong>19</strong>79). Der Weg in Richtung<br />
schärferer Kritik und wirklichen Realismus<br />
entpuppt sich als Sackgasse, und er wird in<br />
der Zeit von <strong>19</strong>73-<strong>19</strong>76 gewaltsam gestoppt<br />
30 . Der Ausweg in die Innerlichkeit<br />
wird der einzige bleiben. 31<br />
Eine Erklärung für die Wiederkehr der<br />
Individualität im literarischen Werk in der<br />
Phase des Nachklangs des sozialistischen<br />
28 Peter Motzan, <strong>19</strong>93, S. 53: Mit dem „kleinen Tauwetter“<br />
<strong>19</strong>54 nimmt die gezielte „Pflege des literarischen<br />
Erbes“ Konturen an.<br />
29 Heinrich Vormweg, <strong>19</strong>80, S. 17.<br />
30 Einen Rückschlag für das kulturpolitische Konzept<br />
des V<strong>II</strong>I. Parteitags (15.-<strong>19</strong>. Juni <strong>19</strong>71) brachte die 9.<br />
Tagung des ZK im Mai <strong>19</strong>73, wo man mehrere neue<br />
Kunstwerke ungewohnt scharf kritisierte. Nach Oktober<br />
<strong>19</strong>76 (Ausschluß Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband)<br />
und November <strong>19</strong>76 (Ausbürgerung<br />
Wolf Biermanns) wird die „Tauwetterphase“ als<br />
beendet gesehen. Vgl. Weisbrod, <strong>19</strong>80, S. 185-<strong>19</strong>8.<br />
31 Heinrich Vormweg, <strong>19</strong>80, S. 23.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />
Realismus liefert schon die gattungsgeschichtliche<br />
Betrachtung der Erzählung.<br />
Wenn die These richtig ist, daß Formvorstellungen<br />
Inhalte programmieren und daß<br />
damit alte Formen die alten Inhalte nach sich<br />
ziehen, müßte die direkte Übernahme der<br />
Form der bürgerlich-individualistischen Epopöe<br />
zwecks kontrollierbarer Auffüllung mit<br />
sozialistischem Inhalt – nichts anderes war<br />
der sozialistische Realismus – ja notwendig<br />
zu einer Rückwendung auch zu den individualistischen<br />
Idealen führen. 32<br />
Der neue Diskurstyp setzt in der rumäniendeutschen<br />
Literatur mit der Verabschiedung<br />
der tradierten Erzählformen und<br />
dem Anspruch auf objektive Abbildung<br />
logisch ein, sowie mit der Aufwertung der<br />
Form als Träger von Ausdruck und Sinn.<br />
Dieser kann als Diskurs der Verunsicherung<br />
bezeichnet werden. Die Auflehnung gegen<br />
tradierte Erzähltechniken ist auf das Bewußtsein<br />
zurückzuführen, daß ein Darstellungsmodell,<br />
zum ersten Mal auf die Wirklichkeit<br />
angewendet, realistisch sein kann,<br />
beim zweiten Mal aber eine Manier ist,<br />
irreal. 33<br />
Der sogenannte Verunsicherungsdiskurs<br />
wird von Texten repräsentiert, die sozialistisch<br />
angepaßte Werke, aber auch die regionalen<br />
siebenbürgisch-sächsischen und banater-schwäbischen<br />
demontieren, so daß eine<br />
durch Zeichenveränderung verfremdete,<br />
komplexe Textstruktur entsteht, die Folie<br />
und Novum enthält 34 . Innerhalb des Verunsicherungsdiskurses<br />
können die Texte<br />
auch eine nicht-polemische Gestalt annehmen<br />
und einfach das Mißtrauen gegenüber<br />
dem Sinn des Erzählens zum Ausdruck<br />
bringen. Einen Verunsicherungsdiskurs artikuliert<br />
zum Beispiel Hans Bergel mir der<br />
Wahl des Mottos für den Roman „Wenn die<br />
Adler kommen“ 35 .<br />
Der Verunsicherungsdiskurs wird auch<br />
durch die Metaebene der Texte signalisiert,<br />
durch die Kommentare zur Produktion des<br />
Texte, wie sie sich in Schergs „Mantel des<br />
32 Ebenda, S. 22.<br />
33 Haslinger, <strong>19</strong>77, S. 64-66.<br />
34 Siehe Mario Andreotti, <strong>19</strong>83, S. 35.<br />
35 Hans Bergel zitiert Friedrich Dürrenmatt: „Steckt<br />
noch ein Körnchen Sinn, ein Gran Bedeutung in der<br />
Bagage, die ich schreibe?“<br />
Darius“ und in Schusters „Vorwort“ profilieren.<br />
Die Merkmale des Verunsicherungsdiskurses,<br />
dessen Auftritt als Zeichen eines<br />
Paradigmenwechsels betrachtet werden können,<br />
findet man in den vielfältigen<br />
Ausdrucksmöglichkeiten der siebziger und<br />
achtziger Jahre immer wieder: Zweifel am<br />
herkömmlichen Realismus 36 , der sich durch<br />
Registrierung der Wahrnehmungen mit<br />
impressionistischer Sorgfalt äußert 37 , Rücknahme<br />
der Erzählung 38 , Undurchsichtigkeit<br />
der darzustellenden Realität 39 . Man lehnt<br />
sich gegen die Darstellung der Weltganzheit<br />
auf, weil diese Ganzheit nur durch radikale<br />
erzählerische Auswahl entstehen konnte,<br />
deshalb legt die moderne Literatur ihre<br />
Techniken und Strukturen bis zum Skelett<br />
frei und entlarvt damit den Totalitätsanspruch<br />
erzählender Literatur. 40 Die erzählende<br />
Person schrumpft zu einer Erzählperspektive,<br />
sie wird damit ihrer Persönlichkeit<br />
verlustig, die einheitliche Perspektive<br />
schwindet, die Handlung wird aufgegeben,<br />
poetische Bilder und Assoziationen verselbständigen<br />
sich. Es ergibt sich der Hang zum<br />
Skizzenhaften, Ausschnitthaften, Fragmentarischen,<br />
die Akzentuierung des Primats des<br />
36 Richard Wagner: „Wohnviertel in H.“ (NL 10/<strong>19</strong>77),<br />
„Onkel Hans“ (NL 3/<strong>19</strong>80), Balthasar Waitz:<br />
„Alltagsfilm“ (NL 10/<strong>19</strong>77), „Ein Alibi für Papa<br />
Kunze“ (NL 7/<strong>19</strong>79), Rolf Bossert: „Franzdorf sowie<br />
Bilder und Nachrichten aus der Umgebung“ (NL<br />
1/<strong>19</strong>78), Franz Hodjak: „der kater. ein traumprotokoll“<br />
(NL 3/<strong>19</strong>78). Die Logik der Wirklichkeit wird<br />
durch jene der Phantasie ersetzt, die für die Reflexion<br />
innerer Befindlichkeiten und äußerer Zustände realistischer<br />
erscheint.<br />
37 Siehe Richard Wagner: „Ein zusätzlicher Tag“ (im<br />
Band „Der Anfang einer Geschichte“), „Kapitel 23“<br />
(NL 11/<strong>19</strong>74), „Die Muren von Wien“ (<strong>19</strong>90), Johann<br />
Lippet: „von haus zu haus. eine chronik“ (NL 5/<strong>19</strong>80),<br />
„Die Falten im Gesicht“ (Heidelberg <strong>19</strong>91).<br />
38 Richard Wagner: „Der Mann, der Erdrutsche<br />
sammelte“. Hier kann man Ähnlichkeiten mit Ror<br />
Wolfs Prosaband „Mehrere Männer, zweiundachtzig<br />
ziemlich kurze Geschichten, zwölf Collagen und eine<br />
längere Reise“ sehen. Wolfs Kurz- und Kürzestgeschichten<br />
setzten mit stereotypen Wendungen ein, wie<br />
„Ein Mann kam...“, „Ein Mann hatte...“.<br />
39 Joachim Wittstock: „Schlüsselpunkt“ (NL 4/<strong>19</strong>69),<br />
„Peter Gottliebs merkwürdige Reise. Eine Märchennovelle“<br />
(Spiegelsaal, <strong>19</strong>94).<br />
40 Richard Wagner: „Marlene. Anmerkungen zu einer<br />
Geschichte“ (NL 12/<strong>19</strong>80), „Lesestücke für kleine<br />
Leute“ (NL 6/<strong>19</strong>81), darin die Erzählung: „Das Mädchen<br />
ohne Eigenschaften“, Karin Gündisch: „Das<br />
unge-wöhnliche Erlebnis eines gewöhnlichen Mannes“<br />
(NL 9/<strong>19</strong>80).<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 187
„Machens“ (Scherg, Schuster). Absurdes,<br />
Groteske, Karnevalistik, der Trend zu nichtdichterischen<br />
literarischen Formen wie<br />
szenischer Dokumentation 41 , Protokoll treten<br />
in den Vordergrund, Tendenzen, die man mit<br />
der Vorliebe für das Experiment überschreiben<br />
kann, dazu auch die Aufwertung<br />
der Subjektivität 42 und damit im Zusammenhang<br />
die Brechung der Wirklichkeit durch<br />
die willkürliche Perspektive des Subjekts 43 ,<br />
das Etablieren der Charakteristika der Kurz-<br />
und Kürzestgeschichten, der Rückgang der<br />
Charakterisierung der Gestalten. Inhaltliche<br />
Merkmale sind unter anderen: Weiterführung<br />
der Parodie der Ästhetik des sozialistischen<br />
Realismus 44 , die Abrechnung mit den<br />
regressiven und dominanten Erziehungs- und<br />
Moralvorstellungen 45 , zunehmender Mut zur<br />
Kritik am Regime.<br />
41 Siehe die Spaltenaufteilung im „Mantel des Darius“<br />
(S. 240 f.). Die Spalten werden mit „Am Rande der<br />
Handschrift“ und „Der Wortlaut des Textes“ überschrieben.<br />
Es entsteht eine Geschichte auf der rechten<br />
Spalte des Blattes und ihr Kommentar auf der linken.<br />
42 Claus Stephani: „Der Individualist“ (NL 1-2/<strong>19</strong>68),<br />
Erika Hübner-Barth: „Finderlohn“ (NL 12/<strong>19</strong>68),<br />
Klaus Kessler: die Erzählungen des Bandes: „Nachricht<br />
über Stefan. Geschichten aus dem kuriosen Hie-<br />
und Dasein nebst hypochondrischen Annexen“ (<strong>19</strong>75),<br />
Jürgen Speil: „Schuhe“ (NL 3/<strong>19</strong>65), Wolfgang Kochs<br />
„Gologan“ und „Schlaflose Nächte“ aus dem Band<br />
„Die Brücke“ (<strong>19</strong>83), Roland Kirsch: die Texte aus<br />
der Anthologie „das land ist ein wesen. Prosaversuche“<br />
(<strong>19</strong>89).<br />
43 Balthasar Waitz: „So wie draußen im Leben“ (NL<br />
9/<strong>19</strong>75), Richard Wagner: „Der junge Berger. Ansätze<br />
zu einer Erzählung“ (NL 1/<strong>19</strong>79), bis hin zu seinen<br />
Romanen „In der Hand der Frauen“ (<strong>19</strong>95), „Der<br />
Himmel von New York im Museum von Amsterdam“<br />
(<strong>19</strong>92), Karin Gündisch: „Passiert euch sowas nie?“<br />
(NL 6/<strong>19</strong>81).<br />
44 Joachim Wittstock: „Erzieherische Unterredung“ (NL<br />
12/<strong>19</strong>77), Balthasar Waitz: „Sitzenbleiber“ (aus dem<br />
Band „Widerlinge“, <strong>19</strong>84), Wolfgang Koch: „Dichterlos.<br />
Eine Geschichte aus dem alten Theben“ (NL<br />
3/<strong>19</strong>89), Franz Hodjak: „Der fragwürdige Dichter“<br />
(NL 1/<strong>19</strong>77), Claus Stephani: „Achat“ (NL 5/<strong>19</strong>69),<br />
Arnold Hauser: „Der Fall“ (aus dem Band „Unterwegs“,<br />
<strong>19</strong>71), u.v.a.<br />
45 Bettina Schuller: „Die guten Ideen“, (NL 1-2/<strong>19</strong>68),<br />
„Ein sauberer Kindermord“ (NL 7-8/<strong>19</strong>67), Dieter<br />
Schlesak: „Der Eingegrabene“ (NL 3-4/<strong>19</strong>68), Helmut<br />
Britz: „Wasserkopf und Darmdämon. Jakob Bühlmann,<br />
Felix Krull&Co gewidmet“ (NL 12/<strong>19</strong>88), Balthasar<br />
Waitz: „Widerlinge-science-fiction-story“,<br />
„Onkel Heinrich“ (Band „Widerlinge“, <strong>19</strong>84), „Herr<br />
Willehammer“, „Embryo“, „Unser Brunnen“,<br />
„Stimmbruch“ (Band „Alptraum“, <strong>19</strong>96, Bukarest).<br />
188<br />
Olivia Spiridon<br />
Von Storch, Hauser, Scherg, Schuster,<br />
aber auch Joachim Wittstock, Hans Liebhardt<br />
bis zu den Autoren, bei denen sich das<br />
völlige Mißtrauen gegenüber der Möglichkeit<br />
der Sinnstiftung durch das erzählerische<br />
Werk äußert, ist eine durchgehende Entwicklung<br />
der rumäniendeutschen Erzählliteratur<br />
zu sehen. Der Schritt von der dialogischen<br />
Erzählgestaltung Paul Schusters im<br />
„Vorwort“, dessen Erzähler sich im Text mit<br />
dem Leser oder den zu Rate gezogenen<br />
Freunden wegen einer Schlußlösung streitet,<br />
bis hin zu Richard Wagners „Marlene. Anmerkungen<br />
zu einer Geschichte“ (NL<br />
12/<strong>19</strong>80) ist nicht groß. Wagner ist auch auf<br />
eine interaktive Gestaltung des Textes<br />
bedacht, läßt deshalb im Text Rubriken für<br />
die Anmerkungen des Lesers frei. Schon die<br />
Titel der Texte betonen den Eindruck des<br />
noch-nicht-Fertigen, nicht-Endgültigen, was<br />
das Gefühl der Ohnmacht der Schreibenden<br />
gegenüber Totalitätsdarstellungen zum Ausdruck<br />
bringt. Die konzentrierten, fast als<br />
Parabeln anmutenden Entwürfe Schergs 46 für<br />
den Zustand verlorener Freiheit (siehe „Bass<br />
und Binsen“) finden sich in Kurzprosaform<br />
bei Wolfgang Koch („Wir, die Wabenmenschen“,<br />
NL 3/<strong>19</strong>89) wieder. Anders steht<br />
es um die radikale Sinndestruktion, wie man<br />
sie beispielsweise aus manchen Passagen aus<br />
Schergs Roman „Der Mantel des Darius“ (S.<br />
121) kennt. Sie wird nicht zur verbreiteten<br />
Ausdrucksform, unter anderem weil hinter<br />
den kühnsten Formulierungen der Glaube an<br />
die Wirkung der Literatur erhalten bleibt. 47 .<br />
Das Mißtrauen an die Fähigkeit der Erzählung,<br />
Sinn zu vermitteln, gipfelt in Mihailescus<br />
„Stillstand“, wo das Erzählen von<br />
einer akribischen Aufzählung äußerer Vorgänge<br />
abgelöst wird. 48 Die Reihe der Texte,<br />
46 Dennoch kann man Scherg nicht als Vorläufer für<br />
jüngere Generationen betrachten. Seine „chiffrierten“<br />
Romane haben so gut wie keine Rezeptionsgeschichte<br />
gemacht. Die Ähnlichkeiten sind eher auf<br />
die Wahrnehmung gemeinsamer Modelle aus der<br />
europäischen Literatur zurückzuführen.<br />
47 Hier beziehe ich mich besonders auf die Autoren um<br />
die „Aktionsgruppe Banat“, die, in der Nachfolge<br />
Brechts, Literatur als Erziehungsfaktor betrachten.<br />
Vgl. auch Peter Motzan, <strong>19</strong>80, Kapitel: „Vom polemisch-präskriptiven<br />
Engagement zur engagierten Subjektivität“.<br />
48 „Er geht auf eine Person zu, während die dazu notwendigen<br />
Bewegungen automatisch verlaufen. Er<br />
denkt: ich spreche sie an, und sagt: Wer sind Sie, was<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit<br />
die sich neuer literarischer Gestaltunsmodalitäten<br />
bedienen, setzt sich in unterschiedlichster<br />
Qualität fort und bricht nicht mehr<br />
ab. Dies wird auch aus den Aufsätzen von<br />
Peter Motzan 49 und von Georg Aescht 50 für<br />
die sechziger und den Anfang der siebziger<br />
Jahre deutlich. Hans Liebhardt vertritt das<br />
Ausmaß der Erneuerung in seiner Anthologie<br />
„Worte und Wege“ (<strong>19</strong>70) nicht ganz<br />
repräsentativ, deshalb vermißt Peter Motzan<br />
zurecht die Erzählung Joachim Wittstocks,<br />
„Schlüsselpunkt“ (NL 4/<strong>19</strong>69) in der Prosaanthologie.<br />
Abschließend möchte ich hinterfragen,<br />
inwieweit sich diese drei hier erläuterten<br />
Diskurse für die Erfassung der Ausdrucksvielfalt<br />
rumäniendeutscher Erzähler als sinnkonstituierend<br />
erweisen. Meines Erachtens<br />
haben sie eine ordnende, systematisierende<br />
Funktion, ihre Rolle besteht darin, thematische<br />
Schwerpunkte in größeren Zusammenhängen<br />
einzubetten. Im Unterschied zu<br />
Benennungen wie „Regionalismus“ oder<br />
„Moderne“ sind sie für die spezifische Landschaft<br />
der rumäniendeutschen Nachkriegsliteratur<br />
maßgeschneidert. Darüber hinaus<br />
schließen sich in ihrer Begrifflichkeit historische,<br />
sozialpsychologische, gesellschaftliche<br />
Zusammenhänge, die hinter Autor und<br />
Werk stehen und sind daher als Kapitel<br />
denkgeschichtlicher Konzeptionen aufzufassen.<br />
Die Erläuterung der Zusammenhänge,<br />
welche Entstehung und Entwicklung des<br />
Verunsicherungsdiskurses bestimmt haben,<br />
führt zur Antwort auf die Frage nach den<br />
Ursachen des Paradigmenwechsels in den<br />
sechziger Jahren.<br />
Der Wandel in der Entscheidung für neue<br />
inhaltliche und formale Gestaltungsmöglichkeiten<br />
ist auf die Rezeption europäischer<br />
literarischer Entwicklungen zurückzuführen,<br />
aber auch auf die Herausbildung von Modeerscheinungen<br />
innerhalb des rumäniendeutschen<br />
Literaturbetriebs. 51<br />
wollen Sie? Er sieht: sie bewegt sich nicht. Er geht auf<br />
eine andere Person zu, während die dazu notwendigen<br />
Bewegungen automatisch verlaufen...“ Der Text setzt<br />
sich eine Weile in dieser Manier fort. (aus Jakob<br />
Mihailescu: „Stillstand“, NL 6/<strong>19</strong>84).<br />
49<br />
Peter Motzan, <strong>19</strong>70.<br />
50<br />
Georg Aescht, <strong>19</strong>89.<br />
51<br />
Wie zum Beispiel im Falle Ludwig Schwarz‘, der<br />
konsequent an der traditionellen Schreibweise festge-<br />
Grundlegend für die Emanzipation der<br />
rumäniendeutschen Literatur (auch der<br />
DDR-Literatur) sind die Forderungen nach<br />
der Ausweitung des Realismus-Begriffs, der<br />
in der Form eines unreflektierten bürgerlichen<br />
Realismus eben diesen Begriff aushöhlte<br />
und diskreditierte. Der Einbruch des<br />
Irrealen und Phantastischen wird als weitaus<br />
realistischer empfunden, besonders unter den<br />
Umständen der achtziger Jahre, als die<br />
rumänische Wirklichkeit in ihren surrealen<br />
Zügen mit den modernsten Schreibtechniken<br />
wetteiferte. In einem Prosastück von Willhelm<br />
Koch, „Das Recht auf Realität“,<br />
besteht der Erzähler nicht auf Entwicklung<br />
neuer künstlerischer Mittel, welche im Bezug<br />
zu einer grotesken Realität mithalten<br />
können, sondern auf eine „normale“ Wirklichkeit:<br />
zwei Bier, ein gutes Fernsehprogramm<br />
und eine Liebesbeziehung 52 .<br />
Die rumäniendeutschen Autoren halten<br />
auch weiter am Experiment fest und an der<br />
Form der kürzeren Prosa, (im Unterschied<br />
zur DDR, wo das Romaneschreiben auch<br />
sehr gut honoriert wird), selbst dann, wenn<br />
in der westlichen Literatur der siebziger<br />
Jahre das Erzählen wiederkehrt. 53 Diese Abweichung<br />
weist darauf hin, daß sich die<br />
Kunst als Kunst des Weglassens, der Andeutung,<br />
des Undurchsichtig-Machens durch<br />
Montage, Collage, Vermischung der Gattungen,<br />
für das Einschleusen unerwünschter<br />
Botschaften besonders bewährt hat.<br />
Eine andere Erklärung für die Ausdauer<br />
experimenteller Formen wäre das Fehlen<br />
eines freien Büchermarktes, der inhaltliche<br />
und formale Anliegen des Schriftstellers auf<br />
ihre Übereinstimmung hin mit dem Geschmack<br />
des Lesers geprüft hätte.<br />
Die intensive Rezeption moderner Mittel,<br />
die sich für den Verunsicherungsdiskurs als<br />
konstitutiv erwiesen hat, ist letztendlich auch<br />
Ausdruck einer Kriseerscheinung, die in den<br />
siebziger Jahren in der literarischen Region<br />
halten hat, und sich dann plötzlich für modernistisches<br />
Instrumentarium entscheidet, in: „Verdammt! Eine<br />
Bestandsaufnahme im Hause Peter Holz oder ein<br />
Drehbuch“. In: NL <strong>19</strong>73, H. 3, S. 3-<strong>20</strong>.<br />
52 Wolfgang Koch: „Das Recht auf Realität“, NL<br />
9/<strong>19</strong>89, S. 28.<br />
53 Siehe Volker Hage: Die Wiederkehr des Erzählers.<br />
Neue deutsche Literatur der siebziger Jahre. Frankfurt/Main,<br />
Berlin, Wien: Ullstein <strong>19</strong>82.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 189
wegen der fehlenden Identifikationsmuster<br />
eingesetzt und das Leiden an der Provinz<br />
erhöht hat. Die Situation der Abschottung<br />
vom europäischen Literaturbetrieb hat aber<br />
sicherlich auch den Ehrgeiz einer „unter<br />
Beweis Stellung“ der Stärken der Region<br />
erweckt.<br />
<strong>19</strong>0<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Hauser, Arnold: Der fragwürdige Bericht<br />
Jakob Bühlmanns. Kurzroman. Berlin: Verlag<br />
Volk und Welt <strong>19</strong>74.<br />
2. Scherg, Georg: Der Mantel des Darius.<br />
Bukarest: Jugendverlag <strong>19</strong>68.<br />
3. Schuster, Paul: Vorwort (Fragment). In: NL<br />
3-4/<strong>19</strong>68, S. 9-45.<br />
4. Storch, Franz: Die Trompetenschnecke. In:<br />
Das Holzgrammophon. Erzählungen. Bukarest:<br />
Literaturverlag <strong>19</strong>66.<br />
S e k u n d ä r l i t e r a t u r :<br />
1. Aescht, Georg: „Kreation und Administration.<br />
Zur rumäniendeutschen Kurzprosa<br />
der Jahre <strong>19</strong>62-<strong>19</strong>73“. In: Zeitschrift für<br />
Siebenbürgische Landeskunde, IV. Folge<br />
12/<strong>19</strong>89.<br />
2. Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen<br />
Literatur. Neue Wege in der Textanalyse.<br />
Einführung in Lyrik und Epik. Stuttgart,<br />
Bern: Paul Haupt <strong>19</strong>83.<br />
3. Csejka, Gerhardt: „Der Weg zu den Rändern,<br />
der Weg der Minderheitenliteratur zu sich<br />
selbst. Siebenbürgisch-sächisische Vergangenheit<br />
und rumäniendeutsche Gegenwartsliteratur“.<br />
In: Die siebenbürgisch-deutsche<br />
Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur.<br />
Hg. Von Anton Schwob und Brigitte Tontsch,<br />
<strong>19</strong>93.<br />
4. Csejka, Gerhardt: „Vor allem ein nützliches<br />
Buch“, Neue Literatur 4/<strong>19</strong>69.<br />
5. Durzak, Manfred (Hg.): Die deutsche Literatur<br />
der Gegenwart. 3. erweiterte Auflage.<br />
Stuttgart: Philipp Reclam jun. <strong>19</strong>76.<br />
Olivia Spiridon<br />
6. Hage, Volker: Die Wiederkehr des Erzählers.<br />
Neue deutsche Literatur der siebziger Jahre.<br />
Frankfurt/Main, Verlin, Wien: Ullstein <strong>19</strong>82.<br />
7. Haslinger, Adolf: Verfahrensweisen und<br />
Techniken im Erzählen. In: Walter Weis,<br />
Josef Donnenberg, Adolf Haslinger, Karlheinz<br />
Rossbacher: Gegenwartsliteratur. Zugänge<br />
zu ihrem Verständnis. Stuttgart: W.<br />
Kohlhammer <strong>19</strong>77.<br />
8. Kegelmann, Renè: „An den Grenzen des<br />
Nichts, dieser Sprache“. Zur Situation der<br />
rumäniendeutschen Literatur der 80er Jahre in<br />
der BRD. Bielefeld: Aisthesis <strong>19</strong>95.<br />
9. Motzan, Peter: „Von Ludwig Schwarz bis<br />
Franz Hodjak. Zur Prosaanthologie Worte<br />
und Wege“. In: Neuer Weg vom 3. April<br />
<strong>19</strong>70.<br />
10. Motzan, Peter: Die rumäniendeutsche Lyrik<br />
seit <strong>19</strong>44. Cluj: Dacia <strong>19</strong>80.<br />
11. Motzan, Peter: Risikofaktor Schriftsteller. Ein<br />
Beispielfall von Repression und Rechtswillkür.<br />
In: Wort als Gefahr und Gefährdung.<br />
Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht. Hg.<br />
von Peter Motzan und Stefan Sienerth. München:<br />
Südostdeutsches Kulturwerk <strong>19</strong>93.<br />
12. Motzan, Peter: Von der Abneigung zur Abwendung.<br />
Der intertextuelle Dialog der<br />
rumäniendeutschen Lyrik mit Bertolt Brecht.<br />
In: Im Dienste der Auslandsgermanistik. Festschrift<br />
für Prof. Dr. Dr.h.c. Antal Mádl zum<br />
70. Geburtstag. Budapest <strong>19</strong>99.<br />
13. Tilleweid, Lutz: Arnold Hauser. Der Fragwürdige<br />
Bericht Jakob Bühlmanns. In: Südostdeutsche<br />
Vierteljahresblättern, <strong>19</strong>72, S.<br />
289.<br />
14. Vormweg, Heinrich: Ein schwieriger Rückweg.<br />
Zur Geschichte der Prosa in der DDR.<br />
In: Konrad Franke: Die Literatur der Deutschen<br />
Demokratischen Repubilk <strong>II</strong>. Mit zwei<br />
einführenden Essays von Heinrich Vormweg.<br />
Aktualisierte Ausgabe. Frankfurt/Main:<br />
Fischer Taschenbuch Verlag <strong>19</strong>80.<br />
15. Weisbrod, Peter: Literarischer Wandel in der<br />
DDR. Untersuchungen zur Entwicklung der<br />
Erzählliteratur in den siebziger Jahren.<br />
Heidelberg: Julius Groos <strong>19</strong>80.<br />
*<br />
* *<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
SPRACHWISSENSCHAFT<br />
CONSTANTIN NEGREANU UND DIE EUROPÄISCHE PHRASEOLOGIE<br />
"Mais il est vrai que le développement historique<br />
ne procède que rarement par une<br />
lente évolution, employant tous les éléments<br />
que fournit une vie organique. De grands<br />
sauts dans l'inconnu attirent dans une action<br />
risquée les membres d'une société qui se<br />
croit arriérée parce qu'elle ne ressemble pas à<br />
un voisinage plus brillant. Le lendemain de<br />
cette tentative enthousiaste, lorsqu'on fait le<br />
compte de ce qu'on a perdu et de ce qu'on a<br />
gagné, il n'est plus possible de revenir à ce<br />
qu'on a sacrifié, mais on peut faire germer,<br />
les confondant avec le sol ancestral, les<br />
semences qui, au moment de la hâte initiale,<br />
étaitent restées trop souovent à fleur de<br />
terre". 1<br />
Es fällt nicht leicht, vor dem Hintergrund<br />
dieses groß angelegten internationalen Germanisten-Kongresses<br />
in Rumänien (Iaşi, Mai<br />
<strong>20</strong>00), angesichts des Ereignisses und des<br />
Themas, innere Bewegtheit zu verbergen.<br />
Meine persönliche Korrespondenz mit Constantin<br />
Negreanu, die ich Wolfgang Mieder<br />
(Vermont, USA) und Hans Manfred Militz<br />
(Jena, DDR) verdanke, erstreckt sich auf die<br />
Jahre <strong>19</strong>87-<strong>19</strong>90. Zur geplanten Begegnung<br />
in Straßburg im Jahre <strong>19</strong>90 kam es nicht,<br />
statt des erwarteten Gastes zur Sommeruniversität<br />
erreichte uns die Nachricht seines<br />
frühen Todes. Trotz aller Veränderungen des<br />
darauffolgenden Jahrzehnts bleibt die Permanenz<br />
des Wesentlichen in Constantin<br />
Negreanus wissenschaftlicher Bewertung des<br />
Sprichworts (SPW), die aus der Gegenwartsperspektive<br />
zu würdigen ich mir hier und<br />
jetzt zur Ehre mache.<br />
1 Nicolae Iorga (<strong>19</strong>37), "Le despotisme éclairé dans<br />
les pays roumains au XV<strong>II</strong>Ie siècle". In Bulletin of<br />
the International Committee of Historic Sciences 34,<br />
101.<br />
Gertrud Gréciano<br />
Phraseologieforschung gilt als besonderes<br />
Anliegen der zeitgenössischen<br />
Linguistik, was Veröffentlichungen, Veranstaltungen,<br />
Förderungs- und Prüfungsprogramme<br />
bezeugen. Die Gesellschaft<br />
EUROPHRAS, inzwischen ein europäisches<br />
Netzwerk mit ihrem Rechtssitz in der<br />
Schweiz, mehrsprachig und mit der (Auslands)Germanistik<br />
als Hauptbotschafter von<br />
Ost nach West und Nord nach Süd, kann als<br />
internationales Forum und institutioneller<br />
Bezugspunkt angesehen werden, deren<br />
großes Verdienst es ist, Parömiologie und<br />
Phraseologie disziplinär zu verbinden, aufgrund<br />
der Gemeinsamkeiten zwischen beiden<br />
Sprachobjekten: Mehrgliedrigkeit, Festgeprägtheit<br />
und Figuriertheit, prototypische<br />
Merkmale, die sich mit Familienähnlichkeit<br />
begnügen. Das bedeutet weder Vereinnahmung<br />
noch Vereinheitlichung, denn das<br />
Phrasem - der Terminus ist von I. Mel'cuk<br />
(Paris <strong>19</strong>94), er gestattet m.E. die Umgehung<br />
des Diskussion zu Phraseologismus/Phraseolexem<br />
- ist ein Oberbegriff, der differenzierte<br />
und mehr oder weniger typische<br />
Exemplare wie Funktionsverbgefüge (FVG),<br />
Idiome (ID) und Sprichwörter (SPW) zu<br />
umfassen vermag. Der effektiven Zusammenarbeit<br />
von Fachleuten der Phraseologie<br />
und Parömiologie aus Slavistik, Romanistik<br />
und Germanistik ist der konvergenz- und<br />
konsensstiftende wissenschaftliche Fortschritt<br />
zu verdanken.<br />
Hatte V. Telja (Bukarest, <strong>19</strong>65) mit<br />
Recht die damalige Autonomie der Phraseologie<br />
verteidigt, so vertreten wir heute deren<br />
grenzüberschreitenden Standort, intra- und<br />
interdisziplinär: Kristallisationspunkt von
Morphosyntax und Pragmasemantik, verwurzelt<br />
im Text, gehortet im Wörterbuch mit<br />
Rückwirkung auf die Lehre vom Zeichen<br />
und vom Menschen. Die erste Hilfe in der<br />
Vermittlung rumänischen Wort- und Wissensstandes<br />
leistet Constantin Negreanu<br />
(<strong>19</strong>83) durch den Abbau der Sprachbarriere<br />
mit der französischen Zusammenfassung<br />
seiner These und der Zuhilfenahme von<br />
Konkordanzen, Übersetzung und Übertragung<br />
der SPW ins Französische, was auch<br />
Fremdsprachlern, wie mir, zumindestens<br />
teilweise den Zugang zu den 6000 untersuchten<br />
SPW des Rumänischen ermöglicht.<br />
In der vorgegebenen Kürze möchte ich vier<br />
Aspekte anschneiden, die den Experten auf<br />
die Aktualität dieses Wissenschaftlers<br />
schließen lassen. Der von Constantin Negreanu<br />
gewählte linguistische Erklärungsrahmen<br />
für SPW und spw Redensarten<br />
macht den Phraseologen zum idealen<br />
Ansprechspartner (1.). Aufbauend auf der<br />
bekannten und anerkannten ethnologischen<br />
Tradition der rumänischen Geisteswissenschaft<br />
entwirft Constantin Negreanu für<br />
SPW das Ethnokonzept und -feld als Erklärungsmuster,<br />
das mit den heute verbreiteten<br />
kognitiven Modellen in Verbindung<br />
zu bringen sind (2.). Seine begrifflich<br />
ausgerichtete Deutung der sprichwortimmanenten<br />
Bilder ist Vorbote der heute<br />
verbreiteten konzeptuellen Metapherntheorien<br />
(3.), die letzten Endes den Sinn (4.)<br />
zum Hauptziel dieser inhaltsträchtigen<br />
Strukturanalyse machen. Es handelt sich um<br />
eine poststrukturalistische Suche nach der<br />
Semantik einer Kultur.<br />
Von der Systemlinguistik zur Textlinguistik.<br />
In den 60er und 70er Jahren war die<br />
operationelle und klassifizierende Beschreibung<br />
von Spracheinheiten die Hauptaufgabe<br />
der Systemlinguistik. Unter dem<br />
Strukturalismus wurde die Leipziger Schule<br />
zum Vorbild für die exakte, technische Erfassung<br />
von Wortarten, -gruppen, Satzgliedern<br />
und Sätzen. Auch Phraseme wurden<br />
von H. Burger (<strong>19</strong>73) und A. Rothkegel<br />
(<strong>19</strong>73) strukturalistisch und tranformationnell<br />
perfekt beschrieben. Der formalen<br />
Struktur jedoch widmet Constantin Negreanu<br />
nur weniger als die Hälfte seiner Unter-<br />
<strong>19</strong>2<br />
Gertrud Gréciano<br />
suchung (58-150) und unter Morphologie<br />
behandelt er vorwiegend die Lexik, d.h., die<br />
Herkunftsbereiche der Formative (Fauna,<br />
Elend, Meteorologie, Bau, Maß). Im Unterschied<br />
zu den erwähnten deutschen Strukturanalysen<br />
zur deutschen Phraseologie, ähnlich<br />
jedoch der französischen Linguistik zu<br />
französischen Phrasemen, geht es bei<br />
Constantin Negreanu wenig um Syntax und<br />
wenn, dann des Aufschlusses wegen von<br />
syntaktischen Phänomenen auf ihre diskursive<br />
Funktion, von z.B. Negation als<br />
Ausdruck des Verbotes und Bestätigung der<br />
erzieherischen Rolle des SPW selbst.<br />
Constantin Negreanu's Grund-anliegen ist<br />
die Semantik und daher seine Übertragung<br />
des Strukturbegriffes auf Begriff (44-58) und<br />
Stil (153-215) unter der besonderen Miteinbeziehung<br />
der Stilfiguren, Aspekte, auf die<br />
ich noch einmal zurückkommen werde.<br />
In diesem Zusammenhang und für seine<br />
Zeit mag die Darstellung und Benennung des<br />
SPW nicht als Satz sondern als Äußerung<br />
und Mikrotext überraschen, was Spürsinn für<br />
oder Wissen von mengentheoretischen Einheiten<br />
voraussetzt. Der häufige Verweis auf<br />
den Kontext trägt der Situationsgebundenheit<br />
Rechnung, nicht jedoch wie üblich im<br />
Gebrauch, sondern im System, d.h., der<br />
Gesamt- und Ganzheit der SPW-Belege in<br />
einer Sprache, hier dem rumänischen Sprichwortschatz<br />
als Text. Constantin Negreanus<br />
Analyse zeugt von einem holistischen<br />
Gesamtblick, strukturell und kommunikativ,<br />
der die Textlinguistik vorwegnimmt und für<br />
den Mikroeinheiten, gleich Molekülen die<br />
Welt bedeuten. So spricht der Autor bei<br />
Belegen wie L'honnêté chasse la honte von<br />
einer intramikrokontextuellen Struktur nach<br />
Antonymie, was an Brinkers explizite<br />
Wiederaufnahme erinnert.<br />
Vom Ethnokonzept zum Kognitivismus.<br />
Einen sehr originellen Beitrag zur<br />
europäischen Phraseologieforschung liefert<br />
Constantin Negreanu mit den Begriffen<br />
Ethnozeichen, Ethnokonzept und Ethnofeld,<br />
die laut Résumé (<strong>19</strong>83, 250) von ihm geprägt<br />
sind, die m.E. jedoch nicht zu trennen<br />
sind von dem sehr frühen und fortschrittlichen<br />
Wissensstand der rumänischen Ethnologie,<br />
Anthropologie und Kulturwissenschaft.<br />
Arbeiten wir in EUROPHRAS bis<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Constantin Negreanu und die europäische Phraseologie<br />
heute noch mit den systemlinguistisch belasteten<br />
Kategorien wie Schlüsselbegriff und<br />
sprechen wir im selben Zusammenhang ganz<br />
neutral von der Produktivität bestimmter<br />
Phänomene, so war uns Constantin Negreanu<br />
mit seinen explikativen Ethno-Termini 15<br />
Jahre voraus und ist er der direkte Vorbote<br />
der ethischen Konzepte, anhand derer A.<br />
Stedje (<strong>19</strong>89, <strong>19</strong>97) mentale Strukturen zu<br />
erfassen sucht. Wie A. Stedje in Lexemen<br />
und Idiomen, so sieht Constantin Negreanu<br />
in SPW eine kulturspezifische Konzeptualisierung<br />
ethischer Grundmuster: soziale<br />
Verhaltensformen bei A. Stedje, Charaktereigenschaften<br />
bei Constantin Negreanu.<br />
Natürlich sind darunter nicht nationale<br />
Stereotypien zu verstehen, sondern kulturspezifische<br />
Subsidiaritäten im Sinne des<br />
europäischen Gemeinschaftsrechts. Gewisse<br />
Reformulierungen scheinen mir in diesem<br />
Sinne angebracht; Probleme, mit denen sich<br />
gerade auch A. Stedje in ihrer komparativen<br />
d.h. interkulturellen Perspektive auseinanderzusetzen<br />
versucht.<br />
Negreanu arbeitet intrakulturell zum<br />
Rumänischen und kommt zu folgender<br />
Ethnobegriffsskala, mit Nicht-Realien als<br />
Onoma: WEISHEIT / IRONIE / ARBEIT /<br />
VOR-SICHT /KLUGHEIT. Die interne und<br />
externe Strukturierung seines Kategorienkom-plexes<br />
ist aufschlußreich: das SPW als<br />
Ethnozeichen für einen Ethnobegriff mit<br />
Synonymien und Antonymien innerhalb<br />
eines und mit mehreren Ethnofeldern:<br />
IRONIE & SATIRE, HUMOR; WEISHEIT &<br />
WAHNSINN; mit parömiologisch belegten<br />
Querverbindungen zwischen Ethnobegriffen<br />
wie WEISHEIT & IRONIE. Für diesen<br />
parömiologischen Sachverhalt gibt Negreanu<br />
aufschlußreiche historische und ethnologische<br />
Erklärungen. Dennoch bereits aus<br />
Negreanus flüchtigen Konkordanzen mit<br />
dem Französischen ergeben sich Ansätze zur<br />
Übereinzelsprachlichkeit, wobei ich es den<br />
Anthropologen überlasse, von Universalität<br />
zu sprechen. Mehrmals bin ich selbst auf<br />
Vergleiche, eben auch Begriffsvergleiche<br />
zwischen dem Deutschen und Französischen<br />
eingegangen und erlaube mir den Hinweis<br />
auf eine statistische Erhebung zu phraseographischen<br />
onomasiologischen Konvergenzen:<br />
ZURECHTWEISUNG / CRITIQUE, WAHN-<br />
SINN / FOLIE, AB-LEHNUNG / REFUS,<br />
TRUNKENHEIT / IVROGNERIE, PRAHLE-<br />
REI / VANTARDISE (G. Gréciano <strong>19</strong>91,<br />
<strong>19</strong>92,<strong>19</strong>93).<br />
Zehn Jahre vor V. Vapordshiev (<strong>19</strong>92)<br />
und zwanzig Jahre vor H. Schemann (<strong>20</strong>00),<br />
ziemlich gleichzeitig, jedoch zehnmal so<br />
umfangreich mit H. Görner (<strong>19</strong>82): 600<br />
Belege zum Deutschen, 6000 zum<br />
Rumänischen, betreibt Constantin Negreanu<br />
phraseologische Onomasiologie, die schwierigste<br />
und notwendigste unserer Aufgaben,<br />
weil der Gebrauch von Phrasemen, ergo<br />
Parömien thematisch bedingt bzw. bestimmt<br />
ist. Constantin Negreanu bleibt für die<br />
aktuellen phraseographischen Projekte, ob<br />
einzel-, ob mehrsprachig, unumgänglich und<br />
auf dieser Basis ist das bisher zu wenig vertretene<br />
Rumänische in die internationale<br />
Lexikographie miteinzubeziehen, z.B. in J.<br />
Sevilla-Munoz (<strong>20</strong>00), Mehrsprachiges<br />
Lexikon zu Romanischen Parömien.<br />
Von der Illustration zur konzeptuellen<br />
Metapher.<br />
Besondere Aufmerksamkeit widmet der<br />
linguistische Parömiologe der Lautgestalt<br />
dieser Ethnozeichen. Abgesehen von den<br />
phonetischen Gegebenheiten: ihre differenzierte<br />
Reimbildung, Assonanzen und Alliterationen,<br />
die uns mehr als die SPW anderer<br />
Sprachen an Lyrik und Lied erinnern, abgesehen<br />
auch von ihren schablonenhaften,<br />
gerne binären Strukturen - Die Schwätzer<br />
säen, die Stummen ernten - erkennt<br />
Constantin Negreanu in den lexikalischen<br />
Komponenten eine kulturspezifische Repräsentationsweise<br />
von Welten ("physionomie<br />
morale, profil spirituel"). Aus zahlreichen<br />
EUROPHRAS-Untersuchungen zu anderen<br />
Sprachen wissen wir heute, daß die Alltagserfahrung<br />
übereinzelsprachlich zum Ansatz-<br />
und Ausgangspunkt für die Versprachlichung<br />
von Begriffen dient. Das für die<br />
Sprechergemeinschaft / Sprachkultur Spezifische<br />
("spécifique national") hängt ab von<br />
der Produktivität der Spenderbereiche. Laut<br />
Constantin Negreanu dominieren im Rumänischen<br />
- der Kosmos: Himmel, Sterne, Mond,<br />
Wolken, Erde, Sonne,<br />
- das Übernatürliche: Gott, der Teufel,<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>3
- die Flora und die Fauna: Ein ächzender<br />
Baum lebt lange; bellende Hunde beißen<br />
nicht,<br />
was an Ergebnisse zum Neugriechischen<br />
erinnert (M.L. Drillon <strong>19</strong>97). Für die<br />
Phraseologie des Deutschen und Französischen<br />
ergibt sich folgende Bildspenderskala:<br />
- Körperteile, die natürliche und soziale<br />
Welt, die kosmische und übernatürliche<br />
Welt, wovon in beiden Sprachen die zahlreichen<br />
- Psychosomatismen zu Hand/Kopf/Herz/<br />
Auge/Fuß pied/œil/tête/cœur/main, - Zoologismen<br />
zu Hund/Kuh/Katze/Pferd/Vogel/<br />
chien/chat/âne/cheval und<br />
- Technologismen wie jdm. Dampf<br />
machen, aufs rechte Gleis kommen, elektrische<br />
Herzachse, remettre sur les rails,<br />
trouble de conduction zeugen.<br />
Constantin Negreanus erste Erklärung<br />
dieses Tatbestandes bringt ihn in die unmittelbare<br />
Nähe der konzeptuellen<br />
Metapherntheorie, wenn er mit der Tendenz<br />
der Visualisierung des Allgemeinen durch<br />
das Spezielle argumentiert (<strong>19</strong>83, 254). Aus<br />
der Perspektive der klassischen Rethorik<br />
erinnert Constantin Negreanu selbst im<br />
Rahmen der Stilfiguren an die Metapher und<br />
den metaphorischen Vergleich. In ethnologischer<br />
Tradition erkennt er in der Vermeidung<br />
des Abstrakten ein Charakteristikum<br />
des Volksmundes: "la plupart des<br />
mots-clefs des unités parémiologiques sont<br />
des termes concrets, chose tout à fait<br />
explicable puisque la pensée concrète du<br />
parleur de la langue populaire a besoin<br />
d'illustration du général par le particulier; le<br />
parler populaire évite autant que possible les<br />
termes abstraits". Im Unterschied dazu liest<br />
die heutige anthropologische Lesart diese<br />
kollektiv festgeprägten Metaphern in<br />
Idiomen und Parömien über ihre individuelle<br />
Nachvollziehbarkeit. Anhand der Gemeinsprache<br />
zeigt Ch. Baldauf (<strong>19</strong>97), daß<br />
Metapher ein Alltagsphänomen ist und die<br />
Prüfung ihres Materials beweist, daß der<br />
Großteil dieses Gemeinsprache-Korpus<br />
mehrgliedrig und festgeprägt, also phraseologisiert<br />
ist.<br />
<strong>19</strong>4<br />
Gertrud Gréciano<br />
Über die Struktur zum Sinn.<br />
Ganz entschieden ist Struktur bei<br />
Constantin Negreanu nicht Selbstzweck,<br />
sondern ein Weg in die Semantik, die keine<br />
Referenzsemantik, sondern eine konzeptuelle<br />
und kulturelle Semantik ist und auf<br />
Assoziationsdenken, Analogiedenken und<br />
Kontrastdenken beruht. Diese heuristische<br />
Auffassung ist der Grund der überraschend<br />
geringen Anwendung des besagten Instruments<br />
auf die Syntax, seiner Übertragung auf<br />
die Bereiche von Begriff und Stil. Obwohl<br />
weder der Sprecher, noch die Verwendung,<br />
sondern die Sprache im Mittelpunkt der<br />
Untersuchung steht, werden die Stilelemente<br />
und -figuren der SPW kollektiv der Sprechergemeinschaft<br />
zugeordnet. Die metaphorische<br />
Sprache wird zum Charakteristikum<br />
des Volksmundes und schließt als solche den<br />
wörtlichen Sinn nicht aus, wenn sie auch, je<br />
nach Kontext, die figurierte Bedeutung vermittelt.<br />
Der Stilwert des SPW ist der der<br />
Literatur, was aus ihm eine Übergangserscheinung<br />
zur geschriebenen literarischen<br />
Sprache macht. Parömiologische Stilzüge<br />
stammen aus der Ästhetik; sie vermitteln<br />
Plastizität, Expressivität und Präzision.<br />
Constantin Negreanu (<strong>19</strong>83, 257) schließt<br />
mit L. Blaga: sprichwörtlicher Stil sei<br />
sprichwörtlich für Rumänien: "les proverbes<br />
dénotent un penchant pour le pittoresque qui<br />
équivaut à une déterminante stylistique<br />
inconsciente, organique, constitutive figurant<br />
dans la matrice stylistique du peuple<br />
roumain".<br />
Der Phraseologe ist auf den ersten Blick<br />
überrascht über den Unterschied wenn nicht<br />
Widerspruch zwischen der negativen Beurteilung<br />
des Menschen im Phrasem<br />
schlechthin (doppelten Anthropozentrismus)<br />
und Constantin Negreanus positiven Bewertung<br />
im rumänischen SPW. Eine nähere<br />
Beobachtung des erfaßten SPW-Materials<br />
gibt jedoch deutlich zu erkennen, daß bereits<br />
über die antonym erfaßten Begriffe und<br />
Bilder auch im Rumänischen Tugenden und<br />
Untugenden zu Worte kommen: WEISHEIT<br />
vs WAHNSINN, WAHRHEIT vs LÜGE,<br />
FLEISS vs FAULHEIT, KLUGHEIT vs<br />
DUMMHEIT. Der Eindruck von der Domi-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Constantin Negreanu und die europäische Phraseologie<br />
nanz positiver Werte entsteht durch die Wahl<br />
der Tugend als Ethnobegriff und Ethnofeld,<br />
was textsortenbedingt durch die universell<br />
erzieherische Funktion des SPW zu verstehen<br />
und zu erklären ist.<br />
Ein auch nur kurzer Einblick in Constantin<br />
Negreanus Darstellung der Sprichwörter<br />
des Rumänischen macht deren Aktualität<br />
deutlich und erlaubt, sie mit ihrem<br />
linguistischen, und ganz besonders phraseologischen<br />
Erklärungsansatz zu begründen,<br />
dessen prototypische Konzentration auf die<br />
Semantik über die Kategorien Begriff und<br />
Bild im zeitgenössischen Kognitivismus sein<br />
bestätigendes Echo findet.<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Baldauf Christa (<strong>19</strong>97), Metapher und Kognition.<br />
Frankfurt, Peter Lang (Sprache und Gesellschaft)<br />
2. Burger Harald (<strong>19</strong>73), Idiomatik des Deutschen.<br />
Tübingen, Niemeyer (Germanisti-sche<br />
Arbeiten)<br />
3. (<strong>19</strong>98) Phraseologie. Eine Einführung am<br />
Beispiel des Deutschen. Berlin, Schmid<br />
4. Drillon Marie Laurence (<strong>19</strong>97), Réussir: la<br />
productivité phraséologique du concept en<br />
grec moderne, en français et en allemand.<br />
Mémoire de Maîtrise, Paris, INALCO.<br />
5. Görner Herbert, Redensarten. Kleine Idiomatik<br />
der deutschen Sprache. Leipzig, VEB<br />
Bibliographisches Institut.<br />
6. Gréciano Gertrud (<strong>19</strong>83), La Sémantique des<br />
expressions idiomatiques. Paris, Klincksieck<br />
(Recherches Linguistiques IX)<br />
7. (<strong>19</strong>91) "Zur Aktivität der Phrasemkomponenten<br />
im Deutschen und Französischen". In<br />
Sabban/Wirrer (Hrsg), Sprichwörter und<br />
Redensarten im interkulturellen Vergleich,<br />
66-83. Opladen, Westfälischer Verlag.<br />
8. (<strong>19</strong>93) "Phraseologievergleich Deutsch-Französisch"".<br />
In Kroslakova/Durco (Hrsg.), Phraseology<br />
and Education, 122-136. Nitra<br />
*<br />
* *<br />
9. (Hrsg.)(<strong>19</strong>89), EUROPHRAS 88. Phraséologie<br />
Contrastive. Actes du Colloque International<br />
de Klingenthal. Strasbourg<br />
10. (Hrsg.) (<strong>20</strong>00), Micro- et Macrolexèmes et<br />
leur figement discursif. Etudes de linguistique<br />
comparée. Actes du Colloque International de<br />
Saverne. Louvain-Paris. Peeters (Bibliothèque<br />
de l'Information Grammaticale)<br />
11. Gréciano Gertrud / Rothkegel Annely (Hrsg),<br />
Phraseme in Kontext und Kontrast. Bochum,<br />
Brockmeyer (Studien zur Phraseologie et<br />
Parömiologie 13)<br />
12. Negreanu Constantin (<strong>19</strong>83), Strutura proverbelor<br />
româneşti. Bucureşti. Editura ştiinŃifică<br />
şi enciclopedică.<br />
13. Martins-Baltar Michel (Ed.)(<strong>19</strong>97), La locution<br />
entre langue et usages. Actes du Colloque<br />
International de St. Cloud. Paris, ENS<br />
Editions.<br />
14. Mieder Wolfgang (<strong>19</strong>93), Proverbs are never<br />
out of season. Popular wisdom in the modern<br />
age. New York, Oxford University Press.<br />
15. (Ed.) (<strong>19</strong>94), Wise Words. Essays on the<br />
Proverbs. New York, Garland.<br />
16. Rothkegel Annely (<strong>19</strong>73), Feste Syntagmen.<br />
Tübingen, Niemeyer (Linguistische Arbeiten)<br />
17. Schemann Hans (<strong>20</strong>00), Idiomatik und Anthropologie.<br />
Hildesheim, Olms (Germanistische<br />
Linguistik).<br />
18. Sevilla-Munoz Julia (<strong>20</strong>00), "Pour une saisie<br />
plurilingue des proverbes à partir de la langue<br />
espagnole". In Gréciano (<strong>20</strong>00), 77-92.<br />
<strong>19</strong>. Stedje Astrid (<strong>19</strong>89), "Beherztes Eingreifen<br />
und Ungebetenes Sich-Einmischen. Kontrastive<br />
Studie zu einer ethnolinguistischen Phraseologieforschung".<br />
In Gréciano (<strong>19</strong>89), 441-<br />
452.<br />
<strong>20</strong>. (<strong>19</strong>97), "Etisca koncept och mentala kulturer.<br />
En kontrastiv studie ar 'rätt' och 'fel' beteende<br />
i dika kulturer". In Skog-Södersved (Hrsg.),<br />
Ethische Konzepte und mentale Kulturen.<br />
Umea, Swedish Science Press<br />
21. Vapordshiev Vesselin (<strong>19</strong>92), Das Phraseolexikon<br />
der deutschen Gegenwartssprache.<br />
Sofia.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>5
SYNTAKTISCHE STRUKTUREN AUF LEXIKALISCHER GRUNDLAGE.<br />
EIN RUMÄNISCH-DEUTSCHER VERGLEICH<br />
Die Lexikologie ist ein Bestandteil der<br />
Syntax, in dem der Wortschatz nur den Stoff<br />
für syntaktische Verbindungen liefert. Es<br />
gibt jedoch einen Teil der Lexikologie, und<br />
zwar die Wortbildung anhand von eigenen,<br />
oder sogar fremden Verfahren - Lehnbildungen<br />
- der die Syntax 1 der Lexikologie<br />
unterordnet, genauer gesagt einer bestimmten<br />
syntaktischen Kategorie, und bestimmten<br />
syntaktischen Verbindungen. Im Innern der<br />
Wörter bestehen aber auch andere Beziehungen,<br />
die von einigen Sprachwissenschaftlern<br />
hervorgehoben wurden. Wir erwähnen<br />
gleich zu Beginn, daß wir hier nicht<br />
auf die homosyntagmatischen Beziehungen 2<br />
eingehen werden (Saussure <strong>19</strong>22: 177 nennt<br />
sie Solidaritätsbeziehungen; Hjlemslev und<br />
Togeby nennen sie Kohäsionsbeziehungen;<br />
Zugun, <strong>19</strong>70: 460 sqq nennt sie Independenzbeziehungen).<br />
Es sind Beziehungen, die<br />
sich zwischen den Morphemen gebildet<br />
haben, diskrete Verbindungen im Innern der<br />
Wörter; auch werden wir uns nicht auf die<br />
Art und Weise beziehen, wie es diesen<br />
Mophemen gelungen ist, die Makrosyntax<br />
einer Aussage zu beeinflussen, sondern wir<br />
werden jene heterosyntagmatischen Beziehungen<br />
behandeln, die es an der Oberfläche<br />
der Wortbildung gibt, zwischen den<br />
einzelnen lexikalischen Einheiten im Inneren<br />
der Wörter und den lexikalischen Einheiten,<br />
die die Struktur der 'Zusammensetzung' ausmacht.<br />
Bemerkung: Es ist eine Leistung des Strukturalismus,<br />
die Sprache als ein geschlossenes<br />
Zeichensystem zu verstehen und die Struktur<br />
dieses Systems erfassen zu wollen, indem sie<br />
die wechselseitigen Beziehungen der Teile<br />
1 Hier unterscheiden wir die 'Syntaktik', als Bedeutungslehre,<br />
die die [sprachlichen] Zeichen (als<br />
Bedeutungsträger) betrifft, von der 'Syntax', die sich<br />
mit den Beziehungen der sprachlichen Elemente im<br />
Satz (d.h. mit den sprachlichen Elementen in der<br />
linearen Redekette) befasst.<br />
2 'Beziehung' bedeutet hier 'Struktur' = die Art und<br />
Weise sprachliche Elemente zu Sätzen zu ordnen,<br />
demnach 'Syntax'.<br />
Mihaela Secrieru, Anneliese Poruciuc<br />
zueinander erforscht, wobei die Beziehung<br />
zunächst nicht beachtet wird. (Cf. L. Hjelmslev:<br />
"la structure mophologique est un réseau<br />
de fonctions paradigmatiques et syntagmatiques<br />
qui sont en fonction les unes des autres"<br />
- <strong>19</strong>49: 147).<br />
Die rumänische Sprache verfügt über einige<br />
besondern Klassen von zusammengesetzten<br />
Wörtern, die nach gewissen Kriterien<br />
in einheitliche Unterklassen eingeteilt werden<br />
können, z.B.: nach der Herkunft, nach<br />
dem Kriterium der morphologischen Einheit<br />
der Glieder einer Zusammensetzung, nach<br />
der syntaktischen Art und Weise ihrer<br />
Bildung, nach dem Kriterium der Erkennbarkeit<br />
der Glieder einer Zusammensetzung,<br />
nach dem stilistischen Kriterium, nach dem<br />
morphologischen Kriterium der lexikalischgrammatikalischen<br />
Klasse, in die sich das<br />
Wort einordnet. u. a. (s. auch Ciobanu/ Hasan<br />
<strong>19</strong>70). Es ist offensichtlich, dass all diesen<br />
Kriterien gleiche Bedeutung zugeschrieben<br />
werden muss, dass sie aber eben<br />
gerade dasjenige Kriterium nicht erfassen,<br />
das das Thema unserer Arbeit ist. Wir unterscheiden<br />
hier zwischen neu gebildeten Wörtern<br />
durch 'Zusammensetzung' 3 und neu gebildeten<br />
Wörtern durch andere innere Verfahren<br />
der Bereicherung des Wortschatzes<br />
(wie z.B.: progressive und regressive Ableitungen,<br />
Kontaminationen, Abkürzungen,<br />
Konversionen) und wollen darauf hinweisen,<br />
dass den zusammengesetzen Wörtern ein<br />
Verfahren zugrundeliegt, das wir ein syntaktisches<br />
Verfahren nennen könnten, die<br />
Kombi-nation von zwei oder mehreren<br />
lexikalisch-gramma-tikalischen Einheiten,<br />
die unabhängig in einer Sprache existieren<br />
und sich aufgrund ihrer strukturalen Kom-<br />
3 Unter 'Zusammensetzung' verstehen wir eine Anreihung<br />
jedwelcher lexikalischer Einheiten, deren Resultat<br />
feste Wortverbindungen sind.
Syntaktische Strukturen auf lexikalischer Grundlage.<br />
Ein rumänisch-deutscher Vergleich<br />
patibilität zusammensetzen (aufgrund ihrer das Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen<br />
syntaktisch-semanti-schen Anschließbarkeit). Glieder wird in einer Wortverbindung durch<br />
Die Einteilung dieser 'Zusammensetzun-<br />
die Flexion, in der Zusammensetzung allein<br />
gen' nach dem morphologischen Kriterium<br />
durch die Stellung der Glieder ausgedrückt.<br />
der Glieder, führt zu einheitlichen Unter-<br />
Ob dieses Verhältnis als ein syntaktisches<br />
klassen, da sowohl die Zusammensetzung der<br />
Verhältnis angesehen werden kann oder als<br />
homomorphologischen Einheiten als auch<br />
ein morphologisches, in dem das syntakti-<br />
die der heteromorphologischen zu den zusche<br />
nicht ganz ausgelöscht wurde, ist eine<br />
sammengesetzten Wortarten sowie Redens-<br />
Frage, die wir hier nicht beantworten<br />
arten und Redewendungen gezählt werden<br />
können, denn sie würde den Rahmen dieser<br />
können. Wir besprechen zuerst einige Bei-<br />
Arbeit überschreiten.<br />
spiele von Lehnübersetzungen der rumäni- Zwei andere Lehnübersetzungen aus der<br />
schen Sprache aus der deutschen Sprache. deutschen Sprache rum. război-fulger < dt.<br />
Wir werden sie von der einbezogenen Blitzkrieg oder rum. oală-minune < dt.<br />
syntaktischen Beziehung aus analysieren. Wundertopf, enthüllen auch die Unter-<br />
Es gibt einige Lehnübersetzungen in der<br />
schiede in der typischen Topik ( Stellung der<br />
rumänischen Sprache, wo sich das anfänglich<br />
Glieder in einer Zusammensetzung) der zwei<br />
heterosyntagmatische Verhältnis zwischen<br />
Sprachen: in der deutschen Sprache steht das<br />
unabhängigen Wortarten, die als graphisches<br />
Bestimmungswort vor dem Grundwort, in<br />
Merkmal die weiße Pause und die Flexion<br />
der rumänischen Sprachen ist die Stellung<br />
haben, zu homosyntagmatischen Verhält-<br />
gerade umgekehrt. Die rumänische Sprache<br />
nissen, zu festen Verbindungen entwickelt<br />
ändert das Verhältnis der Unterordnung<br />
haben: rum. anotimp < dt. Jahreszeit mit<br />
durch die Stellung von frastischem Typ<br />
der buchstäblichen Übersetzung rum. timp al<br />
('război care se petrece la fel de repede, încât<br />
anului, wie man noch im vorigen Jahr-<br />
poate fi comparat cu lumina unui fulger' şi<br />
hundert sagte (s. auch Hristea <strong>19</strong>76, tip. 15).<br />
'oală care favorizează timpii de pregătire şi<br />
Dieses timp al anului erfasste noch in seiner<br />
gustul unor mâncăruri, încât poate fi compa-<br />
Struktur das syntaktische Verhältnis von<br />
rată cu o minune') zu einer Juxtaposition von<br />
unterordnendem Typ. Das sprachökonomi-<br />
appositivem Typ, da normalerweise die Juxsche<br />
Prinzip forderte den Verzicht des Relataposition<br />
zweier Subatantive, die nicht in<br />
tivums und führte zu einer isosemantischen<br />
einem unterordnenden oder koordinierenden<br />
Struktur, aber nicht auch isostrukturalen; in<br />
Verhältnis stehen, in einem appositiven Ver-<br />
der synthetischen Zusammensetzung anohältnis<br />
stehen können.<br />
timp, sind nur die semantischen und homo- Auf der Stufe der Zusammensetzungen<br />
syntagmatischen Beziehungen zwischen verhält sich die Tatsache in der deutschen<br />
Morphemen-Lexemen offensichtlich: an + Sprache gleich: das Steinhaus < das Haus<br />
timp. Die Rolle des Relators (Verbindungs- aus Stein. Oft haben sich in der deutschen<br />
elementes) übernahm der Vokal o. Was in Sprache noch Reste archaischer Morpheme<br />
der rumänischen Sprache als eine Lehnüber- erhalten, alte Flexionsendungen aus dem<br />
setzung bezeichnet werden kann, ist in der Mhd., die sich nur noch in festen Zusammen-<br />
deutschen Sprache ein zusammengesetzes setzungen erhalten haben, und unter dem<br />
Substantiv mit Fugenelement -es-, das sich Namen 'Fugenelemente' bekannt sind: z.B. -<br />
auch auf ein unterordnendes Verhältnis en- > farbenblid, Krankenhaus, Straßenver-<br />
stützt, da das Substantiv aber zu einer festen kehr; -er- > Hühnerdarm, Häusermeer. Das<br />
Verbindung wurde, kann man auch hier nicht Fugenelement -[e]s- begegnet am häufigsten:<br />
mehr von einem klaren syntaktischen Ver- Waldesrand, Schweinsleber, Bahnhofshältnis<br />
sprechen, es kann aber ein diskretes restaurant. "Der Ausgangspunkt für den Typ<br />
miteinbezogenes syntaktisches Verhältniss ist eine syntaktische Fügung mit stark flek-<br />
nicht verneint werden.<br />
tiertem Maskulinum oder Neutrum im Geni-<br />
Was die deutsche Sprache anbelangt, ist<br />
tiv Singular: des Waldes Rand. Aber inner-<br />
das Bedeutungsverhältnis zwischen den beihalb<br />
der Zusammensetzung wird die Beden<br />
Gliedern ein anderes als dasjenige in<br />
deutungsbeziehung nur durch die Wortfolge<br />
einer Wortverbindung 'die Zeit des Jahres',<br />
ausgedrückt, das Fugen -s ist also - wie ge-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>7
seagt - kein Flexionszeichen mehr. Es tritt<br />
auch dort auf, wo ein Pluralverhältnis vorliegt<br />
(Freundeskreis 'Kreis von Freunden',<br />
Schiffsverkehr 'Verkehr von Schiffen') oder<br />
wo das erste Kompositionsglied ein Femininum<br />
ist, für das -s als Flexionsendung<br />
ebenfalls nicht in Frage kommt (Nahrungsmittel,<br />
Liebeskummer, Geburtstag, wahrheitsgetreu,<br />
erfahrungsgemäß)" (Agricola<br />
<strong>19</strong>69: 439).<br />
Da wir über den syntaktischen Charakter<br />
der Zusammensetzungen sprechen, müssen<br />
wir auch die syntaktische Funktion, die syntaktischen<br />
Funktionen der Zusammensetzung<br />
im Auge behalten. Sind eine oder mehrere<br />
syntaktische Funktionen mit einbezogen? Für<br />
die beiden Klassen von Typen von Zusammensetzungen<br />
mit synthetischer oder<br />
analytischer Struktur wird, in der Fachliterarur<br />
kein Unterschied gemacht. Sowohl die<br />
Zusammensetzungen mit synthetischer als<br />
auch die mit analytischer Struktur haben eine<br />
einzige syntaktische Funktion im Kontext,<br />
eine integrierende syntaktische Funktion.<br />
Wenn aber beide Typen von Zusammensetzungen<br />
das Resultat von syntaktischen<br />
Verhältnissen, die syntaktische Funktionen<br />
generieren sind, wie sind dann die Verhältnisse<br />
der Unterordnung von appositivem<br />
Typ, was ist mit der syntaktischen Funktion<br />
geschehen, die diese syntaktischen Verhältnisse<br />
hervorgerufen hat? Sie ist nicht ausgelöscht,<br />
da die Form, die die Grenze des<br />
linguistischen Charakters ist, uns durch<br />
Merkmale noch in festen Verbindungen, die<br />
Existenz der syntaktischen Verhältnisse andeutet:<br />
rum. untdelemn.<br />
Einige Sprachwissenschaftler akzeptieren<br />
auf der Stufe der Zusammensetzungen "o<br />
analiză gramaticală de ordin secundar" (Dragomirescu<br />
<strong>19</strong>63: 391), aber eine syntaktische<br />
Funktion als durch eine andere syntaktische<br />
Funktion zu analysieren, bezieht einen Widerspruch<br />
und einen zerstörenden Defekt mit<br />
ein. Anderseits ist es ein Truismus, dass diese<br />
Zusammensetzungen bevor sie feste Verbindungen<br />
wurden, freie Wortverbindungen<br />
in der Kette der Rede waren, aufgrund von<br />
syntaktischen Fügungen, die syntaktische<br />
Funktionen generieren. Auf einer Ebene der<br />
Sprachgeschichte kann man von primären<br />
und zweitklassigen syntaktischen Funktionen<br />
sprechen, die sich den primären überlagert<br />
<strong>19</strong>8<br />
Mihaela Secrieru, Anneliese Poruciuc<br />
haben. Gehen wir nun von der Tatsache aus,<br />
dass die syntaktische Funktion des Untergeordneten/Appositionellen<br />
auf der Stufe der<br />
Zusammensetzung nicht ausgelöscht und<br />
nicht neutralisiert werden kann, von der syntaktischen<br />
Funktion der Zusammensetzung<br />
als ein Ganzes, weil sowohl in der rumänischen<br />
als auch in der deutschen Sprache<br />
noch Reste, Merkmale dieser miteinbezogenen<br />
syntaktischen Verhältnisse beibehalten<br />
wurden, ist es konvenabel, für eine Analyse<br />
ohne Rest und die die linguistische Wahrheit<br />
respektiert, die innere syntaktische Funktion<br />
der Zusammensetzung als eine syntaktische<br />
Unterfunktion zu betrachten. Der begonnene<br />
Gedankengang fordert, dass diese Strukturen<br />
auf dem syntaktischen Niveau als eine<br />
syntaktisch monofunktionelle periphrastische<br />
Gruppe (grup perifrastic unifuncŃional<br />
sintactic) betrachtet werde, die reale<br />
syntaktische Analyse dagegen, die eine Form<br />
vom Verhältnis 1 zu 1 ist, im Sinne, daß<br />
einem Wort wenigstens eine syntaktische<br />
Funktion entspricht (s. Secrieru <strong>19</strong>98), erlaubt<br />
eine offensichtliche Basis mit einer<br />
zentralen syntaktischen Funktion und mehreren<br />
syntaktischen Unterfunktionen. Der<br />
Widerspruch wäre damit gelöst.<br />
Auf der Ebene der Lexikologie kann<br />
man, durch die Vorladung dieses Kriteriums,<br />
obwohl rein syntaktisch, eine vollständige<br />
Klassifizierung, beziehungsweise ohne Rest,<br />
der Wörter, die eine syntaktische Unterfunktion<br />
und jenen, die sie nicht enthalten,<br />
vornehmen. Demnach können die Zusammensetzungen<br />
auch durch syntaktische Kriterien<br />
abgegrenzt werden, in gleicherweise<br />
wie sie durch morphologische und semantische<br />
abgegrenzt wurden.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Sowohl die rumänische als auch die deutsche<br />
Sprache kennt das Verfahren der Zusammensetzung,<br />
deren Resultat neue lexikalische<br />
Einheiten sind. Die deutsche Sprache<br />
ist jedoch eine vorbildliche Sprache, was<br />
Zusammensetzungen anbelangt. Diese Masse<br />
von zusammengesetzten Wörtern kann folgendermaßen<br />
verglichen werden:<br />
(d) Vom Standpunkt der Anzahl der<br />
Glieder einer Zusammensetzung: in<br />
der rumänischen Sprache ist die regelmäßige<br />
Anzahl der Glieder 2 oder<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Syntaktische Strukturen auf lexikalischer Grundlage.<br />
Ein rumänisch-deutscher Vergleich<br />
3. In der deutschen Sprache ist die<br />
Anzahl der dreigliedrigen Zusammensetzungen<br />
ebenso groß wie die<br />
der zweigliedrigen. In der deutschen<br />
Sprache gibt es auch mehrgliedrige<br />
Zusammensetzungen.<br />
(d) Alle besprochenen Typen von Zusammensetzungen<br />
müssen als lexikalische<br />
Einheiten angesehen werden, die auf dem<br />
Niveau ihrer inneren Struktur eine syntaktische<br />
Unterfunktion enthalten, die ein inne-<br />
(b) Vom Standpunkt des Verfahrensmechanismus:<br />
in der rumänischen Sprache<br />
wird das Verhältnis der Unterordnung verres<br />
markiertes syntaktisches Verhältnis generieren.wendet,<br />
aber auch das appositive, unter<br />
Titelwörtern, mit dem Merkmal der Juxta-<br />
L i t e r a t u r :<br />
position im weiteren Sinne. Bei Adjektiven<br />
erscheint ein strukturales lexikalisches<br />
Element, das wir thematischen Verbindungs-<br />
1. Agricola, E. et al., <strong>19</strong>69, Die deutsche Sprache,<br />
Leipzig: Bibliographisches Institut<br />
vokal (rum. vocală tematică de legătură)<br />
nennen: z.B.ştiinŃifico-fantastic. Die deutsche<br />
Sprache hat die bekannten Fugenelemente.<br />
(c)Einige Zusammensetzungen können<br />
nicht wort-wörtlich übersetzt werden, auch in<br />
der Sprache, die sie gebildet hat.<br />
2. Ciobanu, Fulvia/ FinuŃa Hasan, <strong>19</strong>70, Tratatul<br />
de formare a cuvintelor, Bucureşti.<br />
3. Dragomirescu, Gh. N., <strong>19</strong>63, "Îmbinările de<br />
cuvinte indivizibile, analizabile şi neanalizabile"<br />
(Beitrag, Societatea de ştiinŃe istorice şi<br />
filologice din R.P.R, 12. Nov.).<br />
4. Hjelmslev, Louis, <strong>19</strong>59, Essais linguistiques,<br />
Das Bedeutungsverhältnis zwischen den Paris: Minuit.<br />
Gliedern einer Zusammensetzung ist nicht 5. Hristea, Theodor, <strong>19</strong>76, "ContaminaŃia prin<br />
immer durchsichtig. Auch in der deutschen atracŃie sinonimică," România literară, 10 iu-<br />
Sprache greift man auf Wortverbindungen nie, No. 24 (S. 84).<br />
zurück, wo das Bedeutugsverhältnis der 6. Ionescu, Liliana, <strong>19</strong>65, "Asupra calcului tipu-<br />
Kompositionsglieder weniger durchsichtig<br />
ist. "Die Bedeutungsbeziehungen in einer<br />
rilor sintactice ale limbii române," SL, XVI,<br />
No. 3 (S. 407-415).<br />
Zusammensetzung sind also vielfach weniger 7. Manoliu, Maria, <strong>19</strong>64, "Raporturi între mor-<br />
deutlich ausgedrückt in einer Zusammenfeme," SCL, XV<strong>II</strong>, No. 3 (S. 373-383).<br />
setzung als in einer Wortgruppe, deren 8. Pană Dindelegan, Gabriela, "LocuŃiuni sau<br />
syntaktische Konstruktion weit mehr ver- grupuri sintactice libere (neanalizabile)," LL,<br />
langt, dass man sie durchdenkt und ent- No. 1 (S. 5-8).<br />
sprechend formuliert" (Agricola <strong>19</strong>69: 434);<br />
z.B. Arbeitsschutz = 'Schutz gegen Unfälle<br />
9. Secrieru, Mihaela, <strong>19</strong>98, Nivelul sintactic al<br />
limbii române, Botoşani: Editura Geea.<br />
bei der Arbeit'; Luftkatastrophen = 'Flugzeugunfälle<br />
in der Luft'.<br />
*<br />
10. Zugun, Petru, <strong>19</strong>70, "RelaŃia homosintagmatică<br />
de coeziune," SCL, No. 4 (S. 455-463).<br />
* *<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>19</strong>9
DIE SPEZIFIK DER INTONATORISCHEN LEISTUNGEN. NORMAB-<br />
WEICHUNGEN ALS STÖRFAKTOR IN DER FREMDSPRACHLICHEN<br />
KOMMUNIKATION<br />
0. Vorbemerkungen<br />
Der Begriff der Intonation wird in der<br />
Fachliteratur unterschiedlich aufgefaßt. Ein<br />
Teil der Linguisten identifizierten sie in Anlehnung<br />
an die englisch-amerikanische Forschung<br />
mit der Sprachmelodie (BANNERT<br />
<strong>19</strong>88; HELFRICH <strong>19</strong>85; FERY <strong>19</strong>88; UH-<br />
MANN <strong>19</strong>88; <strong>19</strong>91; MÖBIUS <strong>19</strong>93, u. a.).<br />
Ein anderer Teil bezeichnet mit Intonation in<br />
Anlehnung an den Prager Strukturalismus<br />
einen Komplex, der aus: a. Modifikationen<br />
der Signalfrequenz, b. Modifikationen der<br />
Schallintensität, c. Modifikationen der<br />
Sprechgeschwindigkeit und d. der Unterbrechung<br />
des Sprechflusses durch akustische<br />
Nullphasen besteht und vom Hörer als Akzent,<br />
Tonhöhenverlauf, Pause, Tempo und<br />
Rhythmus wahrgenommen wird.<br />
Das Intonationssignal wird vom Produzenten<br />
und Perzipienten als Komplex aufgefaßt;<br />
sehr oft kann nicht genau bestimmt<br />
werden, welches Signal oder welche Signalkombination<br />
an einer bestimmten Stelle als<br />
Hinweisreiz für den Akzent oder die Pause<br />
fungiert. Dieser Umstand unterstützt die<br />
These, nach der in der normalen Kommunikation<br />
die Intonation inhaltsbezogen, d. h.<br />
der Sprecherintention gemäß verarbeitet<br />
wird und nur selten die einzelnen intonatorischen<br />
Phänomene Gegenstand der Reflexion<br />
des Hörers sind (vgl. STOCK <strong>19</strong>96b: 217).<br />
1. Die Leistungen der Intonation<br />
Die einzelnen Funktionen der Intonation<br />
werden in der phonetischen Literatur unterschiedlich<br />
gewichtet. Im Allgemeinen unterscheidet<br />
man zwischen: a. obligatorischen<br />
und b. fakultativen Leistungen, da die intonatorischen<br />
Komponenten oft nicht allein<br />
Träger der einzelnen Funktionen sind, sondern<br />
mit anderen sprachlichen (lexikalischen<br />
und grammatischen) sowie nonverbalen<br />
Mitteln auftreten und von denselben teilweise<br />
ersetzt oder modifiziert werden. So z.<br />
B. kann eine Frage sowohl auf Grund des<br />
interrogativen Tonhöhenverlaufes als auch<br />
Maria Ileana Moise<br />
durch ein Fragewort oder durch grammatische<br />
Mittel (Spitzenstellung des Verbs) gekennzeichnet<br />
werden. In diesem Sinne kann<br />
auch von einem Ersatzprinzip gesprochen<br />
werden, das zwischen den einzelnen sprachlichen<br />
Mitteln funktioniert. Wenn aber die<br />
intonatorischen Komponenten einen eigenständignen<br />
Beitrag zur Bedeutungsstruktur<br />
des Ausspruchs leisten, kann von einer<br />
eigenständigen sprachlichen Funktion der<br />
Intonation ausgegangen werden.<br />
In der Literatur werden die vielfältigen<br />
Leistungen der Intonation unter drei Funktionen<br />
zusammengefaßt, u. zw. der a. syntaktischen,<br />
b. semantischen und c. expressiven.<br />
1. 1. Die syntaktische Funktion<br />
Von den meisten Autoren wird auf die<br />
Rolle der intonatorischen Komponenten als<br />
wichtige “Gliederungshilfen” (MEINHOLD<br />
<strong>19</strong>70: 81f.) und in der “Einbettung bedeutungstragender<br />
segmentaler Einheiten in<br />
semantische Zusammenhänge höherer Ordnung”<br />
(HEIKE <strong>19</strong>69: 2) verwiesen.<br />
Intonatorische Mittel können Texte in<br />
Abschnitte, Aussprüche und Intonationsphrasen<br />
gliedern, ihren Aufbau erkennbar<br />
machen, den gesamten Redestrom in relativ<br />
eigenständige Sinneinheiten strukturieren.<br />
Diese Funktion wird in der phonetischen<br />
Literatur auch als delimitativ bzw. demarkativ<br />
bezeichnet. Vom psychologischen Gesichtspunkt<br />
ermöglicht diese Aufgliederung/<br />
Abgrenzung die Konzentrationssteuerung<br />
des Empfängers bezüglich des Ablaufs und<br />
der Gliederung des Informationsflusses, die<br />
Herausbildung von Organisationskernen, die<br />
nach KOCH (<strong>19</strong>87: 29f.) und WENK (<strong>19</strong>87:<br />
184) dem Hörer die Perzeption und Informationsverarbeitung,<br />
die Speicherung im<br />
Kurzzeitgedächtnis (KZG) erleichtern.<br />
Bei dem Anzeigen von Gliederungsgrenzen<br />
ist besonders die rechte Grenze von<br />
Gliederungseinheiten kommunikativ relevant.<br />
Das auffälligste Gliederungs- bzw.<br />
Grenzsignal ist die Pause. Neben der Pause
Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />
Kommunikation<br />
hat in einem Satz oder in einer satzwertigen fung”. Von vielen Autoren wird die Rolle<br />
Einheit nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 232) auch der<br />
sogenannte “Neueinsatz”, ein auffälliger<br />
der Tonhöhenvariationen bzw. des Tonbruchs<br />
(ISACENKO/SCHÄDLICH <strong>19</strong>66:<br />
Bruch im Tonhöhen- und Intensitätsverlauf, <strong>20</strong>) in der Akzentrealisierung als primär ein-<br />
delimitative Funktion. Wenn z. B. die Tonhöhe<br />
nach der letzten Silbe der Einheit<br />
steigt, d. h. wenn nach DIETRICH (<strong>19</strong>90:<br />
416) ein Tonbruch nach oben stattfindet,<br />
wird dem Hörer Nichtabgeschlossenheit (-<br />
Ende) signalisiert, sinkt die Tonhöhe, erfolgt<br />
also ein Tonbruch nach unten, wird Abgeschlossenheit<br />
(+Ende) angezeigt.<br />
Andererseits bewirken die intonatorischen<br />
Mittel auch die Zusammenfügung, die<br />
Integration der Wörter zu Intonationsphrasen,<br />
Aussprüchen usw., d. h. zu kommunigeschätzt.<br />
Die intonatorischen Mittel/Erscheinungen<br />
haben weiterhin die Fähigkeit, die Bedeutungsstruktur<br />
bestimmter Wortfolgen zu<br />
verdeutlichen, semantisch zu differenzieren,<br />
bzw. zu disambiguieren. In Fällen, wo die<br />
eine und dieselbe Wortfolge unterschiedlichen<br />
syntaktischen Strukturen zugeordnet<br />
werden kann, wie z. B. in dem Ausspruch:<br />
Paula, will Paul nicht.<br />
Paula will, Paul nicht.<br />
kativen Einheiten. Beim Sprechen werden Paula, will Paul nicht?<br />
nicht Laute oder isolierte Wörter produziert,<br />
sondern diese werden zu Wortfolgen zusammengefügt.<br />
Durch die suprasegmentale<br />
Strukturierung werden die einzelnen Segmente<br />
zu übergreifenden Strukturen integriert.<br />
Eine solche suprasegmentale Struktur<br />
ist auf unterer Ebene die Silbe, die Träger<br />
des Akzents ist. Durch die Hierarchisierung<br />
mehrerer Silben wird ein Zentrum hervorgehoben,<br />
um das sich die umgebenden<br />
Silben gruppieren. Beim Sprechen werden<br />
die Wörter der kommunikativen Absicht des<br />
Paula will, Paul nicht?<br />
wird der enthaltene Bedeutungsunterschied<br />
nur durch die unterschiedliche intonatorische<br />
Gestaltung, d. h. durch Verdeutlichung der<br />
angemessenen Phrasierungsgrenzen im Satz<br />
disambiguiert. Es sind Pause, Akzent und<br />
Melodieverlauf, die eine semantische Differenzierung<br />
gewährleisten. In solchen Fällen<br />
kann die syntaktische Funktion der Intonation<br />
nicht klar von der semantischen getrennt<br />
werden.<br />
Sprechers gemäß zu Gruppen (Akzentgruppen)<br />
zusammengefügt. Diese werden<br />
durch Pausen von einander getrennt und enthalten<br />
mindestens eine Akzentstelle. Hervorgehoben<br />
werden sinnwichtige Wörter, die<br />
dem Hörer als Mittel der Aufmerksamkeitsleistung<br />
dienen.<br />
Damit wird auch eine andere wichtige<br />
Leistung der Intonation angesprochen, u. zw.<br />
die Fähigkeit der intonatorischen Mittel inhaltlich<br />
wichtige Wörter von weniger wichtigen<br />
hervorzuheben. In mehrsilbigen Wörtern<br />
werden einzelne Silben durch den Wortakzent<br />
hervorgehoben, auf der Satzebene<br />
durch den Satzakzent. Diese Hervorhebung<br />
erfolgt durch gesteigerte Lautheit, Dehnung<br />
des Vokals, präzisere Artikulation und Veränderung<br />
der Sprechmelodie. Es handelt sich<br />
nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 231) um einen intonatorisch<br />
bedingten Unterschied zwischen<br />
1. 2. Die semantische Funktion<br />
Im Bereich der Bedeutungsdifferenzierung<br />
wirkt bekanntlich die Stellung des<br />
Hauptakzents bei Komposita distinktiv.<br />
Verwiesen sei auf das von TRUBETZKOY<br />
(<strong>19</strong>71: <strong>20</strong>3) angeführte Beispiel für Bedeutungsunterscheidung<br />
durch die Prosodie<br />
(Wortakzent) im Falle der Verbpaare “’übersetzen”<br />
und “über’setzen”.<br />
In der neueren phonetischen Literatur<br />
wird in der Beschreibung dieser intonatorischen<br />
Funktion vor allem die Fähigkeit des<br />
Intonationssignals, die Kennzeichnung der<br />
Abgeschlossenheit vs. Nichtabgeschlossenheit,<br />
die Satztypmarkierung (Aussage, Frage,<br />
Aufforderung, Wunsch) und die Kennzeichnung<br />
der Kontextrealisation (Thema-<br />
Rhema-Gliederung) zu signalisieren, angeführt.<br />
“Spannungszentralisation und Schwächungs- Die durch die Gliederung entstandenen<br />
tendenz”, nach LÖTSCHER (<strong>19</strong>83: 13) um Wortgruppen werden mit intonatorischen<br />
ein System von mehrfacher Stärkeabstu- Mitteln, speziell mit der phonologisch rele-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
<strong>20</strong>1
vanten Endphasengestaltung durch spezifische<br />
Tonhöhen-, Intensitäts- und Geschwindigkeitsmodifikationen<br />
zunächst als<br />
abgeschlossen oder nicht abgeschlossen gekennzeichnet.<br />
Nicht abgeschlossene Gruppen<br />
werden vom Hörer als nichtletzte Gruppen<br />
in einer übergreifenden Einheit interpretiert.<br />
Sie machen die Ergänzung durch<br />
eine letzte, eine abgeschlossene Einheit erforderlich.<br />
Abgeschlossene Gruppen können<br />
als Aussagen, Aufforderungen, Wünsche<br />
und andererseits als Fragen charakterisiert<br />
werden.<br />
Von ESSEN (<strong>19</strong>56: 144), der für die intonatorische<br />
Kennzeichnung der Frage den<br />
Terminus der “interrogativen Tonführung”<br />
(Aufstieg der Melodie am Ende des Ausspruchs)<br />
prägte, hat darauf verwiesen, daß<br />
sehr oft Fragen auch mit terminaler Melodie<br />
gesprochen werden, was vor allem für die<br />
Signalisierung der Aussagen und Ausrufe<br />
üblich ist, wenn ein fragespezifisches lexikalisches<br />
Element existiert.<br />
Laut STOCK (<strong>19</strong>96b: 232) erweist sich<br />
die intonatorische Satztypmarkierung als<br />
fakultativ, wenn das kommunikative Ziel<br />
durch andere sprachlichen Elemente (z. B.<br />
Wortfolge, d. h. Spitzenstellung des Verbs;<br />
Fragewort) ausreichend signalisiert wird. In<br />
diesem Fall werden die intonatorischen Mittel<br />
neutralisiert. Fehlen hingegen diese Mittel<br />
oder sind sie untypisch, z. B. bei gleicher<br />
lexikalischer und syntaktischer Form wie in<br />
der Nachfrage, so wird der Gebrauch der<br />
intonatorischen Mittel obligatorisch.<br />
Die Verwendung der Intonationssignale<br />
im Falle der Signalisierung der Abgeschlossenheit/Nichtabgeschlossenheit<br />
ist<br />
aber als obligatorisch zu betrachten, da diese<br />
Leistung nicht von anderen sprachlichen<br />
Mitteln (lexikalischen und grammatischen)<br />
erfüllt werden kann (vgl. STOCK <strong>19</strong>80: 46;<br />
PUŞ-CARIU <strong>19</strong>76: 47).<br />
Den intonatorischen Mitteln kommt weiterhin<br />
auch die Funktion zu, das Informationsprofil<br />
herauszubilden, d.h. das Signalelement<br />
in denjenigen Wörtern zu verstärken,<br />
die für den Hörer auffällig gemacht<br />
werden sollen. Durch die Satzakzentuierung<br />
und den Tonhöhenverlauf wird in der Äußerung<br />
eine Unterscheidung zwischen Fokusstelle<br />
und Hintergrundelement getroffen, es<br />
werden einzelne Teile einer Äußerung her-<br />
<strong>20</strong>2<br />
Maria Ileana Moise<br />
vorgehoben und in den Fokus der Aufmerksamkeit<br />
gerückt (vgl. HELFRICH <strong>19</strong>85: 16).<br />
Diese Unterscheidung, die auch Stufen der<br />
Auffälligkeit einschließen kann, ist eine notwendige<br />
Voraussetzung für das mühelose<br />
Verstehen eines Textes. Die “Abstufung der<br />
Auffälligkeit” kann aber nach WEINRICH<br />
(<strong>19</strong>93: 26) auch mittels grammatischer Elemente<br />
wie Horizont-Morpheme, z. B. “es”<br />
oder Fokus-Morpheme, wie z. B. “das” oder<br />
Wortstellung geleistet werden.<br />
Wichtig erweist sich nach STOCK<br />
(<strong>19</strong>96b: 231) bei der Realisierung dieser<br />
intonatorischen Funktion der Umstand, daß<br />
die intonatorische Fokussierung und diejenige<br />
mittels Wortstellung “relativ frei miteinander<br />
kombinierbar” sind und “dadurch<br />
fein nuancierte Abstufungen die Auffälligkeit”<br />
ermöglichen.<br />
1. 3. Die expressive Funktion<br />
Neben der syntaktischen und semantischen<br />
Funktion kommt dem Intonationssignal<br />
auch eine expressive Leistung zu.<br />
ROMPORTL (<strong>19</strong>62: 749) bezeichnet die<br />
Intonation als Mittel zum Ausdruck der Gefühlsfärbung,<br />
nach ARTEMOV (<strong>19</strong>65: 13;<br />
8f.) unterscheidet sie die Rede modal, d. h.<br />
sie kann sowohl über die Stellung des Sprechers<br />
seiner Mitteilung gegenüber Auskunft<br />
geben als auch über dessen emotionalen,<br />
situationsbedingten Zustand. Steigende Tonbewegung<br />
bei Aussagen soll nach STOCK<br />
(<strong>19</strong>96b: 233) Kontaktbereitschaft und<br />
Freundlichkeit signalisieren, fallende Tonbewegung<br />
in Entscheidungsfragen – Sachlichkeit<br />
und Entschiedenheit.<br />
STOCK (a.a.O) betont auch die Rolle der<br />
intonatorischen Mittel/Erscheinungen beim<br />
Ausdruck der “dynamogenen Emotionen”.<br />
Durch Vergrößerungen der Sprechspannung,<br />
der Tonhöhen-, Lautheits- und Geschwindigkeitsvariationen<br />
können Emotionen wie<br />
Zorn und Freude geäußert werden; bei depressiven<br />
Emotionen wie Trauer und Niedergeschlagenheit<br />
wird nach STOCK (a.a.O)<br />
dagegen die gedämpfte Erregung vielfach<br />
durch monotone Tonhöhenbewegung sowie<br />
Lautheits- und Geschwindigkeitsverringerung<br />
angezeigt. Ebenso können nach<br />
HELFRICH (<strong>19</strong>85: 15) dem Hörer entgegengebrachte<br />
Gefühle, wie z. B. Wohlwollen<br />
oder Geringschätzung, in die Satzmelodie<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />
Kommunikation<br />
eingehen und durch sie übermittelt werden. nach WEINRICH (a. a. O) das Interesse des<br />
Auch bei der Realisierung dieser Leistung Hörers aufrecht und dienen dazu, die Spre-<br />
kann das Intonationssignal nicht eindeutig cherrolle zu bewahren; Pausen mit fallendem<br />
die entsprechende Wirkung erzielen, der Tonhöhenverlauf gekoppelt fungieren als<br />
Hörer ist auf den Text, auf die Kenntnis der Beendungssignale. Die Dialogsteuerung<br />
Situation sowie auf charakteristische Auss- kann also sowohl auf Grund verbaler als<br />
drucksmerkmale des Sprechers (Stimm- auch intonatorischer Mittel erfolgen, zu deklang,<br />
Mimik, Gestik) angewiesen.<br />
nen sich auch nonverbale Zeichen (Kopf-<br />
Eine weitere wichtige Rolle kommt bei<br />
der Charakterisierung idiolektaler bzw. habitueller<br />
Gewohnheiten den intonatorischen<br />
nicken, zustimmendes Lächeln) gesellen und<br />
den Grad an Entschiedenheit in der Konversation<br />
präzisieren.<br />
Mitteln zu; dazu sind als wesentliche Kom- Nach AUER/COUPER-KUHLEN (<strong>19</strong>95)<br />
ponenten ontogenetische, temperamentmäßi- kommt Tempo und Rhythmus auf der mege,<br />
motivationale, intelektuelle Faktoren zu chanischen Ebene des Turntaking, in der<br />
zählen. In der Literatur wird darauf ver- zeitlichen Koordinierung der Redebeiträge<br />
wiesen, daß der unverkennbare individuelle im Gespräch, bei der Themenbeendigung<br />
Sprechstil in besonders ausgeprägtem Maße eine wichtige Rolle zu. Ein isochroner<br />
von intonatorischen Mitteln mitbestimmt Schlag fungiert als Taktgeber für den Einsatz<br />
wird. Neben habituellen Stimmqualitäten des nächsten Sprechers. Abweichungen vom<br />
wirken besonders auch personalkonstante zeitlich wohlplazierten Turneinsatz im Ge-<br />
temporale Verlaufsqualitäten (vgl. FÄHR- spräch werden als “markiert” behandelt und<br />
MANN <strong>19</strong>60: 44; ISACENKO / SCHÄD- sind im jeweiligen lokalen Kontext für den<br />
LICH <strong>19</strong>66: 41). In diesem Sinne können Interpretationsprozeß relevant. Auf größeren<br />
nach STOCK (<strong>19</strong>96b: 233) und HELFRICH organisatorischen Ebenen werden Rhythmus<br />
(<strong>19</strong>85: 15) besonders Tonhöhe und Ton- und Tempo als Mittel zur Einheitshöhenverlauf<br />
über idiolektale, soziolektale markierung im Gespräch, zur Markierung<br />
und regiolektale Merkmale des Sprechers von Beendigungsphasen (“closing”) betrach-<br />
Auskunft geben. Diese Charakteristika wietet. Nach UHMANN (<strong>19</strong>91: 126ff.) kommt<br />
sen nicht nur auf die sprachliche und soziale beim Sprecherwechsel auch dem Tonhöhen-<br />
Herkunft hin, sondern vermitteln dem Komverlauf und seinen Modifikationen ein<br />
munikationspartner wichtige Hinweise über wesentlicher Beitrag zu.<br />
die Person des Sprechers, über sein Alter,<br />
sein Temperament, seinen Bildungsgrad.<br />
Den intonatorischen Mitteln kann also nach<br />
STOCK (a.a.O) auch eine rollensignalisierend-rituelle<br />
Leistung zugeschrieben werden.<br />
Die Forschung über den Sprecherwechsel<br />
in Alltagsgesprächen hat gezeigt, daß die<br />
Gesprächsteilnehmer auf eine Reihe linguistischer<br />
und paralinguistischer Signale achten,<br />
um diesen Zeitpunkt zu erkennen. Syn-<br />
1. 4. Die Steuerung des Gesprächs<br />
tax und Intonation leisten wichtige Hilfen,<br />
indem sie Konstituenten und Phrasierungs-<br />
Eine bedeutende Leistung der intonatorigrenzen erkennbar werden lassen. Sie erschen<br />
Komponenten ist auch die Dialogsteuerung,<br />
die Steuerung bzw. Organisation<br />
des Sprecherwechsels (vgl. STOCK <strong>19</strong>96b:<br />
möglichen die Projektion dieser Grenzen<br />
dadurch, daß sie einen syntaktischen bzw.<br />
melodischen Bogen in der Zeit spannen, in<br />
234). WEINRICH (<strong>19</strong>93: 832) verweist<br />
darauf, daß der Sprecher während der Kommunikation<br />
Fortsetzungs- und Beendigungs-<br />
dessen Laufzeit die Vorhersagbarkeit der<br />
noch verbleibenden syntaktischen bzw. melodischen<br />
Komponenten zunimmt. Das mögsignale<br />
sendet, der Hörer Stützungs- und<br />
Übernahmesignale. Die Fortsetzungssignale<br />
können zwar auch Floskeln, wie z. B. “Verliche<br />
Ende eines Redebeitrags ist auf diese<br />
Weise vorauszusehen. Einen wichtigen Beitrag<br />
leisten aber auch paralinguistische Mitstehen<br />
Sie” u.a. enthalten, der Beitrag der<br />
intonatorischen Erscheinungen ist aber wesentlich.<br />
Floskeln, die mit steigendem Tontel,<br />
wie etwa das Blickverhalten des Sprechenden,<br />
die darüber Auskunft geben können,<br />
ob und wann ein Sprecherwechsel behöhenverlauf<br />
gesprochen werden, halten absichtigt wird. Kurz vor Ende des Redebei-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
<strong>20</strong>3
trages z. B. richtet der Sprecher den Blick<br />
auf den Rezipienten, um den beabsichtigten<br />
Wechsel anzukündigen. Es wird angenommen,<br />
daß der Rhythmus durch die<br />
prägnante rhythmische Struktur, d. h. durch<br />
die unnerwartete Längen und Pausen zur<br />
Ankündigung eines intendierten Sprecherwechsels<br />
verwendet wird. Dadurch gerät der<br />
Fluß des Redners vorübergehend ins<br />
Stocken. Nach AUER/COUPER-KUHLEN<br />
(<strong>19</strong>95: 94) wird dadurch nicht nur das mögliche<br />
Ende des Redebeitrags indiziert, es<br />
wird zugleich auch ein Zeitraster aufgebaut,<br />
nach dem sich der Einsatz des nächsten<br />
Turns richten kann. Der Sprecher sorgt<br />
sozusagen auch für den Übergang zum<br />
nächsten (vgl. COUPER-KUHLEN <strong>19</strong>91;<br />
<strong>19</strong>93: 126ff.). Der Zeitpunkt, an dem der<br />
nächste Sprecher das Wort übernimmt, ist<br />
also nicht dem Zufall überlassen. Die erste<br />
hervorgehobene Silbe des ersten Turns ist<br />
isochron mit den letzten Schlägen des vorhergehenden<br />
Sprechers.<br />
Sprecher gehorchen also keinem rigiden<br />
Zeitgeber für die Aufnahme eines Turns,<br />
sondern passen sich dem Redefluß, dem<br />
Rhythmus und dem Tempo des Vorgängers<br />
flexibel an. Die letzten Schläge des Vorgängerturns<br />
geben dem neuen Sprecher die<br />
Möglichkeit, sich im Rhythmus einzuüben,<br />
so daß es in erstaunlich vielen Fällen zu einem<br />
fast vollkommen glatten Übergang<br />
kommt. Gibt es unbetonte Auftaktsilben am<br />
Anfang eines neuen Turns, müssen sie so<br />
platziert werden, daß die rhythmische Koordinierung<br />
gewährleistet wird. Manchmal<br />
können unbetonte Auftaktsilben des nächsten<br />
Sprechers ins Territorium des vorigen<br />
Sprechers wandern. Es können umgekehrt<br />
auch Lücken entstehen, wenn das Tempo<br />
langsam ist und es keine oder wenige unbetonte<br />
Silben nach dem letzten Schlag des<br />
Vorgängers, bzw. vor dem ersten Schlag des<br />
neuen Sprechers gibt. In solchen Situationen<br />
entstehen Pausen, die aber für die Aushandlung<br />
interaktiver Bedeutungen irrelevant<br />
sind.<br />
Zur Rolle des Rhythmus in der Gesprächsorganisation<br />
ergaben die Untersuchungen<br />
von AUER/COUPER-KUHLEN<br />
(<strong>19</strong>95: 101), daß beim Übergang in die Beendigungsphase<br />
oder innerhalb dieser Sequenz<br />
selbst solche Gesprächspassagen, die<br />
<strong>20</strong>4<br />
Maria Ileana Moise<br />
vorher nicht rhythmisiert (isochron) waren,<br />
normalerweise einem regelmäßigen isochronen<br />
Rhythmus unterworfen werden.<br />
Innerhalb dieses isochronen Musters verändert<br />
sich ihren Feststellungen gemäß<br />
mehrmals das Tempo. Dieses entspricht der<br />
Bewegung der beiden Gesprächspartner auf<br />
das Gesprächsende zu. Das “accelerando”<br />
erreicht seinen Höhepunkt mit dem abschließenden<br />
Ausstausch von Grüßen. Die<br />
Weigerung des einen Partners sich auf den<br />
Rhythmus des anderen einzulassen, führt zur<br />
Expansion des Gesprächs. Der die Beendigung<br />
einleitende Gesprächsteilnehmer<br />
versucht dann immer wieder, mit neuem Anlauf<br />
und neuem Schwung den anderen zum<br />
“gemeinsamen Tanz” zu gewinnen.<br />
2. Norm und Abweichungen im Bereich<br />
des Akzents und Rhythmus<br />
Was die Problematik der Norm im suprasegmentalen<br />
Bereich und die Fehlleistungen<br />
auf dieser Ebene anbelangt, möchte ich mich<br />
nur auf 2 Komponenten beschränken, u. zw.<br />
auf den Akzent und den Rhythmus, da sie<br />
auf Grund der unterschiedlichen Sprachsysteme<br />
für den rumänischen Deutschlernenden<br />
besondere Schwierigkeiten bereiten.<br />
2.1. Der Akzent<br />
Bei der Realisierung dieses intonatorischen<br />
Mittels treten auch die meisten Fehler<br />
auf. Potentielle systembedingte Fehler sind<br />
bei den rumänischen Deutschlernenden:<br />
a. in der Akzentplatzierung zu erwarten.<br />
Der Akzent ist im Rumänischen oxyton,<br />
paroxyton oder proparoxyton, d. h. mobil<br />
und zugleich z. T. fest. Die feste Akzentstelle<br />
im Deutschen (hauptsächlich Stammbetonung),<br />
besonders aber die wechselnde<br />
Akzentsetzung in den Kontrastpaaren, die<br />
mit einer Bedeutungsdifferenzierung verbunden<br />
ist, bedeutet für den Lernenden einen<br />
wahren Stolperstein. Es handelt sich um:<br />
Substantivpaare, wie z. B. Phantasien vs.<br />
Phantasien, Tenor vs. Tenor usw.<br />
Verbpaare, die häufiger auftreten, z. B.<br />
umfahren vs. umfahren, wiederholen vs.<br />
wiederholen, usw.<br />
die Unterscheidung auf Grund der wechselnden<br />
Akzentplatzierung von grammati-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />
Kommunikation<br />
schen Kategorien, wie z. B. miß’fallen vs. selten auftreten, werden alle Laute realisiert<br />
Mißfallen, usw.<br />
(auch der Schwalaut), was zu einem un-<br />
b. Fehler treten auch in der Realisierung<br />
des Akzents auf, u. zw. bei der Verwendung<br />
gewöhnlichen, störenden<br />
Deutschen führt.<br />
Rhythmus im<br />
der intonatorischen Mittel (Tonhöhe, Lautheit,<br />
Dauer). Im Deutschen wird die Akzent-<br />
2. 2. Der Rhythmus<br />
silbe zur lautlichen Umgebung in Kontrast Einen Rhythmus gibt es nicht nur in der<br />
gebracht. Charakteristisch ist, daß die be- gebundenen Rede, sondern auch in der nortonte<br />
Silbe lauter, höher, länger, mit großer mal gesprochenen Sprache. In der Fachli-<br />
Spannung der Muskulatur und hoher artiteratur unterscheidet man zwischen einem eikulatorischer<br />
Präzision realisiert wird. Die ner jeden Sprache charakteristischen Sprach-<br />
akzentlosen Silben werden demgegenüber rhythmus und einem Sprechrhythmus.<br />
melodisch tiefer, mit geringerer Lautheit und<br />
gerafft produziert, wobei die Vokalqualität<br />
vor allem beim schnelleren Sprechen reduziert<br />
wird; gemeint ist der Schwa-Laut, der<br />
in Endungen reduziert wird.<br />
Zwar sind nach einigen Forschern auch<br />
für das Rumänische die intonatorischen<br />
Mittel Tonhöhe, Intensität und Dauer relevant<br />
(vgl. COLBERT <strong>19</strong>63: 84; SFÎRLEA<br />
<strong>19</strong>70: 153); der Beitrag dieser Mittel ist aber<br />
bei der Akzentuierung im Rumänischen vergleichsweise<br />
mit dem Deutschen geringer<br />
ausgeprägt. Besondere Probleme ergeben<br />
aber die artikulatorische Präzision und der<br />
große Spannungsgrad in der Realisierung der<br />
Hervorhebung, Merkmale, die im Rumänischen<br />
nicht relevant sind. Insgesamt kann<br />
davon ausgegangen werden, daß dem rumänischen<br />
Lerner der stark zentralisierende<br />
Akzent im Deutschen Schwierigkeiten bereitet,<br />
d. h. die punktförmige Konzentrierung<br />
der intonatorischen Mittel auf die Akzentsilbe,<br />
da im Rumänischen ein schwach zentralisierender<br />
bis dezentralisierender Akzent<br />
typisch ist, d. h. die intonatorischen Mittel<br />
werden gleichförmig auf mehrere Silben verteilt.<br />
Der rumänische Deutschlerende tendiert<br />
folglich auch im Deutschen, alle Silben<br />
und Wörter in der Wortgruppe bzw. im Satz<br />
gleich klar auszusprechen, zwischen betonten<br />
und unbetonten Silben nicht zu differenzieren.<br />
Für den deutschen Hörer sind<br />
aber dieselben normwidrige Fehler, die den<br />
Kommunikationsprozeß beeinträchtigen oder<br />
sogar verhindern können.<br />
Dieser schwache Kontrast zwischen betonten<br />
und unbetonten Silben/Wörtern wirkt<br />
sich auch auf die segmentale Ebene aus. Auf<br />
Grund der Tatsache, daß im Rumänischen<br />
Reduktionen, Laut- und Silbenelisionen,<br />
Mit Rhythmus wird im Allgemeinen eine<br />
zur Gleichmäßigkeit tendierende Gliederung<br />
bezeichnet; Ähnliches, d. h. ähnliche Einheiten<br />
sollen in zeitlich ähnlichen Abständen<br />
wiederholt werden (vgl. STOCK <strong>19</strong>96a: 68).<br />
Der Rhythmus wird als Mittel betrachtet,<br />
wodurch das Behalten der Information erleichtert<br />
wird. KURZ (<strong>19</strong>92: 42) zufolge<br />
wird die Verarbeitungstiefe derselben verstärkt.<br />
Nach von ESSEN (<strong>19</strong>81: 53) liegt die<br />
Leistung des Rhythmus in der Erleichterung<br />
der Überschaubarkeit des zeitlichen Nacheinanders,<br />
er erleichtert dem Angesprochenen<br />
die gedankliche Mitgestaltung.<br />
Psychologische Untersuchungen ergaben,<br />
daß der Wechsel zwischen hervorgehobenen<br />
und nicht hervorgehobenen Elementen eine<br />
zentrale Funktion für die menschliche Informationsverarbeitung<br />
und –speicherung<br />
darstellt; der Rhythmus erleichtert nämlich<br />
die Wahrnehmung, indem er die Aufmerksamkeit<br />
des dekodierenden Sprachbenutzers<br />
auf die ersteren, d. h. betonten Silben lenkt<br />
und ihm während der letzteren die Zeit gibt,<br />
die aufgenommene Information zu prozessieren.<br />
Der Rhythmus erleichtert die Speicherung,<br />
auch indem er die unstrukturierte<br />
Informationsmenge hierarchisch organisiert.<br />
Außerdem ermöglicht isochrone Rhythmizität<br />
einen voraussagbaren Wechsel zwischen<br />
Wichtigem und Unwichtigem (vgl. ALLEN<br />
<strong>19</strong>75; MARTIN <strong>19</strong>72; ALLEN/HAWKINS<br />
<strong>19</strong>80; JONES <strong>19</strong>86).<br />
ADAMS (<strong>19</strong>79) zufolge ist die Kontrolle<br />
über den Rhythmus einer Sprache für das<br />
Beherrschen dieser Sprache grundlegend;<br />
gravierende Mängel in dieser Hinsicht stellen<br />
die absolute Barriere für die Verständlichkeit<br />
und das flüssige Sprechen dar.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
<strong>20</strong>5
Die Besonderheit der Rhythmisierung<br />
des Deutschen (akzentzählende Sprache) ergibt<br />
sich vor allem aus der Art, wie die<br />
Akzentuierung realisiert wird und daneben<br />
die akzentlosen Silben behandelt werden, d.<br />
h. aus dem überaus großen Kontrast zwischen<br />
denselben. Wegen des großen dynamischen<br />
Unterschiedes zwischen Akzent- und<br />
akzentlosen Silben spricht man im Deutschen<br />
von einem “staccato”, hämmerden,<br />
stoßenden akzentzählenden. Rhythmus, während<br />
für die romanischen Sprachen ein “legato”,<br />
weich fließender, silbenzählender<br />
Rhythmus charakterisch ist.<br />
2. 3. Potentielle Fehler rumänischer Deutschlernenden<br />
im Bereich der Rhythmisierung<br />
Das Rumänische gehört nach PO-<br />
PA/PÂRLOG (<strong>19</strong>73: 124f.) und CHIłO-<br />
RAN (<strong>19</strong>77: 310) zu den silbenzählenden<br />
Sprachen, wo die Zeitintervalle zwischen<br />
den Silben gleich lang sind und für die Realisierung<br />
des Rhythmus keine Raffungen,<br />
Laut- und Lautfolgenreduktionen und -elisionen<br />
notwendig sind. Charakteristisch ist<br />
also ein gleitender, “legato” Rhythmus, bei<br />
dem es keine Spannungsunterschiede gibt;<br />
betonte wie unbetonte Silben werden mit<br />
gleicher Sprechspannung, Präzision und<br />
Lautheit gesprochen. In diesem Sinne ist die<br />
Realisierung des charakteristischen “staccato”<br />
Rhythmus im Deutschen besonders<br />
schwierig, wenn nicht sogar unmöglich,<br />
denn die intonatorischen Gewohnheiten bilden<br />
sich laut LEONT’EV (<strong>19</strong>75) auf einer<br />
sehr frühen Phase der Entwicklung heraus, u.<br />
zw. vor denjenigen der Lautproduktion. Sie<br />
werden automatisiert und wie psychologische<br />
Experimente zeigen, als letztes vergessen.<br />
Deshalb können Wahrnehmung,<br />
Festigung und Automatisierung der spezifischen<br />
Kombination der intonatorischen<br />
Mittel der Zielsprache beim Lernenden nur<br />
mit viel Aufwand und Mühe erreicht werden.<br />
3. Konsequenzen für den DaF-Unterricht<br />
Da Akzent und Rhythmus den charakteristischen<br />
Klang einer Sprache prägen und<br />
die Voraussetzung für die normal ablaufende<br />
Sprachwahrnehmung und -verarbeitung bzw.<br />
für die optimale Kommunikation bilden,<br />
bzw. die Fehler gravierender sind als die-<br />
<strong>20</strong>6<br />
Maria Ileana Moise<br />
jenigen bei der Produktion der Laute, ergeben<br />
sich für den Ausspracheschulung im<br />
DaF-Unterricht aller Ebenen folgende Aufgaben:<br />
a. die Erarbeitung der charakteristischen<br />
Akzentstrukturen des Deutschen, hauptsächlich<br />
der Spannungs- und Artikulationspräzisionsunterschiede<br />
zwischen betonten<br />
und unbetonten Silben, da diese Merkmale<br />
im Rumänischen nicht relevant sind. Im<br />
Mittelpunkt müßte also die Arbeit an den<br />
akzentuierten Silben stehen, an deren hohen<br />
Spannung und Artikulationspräzision.<br />
b. Von Relevanz sind auch die im Deutschen<br />
typischen Reduktions- und Tilgungsprozesse<br />
in den unbetonten Silben, die für<br />
Sprecher mit einer silbenzählenden Ausgangssprache<br />
ungewöhnlich sind, die aber<br />
für die Realisierung eines akzentzählenden<br />
Rhythmus von Bedeutung sind. In diesem<br />
Sinne erweist sich als notwendig, die sog.<br />
“schwachen Formen”, z. B. gehen, stehen,<br />
Maler, usw. die qualitativen und quantitativen<br />
Reduzierungen dieser Formstufen bewußt<br />
zu machen und zu üben, um auf diese<br />
Weise den Abstand zwischen den Akzentsilben<br />
stabil halten zu können. Erst eine<br />
systematische Konfrontation der starken und<br />
schwachen Formen, der Regularitäten des<br />
Wechsels von Hervorgehobenem und nicht<br />
Hervorgehobenem kann es dem Lernenden<br />
ermöglichen, sich mit dem charakteristischen<br />
akzentzählenden Rhythmus des Deutschen<br />
vertraut zu machen und ihn dann auch produzieren<br />
zu können.<br />
In diesem Sinne sind schon im Anfängerstadium<br />
Wörter nicht isoliert einzuführen,<br />
sondern im Kontext und die Hervorhebungsbesonderheiten<br />
mit Körperbewegungen zu<br />
verbinden, d. h. sprachbegleitend zu gestikulieren,<br />
z. B. Klatschen, Klopfen der Akzentsilbe,<br />
um auf diese Weise die rhythmischen<br />
Muster kenntlich zu machen.<br />
c. Wesentlich erweist sich dabei auch die<br />
Parallele zum Schriftbild des Deutschen, da<br />
aus dem nicht ersichtlich ist, wann ein Laut<br />
voll und wann reduziert gesprochen werden<br />
soll. In diesem Sinne ist dem Lernenden zu<br />
verdeutlichen, daß die geschriebene Form<br />
nicht eindeutig in die gesprochene Form<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Spezifik der intonatorischen Leistungen. Normabweichungen als Störfaktor in der fremdsprachlichen<br />
Kommunikation<br />
umgesetzt werden darf. Auf Grund des 13. KOCH, E. (<strong>19</strong>87): Zum Einfluss supraseg-<br />
Schriftbildes soll sowohl die volle, gementaler Ausprägungsgrade auf den Prozess<br />
spannte, als auch die nicht reduzierte Reali- der Rezeption von Texten. Diss. A., Jena.<br />
sierung in isolierter Form geübt werden, wie 14. LEONT’EV, A. A. (<strong>19</strong>75): Psycholinguisti-<br />
das bei langsamer, gespannter Sprechweise sche Einheiten und die Erzeugung sprach-<br />
üblich ist, wie auch das Wort im Satzlicher Äußerungen. Berlin: Akademie Verlag.<br />
zusammenhang, mit reduzierter Endung, d.<br />
h. die niederen Formstufen.<br />
15. LÖTSCHER, A. (<strong>19</strong>83): Satzakzent und<br />
funktionale Satzperspektive im Deutschen.<br />
Tübingen: Niemeyer.<br />
L i t e r a t u r ( e i n e A u s w a h l ) : 16. MÖBIUS, B. (<strong>19</strong>93): Ein quantitatives Modell<br />
deutscher Intonation. Analyse und Syn-<br />
1. ADAMS, C. (<strong>19</strong>79): English Speech Rhythm<br />
and the Foreign Learner. Den Haag, 3.<br />
2. AUER, P.; COUPER-KUHLEN, E. (<strong>19</strong>95):<br />
Rhythmus und Tempo konversationeller Alltagssprache.<br />
In: Zeitschrift für Literaturthese<br />
von Grundfrequenzverläufen. In: Linguistische<br />
Arbeiten 305, Tübingen: Niemeyer.<br />
17. POPA, M.; PÂRLOG, H. (<strong>19</strong>73): Observations<br />
on the Realisation of Rhythm by romawissenschaft<br />
und Linguistik 96, 78-106.<br />
nian Speakers of English. In: The Romanian-<br />
3. BANNERT, R. (<strong>19</strong>88): Automatic recogniti- English Contrastive Analyses Project. Contraon<br />
of focus accent in German. Dept. of Linstive Studies in Phonetic and Phonology.<br />
guistics (University Lund), In: Working Pa- Bucarest: University, 124-136.<br />
pers 34, 5-8.<br />
18. PUŞCARIU, S. (<strong>19</strong>76): Limba română. Vol.<br />
4. CHIłORAN, D. (<strong>19</strong>77): English Phonetics 1. Privire generală. Bucureşti: Editura Miner-<br />
and Phonology. Bucureşti: Editura didactică va.<br />
şi pedagogică.<br />
<strong>19</strong>. ROMPORTL, M. (<strong>19</strong>62): Zum Wesen der<br />
5. COLBERT, B. (<strong>19</strong>63): Limba germană con- Intonation. In: Proc. IVth. ICPhS, The Hague,<br />
temporană. Fonetica. Bucureşti: Editura di- 749-752.<br />
dactică şi pedagogică.<br />
6. DIETRICH, R. (<strong>19</strong>90): Zu Form und Bedeutung<br />
der Kontrastintonation im Deutschen.<br />
In: Linguistische Berichte 129, 415-430.<br />
7. ESSEN, O. von (<strong>19</strong>81): Grundbegriffe der<br />
Phonetik. Ein Repertorium für Sprachheilpädagogen.<br />
Berlin: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung.<br />
8. ESSEN, O. von (<strong>19</strong>56): Hochdeutsche Satzmelodie.<br />
In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft<br />
und Kommunikationsforschung,<br />
<strong>20</strong>. SFÎRLEA, L. (<strong>19</strong>70): PronunŃia românească<br />
literară. Stilul scenic. Bucureşti: Editura Academiei<br />
RSR.<br />
21. STOCK, E. (<strong>19</strong>96a): Deutsche Intonation.<br />
Berlin, München, Leipzig, Berlin: Langenscheidt<br />
Verlag Enzyklopädie.<br />
22. STOCK, E. (<strong>19</strong>96b): Text und Intonation. In:<br />
Sprachwissenschaft, Bd. 2l, Heft 2, 211-240.<br />
23. STOCK, E. (<strong>19</strong>80): Untersuchungen zu Form,<br />
Bedeutung und Funktion der Intonation im<br />
75-85.<br />
Deutschen. Berlin: Akademie Verlag.<br />
9. FERY, C. (<strong>19</strong>88): Rhytmische und tonale<br />
Struktur der Intonationsphrase. In: Intonationsforschungen,<br />
(Linguistische Arbeiten<br />
<strong>20</strong>0), Tübingen: M. Niemeyer, 41-63.<br />
10. HEIKE, G. (<strong>19</strong>69): Suprasegmentale Analyse.<br />
In: Marburger Beiträge zur Germanistik.<br />
Marburg: N. G. Elwert Verlag.<br />
11. HELFRICH, H. (<strong>19</strong>85): Sprachmelodie und<br />
Sprachwahrnehmung. (Psychologische Untersuchungen<br />
zur Grundfrequenz). Berlin: de Gruyter.<br />
24. TRUBETZKOY, N. S. (<strong>19</strong>77): Grundzüge der<br />
Phonologie. 6. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht.<br />
25. UHMANN, S. (<strong>19</strong>91): Fokusphonologie: eine<br />
Analyse deutscher Intonationsstrukturen im<br />
Rahmen der nicht-liniaren Phonologie. Tübingen:<br />
Niemeyer.<br />
26. UHMANN, U. (<strong>19</strong>88): Akzenttöne, Grenztöne<br />
und Fokussilben: Zum Aufbau eines<br />
phonologischen Intonationssystems für das<br />
12. ISACENKO, A; SCHÄDLICH, H. J. (<strong>19</strong>66): Deutsche. In: Altmann (Hg.), 65-88.<br />
Untersuchungen über die deutsche Satzinto- 27. WEINREICH, H. (<strong>19</strong>93): Textgrammatik der<br />
nation. In: Studia Grammatica V<strong>II</strong>, Berlin: deutschen Sprache. Mannheim, Leipzig,<br />
Akademie Verlag, 7-69.<br />
Wien, Zürich.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
<strong>20</strong>7
ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN VERBMODUS UND SATZMODUS<br />
BEIM AUSDRUCK VON AUFFORDERUNGEN IM GEGEN-<br />
WÄRTIGEN DEUTSCH<br />
1. Wenn Menschen miteinander reden,<br />
geschieht dies überall in Sprechakten. Die<br />
Intentionen der Sprecher können auf der<br />
ganzen Welt dieselben sein. Sprechakte<br />
dürfen daher als universelle Kategorien betrachtet<br />
werden. Sie haben aber in den einzelnen<br />
Sprachen eigene Realisationsmöglichkeiten.<br />
U. ENGEL (<strong>19</strong>88: 36) unterscheidet “partnerbezogene<br />
und sprecherbezogene“ Sprechakte.<br />
Die Aufforderung ist ein “Partner festlegender<br />
Akt“. Für spezielle Formen der<br />
Aufforderung hält er die Autorisierung, den<br />
Ratschlag, den Vorwurf, das Beschimpfen,<br />
die Warnung und die Frage als Aufforderung<br />
zu verbalem Verhalten. In diesem Beitrag<br />
werden wir nur solche Fragen untersuchen,<br />
die eine Aufforderung zur Handlung ausdrücken<br />
(z.B. Könnten Sie mal bitte das<br />
Fenster öffnen?).<br />
Die Ausführung der Handlung ist wünschenswert:<br />
Ildikó Szoboszlai<br />
Bei anderen Autoren sind noch weitere<br />
spezielle Akte erwähnt wie Bitte, Befehl,<br />
Weisung, Anordnung usw. (ERBEN <strong>19</strong>83:<br />
339-412, ZIFONUN <strong>19</strong>96: 134-145). “Unter<br />
dem Gesichtspunkt sozialen Handelns können<br />
die Sprechhandlungen des Aufforderungstyps<br />
z.B. in ‚bindende‘ (Befehle,<br />
Weisungen, Anordnungen) und ‚nichtbindende‘<br />
(Bitten, Ratschläge, Vorschläge)<br />
gegliedert werden sowie in ‚normenorientierte‘<br />
(Vorschriften, Anordnungen) versus ‚personenorientierte‘<br />
oder in ‚mit der Möglichkeit<br />
von Sanktionen verknüpfte‘ versus<br />
‚sanktionenfreie‘“ (ZIFONUN <strong>19</strong>96: 658).<br />
Wir vertreten die Meinung, dass die Aufforderung<br />
ein Oberbegriff für viele spezielle<br />
Formen dieses Sprechakts ist. Diese speziellen<br />
Sprechakttypen können auch danach<br />
gruppiert werden, in wessen Interesse die<br />
Reaktion auf die Äußerung steht.<br />
für den Sprecher _ Befehl, Bitte, Anordnung, Weisung,<br />
Auftrag, Forderung usw.<br />
für den Adressaten _ Ratschlag, Empfehlung, Ermutigung<br />
für beide Partner _ Vorschlag, Anweisung, Instruktion<br />
für den Adressaten und ohne negative<br />
Folgen für den Sprecher<br />
für den Adressaten, aber nicht wünschenswert<br />
für den Sprecher<br />
2. Ein Anspruch auf eine vollständige<br />
Übersicht über die Realisierung von allen<br />
Sprechakttypen wird hier wegen des Umfangs<br />
des Artikels nicht erhoben.<br />
_ Erlaubnis, Erteilung<br />
_ Verbot, Warnung, Drohung<br />
Bei der Analyse gehen wir in Anlehnung<br />
an ZIFONUN (<strong>19</strong>96: 607-675) von dem Satzmodus<br />
und Verbmodus aus. Verschiedne<br />
spezielle Sprechakttypen auszudrücken,<br />
stehen noch auch zahlreiche lexikalische
Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />
gegenwärtigen Deutsch<br />
Mittel (z.B. Modalverben, Partikeln) zur G. ZIFONUN (<strong>19</strong>96: 637-675) unterschei-<br />
Verfügung, und auch die Intonation und det zentrale und periphere Satzmodi: zentrale<br />
Wortfolge spielen eine wesentliche Rolle. Modi sind i.E. der Aussage-Modus, Ent-<br />
Sie werden von U. ENGEL (<strong>19</strong>88: 77) “illoscheidungsfrage-Modus,Ergänzungsfragekutive<br />
Indikatoren“ genannt. Wir werden<br />
auch auf diese Indikatoren hinweisen.<br />
Modus und der Aufforderungs-Modus; die<br />
peripheren Modi sind die Optativ-Modi<br />
Zuerst vergleichen wir aber den Verbmodus<br />
und den Satzmodus im Deutschen.<br />
(Heische-Modus und Wunsch-Modus) und<br />
“Der Modus des Verbs zeigt Art und Grad der Exklamativ-Modus.<br />
der Geltung an, die ein Sprecher dem Inhalt Der Entscheidungsfrage-Modus und der<br />
einer Äußerung, vor allem dem Inhalt von Ergänzungsfrage-Modus können u.E. mit<br />
Sachverhaltsbeschreibungen beimisst“ (FLÄ- einem Oberbegriff als Frage-Modus be-<br />
MIG <strong>19</strong>91: 401). Es gibt im Deutschen drei zeichnet werden. Außerdem betrachten wir<br />
Verbmodi: Indikativ, Imperativ und Kon- den Heische-Modus nicht als einen Optativjunktiv.<br />
Modus, sondern als eine periphere Er-<br />
Im folgenden werden wir ihre Rolle beim scheinung des Aufforderungs-Modus. So<br />
Ausdruck von Satzmodi untersuchen. können wir fünf Satzmodi unterscheiden.<br />
1. Aussage-Modus<br />
Er kommt morgen.<br />
Er komme morgen.<br />
2. Frage-Modus<br />
a) Entscheidungsfrage<br />
Kommt er morgen?<br />
Würde er kommen?<br />
b) Ergänzungsfrage<br />
Wann kommt er?<br />
Wann könnte er kommen?<br />
Satzmodus Verbmodus im Satz<br />
3. Aufforderungs-Modus<br />
Komm morgen!<br />
Du gehst jetzt aber!<br />
Könnten Sie bitte die Tür aufmachen?<br />
4. Optativ-Modus<br />
Wenn er doch käme!<br />
5. Exklamativ-Modus<br />
Kommst du aber spät!<br />
Wie die Tabelle zeigt, stehen Satzmodi<br />
und Verbmodi, sowie Satzmodi und Satztypen<br />
keineswegs in einem Eins-zu-eins-<br />
Verhältnis zueinander. Was den Aufforderungs-Modus<br />
betrifft kann dieser Modus<br />
Indikativ<br />
Konjunktiv I<br />
Indikativ<br />
Konjunktiv <strong>II</strong><br />
Indikativ<br />
Konjunktiv <strong>II</strong><br />
Imperativ<br />
Indikativ<br />
Konjunktiv <strong>II</strong><br />
Konjunktiv <strong>II</strong><br />
Indikativ<br />
nicht nur mit dem Satztyp Imperativsatz<br />
ausgedrückt werden. Aufforderungen können<br />
auch in Aussage- und Fragesatztypen realisiert<br />
werden. Auch die verbalen Prädikate<br />
können nicht nur im Imperativ, sondern auch<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 <strong>20</strong>9
im Indikativ und im Konjunktiv stehen. Nach<br />
der Prädikatsform können wir also im Deutschen<br />
imperativische, indikativische und<br />
konjunktivische Aufforderungen unterscheiden.<br />
3. Die Analyse beginnen wir mit den imperativischen<br />
Aufforderungen.<br />
210<br />
Ildikó Szoboszlai<br />
Formenparadigma<br />
Verbmodus Person Numerus<br />
Die Untersuchung erfolgt aufgrund eines<br />
Corpus, das ungefähr 400 Belege enthält.<br />
Die Beispielsätze stammen aus literarischen<br />
Werken des <strong>20</strong>sten Jahrhunderts, einige Belege<br />
werden aus der Fachliteratur übernommen.<br />
Singular Plural<br />
Imperativ 2. -e/0 -t/-et<br />
Vorwiegend kommen Sätze mit Verberststellung<br />
vor, und die Personalpronomina<br />
werden in der Regel nicht verwendet:<br />
Kaufe mir ein Buch!<br />
Die kennzeichnende Endung der Singularform<br />
-e fällt oft weg, ohne dass ein Apostroph<br />
gesetzt wird: Trinke/Trink! Beide<br />
Formen sind verwendbar. “Wo dieses -e<br />
fakultativ ist, gelten die Formen mit -e eher<br />
als standardsprachlich-gehoben, die ohne -e<br />
eher als dialektal-alltagssprachlich“ (Engel<br />
<strong>19</strong>88: 427).<br />
Lebe wohl!<br />
Nun dann leb wohl – sagte Jason (Seghers:<br />
25)<br />
Bei folgenden Verben ist das -e in der<br />
Standardsprache obligatorisch:<br />
bei Verben auf -eln und -ern (bei diesen<br />
Verben fällt gewöhnlich das -e des Suffixes<br />
aus z.B. klingeln) Klingle laut!<br />
bei Verben, deren Stamm auf -d oder -t<br />
endet (z.B. reden, antworten)<br />
Antworte sofort!<br />
bei Verben, deren Stamm auf -ig oder auf<br />
eine schwer aussprechbare Konsonantenverbindung<br />
ausgeht (z.B. entschuldigen, rechnen)<br />
Entschuldige bitte! Rechne sorgfältig!<br />
Die Verben mit dem Stammvokalwechsel<br />
a(u)-ä(u) bekommen im Imperativ keinen<br />
Umlaut: Lass mich! (Seghers: 14) Die Verben<br />
mit e/i Wechsel bilden diese Form aus<br />
dem Indikativ Präsens, u.z. aus dem Stamm<br />
der 2. Person Singular, verzichten aber auf<br />
das -e.: Hilf deinem Freund! Eine Ausnahme<br />
bildet das Verb sehen. Bei Hinweisen in<br />
Büchern ist die Form siehe üblich (z.B. siehe<br />
Seite X). Auch für den Ausruf steht oft siehe<br />
da! statt sieh da!, vor allem wenn er nicht am<br />
Satzanfang steht: Gestern habe ich an ihn<br />
gedacht, und siehe da, heute hat er geschrieben<br />
(zit. nach SCHULZ/GRIESBACH<br />
<strong>19</strong>90: <strong>19</strong>). Selten kann die Form siehe auch<br />
am Satzanfang erscheinen:<br />
Siehe sie an, die guten Schüler (Mann:<br />
17)<br />
Eine besondere Imperativform hat das<br />
Verb sein. Sie wird nach dem Konjunktiv<br />
Präsens gebildet: Sei froh! (Mann: 50)<br />
Die trennbaren Verbalpräfixe werden<br />
auch im Imperativ abgetrennt und stehen am<br />
Satzende:<br />
Also bitte mach die Tür auf! (Kafka: 99)<br />
Imperativformen von Verben mit negativer<br />
Bedeutung werden meist nur mit Negation<br />
verwendet: Lüge nicht!<br />
Die Imperativform der 2. Person Plural<br />
endet wie die 2. Person Plural des Indikativs<br />
Präsens auf -t: Lasst mich doch zu Georg!<br />
(Kafka: 145)<br />
Die Endung -et gilt als gehoben und archaisch:<br />
Lasset die Kindlein zu mir kommen. (aus<br />
der Bibel)<br />
Endet der Verbstamm auf -d oder -t, so<br />
ist die Endung -et obligatorisch:<br />
Antwortet gut! Redet nicht so viel!<br />
Die deutschen Imperativsätze beginnen in<br />
der Regel mit dem Verb. Im Vorfeld können<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />
gegenwärtigen Deutsch<br />
nur bestimmte Wortarten (wie z.B. Konjunk- Der Adhortativ kann im Deutschen mit<br />
tionen, Adverbien, Anredeformen) erschei- dem Verb lassen umschrieben werden. Diese<br />
nen: Also/Und/Aber arbeite nicht so viel. Form ist nach J. ERBEN (<strong>19</strong>61: 470) als eine<br />
Auf jeden Fall esst und trinkt! (Seghers:<br />
62)<br />
Auch betonte Stellungsglieder können<br />
aber am Satzanfang stehen: Den Tisch<br />
rück/rückt bitte an die Wand (ZIFONUN<br />
<strong>19</strong>96: 655).<br />
höflich-vertrauliche, Zustimmung erbittende<br />
Form (Lass/t uns gehen!) oder ein feierlichbeschwörendes<br />
Ersuchen (Lassen Sie uns<br />
gehen!) zu betrachten.<br />
Lass mich ein wenig phantasieren! (Mörike:<br />
37)<br />
Die Personalpronomen der 2. Person<br />
können in Imperativsätzen nur dann stehen,<br />
Lassen Sie uns kürzlich den Verlauf der<br />
Passe erzählen! (Mörike: 82)<br />
wenn die angesprochene Person besonders<br />
hervorgehoben wird:<br />
Was die Zeitformen des Imperativs betrifft,<br />
gibt es nur eine Zeitform, die sich ge-<br />
Du misch dich nicht ein!<br />
Sprich du mit ihm!<br />
Helft ihr der Mutter. Ich bin schon müde.<br />
Für die Höflichkeitsform steht im Deutschen<br />
keine echte Imperativform zur Verfügung.<br />
Die verwendete Form ist formal mit<br />
der 3. Person Plural Präsens Konjunktiv<br />
identisch. Im Unterschied zu den Formen der<br />
2. Person Singular und Plural ist das Personalpronomen<br />
(Sie) bei der Höflichkeitsform<br />
obligatorisch. Es steht immer nach dem<br />
wöhnlich auf den Redemoment bezieht, weil<br />
man den Willen in der Vergangenheit nicht<br />
geltend machen kann:<br />
Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!<br />
(Kafka: 109)<br />
Durch zusätzliche Adverbialbestimmungen<br />
kann ein künftiger Zeitpunkt der Verwirklichung<br />
genauer festgelegt werden:<br />
Schaltet morgen früh die Heizung ein!<br />
Aufgrund der Belege ist festzustellen,<br />
dass nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von<br />
Verb. Die Höflichkeitsform kennt keinen<br />
Numerusunterschied, sie wird also sowohl<br />
auf eine als auch auf mehrere Personen angewandt:<br />
deutschen Aufforderungen ein imperativisches<br />
Verb hat. Außerdem wirken diese<br />
imperativischen Aufforderungen sehr brüsk<br />
und unhöflich. Durch verschiedene Partikeln<br />
Nehmen Sie eine neue Zigarette! (Mann:<br />
86)<br />
(bitte, doch, eben, mal, nun, nur) können sie<br />
aber abgemildert werden.<br />
Hören Sie nur! (Kafka: 109)<br />
Hol mal eben ein paar Flaschen Wein!<br />
“Nur umgangssprachlich oder landschaft- (Genzmer <strong>19</strong>93: 88)<br />
lich wird auch der Imperativ Plural als<br />
Höflichkeitsform gegenüber Personen gebraucht<br />
die man siezt: Kommt, mein Herr, Sie<br />
werden Hunger haben!“ (DUDEN <strong>19</strong>84: 175).<br />
Schließt die Aufforderung den Sprechenden<br />
mit ein, gebraucht man statt des Imperativs<br />
die 1. Person Plural des Konjunktivs<br />
Präsens. Das ist der sog. Adhortativ (FLÄMIG<br />
<strong>19</strong>91: 412). Die finite Verbform steht an der<br />
Spitze und das Personalpronomen wir darf<br />
nicht fehlen: Hören wir den Mann doch<br />
Legen Sie sich doch aufs Bett! (Kafka:<br />
11)<br />
Kommen Sie nun zum Tee! (Mann: 78)<br />
Bleiben Sie nur! – sagte der Mann.<br />
(Kafka: 13)<br />
Ja, da lachen Sie nun! (Mann: 74)<br />
In Verbindung mit Partikeln können die<br />
imperativischen Verbformen eine freundliche<br />
Bitte, Ermutigung oder eine Erlaubnis ausdrücken.<br />
einmal an! (Kafka: 35)<br />
4. Über die imperativischen Formen hin-<br />
Der Adhortativ dient vor allem zum Ausdruck<br />
eines Vorschlags oder Appells. Für<br />
Aufforderungen im engeren Sinne (Befehl,<br />
Bitte, Verbot usw.) wie für Erlaubnis, Drohung,<br />
Warnung ist diese Form ausgeschlossen.aus<br />
stehen aber noch zahlreiche Mittel zur<br />
Verfügung, Aufforderungen auszudrücken.<br />
Diese anderen Möglichkeiten (grammatische<br />
und lexikalische Mittel) werden zusammenfassend<br />
Ersatzformen des Imperativs genannt.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 211
4.1. Die indikativischen Aufforderungen<br />
können nach Form mit den Aussagesätzen<br />
identisch sein. Aber es gibt auch Unterschiede:<br />
mündlich wird der Satz mit anderer<br />
Satzintonation ausgesprochen, schriftlich<br />
kann ein Ausrufezeichen am Ende des Satzes<br />
stehen. Mit der richtigen Betonung (agressiven<br />
und bestimmten) kann fast jeder Satz in<br />
einen Befehl verwandelt werden (GENZMER<br />
<strong>19</strong>93: 88).<br />
Die Form der Verben in diesen Sätzen ist<br />
am häufigsten Aktiv Indikativ Präsens oder<br />
Futur I:<br />
Du setzt dich auf der Stelle hin, schreibst<br />
’s Liedchen auf. (Mörike: 95)<br />
Du wirst es lesen, Paul! (Seghers: 59)<br />
Der Indikativ Präsens und Futur I drükken<br />
einen energischen Befehl aus.<br />
Die indikativischen Aufforderungen können<br />
auch in der 3. Person Plural auftreten,<br />
aber diese Sätze werden nur in bestimmten<br />
Situationen gebraucht, z.B. im Kindergarten,<br />
Verkehr, Krankenhaus: Alle Kinder stehen<br />
jetzt auf!<br />
Diejenigen Sätze, die indikativischpassivische<br />
Verbformen enthalten, können<br />
als eine Forderung erscheinen, aber sie<br />
kommen selten vor. Man benutzt das Passiv,<br />
um einen unpersönlichen Befehl zu geben.<br />
Diese passivischen Sätze sind meistens subjektlos.<br />
Die Aufforderungen beziehen sich<br />
auf alle Anwesenden. Sie enthalten oft die<br />
Partikel aber.<br />
Jetzt wird aber geschlafen!<br />
Hier wird nicht gefaulenzt!<br />
Passivische Aufforderungen werden im<br />
Deutschen auch in Anweisungen, Bedienungsanleitungen<br />
verwendet:<br />
Hiervon werden zwei Tabletten eingenommen.<br />
Beim Ausdruck von vielen auffordernden<br />
Sprechakten spielen auch die Modalverben<br />
eine wesentliche Rolle. Sie selbst haben zwar<br />
keine Imperativformen, aber dienen oft dazu,<br />
gemeinsam mit einem Vollverb den Imperativ<br />
zu ersetzen. Fast alle Modalverben sind<br />
für diese Aufgabe geeignet. In den einfachen<br />
Aussagesatztypen kommt das Modalverb<br />
sollen am häufigsten vor. In seiner Grundbedeutung<br />
drückt sollen eine Aufforderung,<br />
eine Notwendigkeit von Außen, also eine<br />
Notwendigkeit unter dem Druck eines frem-<br />
212<br />
Ildikó Szoboszlai<br />
den Willens aus. Im einzelnen kann es sich<br />
dabei um einen Auftrag, einen Befehl, eine<br />
Vorschrift, ein Gebot oder um eine sittliche<br />
Pflicht u.ä. handeln (DUDEN <strong>19</strong>84: 99). Die<br />
Aufzählung kann in diesem Beitrag nicht<br />
vollzählig sein. Wir beschränken uns nur auf<br />
einige Belege:<br />
Das vordere Tor soll allzeit geschlossen<br />
bleiben (Mörike: 58)<br />
Du sollst deine hellen Augen nicht trüb<br />
und traumblöde machen vom Starren …<br />
(Mann: 176)<br />
Äußerlich soll man sich gut anziehen<br />
(Mann: 72)<br />
Im Unterschied zu sollen drückt das Modalverb<br />
müssen in seiner Grundbedeutung<br />
eine objektiv bedingte logische Notwendigkeit<br />
aus. Es kann aber auch zum Ausdruck<br />
eines Befehls dienen:<br />
Ja, Sie müssen mal Ihre Papiere vorweisen<br />
– sagte der Polizist (Mann: 174)<br />
Du musst es lesen, Hans! (Mann: 21)<br />
Wenn die Notwendigkeit in dem Willen<br />
einer Person gründet, die an eine andere eine<br />
Forderung richtet, kann müssen immer durch<br />
sollen ersetzt werden (DUDEN <strong>19</strong>84: 99)<br />
Du musst/sollst mir helfen.<br />
Die Aufforderungen mit dem Modalverb<br />
müssen sind strenger.<br />
In den einfachen Aussagesätzen kommen<br />
die anderen Modalverben in indikativischer<br />
Form nur vereinzelt vor:<br />
Wir wollen baden gehen. (Vorschlag)<br />
Du darfst nicht so laut reden. (Verbot)<br />
4.2. Aufforderungen können im Deutschen<br />
auch mit Fragesätzen (sowohl mit<br />
Entscheidungsfragen als auch mit Ergänzungsfragen)<br />
ausgedrückt werden. Die<br />
verbalen Prädikate können im Indikativ<br />
Präsens und Futur I stehen.<br />
Zur Kennzeichnung der Aufforderung<br />
dienen die Partikeln und die Intonation:<br />
Kommst du endlich, Hans? (Mann: 5)<br />
Wann machst du nun endlich mal das<br />
Fenster zu?!<br />
Werdet ihr jetzt endlich arbeiten?!<br />
Die Wortfolge der Sätze entspricht der<br />
eines Fragesatzes. Am Ende der Beispielsätze<br />
sind die Satzzeichen unterschiedlich.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />
gegenwärtigen Deutsch<br />
Die Sätze mit Ausrufezeichen und Frage- oder Personengruppe gerichtet ist. Solche<br />
zeichen signalisieren eine Aufforderung, und Aufforderungen sind allgemeingültig. Daraus<br />
dienen zum Ausdruck eines Tadels. Die folgt, dass die Nennung des Adressaten und<br />
Sätze mit Fragezeichen werden als eine Bitte des Adressanten nicht charakteristisch ist.<br />
in der Kommunikation verwendet. Frage- Die Anwendungsbereiche dieser Auffordesätze<br />
mit Aufforderungscharakter sind oftrungen sind Aufrufe in Losungen und Übermals<br />
durch Partikeln wie bitte, endlich, geschriften. Sie sind am häufigsten Verbote<br />
fälligst, mal, nun, oder sogar durch ihre und Warnungen:<br />
Kom-binationen wie nun endlich mal gekennzeichnet.<br />
A. BURKHARDT (<strong>19</strong>83: 47-48)<br />
Durch vorsichtiges Fahren Unfälle vorhüten!<br />
nennt diesen Fragetyp Aufforderungsfrage. Nicht mit dem Wagenführer sprechen!<br />
In der amerikanischen Fachliteratur hat man<br />
für diesen Gebrauch der Frageform den<br />
Terminus “whimperative question” eingeführt.<br />
Wenn eine Frageform für eine Aufforderung<br />
gebraucht wird, kann man von<br />
einem “Wimperativ” sprechen, weil die<br />
englischen und deutschen Fragewörter mit w<br />
beginnen. Zum Ausdruck von höflichen<br />
Bitten verwendet man in Fragesatztypen die<br />
Konjunktiv <strong>II</strong>-Formen von Modalverben<br />
sowie die würde-Form:<br />
Könntest du bitte das Fenster öffnen?<br />
Dürfte ich Ihnen noch eine Frage stellen?<br />
Möchten Sie mir bitte das Salz herüberreichen?<br />
Wenn die Aufforderung als Einwortsatz<br />
erscheint, wirkt sie meist unhöflich und unfreundlich,<br />
und bedeutet immer einen strengeren<br />
Aufruf.<br />
Aufhören! (Kafka: 83)<br />
Zahlen!<br />
“Partizipialphrasen sind nur im mündlichen<br />
Deutsch üblich und setzen immer ein<br />
starkes Autoritätsgefälle vom Sprecher zum<br />
Partner voraus” (ENGEL <strong>19</strong>88: 48). Sie können<br />
mit Kombinationen von Partikeln jetzt<br />
aber, nun aber verstärkt werden. Das Partizip<br />
<strong>II</strong> wird oft in der Armee, im Unterricht,<br />
im Verkehr usw. verwendet:<br />
Weggetreten! Aufgepasst!<br />
Würden Sie mir bitte den Brief zeigen? 4. 5. Ob man kurze Ellipsen, befehlende<br />
4. 3. Ein alleinstehender dass-Satz drückt<br />
eine Aufforderung aus, die einen beschwörenden<br />
oder drohenden Unterton enthält.<br />
Die Partikel ja hebt die Besorgnis oder<br />
die Drohung noch hervor, der Satz kann als<br />
letzte Aufforderung, Mahnung angesehen<br />
werden:<br />
Dass du ja sofort nach Hause kommst!<br />
Dass du mir den Teller nicht fällen lässt!<br />
Dass ihr mir gut aufpasst!<br />
Ausrufe, die keine Verbform enthalten als<br />
Aufforderungssätze bezeichnen soll, ist fraglich.<br />
Obwohl mit ihnen zweifellos Aufforderungshandlungen<br />
vollzogen werden,<br />
drücken sie auf keinen Fall in ihrer grammatischen<br />
Form eine Aufforderung aus. Der<br />
Aufforderungscharakter ergibt sich außergramma-tisch-pragmatisch,<br />
vor allem aus der<br />
Situation und aus dem Befehlston. Bei diesen<br />
Äußerungen soll unbedingt und unverzüglich<br />
Folge geleistet werden:<br />
Der ethische Dativ mir intensiviert die Marsch, Junge!<br />
innere Teilnahme und bringt gleichzeitig das Die Hände hoch!<br />
Interesse des Sprechers zum Ausdruck.<br />
In Deckung!<br />
4. 4. Aufforderungen können im Deutschen<br />
auch mit infiniten Formen realisiert<br />
werden. Aufforderungen mit Infinitiven werden<br />
in dem Fall gebraucht, wenn eine Aufforderung<br />
nicht an eine bestimmte Person<br />
Es gibt auch solche Aufforderungsakte,<br />
die allerdings in funktional definierbaren<br />
Gruppen vorkommen können, sie dienen der<br />
sprachlichen Ökonomie und in diesem Fall<br />
wirken sie unmittelbar, aber nicht notwendig<br />
unhöflich:<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 213
Schraubenzieher! (Statt möglichem: Gib<br />
mir mal den Schraubenzieher!)<br />
Elliptische Aufforderungen können auch<br />
mit Substantiven, Adjektiven, Adverbien und<br />
Verbalpräfixen ausgedrückt werden:<br />
Wein! (Mörike: 162)<br />
Hilfe!<br />
Schnell!<br />
Still, still und kein Wort! (Mann: 114)<br />
Diese adjektivische Aufforderung kann<br />
mit Interjektionen abgemildert werden:<br />
Pst! Leise!<br />
Adverbien und Verbalpräfixe können einen<br />
ganzen Satz ersetzen, aber sie wirken im<br />
allgemeinen brüsk und unhöflich:<br />
Vorwärts! Hinaus! Zurück!<br />
4. 6. Aufforderungen kommen oft in der<br />
indirekten Rede vor. Diese indirekten Aufforderungen<br />
werden entweder mit der Konjunktion<br />
dass angeschlossen oder bleiben<br />
uneingeleitet:<br />
Der Chef sagte, dass die Sekretärin die<br />
Briefe schreiben solle.<br />
Er sagte, sie möge doch mit ihrer Violine<br />
in sein Zimmer kommen. (Kafka: 129)<br />
Die Aufforderung drückt man in der indirekten<br />
Rede mit dem Konjunktiv Präsens<br />
der Modalverben sollen und mögen, seltener<br />
mit dem Konjunktiv Präteritum von sollen,<br />
mögen und müssen und mit dem Infinitiv des<br />
Vollverbs aus. Was die Wahl der Modalverben<br />
betrifft, so richten sie sich nach der<br />
Strenge der Aufforderung. Wenn es sich um<br />
eine freundliche Bitte handelt, wird mögen<br />
gewählt, wenn es sich um einen Befehl oder<br />
eine barsche Aufforderung handelt wird<br />
sollen gebraucht. Die Aufforderung wird im<br />
Nebensatz formuliert, und der Nebensatz<br />
wird im allgemeinen ohne die Konjunktion<br />
dass angeschlossen:<br />
Aufforderungen in Imperativsätzen<br />
obligatorische Verberststellung<br />
Imperativform<br />
214<br />
Ildikó Szoboszlai<br />
Aufforderungen<br />
Die Mutter bat uns Kinder, wir möchten<br />
ihr mal Milch aus dem Kühlschrank holen.<br />
Mein Vater befahl mir, ich solle diese<br />
Arbeit am gleichen Tag erledigen.<br />
In indirekter Aufforderung kommt das<br />
Modalverb müssen selten vor.<br />
Das Gericht teilte den Leuten mit, dass<br />
sie die Strafe bezahlen müssten.<br />
Explizit performative Äußerungen können<br />
im Deutschen nicht nur in Nebensätzen,<br />
sondern auch in Infinitivkonstruktionen<br />
ausgedrückt werden:<br />
Ich bitte dich, das Buch umgehend zurückzugeben.<br />
Ich fordere dich auf, das Buch umgehend<br />
zurückzugeben.<br />
Ich befehle dir, das Buch umgehend zurückzugeben.<br />
Welcher Sprechakt in den einzelnen Sätzen<br />
ausgedrückt wird, hängt das von dem<br />
redeeinleitenden Verb des Hauptsatzes ab.<br />
Weitere Verben sind ähnlich verwendbar<br />
(verlangen, anflehen, warnen usw.).<br />
Wenn vom Verb warnen ein Nebensatz<br />
oder eine Infinitivgruppe abhängt, dürfen<br />
diese indirekten Warnungen nicht verneint<br />
werden.<br />
Nicht korrekt: Er warnte ihn, nicht zu<br />
schnell zu fahren.<br />
Korrekt: Er warnte ihn, zu schnell zu<br />
fahren. (DUDEN <strong>19</strong>85: 747)<br />
5. Als Fazit lässt sich sagen, dass die<br />
Ausdrucksformen der auffordernden Sprechakte<br />
ein gutes Material zu unserer Analyse<br />
gegeben haben. Die Ergebnisse der Untersuchung<br />
versuchen wir in der folgenden<br />
Tabelle zusammenzufassen:<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Zum Verhältnis zwischen Verbmodus und Satzmodus beim Ausdruck von Aufforderungen im<br />
gegenwärtigen Deutsch<br />
ohne Partikel _ unhöflich, brüsk<br />
mit Partikeln _ Bitte, Erlaubnis, Ermutigung<br />
Personalpronomen in der 2. Person nur für Hervorhebung<br />
Aufforderungen in Aussagesätzen<br />
Verbform:<br />
Indikativ Präsens, Futur I _ Befehl<br />
Vorgangspassiv _ unpersönlicher Befehl<br />
Modalverben<br />
sollen _ Auftrag, Befehl, Vorschrift, Gebot …<br />
müssen _ objektiv bedingte Notwendigkeit/Befehl<br />
Aufforderungen in Fragesätzen<br />
Verbform: Indikativ Präsens, Futur I _ Tadel, Mahnung<br />
Verbform: Konjunktiv Präteritum _ höfliche Bitte<br />
Illokutive Indikatoren: Partikeln, Intonation<br />
Aufforderungen in isolierten Nebensätzen<br />
Verbform: Indikativ Präsens<br />
_ Drohung, Warnung<br />
Aufforderungen mit infiniten Formen<br />
mit Infinitiven _ Verbot, Warnung (brüsk)<br />
mit Partizipien _ Kommando<br />
Ellipse als Aufforderungen (mit Substantiven, Adjektiven, Adverbien, Verbalpräfixen) –<br />
brüsk<br />
Indirekte Aufforderungen<br />
Konjunktiv Präsens<br />
von mögen/sollen + Infinitiv des Vollverbs<br />
zu + Infinitiv – Konstruktion<br />
Zusammenfassung<br />
Der vorliegende Beitrag versucht einen<br />
Überblick über die Sprechakttypen der Aufforderung<br />
zu geben. Es werden ihre deutschen<br />
Ausdrucksmittel untersucht, indem wir<br />
vom Verbmodus und Satzmodus ausgehen.<br />
In den meisten Sprachen stehen Verbmodi<br />
und Satzmodi, sowie Satzmodi und Satztypen<br />
keineswegs in einem Eins-zu-eins-<br />
Verhältnis zueinander. Auch im Deutschen<br />
können Aufforderungen nicht nur in Imperativsätzen,<br />
sondern auch in Aussage- und<br />
Fragesatztypen realisiert werden. Das verbale<br />
Prädikat kann dementsprechend nicht<br />
nur im Imperativ, sondern auch im Indikativ<br />
und Konjunktiv stehen. In vielen Sprechakttypen<br />
der Aufforderung spielen deshalb auch<br />
die illokutiven Indikatoren (z.B. Partikeln,<br />
Intonation) eine sehr wichtige Rolle. Wir<br />
zeigen auch einige explizit performative<br />
Äußerungen, aber eine größere Aufmerksamkeit<br />
wird den direkten Aufforderungen<br />
gewidmet, zu deren verbaler Realisierung im<br />
Deutschen zahlreiche Ersatzformen zur Ver-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 215
216<br />
Ildikó Szoboszlai<br />
fügung stehen. Wir untersuchen diese Ersatz- eigenen Corpus, dessen Belege aus deutformen<br />
mit Hilfe der Fachliteratur und eines schen literarischen Werken stammen.<br />
*<br />
* *<br />
L i t e r a t u r<br />
1. BURKHARDT, Armin (<strong>19</strong>83): Kannst du mir<br />
mal das Salz reichen? oder: Das Modalverb<br />
beim “Wimperativ“. In: Sprache und Beruf 3.<br />
S. 46-55.<br />
2. DUDEN (<strong>19</strong>84): Grammatik der deutschen<br />
Gegenwartssprache/hrsg. u. bearb. von Günther<br />
DROSDOWSKI … 4., völlig neu bearb. u.<br />
erw. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches<br />
Institut. (Der Duden in 10 Bänden;<br />
Bd. 4.)<br />
3. DUDEN (<strong>19</strong>85): “Richtiges und gutes<br />
Deutsch“ Wörterbuch der sprach. Zweifelsfälle/bearb.<br />
von Dieter BERGER u. Günther<br />
DROSDOWSKI unter Mitwirkung von Otmar<br />
KÄGE. 3. neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim;<br />
Wien; Zürich: Bibliographisches Institut.<br />
(Der Duden; Bd. 9.)<br />
4. ENGEL, Ulrich (<strong>19</strong>88): Deutsche Grammatik.<br />
2., verbesserte Aufl. Heidelberg/Tokyo.<br />
5. ERBEN, Johannes (<strong>19</strong>61): Lasst uns feiern/Wir<br />
wollen feiern! In: Beiträge zur Geschichte der<br />
deutschen Sprache und Literatur. E. Kart-<br />
Gasterstädt gewidmet. Halle (Saale): Niemeyer.<br />
S. 459-471.<br />
6. ERBEN, Johannes (<strong>19</strong>83): Sprechakte der<br />
Aufforderung im Neuhochdeutschen. In:<br />
Sprachwissenschaft 8. S. 399-412.<br />
7. FLÄMIG, Walter (<strong>19</strong>91): Grammatik des Deutschen.<br />
Berlin<br />
8. GENZMER, Herbert (<strong>19</strong>93): Richtiges Deutsch.<br />
Bindlach<br />
9. SCHULZ, Dora/GRIESBACH, Heinz (<strong>19</strong>90):<br />
Grammatik der deutschen Sprache. 11. Aufl.<br />
(Erste Aufl. <strong>19</strong>60). München<br />
10. ZIFONUN, Gisela (<strong>19</strong>97): Grammatik der<br />
deutschen Sprache/von Gisela ZIFONUN; Ludger<br />
HOFFMANN; Bruno STRECKER. Berlin;<br />
New York: de Gruyter. Bd. 1-3. (Schriften<br />
des Instituts für deutsche Sprache Bd. 7., 1-<br />
3.).<br />
Quellen der Belege:<br />
1. KAFKA, Franz: Der Heizer. Die Verwandlung.<br />
Erzählungen. Budapest <strong>19</strong>90.<br />
2. MANN, Thomas: Tonio Kröger. Budapest<br />
<strong>19</strong>75.<br />
3. Seghers, Anna: Das Argonautenschiff. Budapest<br />
<strong>19</strong>78.<br />
4. MÖRIKE, Eduard: Mozart auf der Reise nach<br />
Prag. Budapest <strong>19</strong>79.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN IN DER DIDAKTISIERUNG<br />
AUTHENTISCHER GESPRÄCHE<br />
Ausgangspunkt – „Ich spreche wie<br />
Goethe!“<br />
Der Ausgangspunkt meiner Untersuchung<br />
ist ein merkwürdiger Satz, den eine<br />
verärgerte, vielleicht auch verbitterte Studentin<br />
im 6. Semester, als Fazit ihrer Wortmeldung<br />
zum Stellungswert der „curspractic“-Stunden,<br />
innerhalb des Germanistikstudiums,<br />
vorwurfsvoll anführte: „Ich<br />
spreche wie Goethe!“.<br />
Diese ungewohnte Äußerung versetzte<br />
einige Studenten ins Staunen, löste bei vielen<br />
eine erklärliche Neugierde aus, so daß<br />
eine weitere Ausführung des Gesagten unerläßlich<br />
war.<br />
Kontextfrei könnte man den vorhin zitierten<br />
Satz („Ich spreche wie Goethe“) ganz<br />
verschieden verstehen und auslegen z.B. a)<br />
als ein zu weit ausgeführtes Selbstlob, b) als<br />
eine unerhörte Anmaßung oder c) man mißt<br />
ihm gar keine Bedeutung zu und betrachtet<br />
ihn als einen einfach grammatikalisch korrekten<br />
Satz. Was aber dahinter steckt – das<br />
Gemeinte – wäre mir (und höchstwahrscheinlich<br />
auch anderen) verborgen geblieben,<br />
wenn man mich nicht in die verschlüsselte<br />
Studentensprache eingeweiht<br />
hätte.<br />
Die Identifizierung der Sprecherin mit<br />
Goethe war rein zufällig und sollte von mir<br />
und von ihren KollegInnen keinesfalls als<br />
ein Werturteil verstanden werden, sondern<br />
als ein bescheidener Versuch eine bestimmte<br />
Tatsache zu erläutern, nämlich die ungenügende<br />
Aus- und Fortbildung der kommunikativen<br />
Fertigkeiten in einer beliebigen<br />
Fremdsprache, - in unserem Falle Deutsch,<br />
an der Bukarester Universität.<br />
Die Äußerung „Ich spreche wie Goethe“<br />
bezieht sich also nicht auf Wortwahl, Sprechtempo<br />
oder Intonation 1 , sondern sie muß<br />
als eine studentische Bezeichnung für das<br />
sehr gepflegte, aber alte Gelehrtendeutsch<br />
1 Leider war die Technik zu der Zeit noch nicht so<br />
fortgeschritten, um Ton- oder Videoaufnahmen zu<br />
ermöglichen.<br />
Ana Iroaie<br />
verstanden werden, das man heutzutage in<br />
der Alltagskommunikation keinesfalls verwendet<br />
und deshalb oft nicht nur von jungen<br />
Leuten als „altmodisch“ empfunden wird.<br />
Viele Germanistikstudenten der Bukarester<br />
Universität haben selten Gelegenheit 2<br />
während des Studiums, geschweige denn<br />
außerhalb des institutionalisierten Rahmens<br />
ihre erworbenen Deutschkenntnisse aktiv in<br />
der Alltagskommunikation zu verwenden.<br />
Hier muß der Unterschied gemacht werden<br />
zwischen den Germanistikstudenten, die<br />
Deutsch als Muttersprache haben (ihre Anzahl<br />
ist aber sehr gering) und denen das<br />
Rumänische oder eine andere Sprache als<br />
Muttersprache benutzen und nicht immer<br />
einen direkten Kontakt zum Zielland, in<br />
diesem Fall Deutschland und seiner Kultur<br />
haben.<br />
Welche Bedeutung die Germanistikstudenten<br />
der Universität Bukarest der Ausbildung<br />
ihrer mündlichen kommunikativen<br />
Fertigkeiten beimessen und ob eine eingehende<br />
Behandlung verschiedener Aspekte<br />
der gesprochenen Sprache anhand von<br />
authentischen Redebeiträgen während des<br />
Studiums vorgenommen werden soll, habe<br />
ich versucht anhand eines von mir erstellten<br />
Fragebogens zu erfahren, der von 70 Befragten<br />
aus verschiedenen Semestern im<br />
Hochschuljahr <strong>19</strong>99-<strong>20</strong>00 ausgefüllt wurde.<br />
Die Auswertung des Fragebogens<br />
90% der Befragten glauben, daß die curs<br />
practic – Stunden für Sie nützlich sind und<br />
96% meinen, daß regelmäßige Konversationsstunden<br />
ihre mündliche Kompetenz fördern<br />
könnten, aber diese Stunden sollten<br />
jedenfalls als Wahlfach angeboten werden.<br />
Für 54% der Studenten sind Konversationsstunden<br />
sehr wichtig und für 41% wichtig,<br />
so daß regelmäßige Konversationsstunden<br />
mit Sicherheit gut besucht sein würden. Nur<br />
2 Dies gilt aber leider für alle Fremdsprachenstudenten,<br />
die selten einen direkten Kontakt zur Zielkultur<br />
haben und oft die mündliche Kommunikation (aus<br />
Mangel an Erfahrung und Praxis) scheuen.
2% der Studenten halten diese Stunden für<br />
unwichtig. 50% der Befragten haben selten<br />
Gelegenheit deutsch zu sprechen. 26% sprechen<br />
außerhalb des institutionalisierten Rahmens<br />
nie Deutsch. Nur 17% benutzen<br />
Deutsch oft in der Alltagskommunikation.<br />
Es ist interessant und vielleicht verständlich,<br />
daß trotz des großen Medienangebots,<br />
63% der Germanistikstudenten nur selten gesprochenes<br />
Deutsch außerhalb der Universität<br />
hören, denn die meisten verfügen<br />
nicht über die dazu nötige technische Ausrüstung.<br />
Den meisten bereitet die ungenügende<br />
Sprachübung Schwierigkeiten im mündlichen<br />
Umgang mit deutschsprechenden<br />
Partnern und 46% kennen verschiedene<br />
typische deutsche Routineformeln und bestimmte<br />
Kommunikationsrituale nicht. Nur<br />
7% beherrschen den Alltagswortschatz nicht<br />
gut genug, um sich problemlos mit den Gesprächspartnern<br />
zu verständigen. 61% der<br />
Studenten kennen keine landeskundlichen<br />
Aspekte, die Alltagsgespräche mitbestimmen<br />
können, und 99% möchten die kulturspezifischen<br />
Elemente der mündlichen Kommunikation<br />
auf der Hochschule eingehend behandeln.<br />
Es ist verständlich und aus dieser Umfrage<br />
ersichtlich, daß die meisten Studierenden<br />
ihre mündliche kommunikative Fertigkeit<br />
verbessern möchten, denn schließlich<br />
braucht man moderne Fremdsprachen,<br />
„...im Gegensatz zu den 'alten Sprachen' Latein und<br />
Griechisch, die es nur noch als Buchsprachen gibt -,<br />
um sich mit anderen Menschen verständigen zu können,<br />
um sich im Zielsprachenland, etwa als Tourist<br />
oder Geschäftsmann, zurechtfinden und mit den Leuten<br />
unterhalten zu können, um Fernsehsendungen,<br />
Radioprogramme, Zeitungen und Bücher zu verstehen.<br />
... Lebende Sprachen lernt man in erster Linie,<br />
um sie für Alttagskommunikation zu benutzen.“ 3<br />
Die Studenten haben aber nicht sehr oft<br />
die Möglichkeit auf der Hochschule die typischen<br />
Routine- und Ritualfromen der deutschen<br />
Alltagssprache zu hören oder selbst zu<br />
verwenden, denn in den meisten Seminaren<br />
werden hauptsächlich fachspezifische Themen<br />
behandelt, so daß die Diskussionsbeiträge<br />
nur in geringem Maße die typischen<br />
Merkmale eines Unterhaltungsgesprächs aufweisen<br />
können. Die kleine Anzahl der Kon-<br />
3 Neuner/ Hunfeld - <strong>19</strong>93, S. 84.<br />
218<br />
Ana Iroaie<br />
versationsstunden (es handelt sich um eine<br />
Wochenstunde, die nur für das erste Studienjahr<br />
und nur im ersten Semester vorgesehen<br />
ist) bieten kaum Gelegenheit geläufige Redeformen<br />
der Alltagssprache aufzufrischen<br />
oder einzuüben, so daß die Rolle der kulturspezifischen<br />
sprachlichen und nichtsprachlichen<br />
Handlungen für das Gelingen mündlicher<br />
Äußerungen leider unberücksichtigt bleibt.<br />
Die mündliche kommunikative Fertigkeit<br />
der Studierenden wird als eine selbstverständliche<br />
Voraussetzung für die Zulassung<br />
zum Germanistikstudium betrachtet und<br />
deshalb vielleicht auch nicht mehr geprüft,<br />
wie einst, so daß nur noch der schriftlichen<br />
Sprachkompetenz große Aufmerksamkeit<br />
geschenkt wird. Unter Sprachkompetenz<br />
versteht Van Ek die<br />
„Kenntnis des entsprechenden Wortschatzes und<br />
Beherrschung der grammatikalischen Regeln, die es<br />
dem Lernenden gestatten, die einzelnen Wörter zu<br />
sinnvollen Aussagen zusammenzuknüpfen.“ 4<br />
So läßt sich vielleicht erklären, daß manche<br />
Studenten, trotz des umfangreichen<br />
Wortschatzes und guter Grammatikkenntnisse,<br />
Schwierigkeiten haben, die Zielsprache<br />
situationsadäquat zu verwenden. Die<br />
mündliche Kompetenz müßte man demnach<br />
auf der Hochschule weiter fördern, indem<br />
man dafür auch und insbesondere authentische<br />
Gespräche in den Unterricht einbezieht<br />
und aus verschiedenen Perspektiven behandelt.<br />
Authentische Gespräche, d.h. für Unterrichtszwecke<br />
nicht vereinfachte oder stilistisch<br />
nicht bearbeitete Dialoge, die von<br />
deutschen Muttersprachlern in verschiedenen<br />
Situationen verwendet wurden, könnten den<br />
Studenten kulturspezifische Routine- und<br />
Ritualformen näher bringen. Die Lerner<br />
sollten sich nicht nur mit den landeskundlichen<br />
Aspekten auseinandersetzen, sondern<br />
sie sollten sich auch die für den deutschen<br />
Sprachraum typischen kommunikativen Verhaltensweisen<br />
aneignen, um sie bewußt in<br />
ähnlichen Kontexten verwenden zu können.<br />
Die Didaktisierung authentischer Gespräche<br />
im Hochschulunterricht<br />
Die Didaktisierung authentischer Gespräche<br />
bezieht sich nicht auf den Einsatz didak-<br />
4 Van Ek, zitiert nach Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. 1.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Möglichkeiten und Grenzen in der Didaktisierung authentischer Gespräche<br />
tisierter (d.h. für den Unterricht angepaßte)<br />
Gespräche, die grammatikorientiert sind und<br />
daher oft wirklichkeitsfremd, sondern auf die<br />
gezielte Hervorhebung verschiedener relevanten<br />
Aspekte der gesprochenen Sprache<br />
und auf die ausführliche Analyse, der auf<br />
Ton- oder Videoband aufgezeichneten Gesprächsformen.<br />
Die Gespräche, die man im<br />
Unterricht behandeln will, sollten für eine<br />
bestimmte Kommunikationssituation relevant<br />
sein und das Sprachniveau der Studenten<br />
nicht überfordern. Kurze Alltagsdialoge,<br />
Radio- und Fernsehbeiträge (insbesondere<br />
Nachrichten und Interviews) enthalten außer<br />
den kulturspezifischen Routine- und Ritualformen,<br />
auch viele Informationen über das<br />
Zielland, die verschiedene zusätzliche Erläuterungen<br />
benötigen, um richtig verstanden<br />
werden zu können. Joe Sheils meint dazu,<br />
daß<br />
„Texte, die ursprünglich für native speakers gedacht<br />
waren, werden von den Lernenden auf der<br />
Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und aus der<br />
Perspektive der Ausgangskultur möglicherweise anders<br />
interpretiert als von den native speakers selbst,<br />
die sich bei der Entschlüsselung der Texte auf den<br />
unmittelbaren Ereigniskontext und den sozioideologischen<br />
Kontext ihrer Gesellschaft stützen.“ 5<br />
Es ist wichtig, daß die verschiedenen<br />
Aspekte der gesprochenen Sprache im Hochschulunterricht<br />
behandelt werden, denn<br />
Äußerungen sind kontextgebunden und ihr<br />
Inhalt kann nur dann richtig erfaßt werden,<br />
wenn man außer der sprachlichen Bedeutung,<br />
auch die para- , non- und extraverbalen<br />
Begleitelemente zu deuten weiß.<br />
Zu den parasprachlichen Mitteln führt<br />
Gertraude Heyd die Stimmqualitäten und<br />
Stimmgebungen an, die semantische Strukturen<br />
beeinflussen oder zu interkulturellen<br />
Mißverständnissen führen können.<br />
„Laut und energisch sprechende Südländer erwecken<br />
bei Nordeuropäern oft den Eindruck, daß sie<br />
sich streiten. Oder DANKE mit fallendem Stimmton<br />
gesprochen, bedeutet im Deutschen NEIN, danke! der<br />
Ausländer hat aber vielleicht JA, bitte! gemeint, das<br />
im Deutschen mit steigendem Stimmton gesprochen<br />
wird.“ 6<br />
Nonverbale Elemente wie Mimik, Gestik<br />
begleiten die sprachlichen Äußerungen<br />
und können verschiedene Informationen<br />
5 Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. <strong>19</strong>.<br />
6 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 58.<br />
hervorheben oder sogar vermitteln. Gertraude<br />
Heyd unterscheidet zwischen den<br />
„physiologisch bedingten wie Gähnen und Erröten<br />
und kulturbedingten wie Winken, Herbei- und<br />
Wegwinken.“ 7<br />
Denselben außersprachlichen Elementen<br />
wird in verschiedenen Kulturen eine andere<br />
Rolle und kommunikative Bedeutung beigemessen,<br />
so daß es leicht zu Mißverständnissen<br />
kommen kann, wenn man die interkulturellen<br />
Unterschiede nicht kennt. Gertraude<br />
Heyd führt in ihrem Buch „Aufbauwissen<br />
für den Fremdsprachenunterricht“ ein<br />
Beispiel an.<br />
„In Deutschland ist es üblich sich beim Gruß beim<br />
Abschied die Hand zu geben, in England oder den<br />
USA ist das eher unüblich. Deutsche fassen einen<br />
ausgebliebenen Händedruck leicht als Distanzierung<br />
oder als Unhöflichkeit auf.“ 8<br />
In Rumänien ist der Handgruß im privaten<br />
Bereich vom Wangenkuß ersetzt,<br />
allerdings kommt er nur zwischen vertrauten<br />
oder gut befreundeten Gesprächspartnern<br />
zustande, sonst bleibt er im allgemeinen aus.<br />
Die nonverbale Kommunikation wird in<br />
der Regel in unserem Fremdsprachen-unterricht<br />
ignoriert und ihre Bedeutung für das<br />
Gelingen sprachlicher Absichten eher unterschätzt.<br />
Die Körpersprache wird selten im<br />
Fremdsprachenunterricht behandelt, weil es<br />
einerseits einen großen Arbeitsaufwand voraussetzt<br />
(z. B. die Suche nach geeignetem<br />
Unterrichtsmaterial, verschiedene zusätzliche<br />
Vorbereitungen) und andererseits, weil<br />
es nur wenige Lehrende gibt, die Mimik und<br />
Gestik zur nötigen interkulturellen Kompetenz<br />
zählen.<br />
Zeit, Raum, Proxemik und soziale Variablen<br />
zählen laut Heyd zu den extraverbalen<br />
Einheiten, die das Zustandekommen mancher<br />
Sprachhandungen beeinflussen können.<br />
„Während Deutsche bei Geschäftsverhandlungen<br />
möglichst direkt auf das eigentliche anliegen zusteuern<br />
– Zeit ist Geld! – gehört es in anderen<br />
Kulturen zu den Höflichkeitsregeln, sich zunächst<br />
mehr oder weniger lang und umständlich über andere<br />
Themen wie Wetter, Gesundheit usw. zu unterhalten,<br />
die mit dem Verhandlungsgegenstand nichts zu tun<br />
haben, was Europäer und Nordamerikaner oft irritiert<br />
und zu der Annahme führt der Gesprächspartner sei<br />
an der Verhandlung entweder nicht mehr interessiert<br />
7 Ebd.<br />
8 Ebd.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 2<strong>19</strong>
oder verstehe nicht, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren.“<br />
9<br />
Das Scheitern mancher Äußerungen besteht<br />
nicht unbedingt in einer mangelnden<br />
Beherrschung des Wortschatzes, sondern<br />
viel mehr in einer aus Unkenntnis inadäquaten<br />
Benutzung der kulturspezifischen<br />
Kommunikationsformen, denn die<br />
strategische Kompetenz d.h. „die Fähigkeit,<br />
verbale und non-verbale Strategien einzusetzten,<br />
um etwaige Mängel in der Beherrschung<br />
des Codes wettzumachen.“ und<br />
die sozio-kulturelle Kompetenz d.h. „eine<br />
gewisse Vertrautheit mit dem sozio-kulturellen<br />
Kontext, in dem die Sprache verwendet<br />
wird.“ 10 werden leider während der<br />
Schulzeit, aus verschiedenen Gründen, selten<br />
in den Vordergrund gestellt, so daß den<br />
Studenten die spezifischen kommunikativen<br />
Verhaltensweisen einer bestimmten Zielkultur<br />
kaum vertraut sind.<br />
Möglichkeiten für die Didaktisierung<br />
authentischer Gespräche<br />
Es gibt unzählige Möglichkeiten die<br />
sprachlichen, parasprachlichen und außersprachlichen<br />
Elemente der gesprochenen<br />
Sprache im Unterricht zu behandeln je nachdem<br />
welchen Aspekt man stärker hervorheben<br />
möchte und welches didaktische Ziel<br />
man ins Auge gefaßt hat. Authentische Gespräche<br />
können im Unterricht behandelt<br />
werden um:<br />
- das Hörverständnis der Lerner zu<br />
schulen und zu überprüfen;<br />
- die Sprechfertigkeit zu fördern (Alltagskommunikation<br />
wird im Unterricht<br />
durch Imitieren simuliert);<br />
- den Wortschatz mit typischen Strukturen<br />
der mündlichen Alltagskommunikation<br />
zu bereichern;<br />
- die landeskundlichen Aspekte, die für<br />
die mündliche Kommunikation wichtig<br />
sind, bekanntzumachen.<br />
- die Argumentationstechnik und das<br />
Sprechdenken zu entwickeln.<br />
In vielen Didaktikbüchern werden verschiedene<br />
Übungsvorschläge angeführt, die<br />
insbesondere den jungen, vielleicht nicht so<br />
erfahrenen Lehrern von großem Nutzen sein<br />
9 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 60.<br />
10 Van Ek, zitiert nach Joe Sheils - <strong>19</strong>94, S. 1.<br />
2<strong>20</strong><br />
Ana Iroaie<br />
können, um ihre Konversationsstunden lebendiger<br />
und sinnvoller zu gestalten. Hier<br />
möchte ich nur ein paar Beispiele anführen,<br />
die Gertraude Heyd vorschlägt.<br />
Übungsformen für das dialogische<br />
Sprechen<br />
„Bei einem vorgegebenen Dialog, die Bedingungen<br />
ändern (Partnerbeziehung, Alter, Ort, Intonation) und<br />
den Dialog neu gestalten lassen.<br />
Zu einem vorgegebenen Dialog mit neutraler Intonation<br />
eine neue Version mit geänderter Intonation<br />
erarbeiten und unter Einsatz von Gestik und Mimik<br />
vorspielen lassen; anschließend darüber sprechen,<br />
welche Auswirkungen die geänderte Intonation auf<br />
das Verhalten der Sprecher und auf die Situation hat.<br />
Einen emotional gefärbten vorgegebenen Dialog<br />
besprechen: wie wird Zuneigung, Ablehnung, Interesse,<br />
Bewunderung usw. ausgedrückt; wie würde sich<br />
ein Stimmungswechsel sprachlich auswirken.<br />
Aufgrund einer visuellen Vorgabe (Bilder, Bilderfolgen)<br />
Dialoge/Interviews zwischen den dargestellten<br />
Personen erfinden lassen.<br />
Eine Debatte zu einem kontroversen Thema führen<br />
und die Teilnehmer anschließend von den übrigen<br />
Lernern befragen lassen.“ 11<br />
Grenzen in der Didaktisierung authentischer<br />
Gespräche<br />
Die gesprochene Sprache sollte man<br />
noch während des Studiums ausführlich analysieren,<br />
aber oft treten Probleme auf, die<br />
nicht so leicht zu überwinden sind, und die<br />
Behandlung authentischer Gespräche stark<br />
beeinflussen oder sogar verhindern können.<br />
Eine nicht ausreichende technische Ausstattung<br />
(ungenügende Anzahl von Kassetten<br />
und/oder Videorecorder), wenig oder gar<br />
kein Unterrichtsmaterial erschwert die Gestaltung<br />
der Konversationsstunden.<br />
Konversationsstunden sind entweder im<br />
Lehrplan (Hochschulcurriculum) nicht vorgesehen,<br />
oder die dafür geplante Stundenanzahl<br />
ist zu klein, um die Sprechfertigkeit<br />
der Lernenden zu fördern.<br />
Wenn der Lehrer das Sprachniveau der<br />
Studenten überschätzt, kann die mündliche<br />
Kompetenz der Lerner nicht die erwünschte<br />
Entwicklung erfahren.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Unser Hochschulwesen nimmt seine<br />
Rolle als Vermittler von niveauvollem Wissen<br />
sehr ernst und ist beharrlich in seinem<br />
11 Heyd - <strong>19</strong>97, S. 179f.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Möglichkeiten und Grenzen in der Didaktisierung authentischer Gespräche<br />
hochzuschätzenden Unternehmen, Zugänge<br />
zu anderen Bereichen und Kulturen zu eröffnen,<br />
aber es müßte nicht nur belesene,<br />
hoch spezialisierte, sondern auch „kommunikationsfähige“<br />
Fachleute ausbilden.<br />
Ein jeder angehende Akademiker – in<br />
unserem Falle Germanist – sollte schon<br />
während des Studiums ausgereifte, erlesene,<br />
seiner Ausbildung entsprechende Kenntnisse<br />
erwerben, die er bei verschiedenen Gelegenheiten<br />
in Schrift und Sprache einsetzen kann.<br />
Die Schreibfertigkeit der Studenten wurde<br />
meines Wissens schon immer und natürlich<br />
mit gutem Grund auf der Philologie-Fakultät<br />
gefördert, aber leider hat man der ungehemmten<br />
mündlichen Auseinandersetzung<br />
mit verschiedenen Themen, auch wegen der<br />
dafür zu gering vorgesehenen Stundenanzahl,<br />
nur zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.<br />
Sehr oft schreiben unsere Studenten<br />
gute Referate, übersetzen schwierige Texte,<br />
verfassen anspruchsvolle wissenschaftliche<br />
Arbeiten, aber einige von ihnen können<br />
manchmal ein ganz banales, alltägliches Gespräch<br />
mit einem deutschen Muttersprachler<br />
unter Mitberücksichtigung der kulturspezifischen<br />
Diskurselemente nicht führen. Es<br />
sind nur wenige Absolventen, die mit einem<br />
passiven Wortschatz in ihrem Beruf als<br />
Übersetzter oder Forscher auskommen<br />
würden, die meisten von ihnen haben die<br />
Möglichkeit, als Sekretäre, Dolmetscher,<br />
Kulturreferenten oder sogar DaF-Lehrer zu<br />
arbeiten, und müßten deshalb die Sprechfertigkeit<br />
haben, sich in der erlernten Fremdsprache<br />
einwandfrei äußern zu können.<br />
Die Fremdsprachenfakultäten müßten bei<br />
der Curricularen Planung stets vor Augen<br />
haben, daß sowohl die angehenden Forscher,<br />
als auch die Lehrer und Dolmetscher auf die<br />
mündliche Kommunikation in der während<br />
des Studiums erworbenen Fremdsprache angewiesen<br />
sind. Nicht nur die Schreib-, sondern<br />
noch viel mehr die Sprechfertigkeit<br />
wird in ihrem zukünftigen Berufsleben gefragt<br />
sein und deshalb müßte sie schon während<br />
der Ausbildung regelmäßig trainiert<br />
werden.<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. HEYD, Gertraude (<strong>19</strong>97): Aufbauwissen für<br />
den Fremdsprachenunterricht (DaF), Ein Arbeitsbuch,<br />
(narr studienbücher), Gunter Narr<br />
Verlag, Tübingen.<br />
2. HUFEISEN, Britta und Gerhard Neuner<br />
(<strong>19</strong>99): Angewandte Linguistik für den<br />
fremdsprachlichen Deutschunterricht, Eine<br />
Einführung, Fernstudieneinheit 16, Langenscheidt,<br />
Berlin, München.<br />
3. LÜGER, Heinz-Helmut (<strong>19</strong>93): Routinen und<br />
Rituale in der Alltagskommunikation, Fernstudieneinheit<br />
6, Langenscheidt, Berlin, München.<br />
4. NEUNER, Gerhard und Hans Hunfeld<br />
(<strong>19</strong>93): Methoden des fremdsprachlichen<br />
Deutschunterrichts, Eine Einführung, Fernstudieneinheit<br />
4, Langenscheidt, Berlin, München.<br />
5. SHEILS, Joe (<strong>19</strong>94): Kommunikation im<br />
Fremd-sprachenunterricht, Projekt <strong>Nr</strong>. 12<br />
„Das Lehren von Fremdsprachen zur Kommunikation“,<br />
Council of Europe Press.<br />
*<br />
* *<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 221
ANWENDUNG DER WEINRICHSCHEN TEMPUSKATEGORIEN IM UN-<br />
TERRICHT DEUTSCH ALS MUTTERSPRACHE<br />
1. EINLEITUNG<br />
Die vorliegende Arbeit hat sich als Ziel<br />
gesetzt, die Anwendungsmöglichkeiten der<br />
Weinrichschen Kategorien im Unterricht<br />
Deutsch als Muttersprache zu überprüfen.<br />
Sie ist nicht rein linguistisch; sie ist auch auf<br />
die Erfordernisse des Faches Deutsch als<br />
Muttersprache ausgerichtet.<br />
Dazu sind sowohl didaktische als auch<br />
linguistische Untersuchungen notwendig.<br />
Weinrichs Theorie wird erläutert und in den<br />
Zusammenhang der sprachwissenschaftlichen<br />
Forschung zum Tempus gestellt, wobei der<br />
Schwerpunkt auf die Bedeutung dieses Modells<br />
im Deutschunterricht gelegt wird.<br />
Die didaktischen Vorteile der Kategorien<br />
„Erzählen“ und „Besprechen“ im muttersprachlichen<br />
Deutschunterricht werden anhand<br />
der von der fünften bis zur achten Klasse<br />
behandelten Textsorten gezeigt.<br />
In der Darstellung dieser Textsorten werden<br />
nicht nur ihre Merkmale hervorgehoben,<br />
sondern auch auf die Bedeutung der Vermittlung<br />
einiger textgrammatischer Kenntnisse<br />
im Deutschunterricht hingewiesen.<br />
Die didaktischen Überlegungen sind das<br />
Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit<br />
diesem Thema während des Deutschunterrichts<br />
in der fünften, sechsten, siebten und<br />
achten Klasse des „William Shakespeare“<br />
Lyzeums. Diese Untersuchungen haben also<br />
als Grundlage die Erfahrung des Lehrenden,<br />
der während des Unterrichts in verschiedenen<br />
Klassen die Schwierigkeiten der<br />
Schüler erkannt hat und das Weinrichsche<br />
Modell zum Ausbau der Schreibkompetenz<br />
als hilfreich betrachtet.<br />
2. DAS WEINRICHSCHE TEMPUS-<br />
MODELL<br />
Weinrich erklärt in seiner "Textgrammatik<br />
der deutschen Sprache" (<strong>19</strong>93) sein<br />
Tempusmodell anhand von Texten, denn<br />
„diese Grammatik versteht die Phänomene<br />
der Sprache von Texten her, da eine natürliche<br />
Sprache nur in Texten gebraucht wird"<br />
(Weinrich <strong>19</strong>93: 17).<br />
222<br />
Crăciunescu Alina<br />
Das Tempus-Kapitel wird unter der Bezeichnung<br />
„Das Verb und seine Einstellungen“<br />
eingeführt und der Begriff Tempus<br />
als „Einstellungsbegriff“ definiert (Weinrich<br />
<strong>19</strong>93:183).<br />
Als grundlegende Dimensionen des<br />
Tempussystems werden das Tempus-Register<br />
und die Tempus-Perspekive angesehen,<br />
die, kombiniert, den Bedeutungsunterschied<br />
der Tempora ausmachen. Das Kapitel behandelt<br />
also folgende Themen:<br />
- Der Indikativ und seine Tempusformen<br />
- Das Tempus-Register<br />
- Die Tempus-Perspektive<br />
- Die einzelnen Tempora<br />
Genau wie in seinem Buch "Tempus. Besprochene<br />
und erzählte Welt" (<strong>19</strong>64), das<br />
von Engel (<strong>19</strong>91:495) als „Paukenschlag“<br />
bezeichnet wird, geht Weinrich auch diesmal<br />
von einem Tempussystem aus, in dem die<br />
zeitliche Bedeutung der Tempora nicht primär<br />
ist. Es kommen die sechs klassischen<br />
Tempora vor, sie erhalten aber eine andere<br />
Funktionsbestimmung. Ihre Formen werden<br />
gleich am Anfang dargestellt.<br />
Von großer Bedeutung innerhalb dieses<br />
Kapitels ist das Tempus-Register, „eine Kategorie<br />
der Einstellung, mit der die Geltungsweise<br />
einer Prädikation festgelegt wird“<br />
(<strong>19</strong>93, <strong>19</strong>8). Weinrich unterscheidet zwei<br />
Tempus-Register, die auch noch als Sprechhaltungen<br />
bezeichnet werden: Besprechen<br />
und Erzählen, zwischen denen eine „binäre<br />
Opposition“ besteht.<br />
Die Tempora: Präsens, Perfekt und Futur<br />
sind besprechende Tempora, die in besprechenden<br />
Texten vorkommen; Präteritum<br />
und Plusquamperfekt sind erzählende<br />
Tempora, die den erzählenden Texten zugeordnet<br />
werden.<br />
Das besprechende Tempusregister gibt<br />
dem Hörer zu verstehen, dass eine gespannte<br />
Rezeptionshaltung angebracht ist, wobei das<br />
Erzählte eine entspannte Rezeptionshaltung<br />
beansprucht:<br />
„Die Opposition dieser beiden Einstellungsanweisungen<br />
bezieht sich auf die Geltungsweise der Prä-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />
dikation, die mit dem tempustragenden Verb ausgesagt<br />
wird.“ (Weinrich <strong>19</strong>93:<strong>19</strong>9)<br />
Das charakteristische, also bezeichnende<br />
semantische Merkmal für das zu besprechen-<br />
de Tempus-Register ist zweifelsohne die<br />
Bereitschaft, im Gegensatz zum Aufschub,<br />
der für das erzählende Tempus-Register<br />
typisch ist.<br />
Tempus-Register<br />
Besprechen Erzählen<br />
● besprechende Tempora: Präsens, Perfekt,<br />
Futur<br />
● erzählende Tempora: Präteritum, Plusquamperfekt<br />
● gespannte Rezeptionshaltung<br />
● entspannte Rezeptionshaltung<br />
● semantisches Merkmal: Bereitschaft ● semantisches Merkmal: Aufschub<br />
Weinrich bringt ein besprechendes Textbeispiel<br />
aus Nietzsches Essay "Schopenhauer<br />
als Erzieher" und ein Erzählendes aus Robert<br />
Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften",<br />
um „die Instruktionsleistungen des<br />
Tempus-Register zu zeigen“, weist aber darauf<br />
hin, dass „besprechende und erzählende<br />
Tempora in Texten gemeinhin gemischt vorkommen.“<br />
(<strong>20</strong>1)<br />
Als repräsentativ für die besprochene<br />
Welt hat Weinrich (<strong>19</strong>64:43) noch folgende<br />
Textsorten angegeben: der dramatische Dialog,<br />
das Memorandum, der Leitartikel, das<br />
Testament, das wissenschaftliche Referat,<br />
der philosophische Essay, der juristische<br />
Kommentar und alle Formen ritueller, formalisierter<br />
Rede.<br />
In Äußerungen dieser Art ist der Sprecher<br />
gespannt und seine Rede geschärft, weil<br />
es für ihn um Dinge geht, die ihn unmittelbar<br />
betreffen und die auch den Hörer verpflichten.<br />
Sprecher und Hörer sind engagiert,<br />
sie müssen agieren und reagieren.<br />
Zur Gesprächssituation der erzählten<br />
Welt werden auf der anderen Seite noch solche<br />
Situationen gerechnet wie: eine Geschichte<br />
aus der Jugendzeit, die Wiedergabe<br />
eines Jagdabenteuers, ein selbst erfundenes<br />
Märchen, eine Legende, eine Novelle, ein<br />
Roman.<br />
Im Unterschied zum vorher erwähnten<br />
Tempus-Register ist die Tempus-Perspektive<br />
„eine Kategorie der Einstellung, mit<br />
der die Geltungsweise einer Prädikation zeitlich<br />
festgelegt wird (Weinrich: <strong>19</strong>93, <strong>20</strong>7)“.<br />
Beim Präsens und Präteritum handelt es sich<br />
um die Neutral-Perspektive, die anderen<br />
Tempora bringen eine Differenz-Perspektive<br />
zum Ausdruck. Perfekt und Plusquamperfekt<br />
werden durch die Rück-Perspektive gekenn-<br />
zeichnet, das Futur durch die Voraus-<br />
Perspektive. Die Einteilung dieser Tempus-<br />
Perspektive richtet sich nach dem Tempus-<br />
Register und genauso wie dort werden auch<br />
hier keine Ausnahmen dargestelt oder zugelassen,<br />
wie z. B. eine futurische Bedeutung<br />
des Perfekts oder eine Vergangenheitsbedeutung<br />
des Futur <strong>II</strong>.<br />
Obwohl man im Beispieltext Blick in<br />
ferne Zukunft von Kurt Tucholsky das futurische<br />
Perfekt findet, erklärt Weinrich, dass<br />
dieses zum Ausdruck der Rück-Perspektive<br />
erscheint, und zwar darum, weil die Aktzeit<br />
vor der Betrachtzeit des Autors liegt:<br />
(1) „Und wenn alles vorüber ist; wenn sich das<br />
alles totgelaufen hat: der Horderwahnsinn, die Wonne,<br />
die Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und<br />
in Gruppen Fahne zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit<br />
vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften<br />
des Menschen zu guten umliegt." (<strong>19</strong>93:<strong>20</strong>9)<br />
Es gibt aber auch Fälle, in denen der<br />
Sprecher oder der Autor eines Textes nicht<br />
aus einem zukünftigen Zeitpunkt zurückschaut:<br />
(2) Bis morgen hast du das geschrieben!<br />
Darauf geht Weinrich aber nicht ein,<br />
denn diese Fälle kann er seinen bereits erstellten<br />
Kategorien nicht zuordnen.<br />
Eine andere Frage wäre, ob beim Präsens<br />
und Präteritum die zeitliche Perspektive<br />
wirklich „keine Rolle“ spielt. In dieser Situation<br />
wird das Präsens oder das Präteritum<br />
je nach dem Tempus-Register verwendet,<br />
d.h., dass Weinrich für die beiden Tempora<br />
keine temporale Bedeutung zulässt.<br />
Was die Untersuchung der einzelnen<br />
Tempora betrifft, so werden die meisten<br />
theoretischen Grundlagen mit belletristischen<br />
Texten von Musil, Nietzsche, Thomas Mann,<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 223
Enzenberger, Tucholsky, Eichendorff, Max<br />
Frisch, Kroetz, Goethe belegt.<br />
Obwohl sich Weinrich am Anfang vornimmt,<br />
die geschriebene und gesprochene<br />
Sprache gleichrangig zu berücksichtigen,<br />
werden innerhalb dieses Kapitels zehn Texte<br />
aus der geschriebenen Sprache und nur drei<br />
aus der gesprochenen angeführt: ein Telefongespräch,<br />
ein Gespräch zwischen einen<br />
Justizangestellten und einer Frau und ein<br />
„kindlicher Redetext“.<br />
Außerdem hat man immer wieder den<br />
Eindruck, dass die Texte für bestimmte<br />
Theorien, also gezielt ausgewählt wurden,<br />
ohne dass sonstige Fälle, die nicht unbedingt<br />
selten vorkommen, erklärt werden.<br />
3. EINIGE REAKTIONEN AUF<br />
WEINRICHS TEMPUS-MODELL<br />
Als Ausgangspunkt der Diskussionen in<br />
der Tempusforschung gilt immer wieder<br />
Weinrich, der <strong>19</strong>64 in Tempus. Besprochene<br />
und erzählte Welt „die Ansicht vertrat, dass<br />
Tempora Sprechhaltungen ausdrücken, nämlich<br />
die Haltung der Gespanntheit und Entspanntheit“<br />
(Vater <strong>19</strong>94:55).<br />
Anfangs ist er von acht Tempora ausgegangen:<br />
Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt,<br />
Futur I, Futur <strong>II</strong>, Konditional I,<br />
Konditional <strong>II</strong>, um später in seiner Textgrammatik<br />
der deutschen Sprache auf die<br />
letzten zwei zu verzichten, da sie sich nur für<br />
die Textbeispiele aus der französischen Literatur<br />
eignen.<br />
Diese Textgrammatik „versteht die Phänomene<br />
der Sprache von Texten her“, da<br />
diese sinnvolle Verknüpfungen sprachlicher<br />
Zeichen in zeitlich linearer Abfolge sind<br />
(Weinrich <strong>19</strong>93:17).<br />
Weinrichs Einteilung und Distribution<br />
der Tempora in erzählenden und besprechenden<br />
Texten wurden „von der<br />
linguistischen Seite angegriffen, während sie<br />
von Literaturwissenschaftlern begeistert begrüßt<br />
werden" (Vater: <strong>19</strong>94, 55).<br />
Man hatte den Eindruck, dass er seine<br />
Texte, nachdem er die These geschrieben<br />
hatte, ausgesucht hat und Teile, in denen er<br />
die gewünschten Tempora fand, als Beispiele<br />
angeführt hat. Laut Vater (<strong>19</strong>94:56) ist „diese<br />
Sprechhaltungsauffassung der Tempora<br />
schon untergegangen, denn die Linguisten<br />
sind sich darin einig, dass die Tempora Zeitrelationen<br />
ausdrücken“.<br />
224<br />
Crăciunescu Alina<br />
Radtke (<strong>19</strong>98:134) weist darauf hin, dass<br />
man auf das, was Weinrich Tempusperspektive<br />
nennt – „eine Kategorie der Einstellung,<br />
mit der die Geltungsweise einer Prädikation<br />
zeitlich festgelegt wird“ – nicht verzichten<br />
kann, denn der Gebrauch der Tempora<br />
lässt sich nur über die Tempusperspektive<br />
explizieren.<br />
Als unbedeutend für die Beschreibung<br />
der Tempora im Deutschen betrachtet sie das<br />
Tempusregister, „denn es ist eine Konsequenz<br />
der Bedeutung der Tempora und nicht<br />
etwa ihre Bedeutung selbst.“ (Radtke<br />
<strong>19</strong>98:134)<br />
Als Kritikpunkt wird die Tatsache angeführt,<br />
dass nicht alle Tempora über<br />
semantische Merkmalkombinationen definiert<br />
werden: „Eine Beschreibung des Futur<br />
<strong>II</strong> anhand von semantischen Merkmalen<br />
fehlt“ (132).<br />
Laut Radtke wird das Futur <strong>II</strong> keinem<br />
Tempus-Register zugeordnet; man erfährt<br />
nur, „dass es zum Ausdruck von Vermutungen,<br />
die sich rückschauend auf Vergangenes<br />
beziehen,“ steht. (Weinrich <strong>19</strong>93:235) Welches<br />
das semantische Merkmal dieses Tempus<br />
ist, wird nicht angegeben. ( Radtke<br />
<strong>19</strong>98:132)<br />
Man kann da Radtke nicht zustimmen,<br />
denn das Futur I und <strong>II</strong> werden zusammen<br />
behandelt. Weinrich präzisiert noch, dass das<br />
Futur <strong>II</strong> „recht selten gebraucht wird“ und<br />
„im pedantischen Sprachgebrauch“ anzutreffen<br />
ist. (Weinrich <strong>19</strong>93: 236)<br />
Diese Darstellung bleibt ziemlich unklar<br />
und wie man bereits bemerken konnte, gibt<br />
es auch viele andere Unstimmigkeiten in<br />
Weinrichs Tempustheorie.<br />
4. VORTEILE DES WEINRICHSCHEN<br />
TEMPUSMODELLS FUR DIE PRAXIS<br />
4.1 Allgemeines<br />
Im DAM-Unterricht des rumänischen<br />
Lehrwesens neigt man eher dazu, eine klare<br />
Einteilung und Distribution der Tempora in<br />
verschiedenen Textsorten zu bevorzugen.<br />
Vom didaktischen Standpunkt her ist diese<br />
Einteilung im Deutschunterricht erfolgreich,<br />
sowohl was die Entwicklung von Kri-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />
terien betrifft, als auch das globale Verstehen<br />
und das Schreiben eines Textes.<br />
Das soll aber nicht bedeuten, dass die<br />
semantische Komponente und der Kontext<br />
nicht in Betracht gezogen werden, im Gegenteil,<br />
sie spielen eine wichtige Rolle, manchmal<br />
sogar die entscheidende Anhand des<br />
Weinrichschen Modells kann man im Unterricht<br />
sehr gut arbeiten, da es eine klare Differenzierung<br />
zwischen der „erzählten“ und<br />
der „besprochenen“ Welt ermöglicht. Außerdem<br />
wird sowohl die Bildung als auch der<br />
Gebrauch der Tempora innerhalb von Texten<br />
anschaulich dargestellt und geübt.<br />
Von großer Bedeutung ist im Unterricht,<br />
eine Zuordnung verschiedenartiger Textsorten<br />
zu übergreifenden Textfeldern bzw. Intentionen<br />
mit den Schülern zu erarbeiten.<br />
Dabei wird die „intentional-kommunikative<br />
Dominanz der Texte“ in Betracht gezogen,<br />
sowie auch die Möglichkeiten, die jeder<br />
Textsorte eigen sind, um das gesetzte Ziel zu<br />
erreichen. (Gerth <strong>19</strong>83:26) Die im Unterricht<br />
behandelten Textsorten lassen sich folgendermaßen<br />
den Weinrichschen Welten zuordnen:<br />
Erzählte Welt: -subjektiv: Erzählung, Nacherzählung<br />
-objektiv: Bericht<br />
Besprochene Welt: -subjektiv: Schilderung<br />
-objektiv: Inhaltsangabe, Charakteristik, Erörterung, Beschreibung<br />
Als Vorgangsweise für den muttersprachlichen<br />
Deutschunterricht empfehle ich einen<br />
Weg von der Feststellung des kommunikativen<br />
Zwecks der zu schreibenden Textsorte,<br />
über die Besprechung ihres Kompositionsmusters<br />
und die Herausarbeitung<br />
der Strategien bishin zum Verfassen der<br />
Texte. (Vgl. dazu Drewnowska, <strong>19</strong>96:73.)<br />
Die Kennzeichen der Textsorten, was die<br />
Form, den Inhalt und die angewendeten<br />
Tempora anbelangt, werden auch kontrastiv<br />
dargestellt, weil die Praxis gezeigt hat, dass<br />
die Schüler an extremen Kontrasten leichter<br />
als an Nuancen lernen.<br />
Wichtig ist auch der Aufbau der Schreibkompetenz,<br />
so dass man darauf achten muss,<br />
dass die Schüler die Fähigkeiten besitzen,<br />
bestimmte Textsorten nach den angeführten<br />
Kriterien selbst zu schreiben.<br />
Textsorte<br />
ErzählungNacherzählungInhaltsangabeBeschreibung<br />
Ich habe Untersuchungen an den in der<br />
Tabelle angegebenen Textsorten vorgenommen,<br />
weil sie eine systematische Entwicklung<br />
der Scheibkompetenz von einfacheren<br />
Formen zu komplizierten anbieten<br />
und relevant für das Weinrichsche Modell<br />
sind.<br />
Alle von der fünften bis zur achten Klasse<br />
studierten Textsorten, an denen man auch<br />
die Schreibkompetenz der Schüler aufbauen<br />
kann, werden hier angegeben und kurz dargestellt.<br />
Es werden also nicht nur jene Textsorten,<br />
die zur Weinrichschen Theorie<br />
passen, ausgewählt, sondern auch auf Ausnahmen<br />
hingewiesen, denn diese Vorgehensweise<br />
entspricht auch der Praxis.<br />
Um eine Systematisierung der herangezogenen<br />
Textsorten mit den entsprechenden<br />
Tempora darbieten zu können, sind das<br />
folgende Schema und die dazugehörigen Erklärungen<br />
zu diesem Fragenkomplex nötig:<br />
Charakteristik<br />
Bericht Schilderung<br />
Tem- Präsens + - + + + + + +<br />
pus Präteritum + + - - - + + -<br />
4.2 Diskussion einzelner Textbeispiele<br />
Eine Textsorte, mit der sich die Schüler<br />
mit Vorliebe und sehr intensiv befassen, ist<br />
Erörterung<br />
die Erzählung. Sie gehen auf ihren Aufbau<br />
und auf die darin enthaltene anschauliche<br />
Darstellung ein, wobei der Lehrer als Erzählzeit<br />
das Präteritum angibt und die Schüler<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 225
noch darăber aufklärt, dass sie auch das Präsens<br />
verwenden können, wenn sie besonders<br />
226<br />
Crăciunescu Alina<br />
spannend erzählen wollen, wie im folgenden<br />
Beispiel:<br />
Präsens Präteritum<br />
Der Urwald<br />
Ein witziger Weihnachtsmann<br />
„Ich bin Bimba-Lumbu und ich lebe im Urwald.<br />
Ich fahre in meinem Boot entlang des<br />
Flusses. Ich liebe den Urwald und den Fluss.<br />
Neben mir sitzt ein Krokodil und mein lieber<br />
Löwe […].” 1<br />
Auf Grund einer Erzählung wie z. B.<br />
„Die Mutprobe“, von A. Lindgren die in der<br />
5-ten Klasse behandelt wird, können die<br />
Schüler lernen, wie man eine Nacherzählung<br />
oder eine Inhaltsangabe schreibt.<br />
1 Diese Textbeispiele und die folgenden stammen aus Schüleraufsätzen.<br />
„An einem Winterabend warteten meine<br />
Familie und ich auf den Weihnachtsmann.<br />
Es wurde spät und er kam<br />
nicht mehr.<br />
Endlich brachte er etwas für jeden aus<br />
meiner.“ […]<br />
Die neuen Informationen werden den<br />
Lernenden schrittweise beigebracht, d.h., sie<br />
üben zuerst die Nacherzählung und dann<br />
werden ihnen die Inhaltsangabe und die<br />
Nacherzählung parallel dargestellt (vgl. dazu<br />
Ionaş, <strong>19</strong>99:42).<br />
__________<br />
Nacherzählung Inhaltsangabe<br />
Beginn wie in der Vorlage<br />
Einleitungssatz: Titel, Verfasser, Thema,<br />
bzw. Problem der Gesch. Ort, Zeit.<br />
Erzählzeit: Präteritum<br />
Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit: Plusquamperfekt<br />
Spannend und lebendig erzählen<br />
Sich in die Rolle des Erzählers versetzen[…]<br />
„In einem Dorf lebten zwei Jungen, die<br />
Albin und Stig hießen. Sie waren neun Jahre<br />
alt und der Wettstreit zwischen ihnen dauerte<br />
seitdem sie geboren wurden […].“<br />
Im Falle der Beschreibung, die in allen<br />
Bereichen notwendig ist, verwendet man das<br />
Präsens. Diese Texte sind sachlich und enthalten<br />
keine persöhnlichen Anteilnahmen<br />
Berichtzeit: Präsens<br />
Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit: Perfekt<br />
Sachlich informieren<br />
Distanziert berichten Objektiv wiedergeben,<br />
was passiert[…]<br />
(Ionaş/Fischer <strong>19</strong>99:43)<br />
„Astrid Lindgren erzählt, wie zwei<br />
Jungen, Albin und Stig unter den Konsequenzen<br />
ihres Wettstreites leiden<br />
[…].“<br />
oder Wertungen. Man unterscheidet folgende<br />
Arten von Beschreibungen:<br />
Gegenstandsbeschreibungen, Personen,<br />
Tier- und Vorgangsbeschreibungen.<br />
Wegbeschreibung Tierbeschreibung<br />
Ohne Schwierigkeiten gelangt Diana bis<br />
zur Station Mărăşti: Sie fragt eine ältere Dame<br />
Der Löwe ist ein großes und gefährliches<br />
Tier. Er hat einen großen<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Anwendung der Weinrichschen Tempuskategorien im DaM-Unterricht<br />
nach dem Weg zum Museum. Die Frau ist sehr<br />
hilfsbereit: „Das Museum ist in der Nähe der<br />
Oper. Du musst bestimmt 10 Minuten gehen<br />
[…].“<br />
Den Schülern werden schrittweise diese<br />
Informationen dargeboten und nachher üben<br />
sie die Beschreibungen mündlich und schriftlich.<br />
Sie lernen zugleich eine Beschreibung<br />
zu verfassen, als auch das Präsens richtig zu<br />
verwenden.<br />
Die Personenbeschreibung, die nur die<br />
äußeren Merkmale eines Menschen enthält,<br />
wird mit der Charakteristik fortgesetzt, in der<br />
typische Charaktereigenschaften und individuelle<br />
Wesenszüge der Persönlichkeit noch<br />
eingeführt werden.<br />
Die Charakteristik wird im Präsens geschrieben<br />
und so aufgebaut, dass die Beschreibung<br />
von äußeren Merkmalen zum<br />
Wesenskern vordringt. Man geht wieder systematisch<br />
vor und setzt zwei ähnliche Textsorten<br />
in Beziehung, wobei man darauf<br />
achtet, mit der einfachen Form, der Personenbeschreibung,<br />
zu beginnen und mit der<br />
Charakteristik fortzusetzen. Der Schüler wird<br />
darauf vorbereitet, Einzelzüge einer Persönlichkeit<br />
wie „Mosaiksteine“ zum Charakter<br />
zusammenzusetzen, typische und individuelle,<br />
sympathische und abstoßende Eigenschaften<br />
zu erfassen und zu beschreiben<br />
(Koch/Koch <strong>19</strong>91:164).<br />
Eine andere Textsorte mit lebenspraktischem<br />
Zweck ist der Bericht. Er wird abgefasst<br />
über Arbeitsleistungen, Veranstaltungen<br />
und Versammlungen verschiedener Art.<br />
„Es gibt Rechenschaftsberichte, Unfallberichte<br />
auch Wetterberichte, Sportberichte und Berichte über<br />
die verschiedensten Ereignisse liest man in der Zeitung<br />
oder man hört sie im Rundfunk (Schneider/Boch<br />
<strong>19</strong>89:275).“<br />
„Es ist Winter. Im Wald fühlt man die<br />
Leere und die Einsamkeit des Alltags<br />
akuter als auf den Straßen meiner Stadt<br />
[…].“<br />
Mit Hilfe der vom Lehrer vorgegebenen<br />
Merkmale haben die Schüler ihre Empfindungen<br />
lebendig und anschaulich dargestellt<br />
so dass der Leser eine besondere Stimmung<br />
miterleben konnte.<br />
Kopf, kleine Ohren, braune Augen und<br />
ein großes Maul. Sein Rumpf ist dick<br />
und endet mit einem Schwanz […].<br />
Man berichtet meistens im Präteritum,<br />
soweit ein Geschehen erzählt wird, aber auch<br />
im Präsens.<br />
„Heute, am 11 November <strong>19</strong>99, wurde der 12jährige<br />
Schüler Dan Crişan, während der großen Pause,<br />
etwa um 14.40 von einem Mitschüler, dem 13jährigen<br />
FoltuŃiu Alex verletzt […].“<br />
Der Schüler achtet nicht nur auf die Verwendung<br />
des Tempus, sondern auch darauf,<br />
knappe, genaue und vollständige Informationen<br />
wiederzugeben.<br />
Eine Textsorte, die den Schülern Probleme<br />
bereitet, ist die Schilderung. „Sie verhält<br />
sich zur Beschreibung wie die Erzählung<br />
zum Bericht (Schneider/Boch <strong>19</strong>89:288).“<br />
Sie ist subjektiv, gefühlsbetont, stimmungsvoll<br />
und scheint für den Schüler besonders<br />
schwierig zu sein, weil sie Elemente<br />
der Erzählung mit solchen der Beschreibung<br />
vereint.<br />
Man schildert sowohl im Präteritum als<br />
auch im Präsens. Eine gute Übung (vgl.<br />
Schneider/Boch <strong>19</strong>89:289.) im muttersprachlichen<br />
Unterricht ist, die Schüler zum<br />
Thema: „Im Winterwald“ – zu folgendem<br />
aufzufordern: Schreibe alle Beobachtungen<br />
und Einfälle auf, die dir für dieses Thema<br />
passend schienen! Entscheide dich vorher,<br />
auf welche Grundstimmung du abzielen<br />
willst, und wähle eine der folgenden Möglichkeiten:<br />
Leere- und Einsamkeit; klirrender<br />
Frost; Leben der Tiere; Stille der Schneelandschaft.<br />
Die folgenden Beispiele zeigen, dass sowohl<br />
die Verwendung des Präteritums als<br />
auch des Präsens möglich ist:<br />
“Es war ein wunderschöner Wintertag.<br />
Im Waldherrschte Stille über die<br />
Schneelandschaft […].”<br />
Eine Textsorte, die man erst in der achten<br />
Klasse zu behandeln beginnt, ist die Erörterung.<br />
Da werden Fragen oder Probleme<br />
des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens<br />
unter „Abwägung der Vor- und Nachteile<br />
eines bestimmten Sachverhalts sowie<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 227
dessen wirtschaftliche, politische und kulturelle<br />
Auswirkungen“ im Präsens behandelt<br />
(Koch/Koch <strong>19</strong>91:167).<br />
Die Schüler müssen schrittweise vorgehen:<br />
Sie sammeln den Stoff und gliedern<br />
ihn in Einleitung, Hauptteil und Schluss. Der<br />
Lehrer weist immer darauf hin, dass nur im<br />
Hauptteil erörtet wird, nicht in der Einleitung<br />
228<br />
Crăciunescu Alina<br />
und im Schluss. Die Schüler müssen darauf<br />
aufmerksam gemacht werden, dass sich die<br />
Art der Gliederung des Hauptteils in erster<br />
Linie nach dem Thema des Aufsatzes richtet.<br />
Dabei wird zwischen dialektischer und linearer<br />
Form der Gliederung unterschieden.<br />
(Koch/Koch, <strong>19</strong>91:169).<br />
Erörterung<br />
dialektische Form<br />
These=Vorteile=Argument<br />
liniare Form<br />
Hauptpunkt<br />
=Pro =Für<br />
Hauptpunkt<br />
Antithese=Nachteile=Gegenargument<br />
Hauptpunkt<br />
=kontra =wider<br />
Synthese=Abwägung=Entscheidung<br />
=Kompromiss=Lösung<br />
Eigene Meinung<br />
Die Einleitung und der Schluss der Erörterung<br />
stellen eine Hinführung zum Thema,<br />
bzw. eine Abrundung des Themas oder<br />
sogar Auswirkungen der analysierten Situationen<br />
auf die Zukunft dar. Nachdem die Arten<br />
der Erörterung auch kontrastiv besprochen<br />
und mit Beispielen illustriert werden,<br />
fällt den Schülern das Schreiben viel leichter.<br />
furt am Main etc.: Europäischer Verlag der<br />
Wissenschaften.<br />
2. Engel, Ulrich (<strong>19</strong>88): Deutsche Grammatik.<br />
Heidelberg: Groos.<br />
3. Hennig, Mathilde (<strong>19</strong>97): Die Darstellung<br />
des Tempussystems in deutschen Grammatiken.<br />
In: DaF, 4, 2<strong>20</strong>-227.<br />
4. (<strong>19</strong>98): Tempus – gesprochene und geschriebene<br />
Welt? In: DaF, 4, 227-232.<br />
4.3 Schlussfolgerungen<br />
Anhand dieser Darstellung kann man erkennen,<br />
dass sich nicht alle Texte in besprechende<br />
und erzählende ausgehend von den<br />
gebrauchten Tempora einteilen lassen. Das Ziel<br />
des Lehrers im Deutschunterricht ist aber nicht,<br />
alle Textsorten in eine oder zwei Kategorien auf<br />
Grund eines Kriteriums einzugliedern, denn es<br />
gibt mehrere textsortenspezifische Merkmale, die<br />
berücksichtigt werden sollen.<br />
Man versucht, soweit es möglich ist, eine<br />
Systematisierung in diesen Bereich zu schaffen<br />
und den Schülern einige Regeln anzubieten,<br />
da man als Lehrer darauf achten<br />
muss, pädagogisch vorzugehen und die<br />
Grundprinzipien des Unterrichts zu beachten.<br />
Die Ausnahmen werden auch gründlich<br />
behandelt und als solche dargestellt, was<br />
noch mehr dazu beiträgt, dass sie von den<br />
Schülern verstanden werden.<br />
Aus diesen Gründen ist Weinrichs Modell<br />
mit den dazugehörigen Ausnahmen und<br />
Erklärungen im Unterricht Deutsch als Muttersprache<br />
sehr hilfreich.<br />
Literatur:<br />
5. (<strong>19</strong>99): Werden die doppelten Perfektbildungen<br />
als Tempusformen des Deutschen<br />
akzeptiert? In: Festschrift für Gerhard Helbig<br />
zum 70. Geburtstag, 95-107.<br />
6. (<strong>20</strong>00): Tempus und Temporalität in gesprochenen<br />
und geschriebenen Texten.<br />
Tübingen: Niemeyer.<br />
7. Gerth, Klaus (<strong>19</strong>83): Elemente des Erzahlens.<br />
Lesen und Verstehen epischer Texte. Hannover:<br />
Schneider.<br />
8. Ionaş, Angelika / Fischer, Jürgen (<strong>19</strong>99): Handbüchlein<br />
für Deutsch. Timişoara: Mirton.<br />
9. Koch, Roland / Koch, Ute (<strong>19</strong>91): Deutsch für<br />
berufsbildende Schulen. Mannheim: Max Rein.<br />
10. Radke, Petra (<strong>19</strong>98): Die Kategorien des<br />
deutschen Verbs: Zur Semantikgrammatischer<br />
Kategorien. Tubingen: Narr.<br />
11. Schneider, Hans / Boch, Hannelore (<strong>19</strong>89):<br />
Lesebuch und Sprachlehre für die V<strong>II</strong>I Klasse.<br />
Bucureşti: Editura Didactică şi Pedagogică.<br />
12. Pătrăşcanu, Eva (<strong>19</strong>98): Lesebuch und<br />
Sprachlehre für die V Klasse. Bucureşti:<br />
Editura Didactică şi Pedagogică.<br />
13. Vater, Heinz (<br />
1. Drewsnowska-Vargáné, Eva (<strong>19</strong>97): Ein neues<br />
textlinguistisches Instrumentarium. Frank-<br />
3 <strong>19</strong>94): Einführung in die Zeit-<br />
Linguistik. Hürth-Efferen: Gabel (Kölner linguistische<br />
Arbeiten in Germanistik; 25).<br />
14. Weinrich, Harald (<strong>19</strong>64 / 2 <strong>19</strong>71): Tempus. Besprochene<br />
und erzählte Welt. Stuttgart: Kohlhammer.<br />
(<strong>19</strong>93): Textgrammatik der deutschen<br />
Sprache. Mannheim etc.: Dudenverlag.<br />
15. Wolf, Johann (<strong>19</strong>69): Methodik des deutschen<br />
Sprachunterrichts. Bucureşti: EDP.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
DIE LITERARISCHE ÜBERSETZUNG – PARAPHRASE ODER<br />
ANEIGNUNG. UNTER BERÜCKSICHTIGUNG VON<br />
SCHLEIERMACHER UND NOVALIS<br />
Es wird öfters behauptet, daß Denken<br />
und Sprechen sich gegenseitig bedingen.<br />
Weiterhin nimmt man an, verschiedene<br />
Sprachen würden ebenso unterschiedliche<br />
Denkweisen implizieren. Alles Übersetzen<br />
müßte folglich als ein „törichtes<br />
Unternehmen“ erscheinen, um<br />
Schleiermacher zu zitieren oder laut Ortega<br />
y Gasset „ein hoffnungslos utopisches<br />
Bemühen“. Zeugnis dafür, daß Übersetzen<br />
keineswegs eine solch unerfüllbare und<br />
aussichtslose Aufgabe ist, steht in erster<br />
Linie die Geschichte: seit die Menschheit in<br />
verschiedenen Zungen redet, also seit dem<br />
Turmbau zu Babel, gehört das Übersetzen zu<br />
den unentbehrlichen, in den verschiedensten<br />
Gebieten verwendeten Tätigkeiten des<br />
Menschen, vor allem aber, meint Störig „bei<br />
der Übermittlung von Philosophie,<br />
Wissenschaft und Dichtung“.<br />
Die Übertragung von Dichtung, wobei<br />
wir durch Dichtung Literatur im allgemeinen<br />
verstehen, wird zum Teil auch Thema des<br />
heutigen Vortrags sein. In<br />
übersetzungswissenschaftlichen Kreisen eher<br />
unter der Bezeichnung literarische<br />
Übersetzung bekannt, ist das dichterische<br />
Übertragen ein sehr umstrittenes Subjekt.<br />
Auf der einen Seite hängt das mit dem<br />
jahrelangen Bemühen der Vertreter der<br />
Übersetzungswissenschaft zusammen, ihr<br />
Fach als eigenständigen Forschungsbereich<br />
gegen Lingui-stik, Semiotik und<br />
Literaturwissenschaft abzugrenzen 1 ; auf der<br />
anderen Seite ist die Debatte um die<br />
literarische Übersetzung eng mit ihrem<br />
dualen Charakter -– sowohl sprachlich als<br />
auch ästhetisch – verbunden. Die literarische<br />
1 Vgl. W. Wilss, “Übersetzungswissenschaft. Probleme<br />
und Methoden”, Stuttgart, Klett, <strong>19</strong>77, Kap.<br />
IV; R. Stolze, “Zur Bedeutung von Hermeneutik und<br />
Textlinguisitk beim Übersetzen”, in M. Snell-Hornby<br />
(Hg.), “Übersetzungswissenschaft - eine Neuorientierung.<br />
Zur Integrierung von Theorie und Praxis”,<br />
Tübingen, Francke, <strong>19</strong>86, S. 133-135.<br />
Monica Niculcea<br />
Übersetzung kann folglich als ein<br />
sprachlicher Vorgang aufgefaßt werden, in<br />
dem der fremde Text, der Text der<br />
Ausgangssprache (langue de départ, source<br />
language), im Rahmen einer besonderen<br />
kulturellen und sozio-linguisti-schen<br />
Situation durch den Übersetzer in der<br />
Zielsprache (langue d´arrivée, Target oder<br />
goal language) rekonstruiert wird. 2 Dieser<br />
linguistischen Annäherungsweise wird eine<br />
ästhetisch-künstlerische gegenübergestellt,<br />
indem die literarische Übersetzung nicht nur<br />
in ihrer Beziehung zum Sprachlichen, sondern<br />
auch in der zum Ästhetischen, zu<br />
bestimmten ästhetischen Normen betrachtet<br />
wird. Diese Normen wandeln sich von<br />
Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu<br />
Gesellschaft und von Gruppe zu Gruppe, so<br />
daß die Übersetzungstätigkeit, die von<br />
Rezeption und Interpretation nicht zu<br />
trennen ist, - laut Peter V. Zima - „immer<br />
neue ästhetische Objekte oder<br />
Objektkonstruktionen hervorbringt.“ 3<br />
Seit langem sind sich die Theoretiker 4<br />
der literarisch Übersetzung einig, daß<br />
Übersetzer in erster Linie Rezipienten –<br />
Leserinnen oder Leser – sind, deren<br />
gesellschaftliche, psychische und literarische<br />
Erfah-rungen in den Übersetzungsprozeß<br />
eingehen. Der Übersetzer wendet also die<br />
sprachlichen und ästhetischen Normen seiner<br />
Gesellschaftsgruppe auf den fremden Text<br />
an und verwandelt ihn dadurch in einen<br />
neuen Text oder „ein ästhetisches Objekt“<br />
im Sinne von Mukařovský und Vodička.<br />
Somit erscheint er als ein Geistesverwandter<br />
des Literaturkritikers. Anders als der Kritiker<br />
aber gestaltet der Übersetzer den fremden<br />
2<br />
Definition von Zima, S. <strong>20</strong>0.<br />
3<br />
Zima, S. <strong>19</strong>9.<br />
4<br />
vgl. Jirí Levý, “Die literarische Übersetzung. Theorie<br />
einer Kunstgattung”, Frankfurt-Bonn, Athenäum, <strong>19</strong>69,<br />
S. 37.
Text um und wird dadurch zum Ko-Autor,<br />
zum Produzenten.<br />
Es wird sich zeigen, daß sich er<br />
Übersetzer als Leser und Autor bei dieser<br />
ästhetischen Objektkonstruktion entweder an<br />
der Produktions- oder Rezeptionssituation<br />
des fremden Textes orientieren kann oder<br />
versuchen kann, das Fremde den Anforderungen<br />
und Bedürfnissen der Zielsprache<br />
und der Rezippientengruppe anzupassen, für<br />
die er schreibt.<br />
Der Übersetzungsvorgang ist, wie jede<br />
andere künstlerische Beschäftigungen, fest in<br />
einer übersetzerischen Tradition eingebettet<br />
– eine Aussage, die von Friedmar Apel<br />
unterstützt wird: „Übersetzer erarbeiten<br />
häufig ihre Lösungen in Anlehnung oder<br />
Abgrenzung zu früheren Übersetzungen.“ 5 ,<br />
um nur einen der vielen Anhänger dieser<br />
Idee zu zitieren.<br />
Ein unentbehrlicher Teil dieser Tradition<br />
im Bereich der Übersetzungswissenschaft<br />
stellt das 18. Jahrhundert dar, das – neben<br />
dem 12. Jahrhundert z.B., „ein klassisches<br />
Zeitalter der Übersetzungsgeschichte“, das<br />
nach Störig „das Abendland im arabischen<br />
Osten brachte“ 6 - als einer der Wendepunkte<br />
in der übersetzungswissenschaftliche<br />
Geschichte gelten kann.<br />
Huyssen meint, die Frühromantik wäre<br />
die Epoche einer „Kulturrevolution“ in<br />
Deutschland, deren Zentralanliegen die<br />
Konzeption von Übersetzung und<br />
Aneignung bilde. Während des 18.<br />
Jahrhunderts zeichnen sich parallel zur<br />
Ausbildung der neuen frühromantischen<br />
Übersetzungskonzeption die ersten Ansätze<br />
zu einer geschichtlichen Betrachtung der<br />
Übersetzungstheorie aus.<br />
Aus dem Mittelalter ist an Theorie der<br />
Übersetzung wenig, aus der Renaissance<br />
bereits mehr überliefert. Bis ins 18.<br />
Jahrhundert dominierte in Theorie und<br />
Praxis die sehr freie Übersetzung<br />
(Bearbeitung), die primär auf Eingängigkeit,<br />
Lesbarkeit, Annäherung an den<br />
Zeitgeschmack (nicht zuletzt in Bezug auf<br />
Dezenz) aus war. Sie transponierte – mit<br />
5<br />
Apel, S. 29.<br />
6<br />
Störig, S. 213.<br />
2<br />
Monica Niculcea<br />
Ausnahme der theologisch relevanten Texte<br />
– ihre Vorlagen unbefangen in die Umwelt<br />
des Übersetzers: sie christianisierte<br />
beispielsweise „heidnische“ Vorstellungen,<br />
indem sie „Gott“ statt „Zeus“ oder „Hölle“<br />
statt „Hades“ setzte usw. Beliebt war<br />
ebenfalls die kommentie-rende Übersetzung,<br />
d.h. schwerverständli-ches wurde mitten im<br />
Text durch Eingän-giges erläutert oder<br />
überhaupt ersetzt. Im Zweifelsfall zog man<br />
die Treue gegenüber der ZS der Treue zum<br />
Original vor: so sind die berühmten belles<br />
infidèles 7 (die schönen Untreuen)<br />
entstanden, eine Charakterisie-rung, die B.<br />
Croce später durch die Pointe brutte fedeli o<br />
belle infedeli (häßliche treue oder schöne<br />
untreue) erweitert hat.<br />
Aus der Auseinandersetzung mit der<br />
theoretischen und pragmatischen<br />
übersetzerischen Beschäftigung der<br />
Vorroman-tiker haben die romantischen<br />
Übersetzer die Erkenntnis gewonnen, so<br />
Huyssen, „eine hohe Stufe der Meisterschaft<br />
im Übersetzen erreicht zu haben“. Auch<br />
wenn die Meisterleistungen ihrer<br />
Übersetzungspraxis die Frühromantiker dazu<br />
verleiten, eine deutliche Kluft in der<br />
Geschichte der Übertragungsfertigkeit zu<br />
sehen, nehmen sie eine versöhnliche,<br />
historisch gerecht wertende Haltung.<br />
Ähnlich wie Goethe, betrachtet<br />
Schleiermacher Paraphrase und Nachbildung<br />
als notwendige Vorstufen, die seine sogenannte<br />
„eigentliche Übersetzung“ erst<br />
ermöglichen.<br />
Sowohl Paraphrase als auch Nachbildung<br />
galten als alternative Möglichkeiten, fremde<br />
Werke in der eigenen Sprache bekannt zu<br />
machen, entsprungen aus dem Bemühen, den<br />
Leser in ein so unmittelbares Verhältnis zum<br />
Autor zu versetzten, wie es der ursprüngliche<br />
Leser genoß. Offensichtliches Ausdruck der<br />
Tatsache, daß in den beiden Fälle die Idee<br />
einer vollkommenen Übersetzung aufgegeben<br />
war, stellen Paraphrase und Nachbildung<br />
ein Versuch dar, die immer existenten<br />
Inkongruenzen zwischen Original und<br />
Version auszulösen.<br />
Gleichermaßen wie ihre Vorgänger sind<br />
die Übersetzer des 18. Jahrhunderts in erster<br />
7 zuerst auf die Übersetzungen von P. d´Ablancourt<br />
angewandt.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />
Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />
Reihe mit dem valenzreichen Verhältnis<br />
zwischen Original und<br />
beschäftigt. Die<br />
Übersetzung<br />
traditionelle<br />
Übersetzungsthe-orie erkennt die totale<br />
Übersetzung, das was Ralph-Rainer<br />
Wuthenow „literarische Übersetzung als<br />
Verdoppelung“ nannte, nur als ein Ideal-Fall.<br />
In diesem Sinne bringt Kop-penfels den<br />
folgenden definitorischen Beitrag für die<br />
literarische Übersetzung:<br />
„Die literarische Übersetzung will über diachrone<br />
(geschichtliche) und synchrone (kulturgeographische)<br />
Distanz hinweg nationalsprachliche Grenzen<br />
überschreiten und dabei in hybridem Anspruch nicht<br />
nur das im Prätext Gesagte, sondern auch seine<br />
einmalige Art des Sagens nachbildend bewahren und<br />
erneuern. Sie zielt demnach idealiter auf totale<br />
Reproduktion der Vorlage in einem neuen<br />
sprachlichen Medium und gesellschaftlichen Kontext;<br />
nicht nur der paraphrasierbare Textsinn, sondern auch<br />
die ästhetische Ausdrucksleistung und Interrelation<br />
von Rhythmik, Klang, Wortwahl, Grammatik und<br />
Satzbau des Originals gilt es zu übertragen.“ 8<br />
Als Endpunkt einer rein mechanischen<br />
Treue, versucht die Paraphrase die fehlenden<br />
Entsprechungen zweier Sprachen,<br />
insbesondere auf semantischen Gebiet zu<br />
überbrücken, indem sie mit Hilfe von<br />
Beschränkungen oder Erweiterungen ein<br />
möglichst genaues Bild des Wortsinns<br />
entwirft.<br />
Schleiermacher meinte:<br />
„Die Paraphrase will die Irrationalität der Sprachen<br />
bezwingen, aber nur auf mechanische Weise. Sie<br />
meint finde ich auch nicht ein Wort in meiner<br />
Sprache, welches jenem in der Ursprache entspricht,<br />
so will ich doch dessen Werth durch Hinzufügung<br />
beschränkender und erweiternder Bestimmungen<br />
möglichst zu erreichen suchen. So arbeitet sie sich<br />
zwischen lästigem zu viel und quälendem zu wenig<br />
schwerfällig durch eine Anhäufung loser Einzelheiten<br />
hindurch. Sie kann auf diese Weise den Inhalt<br />
vielleicht mit einer beschränkten Genauigkeit<br />
wiedergeben, aber auf den Eindrukk leistet sie<br />
gänzlich Verzicht; denn die lebendige Rede ist<br />
unwiederbringlich getötet, indem jeder fühlt daß sie<br />
so nicht könne ursprünglich aus dem Gemüth eines<br />
Menschen gekommen sein.“ 9<br />
diesem Punkt ist Schleiermacher derselben<br />
Meinung wie Rolf Kloepfer in seiner<br />
„Theorie der literarischen Übersetzung“.<br />
Jener unterstützt die Idee, daß eine<br />
linguistische Auffassung des Übersetzens<br />
dem “literarischen Sprachgebrauch nicht<br />
gerecht werden kann” und daß “heterogene<br />
Bereiche wie die Sprache der Wissenschaft<br />
und die Sprache der Dichtung nicht<br />
gleichgesetzt werden dürfen.”<br />
Weiterhin behauptet der Autor in seiner<br />
Abhandlung „Ueber die verschiedenen<br />
Methoden des Übersetzens“, daß der<br />
Paraphrast die Sprachelementen „als ob sie<br />
mathematische Zeichen wären“ behandelt. In<br />
10<br />
Die Hindernisse, die es einem Linguisten<br />
verwehren, sich mit literarischer<br />
Übersetzung zu beschäftigen führt Wolfram<br />
Wills an:<br />
“Die Schwierigkeit, die Probleme der literarischen<br />
Übersetzung auf präzise Begriffe zu bringen, hängt<br />
damit zusammen, daß die Zahl der bei jedem<br />
einzelnen Übersetzungsvorgangs zu<br />
berücksichtigenden Variabeln so groß ist, daß sie<br />
nicht ohne weiteres auf allgemeine<br />
Gesetzmäßigkeiten oder gar auf ein überschaubares,<br />
der literarischen Übersetzung in ihrer konkreten<br />
Mannigfaltigkeit voll gerecht werdendes theoretisches<br />
Modell reduzieren lassen.” 11<br />
Literarisches Übersetzen impliziert den<br />
Umgang mit literarischen Texten, d.h.<br />
solchen Texten, die einen anerkannt<br />
künstlerischen Gestaltungswillen offenbaren<br />
und deren Funktion sich im Bereich des<br />
Ästhetischen erfüllt. Die Frage, ob eine<br />
bestimmte Übersetzung eine literarische<br />
Übersetzung darstellt, läßt sich auch<br />
dahingehend beant-worten, ob das Ergebnis<br />
der übersetzerischen Bemühungen<br />
gleichfalls ein literarisches Produkt bildet,<br />
d.h. einen künstlerischen Ge-staltungswillen<br />
aufweist.<br />
Eine letzte Eigenschaft der Paraphrase,<br />
die Schleiermacher in seiner Abhandlung<br />
erörtert ist deren Kommentarcharakter, ein<br />
Umstand, der sie weit vom Bereich der<br />
eigentlichen Übersetzung abrückt:<br />
“Wenn noch außerdem die Paraphrase<br />
psychologisch die Spuren der Verbindung der<br />
Gedanken, wo sie undeutlich sind und sich verlieren<br />
wollen, durch Zwischensätze, welche sie als<br />
Merkpfähle einschlägt, zu bezeichnen sucht: so strebt<br />
sie zugleich bei schwierigen Compositionen die Stelle<br />
eines Commentars zu vertreten, und will noch<br />
8<br />
Wills, S. 25.<br />
9<br />
Störig, S. 215.<br />
10<br />
zitiert nach Junkes-Kirchen, S. 21.<br />
11<br />
zitiert nach Junkes-Kirchen, S. 21.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 3
weniger auf den Begriff der Uebersetzung<br />
zurükkgeführt sein.“ 12<br />
Folglich, wenn die Paraphrase – so wie<br />
sie Schleiermacher eingehend behandelt hat -<br />
den “paraphrasierbaren Textsinn” zu erfassen<br />
versucht, stellt sich die Nachbildung<br />
vorerst die Aufgabe, die “ästhetische<br />
Ausdrucksleistung” (um Koppenfels<br />
Terminologie weiter zu benutzen) des<br />
Originals in der Übersetzung wiederzugeben.<br />
Im Gegensatz zu der Paraphrase, die die<br />
Irrationalität der Sprache rein mechanisch<br />
durch ein Plus oder Minus an Erläuterungen<br />
zu bezwingen glaubt, unterwirft sich die<br />
Nachbildung von Anfang an dieser Irrationalität.<br />
„Die Nachbildung – schreibt Schleiermacher – (…)<br />
beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen: sie<br />
gesteht, man könne von einem Kunstwerk der Rede<br />
kein Abbild in einer andern Sprache hervorbringen,<br />
das in seinen einzelnen Theilen den einzelnen Theilen<br />
des Urbildes genau entspräche, sondern es bleibe bei<br />
der Verschiedenheit der Sprachen, mit welcher so<br />
viele andere Verschiedenheiten wesentlich zusammenhängen,<br />
nichts anders übrig als ein Nachbild<br />
auszuarbeiten, ein Ganzes, aus merklich von den<br />
Theilen der Urbildes verschiedenen Theilen<br />
zusammenge-setzt, welches dennoch in seiner<br />
Wirkung jenem Ganzen so nahe komme, als die<br />
Verschiedenheit des Materials nur immer gestatte.“<br />
Die Nachbildung möchte also in erster<br />
Linie den Eindruck des Ganzen wiedergeben<br />
und die vom Verfasser in seinem Leserkreis<br />
intendierte Wirkung auch in den fremden<br />
Leserkreis hervorrufen.<br />
„Der Nachbildner will also die beiden, den<br />
Schriftsteller und den Leser des Nachbildes, gar nicht<br />
zusammenbringen, weil er kein unmittelbares<br />
Verhältnis unter ihnen möglich hält, sondern er will<br />
nur dem letzten einen ähnlichen Eindruck machen,<br />
wie des Urbildes Sprach- und Zeitgenossen von<br />
diesem emp-fingen.“<br />
Das Verfahren, den Autor so<br />
darzustellen, als hätte er ursprünglich<br />
deutsch geschrieben, ist nach Schleiermacher<br />
„nichtig und leer“. A. W. Schlegel und<br />
Novalis nennen diese Methode Travestie.<br />
Nicht wer Fremdes eindeutscht, hat also in<br />
eigentlichem Sinn übersetzt, sondern nur wer<br />
das Deutsche verfremdet, wer den Leser auf<br />
den Verfasser zubewegt, um ihm das<br />
Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu<br />
ersetzen. Dem Leser wird den Eindruck<br />
12 Schleiermacher, zitiert nach Störig, S. 46.<br />
4<br />
Monica Niculcea<br />
vermittelt, daß er es mit dem Angehörigen<br />
eines fremden Sprachraumes zu tun hat.<br />
Autor und Leser treffen an einem mittleren<br />
Punkt zusammen, eben dort, wo der<br />
Übersetzer steht, der die Umwandlung des<br />
Werkes in die Zielsprache vornimmt.<br />
Das Zusammentreffen von Verfasser und<br />
Leser an einem mittleren Punkt vermeidet<br />
die beiden möglichen Extremen: einerseits<br />
wird der Verfasser nicht so weit auf den<br />
Leser hinbewegt, daß sein Werk als<br />
Verfälschung und Travestie erscheint;<br />
andererseits nähert sich auch der Leser nicht<br />
so weit der Sprache des Verfassers, daß er<br />
eine Verwandlung durchmacht bis zur<br />
völligen Beherrschung der fremden Sprache<br />
und dabei wohl gar seine ursprüngliche<br />
Sprachzugehörigkeit aufgibt. Dieser zweite,<br />
mehr theo-retische Fall gehört schon nicht<br />
mehr in das Gebiet der Übersetzung, denn<br />
für einen solchen Leser wäre eine<br />
Übersetzung nicht mehr nötig.<br />
Auch wenn er sich ausführlich damit<br />
beschäftigt, betrachtet Schleiermacher beide<br />
Übertragungsarten, Paraphrase und<br />
Nachbildung, nur als Grenzfälle seines<br />
Untersuchungsgebietes, nämlich das Gebiet<br />
der eigentlichen Übersetzung.<br />
Die von Schleiermacher dargestellten<br />
Stufen des Übersetzens zeichnen sich durch<br />
einen gemeinsamen Nenner aus: sowohl<br />
Nachbildung und Paraphrase als auch die<br />
hier weniger unter die Lupe genommene<br />
eigentliche Übersetzung beruhen auf die<br />
Annahme, daß sich der Übersetzer der<br />
Fremdheit des Originals bewußt ist und daß<br />
er dieses Fremde auf unterschiedlichen<br />
Weise in die eigenen Sprache zu übertragen<br />
strebt.<br />
Noch stärker als bei August Wilhelm<br />
Schlegel, für den poetische Übersetzung und<br />
Neuschöpfung ein und dasselbe sind und den<br />
dem Übersetzer und dessen Tätigkeit eine<br />
gewisse Selbstbewußtheit verleiht, tritt bei<br />
Novalis die Bedeutung der Subordination der<br />
Übersetzung unter das Original in den<br />
Hintergrund.<br />
In dem Blütenstaub-Fragment <strong>Nr</strong>. 68, das<br />
1798 im Fr. Schlegels „Athenäum“ erschien<br />
äußerte sich Friedrich von Hardenberg zum<br />
Thema Übersetzen, indem er zwischen<br />
grammatische Übersetzung, verändernde<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />
Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />
Übersetzung und mythische Übersetzung<br />
unterscheidet.<br />
Die grammatische Übersetzung ist,<br />
stufenweise betrachtet, die Entsprechung für<br />
Schleiermachers Paraphrase. Sie setzt eine<br />
Gelehrsamkeit des Übersetzers in hohem<br />
Maße voraus, benötigt aber keinen besondern<br />
poetischen Geist oder dichterische<br />
Begabung seitens des Übersetzers<br />
“Grammatische Übersetzungen sind Übersetzungen<br />
im gewöhnlichen Sinn. – schreibt Novalis - Sie<br />
erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive<br />
Fähigkeiten.” 13<br />
läßt. Begründet auf Novalis´ Auffassung von<br />
Poe-sie als „Ideenassoziation“ , aber<br />
„Zufallsproduktion“, erweisen sich also<br />
Treue und Veränderung identisch.<br />
Schließlich zieht Novalis eine<br />
Äquivalenzlinie zwischen dem Verhältnis<br />
Übersetzer-Dichter, bzw Original-<br />
Übersetzung und die Beziehung Genius der<br />
Menschheit-einzelnen Menschen. Das<br />
Genius der Menschheit ist gleich die<br />
obengenannte Idee des Ganzen, und der<br />
Dichter versteht sich nur als dessen<br />
Repräsentant. Entsprechend ist jeder Mensch<br />
Sollte ein Übersetzer sich ein verändern- eine Übersetzung des Ganzen im Einzelnen<br />
de Übersetzung vornehmen wollen, dann oder in Novalis´ eigenen Wörter:<br />
müßte dieser nach Hardenbergs Meinung „Er [der Übersetzer] muß der Dichter des Dichters<br />
gleich ein Künstler sein, da seine seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner<br />
Übersetzungen „wenn sie ächt seyn sollen, Idee zugleich reden lassen können. In einem<br />
der höchste poetische Geist” mitbeinhalten ähnlichen Verhältnisse steht der Genius der<br />
Menschheit mit jedem einzelnen Menschen.“<br />
müß-ten. Der künstlerische Talent könnte<br />
aber gleichzeitig leicht zum Nachteil<br />
werden, falls die Übersetzung in ein<br />
Travestie hinübergleitet. Novalis führt hier<br />
sogar ein paar Beispiele ein: “Bürgers<br />
Homer in Jamben, Popens Homer, die<br />
Französischen Übersetzungen insgesamt”.<br />
Die Grenzlinie zwischen travestierendem<br />
Übersetzen und freiem dichterischen<br />
Nachbilden ist aber ziemlich dünn, was zu<br />
nicht seltenes Ineinanderfließen der beiden<br />
führt.<br />
Um zu unseren Verhältnis zwischen<br />
Original und Übersetzung zurückzukehren,<br />
ist es interessant festzustellen, daß Novalis<br />
Begriffe sowie Treue und Veränderung gar<br />
nicht antagonisch betrachtet. Der Dichter<br />
hätte eine Idee ebensogut auf einer anderen<br />
Weise darstellen können, als er es wirklich<br />
im Kunstwerk getan hat; er hat nur eine der<br />
möglichen Gestaltungen des vorgestellten<br />
„Idee des Ganzen“ gewählt. Der verändernde<br />
Übersetzer befindet sich dementsprechend in<br />
derselben Lage gegenüber dem Original und<br />
der geplanten Übersetzung. Sowie der<br />
Dichter sich nur für eine mögliche<br />
Verwirklichungsmanier der „Idee des<br />
Ganzen“ entschieden hat, so bleibt es auch<br />
dem Übersetzer frei, eine beliebige Variante<br />
zu wäh-len, die ihn das Original verändern<br />
und als Übersetzung zugleich treu bewahren<br />
14<br />
Daß Novalis für die Rechte des<br />
Übersetzers und seiner poetischen<br />
Individualität sozusagen militiert, wird noch<br />
sichtbarer als bisher in seiner Erörterung der<br />
mythischen Übersetzung. Dabei wird der<br />
Übersetzung – und implizit auch dem<br />
Übersetzer - einen höheren Wert als dem<br />
literarisch Werk selbst – bzw. dem Dichter –<br />
zugeschrieben.<br />
„Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im<br />
höchsten Styl. Sie stellen den reinen, vollendeten<br />
Karakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben<br />
uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal<br />
desselben.” 15<br />
Trotzdem, jenseits aller künstlerischen<br />
Metaphern, ist in Wirklichkeit jede<br />
literarisch Übersetzung auf ein Original<br />
angewiesen, den sie prinzipiell nicht<br />
transzen-dieren kann. Aus diesem Grund<br />
vermuten die meisten Ausleger der Schriften<br />
Hardenbergs, daß er mit dem Begriff der<br />
mythi-schen Übersetzung ein gewisses<br />
Etwas habe gemeint können, das außerhalb<br />
des Bereiches literarisch Übersetzung liegt,<br />
Vermutung die teilweise ebenfalls im letzten<br />
Satz des Fragments zum Vorschein kommt,<br />
nämlich „Nicht bloß Bücher, alles kann auf<br />
diese drey Arten übersetzt werden.“ 16<br />
13 Störig, S. 345.<br />
14 zitiert nach Störig, S. 345.<br />
15 Ebd.<br />
16 zitiert nach Huyssen, S. 128.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 5
Auf jeden Fall aber wird die mythische<br />
Übersetzung als eine an die Zukunft gestellte<br />
Aufgabe verstanden, eine Zukunft die nichts<br />
anderes als eine neue goldene Zeit sein wird.<br />
Huyssen vertritt die Meinung, Novalis würde<br />
in dieser Art von Übersetzung „die Über-<br />
Setzung des Menschengeschlechts in die<br />
goldene Zeit“ sehen. Der mythische<br />
Übersetzer würde folglich derjenige sein, der<br />
die Wirklichkeit ins Mythische übersetzt und<br />
Hardenbergs Beispiele dafür sind „Die<br />
griechische Mythologie, [die] zum Theil eine<br />
solche Übersetzung einer Nazionalreligion<br />
[ist]. Auch die moderne Madonna ist ein<br />
solcher Mythus.“<br />
Für Novalis ist also „Eine Übersetzung<br />
(…) entweder grammatisch, oder verändernd,<br />
oder mythisch”, aber “Am Ende ist<br />
alle Poesie Übersetzung”.<br />
Die Theoretiker der<br />
Übersetzungswissenschaft, die hier<br />
besprochen worden sind, und andere ihrer<br />
Zeit, wie zum Beispiel Tieck, Wackenroder<br />
oder die Brüder Schlegel, haben alle auf<br />
einer Weise oder die andere den Versuch<br />
unternommen, einen Weg zu der idealen<br />
Übersetzung zu finden. Ihr wichtigster<br />
Hinweis (und vielleicht zugleich das größte<br />
Hindernis) in der Richtung war die<br />
komplexe, voller widersprüchlichen<br />
Valenzen Beziehung Original –<br />
Übersetzung. Schleiermacher hält nur zwei<br />
Wege für möglich:<br />
„Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller<br />
möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen;<br />
oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt<br />
den Schriftsteller ihm entgegen.“ 17<br />
Sei es, daß man diesen zwei Wege<br />
entlang ging, oder daß man den einen<br />
Nebenpfad der Paraphrase oder die andere<br />
Allee der Nachbildung wählt, ist für die<br />
Frühromantiker das Endziel und „die<br />
größtmögliche Wirkung“ des literarischen<br />
Übersetzens die Aneignung. Huyssen<br />
interpretiert sie als „das sich mehr und mehr<br />
vertiefende Verständnis für das Fremde“, das<br />
den Leser in die Lage versetzt, „das fremde<br />
Geistesgut vollends in seinen Bildungsbesitz<br />
aufzunehmen und es sich anzueignen.“<br />
17 zitiert nach Störig, S. 432.<br />
6<br />
Monica Niculcea<br />
Übersetzung und Aneignung erfüllen<br />
somit die Aufgabe, auf die gesamte<br />
Geistesentwicklung einer Nation<br />
einzuwirken. Novalis äußerte in seinen<br />
Schriften öfters die Überzeugung, daß<br />
gezielte Übersetzungen die Aneignung<br />
großer, unerkannter, unterschätzter Gebiete<br />
der Literatur und implizit der Welt bewirken<br />
können und daß diese den geistigen und<br />
historischen Horizont Deutschlands<br />
entscheidend erweitern werden. „Durch<br />
Übersetzungen bildet sich die Nation.“ 18<br />
schreibt er. Schleiermacher meint auf<br />
denselben Ton „durch Übersetzungen soll<br />
die eigenen Sprache frisch und lebendig<br />
erhalten werden“.<br />
Wenn wir diese beiden Äußerungen in<br />
Betracht ziehen, können wir nur zusammen<br />
mit Huyssen zu der Schlußfolgerung<br />
kommen:<br />
„Die Konzeption von Übersetzung und Aneignung<br />
ist mit Sicherheit eine der größten geistigen<br />
Leistungen der deutschen Frühromantiker, eine<br />
Leistung freilich, die aus frühromantischem Welt-,<br />
Geschichts- und Poesieverständnis ebenso zwanglos<br />
und wie von selbst hervorging, wie sie bewußt<br />
angestrebt wurde: Widersprüche und Einheit des<br />
Gegensätzlichen bis zum Ende.“ <strong>19</strong><br />
Literatur:<br />
1. APEL, Friedmar <strong>19</strong>83: Die literarische<br />
Übersetzung, Stuttgart, Metzler.<br />
2. HUYSSEN, Andreas <strong>19</strong>69: Die<br />
frühromantische Konzeption von Übersetzung<br />
und Aneignung. Studien zur frühromantischen<br />
Utopie einer deutschen Weltliteratur, Atlantis<br />
Verlag, Zürich und Freiburg i. Br.<br />
3. JUNKES-KIRCHEN, Klaus <strong>19</strong>88: T.S.Eliots<br />
The Waste Land Deutsch. Theorie und Praxis<br />
einer Gedichtübersetzung nach literatur- und<br />
übersetzungs-wissenschaftlichen<br />
Gesichtspunkten, Verlag Peter Lang,<br />
18<br />
Huyssen, S. 162.<br />
<strong>19</strong><br />
Huyssen, S. 173.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die literarische Übersetzung – Paraphrase oder Aneignung.<br />
Unter Berücksichtigung von Schleiermacher und Novalis<br />
Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris.<br />
(Trierer Studi-en zur Literatur; Bd. 17).<br />
4. LEVÝ, Jiři <strong>19</strong>69: Die literarische<br />
Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung,<br />
Athe-näum Verlag, Frankfurt am Main, Bonn.<br />
5. STÖRIG, Hans Joachim (Hg.) <strong>19</strong>69: Das<br />
Problem des Übersetzens, Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, Darmstadt, (Wege der<br />
Forschung, Bd. V<strong>II</strong>I).<br />
6. WILSS, Wolfram <strong>19</strong>82: The science of<br />
translation. Problems and methods, Gunter<br />
Narr Verlag, Tübingen<br />
7. ZIMA, Peter V. <strong>19</strong>92: Komparatistik.<br />
Einführung in die Vergleichende<br />
Literaturwissenschaft,<br />
Tübingen.<br />
Francke Verlag,<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 7
W e r b u n g<br />
TEXTE AUS DER BUKOWINA<br />
«Es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten» Paul<br />
Celan<br />
Moses Rosenkranz<br />
Kindheit – Fragment einer Autobiographie<br />
(Texte aus der Bukowina, Bd. 9)<br />
Hg. v. George Guţu<br />
256 S., geb., <strong>20</strong>01<br />
ISBN 3-89086-758-8 DM 48,–<br />
Der Autor, geb. <strong>19</strong>04 in Berhometh am Pruth,<br />
lebte bis <strong>19</strong>30 vorwiegend in der Bukowina,<br />
dann in Bukarest. <strong>19</strong>41 bis <strong>19</strong>44 war er in<br />
Arbeitslagern der rumänischen Faschisten<br />
interniert; <strong>19</strong>47, verschleppt nach Rußland,<br />
verschwand er für 10 Jahre im Gulag. <strong>19</strong>61,<br />
wieder politisch verfolgt, mußte er aus<br />
Rumänien fliehen und kam nach Deutschland.<br />
Die Kindheit bis zum 1. Weltkrieg erlebte<br />
Moses Rosenkranz in den Dörfern zwischen<br />
Pruth und Czeremosch in einer kinderreichen<br />
Bauernfamilie. Dann folgten Flucht, der Tod<br />
des Vaters, völlige Verarmung; danach<br />
Wanderjahre auf Arbeitssuche.<br />
Die ersten fünfzehn Jahre dieses Lebens, das<br />
noch viele Katastrophen unseres Jahrhunderts<br />
durchlaufen sollte, schildert der Dichter im<br />
vorliegenden Buch nachdenklich und direkt, in<br />
epischer Breite, mit poetischer Wucht und<br />
Bildhaftigkeit. Damit erreicht er selber in<br />
hohem Maße, was ihn in manchen Dichtungen<br />
anderer beeindruckt: «die genaue Unterkunft der<br />
Realität in der Phantasie».<br />
«… Aus allen Poren meiner Haut begriff ich<br />
schauend die Dinge, erreichte die fernsten und<br />
drang zu den verborgensten hin. Ich schien mir<br />
unter der Haut aus tausend Augen bestehend,<br />
die nicht bloß das Äußere der Erscheinungen<br />
und Taten, sondern auch deren Wesen in ihre<br />
Nerven sogen und einer Mitte zuleiteten, die sie<br />
auf geistigem Spiegel zur Schau stellte. Diese<br />
Optik der Seele gab es mir auch an die Hand,<br />
die werdende Gestalt schon im unbestimmbaren<br />
Keim, das verhängte Geschehen schon in den<br />
Anzeichen zu erkennen. … Das Phänomen ließe<br />
sich … im Begriff eines Allbewußtseins<br />
zusammenfassen.<br />
So empfand ich es damals, in meinem<br />
neunten Lebensjahr …»<br />
[«Kindheit», S. 42]<br />
Blaueule Leid<br />
Gedichte aus der Bukowina<br />
(Texte aus der Bukowina, Bd. 10)<br />
100 S., geb., <strong>20</strong>01<br />
ISBN 3-89086-806-1 DM 35,–<br />
Der Band enthält Gedichte von P.<br />
Celan,<br />
R. Ausländer, K. Blum, A. Kittner,<br />
M. Rosenkranz, A. Gong, A. Margul-<br />
Sperber, S. Meerbaum-Eisinger,<br />
I. Weißglas und I. Manger.<br />
Alfred Margul-Sperber<br />
Sinnloser Sang<br />
Ausgewählte Gedichte<br />
(Texte aus der Bukowina, Bd. 8)<br />
96 S., fadengeh., <strong>20</strong>01<br />
ISBN 3-89086-765-0 DM 34,–<br />
Der Autor wurde 1898 in Storoshinetz<br />
(Bukowina) geboren und starb <strong>19</strong>67 in<br />
Bukarest.<br />
Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin)<br />
«Czernowitz is gewen an alte,<br />
jidische Schtot …»<br />
Jüdische Überlebende berichten<br />
Eine Projektarbeit von Kol Čern, ’96.<br />
Gaby Coldewey, Anja Fiedler,<br />
Melinda Filep, Stefan Gehrke,<br />
Axel Halling, Eliza Johnson,<br />
Nils Kreimeier, Gertrud Ranner<br />
(Texte aus der Bukowina, Bd. 11)<br />
ca. 160 S., brosch., 3. Auflage <strong>20</strong>01<br />
ISBN 3-89086-776-6 DM 38,–<br />
Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH<br />
Postfach 86 · D-5<strong>20</strong>01 Aachen<br />
Oppenhoffallee <strong>20</strong> · D-5<strong>20</strong>66 Aachen<br />
Telefon +49-241-542532 · Fax 514117<br />
www.rimbaud.de<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 235
W e r b u n g<br />
GGR-BEITRÄGE ZUR<br />
GERMANISTIK<br />
Herausgegeben von George Guţu<br />
"Es ist an der Zeit, eine landesweite Fachreihe<br />
Germanistik zu starten, die wir 'GGR-Beiträge<br />
zur Germanistik' nennen möchten. Angedeutet wird<br />
damit, daß die Reihe allen in Rumänien lebenden<br />
oder aus Rumänien stammenden Germanisten,<br />
zugleich auch unseren ausländischen KollegInnen<br />
zur Verfügung steht. Auslandsgermanistisch<br />
besonders relevante Aspekte des Daf-Unterrichts,<br />
der Interkulturalität, der Imagologie, der<br />
Rezeptionsgeschichte und -ästhetik sowie der<br />
linguistischen Forschung und der Landeskunde<br />
werden dabei Berücksichtigung finden. 1 bis 2<br />
Bände sollen jährlich Forschungsergebnisse,<br />
Dissertationen, Dokumentationen der heutigen<br />
Germanistik präsentieren sowie bedeutende frühere<br />
Leistungen unserer Vorgänger - sei es als Vorbild,<br />
sei es als Beweise kühnen Forschungswillens - erneut<br />
in den Kreislauf der Fachdiskussion einführen."<br />
(George Guţu)<br />
Beiträge zur Geschichte der<br />
Germanistik in Rumänien (I) (Bd. 1)<br />
Hgg. v. George Guţu und Speranţa Stănescu<br />
3<strong>19</strong> S., Charme-Scott, Bucureşti <strong>19</strong>77<br />
ISBN 973-96538-10<br />
Eine erste Bestandsaaufnahme der<br />
geschichtlichen Entwicklung der<br />
Germanistik in Rumänien. Ohne Zwänge,<br />
unvoreingenommen, informativ.<br />
Wehn vom Schwarzen Meer…<br />
Literaturwissen-<br />
schaftliche Aufsätze (Bd. 2)<br />
Hg. v. George Guţu<br />
324 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />
ISBN 973-9368-08-5<br />
Der Band bietet einen repräsentativen<br />
Querschnitt von Aufsätzen zur deutschen<br />
und rumäniendeutschen Literatur sowie zu<br />
Fragen der Rezeption im ans Schwarze Meer<br />
angrenzenden geistigen Raum Rumäniens.<br />
In Anwandlung von Rilkes bekanntem Bild<br />
vom 'uralte[n] When vom Meer'<br />
dokumentieren die Untersuchungen die<br />
Faszination der deutschen und<br />
österreichischen Literatur auf<br />
Wissenschaftler und Kulturleute, die in<br />
diesem Raum wirken oder gewirkt haben.<br />
Die Sprache ist das Haus des Seins.<br />
Sprachwissenschaftliche Aufsätze (Bd. 3)<br />
Hgg. v. George Guţu und Speranţa Stănescu<br />
Unter Mitarbeit von Doina Sandu<br />
348 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />
ISBN 973-9368-09-3<br />
Vorliegender Querschnitt ist eine<br />
Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache<br />
oder mit der Sprache des Anderen im<br />
vielfältigen historischen und gegenwärtigen<br />
Kommunikationsprozeß in zum Teil<br />
mehrsprachig geprägten Gegenden Rumäniens.<br />
Lieselotte Pătruţ<br />
"Nu credeam să-nvăţ a muri vrodată."<br />
Friedrich Hölderlin şi Mihai Eminescu<br />
(Studiu de literatură comparată) (Bd. 4)<br />
234 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>98<br />
ISBN 973-9368-41-7<br />
Cornelia Cujbă<br />
Influenţa germană asupra vocabularului<br />
limbii române literare contemporane<br />
(Bd. 5)<br />
270 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>19</strong>99<br />
ISBN 3-89086-776-6 DM 38,–<br />
Ştefan Alexe<br />
Wissenschaftliche Arbeit im Internet. Ein<br />
Handbuch für Germanisten (Bd. 6)<br />
132 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>00<br />
ISBN<br />
Gheorghe Nicolaescu<br />
Georg Büchner und die metaliterarische<br />
Reflexion (Bd. 7)<br />
215 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>01<br />
ISBN 973-8064-85-6<br />
Mihaela Zaharia<br />
Die andere Wirklichkeit. Zur verfilmten<br />
deutschsprachigen Literatur (Bd. 8)<br />
218 S., Editura Paideia, Bucureşti <strong>20</strong>02<br />
ISBN<br />
Herausgegeben von der Gesellschaft<br />
der Germanisten Rumäniens (GGR)<br />
236 <strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
VON LIBRETTI UND IHREN ÜBERSETZUNGSSCHWIERIGKEITEN. AM<br />
BEISPIEL VON WAGNERS LOHENGRIN<br />
Textbücher – sei es Opern-, Operetten-<br />
oder Oratoriumlibretti – sind im Treffpunkt<br />
zweier Arten von Diskurs, der Musik und<br />
der Dichtung, angesetzt. Geht man von den<br />
verschiedensten semiotischen Textbeschreibungsmodellen<br />
und von der Beschreibung<br />
der Aufführung als Text aus, betrachtet man<br />
den Operntext isoliert von seiner begleitenden<br />
Musik und auf einer höheren Ebene<br />
von dessen Bildgestaltung, so hat man kaum<br />
Argumente dafür, diesen als vollständigen<br />
Text zu definieren. Unter den vielen Textbüchern<br />
finden sich aber auch Libretti, die<br />
meisterhaft gedichtete Handlungen liefern,<br />
die einer autonomen Existenz berechtigt<br />
sind. Von Literaturwissenschaftlern oft ignoriert,<br />
obwohl nur im deutschsprachigen<br />
Raum z.B. manch bedeutende Persönlichkeiten<br />
der Literaturgeschichte wie Hugo von<br />
Hofmannsthal oder Ingeborg Bachmann in<br />
diesem künstlerischen Abschnitt gewirkt<br />
haben, lediglich als Mittel zum Zweck von<br />
Musikwissenschaftlern und –darstellern<br />
betrachtet, von der Textlinguistik unbeachtet<br />
geblieben, von Übersetzern wegen der<br />
äußerst komplexen Forderungen umgangen,<br />
Textbücher sind nicht selten Werke hohen<br />
poetischen Wertes, die für sich bestehen<br />
könnten. Auch wenn sie von Theoretikern<br />
oft nur als ”bedingt lesbar” (Lichtfuss <strong>19</strong>89:<br />
14) beschrieben werden, gibt es im Bereich<br />
Librettos Texte reiner Poesie, die der Dichtung<br />
gleichen Wert wie der Musik und ihrer<br />
szenischen Aufführung zukommen lassen.<br />
Das Libretto ist aber in seiner Funktion<br />
nicht ein Einzelkind; es wird in Hinblick auf<br />
seine aufgrund von Musik entstandene szenische<br />
Aufführung geschrieben: "an opera<br />
libretto is not meant to be read as a poem,<br />
but to be heard on the stage as set to the<br />
music" (Dent <strong>19</strong>35:82, zitiert nach Kaindl<br />
<strong>19</strong>95:42).<br />
Es heißt, erst seit Richard Wagner<br />
würden sich Opernübersetzer, Musikkritiker<br />
und Germanisten gelegentlich mit übersetzungstechnischen<br />
Problemen beschäftigen.<br />
Diese seien hauptsächlich auf Aspekte<br />
Ruxandra Cosma<br />
der Einbettung des Textes in die Musik, wie<br />
"die Beachtung der Betonung in der<br />
musikalischen Deklamation, die Beibehaltung<br />
der Originalphrasierung, die Bewahrung<br />
der musikalischen Strukturen oder die<br />
sangbare Gestaltung der Übersetzung"<br />
(Kaindl <strong>19</strong>95:2) beschränkt. Damit werden<br />
so viele Bedingungen und Ziele gestellt, daß<br />
ein einziger Übersetzer dadurch oft als überfordert<br />
wirkt.<br />
Textbücher grenzen sich von literarischen<br />
Texten vor allem in ihrem dynamischen<br />
Charakter ab. Das originale Textbuch<br />
ist bei einer Vielfalt von Ausgaben<br />
und von den Darstellern in den Partituren<br />
notierten Fassungen schwer zu erkennen;<br />
hier sei allerdings zwischen einzelnen<br />
Opern- und Operettenlibretti zu unterscheiden.<br />
Das Libretto im allgemeinen ist<br />
keineswegs das Endresultat künstlerischer<br />
Auseinandersetzung mit einem von der<br />
Literatur oder von der Geschichte gelieferten<br />
Stoff; man spricht oft - hauptsächlich in der<br />
Untersuchung von Operettenbüchern - von<br />
ihrem ’Manuskript-charakter’ (Lichtfuss<br />
<strong>19</strong>89:14-15) und meint damit, ausgehend<br />
von der Tatsache, daß sie oft dem Publikum<br />
in Buchform nicht zugänglich waren bzw.<br />
sind, die Art, wie sie den Darstellern und den<br />
Regisseuren als Arbeitsgrundlage, als<br />
"Werkstattnotizen" in Klavierauszügen geboten<br />
werden. Operntexte sind im Vergleich<br />
zu den Operettentextbüchern konstanter, sind<br />
aber auch Änderungen unterworfen. In der<br />
Zeitspanne zwischen dem 17. - <strong>19</strong>. Jahrhundert<br />
”wurde das Libretto meist gedruckt<br />
und zum Abend verkauft, mit Kerzen zum<br />
Lesen” (dtv <strong>19</strong>85:311); heutzutage ist der<br />
Text oft bei ‘traditionellen’, authentischen<br />
Aufführungen als CD - Aufnahmen in Form<br />
eines Heftes mitzukaufen; in vielen anderen<br />
Fällen unterliegt aber der Text den von<br />
Regisseuren diktierten Änderungen und in<br />
extremen Fällen Entstellungen, wie z.B. bei<br />
Operettenlibretti, die in ihrer humoristischen<br />
Funktion der Auffrischung bedürfen oder bei<br />
zeitlich angepassten Inszenierungen. Bei<br />
einer Operettenaufführung ist es oft sehr<br />
leicht, den Text als modifiziert zu erkennen.
Es ist schon zur Tradition geworden, die<br />
Fledermaus z. B. an bestimmten Stellen mit<br />
Bildern und Pointen zu aktualisieren. Dieser<br />
Bedarf an Erneuerung ist im Zusammenhang<br />
mit der Diskussion der Gattung Operette und<br />
ihrer Gültigkeit zu betrachten. Änderungen<br />
in Opernlibretti sind insofern für den Laien<br />
schwieriger zu durchschauen, da sie auf eher<br />
technischen Entscheidungen beruhen. Wenige<br />
sind bei einem Besuch in der Oper<br />
daran interessiert, zu erfahren, welche Textvariante<br />
gewählt wurde oder aus der Vorbereitung<br />
der Aufführung resultierte; bei<br />
einem Operettenbesuch ist es aber nicht uninteressant<br />
zu wissen, wer, was vorschlägt<br />
und wie dieses erfolgt. Dieser Tatsachenbestand<br />
ist dementsprechend komplexer,<br />
wenn dem Publikum die betreffende<br />
Oper/Operette in der Sprache des Landes<br />
dargeboten wird.<br />
Aus dem dynamischen Textcharakter der<br />
Libretti ist zu schließen, daß sich auch die<br />
Übersetzung eines Textbuches oft als kurzlebig,<br />
vorübergehend gestaltet. Wenn der<br />
Librettist – als ursprünglicher Stoffbearbeiter<br />
-, wenn die Geschichte der Textentstehung<br />
oder Anedoktisches über die Relation<br />
Librettist – Komponist der Nachwelt noch<br />
bekannt sein dürfte und dem Publikum ausführlich<br />
im Aufführungsheft präsentiert<br />
wird, ist die Identifizierung des Übersetzers<br />
eines Textbuches - zumindest in unserem<br />
Sprach- und Kulturraum – mit wenigen Ausnahmen<br />
schwierig, oft auch unmöglich. Die<br />
Übersetzung von Wagners Ring - Tetralogie<br />
ins Englische in vier verschiedenen Varianten<br />
(William Mann <strong>19</strong>67, Lionel Salter<br />
<strong>19</strong>68-<strong>19</strong>70, Andrew Porter – <strong>19</strong>73, Stewart<br />
Spencer <strong>19</strong>93) gilt diesbezüglich eher als<br />
Ausnahme, als Vorbild, und deutet auf das<br />
steigende Interesse für die musikwissenschaftliche<br />
Auseinandersetzung mit dem<br />
Text der längsten Oper hin; dabei ist es nicht<br />
unwichtig zu bemerken, daß dies erst in der<br />
zweiten Hälfte des <strong>20</strong>. Jahrhunderts in einem<br />
Land mit einer sehr langen Operntradition<br />
erfolgt. Eine ähnliche Entwicklung ist im<br />
Falle deutscher Textbücher zu bemerken.<br />
Wagner–Libretti werden – in ihrer literarischen<br />
Qualität als sehr hoch gewertet – von<br />
Verlegern als Sonderausgabe verkauft.<br />
Der dynamische Textcharakter von<br />
Texbüchern wird - den Gegebenheiten unseres<br />
Kulturraums entsprechend - als Ausgangspunkt<br />
und Voraussetzung der vorliegenden<br />
Untersuchung formuliert. Der über-<br />
238<br />
Ruxandra Cosma<br />
setzte Text wird den Darstellern zum Lernen<br />
nicht als separates Heft geliefert; die<br />
Übersetzung wird in die von dem musikalischen<br />
Sekretariat der Oper zur Verfügung<br />
gestellten Klavierauszugfassung eingetragen,<br />
um die visuelle Einbettung in den musikalischen<br />
Text zu erzielen. In wenigen Fällen ist<br />
aber der ursprüngliche Übersetzer bekannt<br />
und dementsprechend durch das Plakat des<br />
Opernabends bekanntgemacht. Dies ist<br />
glücklicherweise der Fall von etlichen Wagner<br />
– Übersetzungen, ein Bereich in dem der<br />
bekannte rumänische Dichter St. O. Iosif<br />
mitgewirkt hat. Von den Wagner - Werken<br />
übersetzte er Lohengrin und Tannhäuser, die<br />
separat auch als Textbücher in einer Sammlung<br />
von Übersetzungen gedruckt wurden<br />
(<strong>19</strong>09). <strong>19</strong>21 wurde Lohengrin zur Eröffnungsvorstellung<br />
der Rumänischen Staatsoper;<br />
am 7. Mai <strong>19</strong>23 wurde Lohengrin in<br />
Cluj zum ersten Mal aufgeführt; in beiden<br />
Fällen wurde rumänisch gesungen und die<br />
Übersetzung von Şt. O. Iosif verwendet.<br />
Außerdem ist noch eine weitere Übersetzung<br />
vom Opernsänger Rudolf Steiner bekannt.<br />
Dimitrie Cuclin, zitiert in einem Gesprächsbuch,<br />
erwähnte:<br />
”Mai de mult mă întâlnesc în PiaŃa Amzei cu<br />
Steiner, om de mare cultură şi solist la Operă. […]. El<br />
tradusese libretele operelor lui Wagner şi le adaptase<br />
la muzică, nu cum a făcut Şt. O. Iosif, care tratase<br />
textul lor poetic de sine stătător...” (9 iunie <strong>19</strong>74).<br />
Das, was heute gesungen wird, entspricht<br />
nur in großen Zügen der urspünglichen<br />
Übersetzung. Zu berücksichtigen ist, daß der<br />
Text oft als archaisch wirkt. Dies wäre schon<br />
genug, um Modifizierungen im Text zu begründen.<br />
Außerdem gibt es noch geschichtliche<br />
Hintergründe zur Entscheidung für die<br />
eine oder die andere Variante des Wortes,<br />
die in kausaler Verbindung mit Wagners<br />
Ideologie und dem Wagner-Bild während<br />
des 2. Weltkriegs zu interpretieren sind.<br />
In Beziehung damit sei eine weitere<br />
konkrete Situation zur Diskussion gestellt:<br />
die Rumänische Staatsoper in Bukarest 1<br />
hatte in den 60er Jahren, d.h. geschichtlich<br />
bedingt, den Textautor Constantin Cârjan als<br />
Mitarbeiter, der sich nicht besonders auf die<br />
1 Im Gespräch mit dem Tenorsänger Corneliu<br />
FânaŃeanu, dem ehemaligen Musikdirektor der Rumänischen<br />
Staatsoper in Bukarest in den 80er Jahren. 14.<br />
Mai <strong>20</strong>00.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />
Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />
Übersetzung von Textbüchern, wie auf die<br />
Revidierung von bereits übersetzten Libretti<br />
spezialisiert hatte. Zu der Zeit bedeutete dies<br />
die Reinigung der Texte durch Beseitigung<br />
mystischer Elemente. Wie nur aus diesen<br />
letzten Punkten ersichtlich, wurde der Text<br />
aus verschiedensten Gründen Änderungen<br />
unterzogen. Außerdem waren es Regisseure<br />
und Darsteller, die die übersetzte Vorlage<br />
technisch modifizieren mußten.<br />
Häufig sind in den Noten mehrere Handschriften<br />
erkennbar; sie ergänzen, streichen<br />
durch, lassen aus oder korrigieren. Der Anteil<br />
des Darstellers in der neuen Textproduktion<br />
ist nicht zu vernachlässigen.<br />
Handelt es sich um einen Sänger, der in<br />
vokal – technischer Hinsicht Probleme mit<br />
der Artikulation verschiedener Laute beim<br />
Singen - vor allem mit den Selbstlauten - hat<br />
oder fällt es ihm leichter, in verschiedenen<br />
Tonfolgen und -höhen, den einen oder<br />
anderen Vokal zu erzeugen, so wird in der<br />
Regel das betreffende Wort durch ein mehr<br />
oder weniger bedeutungsähnliches oder zumindest<br />
kontextgebundenes, an den Voraussetzungen<br />
des Sängers angepasstes ersetzt.<br />
Damit sind schon übersetzungstechnische<br />
Probleme angesprochen, die sich dem sich<br />
auf die artikulatorische Funktion, auf die<br />
Tonhöhe und auf die Lautstruktur beziehenden<br />
Prinzip der "Sangbarkeit in der<br />
Übersetzung" (Kaindl <strong>19</strong>95:118) unterordnen.<br />
Trotz des quasi-anonymen Charakters<br />
der Übersetzung und ihres Übersetzers ist<br />
der Vorgang des Übersetzens als Übertragung<br />
kultureller Bilder und deren Entwicklung<br />
zum Bezugspunkt von größter Bedeutung.<br />
Zu den Produktionsmechanismen<br />
des Textbuches (Lichtfuss <strong>19</strong>89) gehört<br />
außer den Figuren, Ausstattungen, Darstellern<br />
auch der Titel, der im allgemeinen die<br />
Funktion hat, das Interesse des Publikums zu<br />
fördern, ohne viel von der Handlung zu<br />
verraten. Die Übersetzung des Titels erfolgt<br />
in den meisten Fällen unproblematisch, vor<br />
allem da meist in der Ausgangssprache dafür<br />
Eigennamen und enge Wortgruppen enthalten<br />
sind. Allerdings kommt es manchmal<br />
zu eigenartigen Situationen, wie diejenige, in<br />
der sich Wagners Titel Der Ring des<br />
Nibelungen infolge einer fehlerhaften Über-<br />
setzung zu Inelul nibelungilor 2 (in Anlehnung<br />
an das Nibelungenlied/Cântecul nibelungilor)<br />
in das Bewußtsein des rumänischen<br />
Publikums derart eingebürgert hat und zur<br />
Konvention fest eingefroren ist, daß es zu<br />
diesem Zeitpunkt sehr schwierig wäre, noch<br />
etwas daran zu ändern.<br />
Übersetzungen entstehen, falls nicht<br />
schon vorhanden, meist auf Wunsch eines<br />
Opernhauses, das das betreffende Werk in<br />
den Spielplan einführen möchte. Im Falle der<br />
Ring-Tetralogie, die im Englischen, wie<br />
bereits erwähnt, mehrere Varianten kennt,<br />
sind die Unterschiede hauptsächlich auf der<br />
Ebene der Realisierung und der Text-<br />
Rezeption wahrnehmbar. Andrew Porter, der<br />
Ring - Übersetzer des Jahres <strong>19</strong>73, notierte,<br />
seine Übersetzung sei gedacht ”for singing,<br />
acting and hearing, not for reading” (zit.<br />
nach Holman <strong>19</strong>96:<strong>20</strong>), obwohl er oft<br />
phonologische Aspekte (u.U. auch visuell<br />
wahrnehmbare), wie z. B. die Alliteration,<br />
meisterhaft und originalgetreu einsetzte.<br />
Holman (<strong>19</strong>96:<strong>20</strong>), der Verfasser einer<br />
wunderbaren kritischen multimedia Ring-<br />
Ausgabe, schrieb über die von Spencer<br />
realisierte Variante der 90er Jahre:<br />
”Spencer’s goal, unlike Porter’s, was not to fashion<br />
an English text to be sung, but rather to improve on<br />
earlier translations by simultaneously advancing the<br />
causes of both literalness and meaning. Spencer’s<br />
work may well emerge as a standard translation.”<br />
Für die vorliegende Untersuchung wurden<br />
Auszüge aus Wagners Lohengrin-Text<br />
zur Illustration herangezogen. Wagner, weil<br />
er unter den relativ wenigen Dichter-Komponisten<br />
weitgehend der begabteste war. Der<br />
im Jahre 1845 in Marienbad geschriebene<br />
und am 28. August 1850 zur Feier von<br />
Goethes Geburtstag präsentierte Lohengrin<br />
gehört zusammen mit Dem fliegenden Holländer<br />
und mit Tannhäuser zu den romantischen<br />
Opern, die dem Text und den im Text<br />
enthaltenen Bedeutungsnuancen mehr Gewicht<br />
als bis zu dem Zeitpunkt üblich war,<br />
zumessen. Am 17. November 1845 trug<br />
Wagner bereits den in Versen ausgeführten<br />
Text im Engelklub am Postplatz in Dresden<br />
”vor Literaten, Maler und Musiker” vor,<br />
2 Hier zum Vergleich den französischen und englischen<br />
Titel: L’Anneau du Nibelung, The Ring of the<br />
Nibelung.<br />
239
”darunter Hiller und Schumann” (Waack:<br />
IV) 3 .<br />
Die außerordentliche Leistung Wagners<br />
in Lohengrin ist in Kloibers (<strong>19</strong>73/<strong>19</strong>85:946)<br />
Auffassung dadurch zu erklären, daß mit<br />
Lohengrin die romantische Oper ihren Höhepunkt<br />
durch die vollendete Einheitlichkeit<br />
von Dichtung und Musik im Sinne romantischer<br />
Kunstanschauung erreicht habe:<br />
”Wagner betrachtete den Stoff als ‘eigentliches Gedicht<br />
des Volkes’, als ‘ein edles Gedicht sehnsüchtigen<br />
menschlichen Verlangens’, und dieser Gestaltung<br />
im echt romantischen Geist verdankt die<br />
Oper, die als die populärste unter den Bühnenschöpfungen<br />
Wagners anzusehen ist, wohl in erster<br />
Linie ihre große Breitenwirkung.”<br />
Die Dichtung Lohengrin ist schöne<br />
Poesie und bereitet für sich bestehend dem<br />
Leser Vergnügen.<br />
Der Stoff des Librettos sammelt bekanntlich<br />
Sagen und Motive des Mittelalters: die<br />
bayrische Schwanenritter-Sage wird in einer<br />
anonymen epischen Dichtung Ende des 13.<br />
Jahrhunderts unter dem Titel – Lohengrin,<br />
der Ritter mit dem Schwan erzählt, kommt<br />
allerdings auch in Wolfram von Eschenbachs<br />
Parzival vor. Diese ist mit Motiven, die dem<br />
Nibelungenlied (Elsas und Ortruds Streit vor<br />
dem Münster) entnommen wurden (s.<br />
Kloiber <strong>19</strong>85:947), und mit Gral-Motiven<br />
(auch dadurch, daß Lohengrin der Sohn von<br />
Parzival war) verflochten. Ort und Zeit der<br />
Handlung werden verlegt: die Handlung<br />
spielt sich in der ersten Hälfte des 10.<br />
Jahrhunderts zu Zeiten des Königs Heinrich<br />
I. bei Antwerpen ab, allerdings wird dem<br />
Publikum im Vorspiel das Herniedersteigen<br />
einer Engelschar gezeigt, die den heiligen<br />
Gral zur Erde trägt, den Gral den Reinen<br />
(den Gralrittern) anvertraut und somit eine<br />
wunderbare Sagen- und Märchenwelt<br />
eröffnet. Dieses dem Publikum im Vorspiel<br />
gebotene Bild ist wichtig vor allem in dem<br />
übersetzten Text, der mangels an Übertragunslösungen<br />
zu einem gewissen Punkt<br />
(Aufzug 3, Szene 3) an das nonverbalisierte<br />
Geschehen anknüpft (s. Beleg 11).<br />
Diese Koordinaten tragen dazu bei, die<br />
stilistische Ebene festzulegen und den<br />
Sprachraum in Wortwahl und Strukturen für<br />
den Übersetzungsvorgang abzugrenzen. Die<br />
Spieldauer der Oper beträgt etwa 4 Stunden.<br />
3 Wagner, Richard – Lohengrin. Klavierauszug mit<br />
Text. Einführung, Inhalts- und Motivangabe von Carl<br />
Waack). Edition Breitkopf. <strong>Nr</strong>. 4504.<br />
240<br />
Ruxandra Cosma<br />
Dementsprechend wurde für die vorliegende<br />
Untersuchung der erste Aufzug, sowie die<br />
dritte Szene des letzten (dritten) Aufzugs<br />
herangezogen 4 . Die Diskussion der in diesen<br />
Abschnitten bestehenden Übersetzungsschwierigkeiten<br />
konzentriert sich im folgenden lediglich<br />
auf technische Aspekte, die u.a. mit Phrasierung<br />
und Wortwahl zusammen-hängen und sie<br />
erklären bzw. diskutieren möchten.<br />
Verfolgt wurde einerseits das Verhältnis<br />
Musik – Text in den beiden Textvorlagen in<br />
Hinblick auf die Formenrealisierung (Anpassung<br />
der Lautstruktur an die Musik, Anpassung<br />
der Musik an den Text), andererseits<br />
die zwischen den Texten bestehenden Bedeutungsrelationen,<br />
vor allem Abweichungen<br />
wie Sinnentstellungen, Modifizierungen.<br />
Die zum Versbau - und zur Musik 5 - gehörenden<br />
eingesetzten Formparameter sind,<br />
wie man es auch hätte vermuten können, im<br />
höchsten Maße variabel. Reim, Rhythmus<br />
und Silbenmaß fügen sich der Musik. Von<br />
den erwähnten Mitteln ist für die Musik das<br />
Versmaß das konstanteste und bedeutendste.<br />
Die Grenzen liegen meist typologisch begründet<br />
zwischen 5 und 10 Silben, die von<br />
der Übersetzung ins Rumänische - womöglich<br />
entsprechend der Vorlage wieder-<br />
4 Aufzug 1. König Heinrich der Vogler hält Gericht<br />
über die verwaiste Herzogstochter Elsa von Brabant,<br />
die beschuldigt worden ist, ihren Bruder Gottfried<br />
ermodet zu haben, um sich die Krone von Brabant zu<br />
gewinnen. Im Traum hatte sich Elsa ein Ritter in<br />
einem von einem Schwan gezogenen Kahn gezeigt,<br />
der für ihre Unschuld im Gottesgericht kämpfen<br />
wollte. Der Ritter Lohengrin erscheint, wie sie<br />
geträumt hatte, und will ihr Gatte werden unter der<br />
Bedingung, sie würde ihn nie nach seiner Herkunft<br />
und nach seinem Namen fragen. Elsa verspricht, sein<br />
Verbot nie zu übertreten. Der Ritter kämpft für Elsa<br />
und besiegt den brabantischen Grafen Telramund, der<br />
sie beschuldigt hatte, schenkt ihm aber das Leben.<br />
Aufzug 3 / Szene 3. An dem auf die Hochzeitsnacht<br />
folgenden Morgen trägt Lohengrin Telramunds<br />
Leiche vor den König und die Edlen und gibt – auf<br />
Frage seiner Gemahlin – seine Herkunft – als Sohn<br />
von Parzival, dem Hüter des Heiligen Grals, bekannt.<br />
Nun muß er aber gehen, er darf, da er erkannt wurde,<br />
nicht länger bleiben. Der Schwan nähert sich und<br />
verwandelt sich in Elsas totgedachten Bruder<br />
Gottfried, der im Dienste des Grals war. Die<br />
Gralstaube zieht an seiner Stelle den Kahn und<br />
entfernt sich mit Lohengrin.<br />
5 … […] versificaŃia este practicată de poeŃi pentru că<br />
aduce un spor de încântare melodică, muzicală.<br />
Dealtfel, versul a fost cultivat concomitent cu cântecul<br />
[…]. DespărŃindu-se de cântec, ulterior, versul<br />
s-a dezvoltat pentru calităŃile lui melodice (Fierăscu /<br />
GhiŃă <strong>19</strong>79:155)<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />
Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />
gegeben werden. Folgende Situationen<br />
wurden dabei identifiziert: Gelingt es dem<br />
Übersetzer nicht, die Silbenanzahl getreu<br />
nachzubilden, so werden im Bereich des<br />
Sprachlichen Änderungen vorgenommen –<br />
(1) König:<br />
sei es durch eine andere Wortwahl oder<br />
durch den Verzicht auf bedeutungsähnliche<br />
semantische Relationen; als letzte Variante<br />
ist durch eine diskrete Anpassung der Noten<br />
der Bereich der Musik anzuschlagen.<br />
a. Im Mittag hoch steht schon die Sonne 9 Pe ceruri soarele străluce 9<br />
b. So ist es Zeit, daß nun der Ruf ergeh’! 10 Pornească deci chemarea cea dintâi! 10<br />
(Aufzug 1, Szene 2)<br />
Der neun- und zehnsilbigen Struktur im Deutschen wird im Rumänischen eine silbenmäßige<br />
Entsprechung gefunden; die Übersetzung vom deutschen Vers b durch die informationshaltigere<br />
Äußerung ”Pornea-scă deci chemarea cea dintâi” ist textpragmatisch bestimmt,<br />
gewissermaßen mit vorbereitender Funktion: im Text ist der wundersame Auftritt von<br />
Lohengrin verzögert; er erscheint erst beim zweiten Ruf:<br />
Elsa: Mein lieber König, lass dich bitten, / noch einen Ruf an meinen Ritter, / wohl weilt<br />
er fern und hört ihn nicht!<br />
(2) Lohengrin:<br />
a. So sprich denn, Elsa von Brabant! 8 Vorbeşte, Elsa de Brabant! 8<br />
b. Wenn ich zum Streiter dir ernannt, 8 Te-ntreb în faŃa tuturor 8<br />
c. willst du wohl ohne Bang und Graun 8 fără teamă, cu gând curat: 8<br />
d. dich meinem Schutze anvertraun? 8 În spada mea vrei să te-ncrezi? 8<br />
Das Silbenmaß unter Punkt c. im Rumänischen<br />
gibt trotz der sich entsprechenden<br />
Anzahl einen stark gekünstelten Eindruck<br />
nur im Bereich des Sprachlichen. Die<br />
musikalische Realisierung ist ungezwun-gen,<br />
was die Annahme, das Rhythmus–Parameter<br />
sei diesbezüglich unbedeutend, unterstützt.<br />
Eine im normalen, versprachlichten<br />
Text, den Regeln der Dichtung nach entsprechende<br />
Rhythmus-Struktur konnte nicht<br />
identifiziert werden. Die Musikalität des<br />
Textes erfolgt hier direkt, über die Musik<br />
selbst; textinhärente rhythmische Konstrukte<br />
werden im Rahmen musikalischer Textbücher<br />
nicht benötigt, sind überflüssig, da sie<br />
sich dem musikalischen Diskurs fügen. Die<br />
Umschreibung der Struktur ”zum Streiter dir<br />
(3) Lohengrin:<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
ernannt” wird im Rumänischen durch spada<br />
realisiert.<br />
Das Reimschema ist selbst im Deutschen<br />
schwankend, gar an gewissen Textstellen<br />
abwesend. Im übersetzten Text wird die<br />
Wiedergabe einer ähnlichen Reimstruktur<br />
versucht, allerdings sind auch hier Abweichungen,<br />
die bis zur freien Versform<br />
reichen, festzustellen. Hier zwei weitere Belege,<br />
darunter auch die Frageverbotszene.<br />
Das erste Beispiel hat im Deutschen das<br />
Schema a-b-a-b//c-c-d-d, während im<br />
Rumänischen das erste Muster durch eine<br />
Abweichung zu a-b-a-c wird, dann allerdings<br />
die im deutschen Text festgehaltene Struktur<br />
beibehält.<br />
Elsa, soll ich dein Gatte heißen, a Elsa, de vrei să-mi fii soŃie a<br />
Soll Land und Leut ich schirmen dir, b Să-Ńi apăr Ńara şi-ai tăi supuşi b<br />
Soll nichts mich wieder von dir reißen a Legat să-Ńi fiu pe veşnicie a<br />
Mußt Eines du geloben mir: b Să-mi juri, o Elsa de Brabant c<br />
Nie solltest du mich befragen c Nu-mi cere nicicând seamă, d<br />
Noch Wissens Sorge tragen, c Nici să nu ai vre-o teamă d<br />
241
Ruxandra Cosma<br />
Woher ich kam der Fahrt, d De unde-s, din ce neam, e<br />
Noch wie mein Nam und Art. d Nici numele ce-l am. e<br />
242<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
Unter Punkt (4) soll gezeigt werden, daß in der Übersetzung auf den Reim oft verzichtet<br />
wird; das deutsche Muster ist dabei a-b-a-b. In diesem Fall ist der Übersetzer der inhaltsgetreuen<br />
Wiedergabe nachgegangen und hat sich von Formparametern distanziert.<br />
(4) Lohengrin:<br />
Heil, König Heinrich! Segenvoll O, rege Heinrich, Cel de Sus<br />
Mög Gott bei deinem Schwerte steh’n! în veci păzească spada ta!<br />
Ruhmreich und groß dein Name soll Şi faima ta pe-acest pamânt,<br />
Von dieser Erde nie vergeh’n să crească-ntruna veac de veac.<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
Desgleichen im Bereich der Form-Seite enthalten sind die (meist) von Sängern durchgenommenen<br />
Korrekturen im Text oder – im Extremfall - in den Noten zu nennen. Die<br />
Änderungen im Text sind nicht als ein Versuch gelungenerer semantischer Realisierung zu<br />
betrachten; in vielen Situationen handelt es sich um einen Kategorienwechsel:<br />
(5) König Heinrich:<br />
Ertöne, Siegesweise Răsune, răsune triumfale<br />
dem Helden laut zum Preise! CântaŃi / cântări victoriei sale!<br />
Weitere Änderungen dienen der Anpassung der Silbenanzahl im Rumänischen:<br />
(6) Elsa:<br />
O, fänd ich Jubelweisen O, de-aş putea găsi<br />
deinem Ruhme gleich, Cuvântul-adevărat<br />
dich würdig zu preisen, să pot să te laud<br />
am höchsten Lobe reich! tu cel mai lăudat,<br />
In dir muß ich vergehen, spre tine în neştire<br />
vor dir schwind ich dahin!… îndrept privirea mea!<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
oder werden zugunsten vereinfachter, auch im Originaltext enthaltener elliptischer<br />
Konstrukte realisiert:<br />
(7) Elsa:<br />
Mir schwankt der Boden! Welche Nacht! Vai, ce-ntuneric, ce pustiu,<br />
O, Luft, Luft! der Unglücksel’gen! mă pierd, [daŃi-mi] aer, aer ? aer!<br />
(Aufzug 3, Szene 3)<br />
Korrekturen in den Noten sind teilweise auch zur Silbenanpassung realisiert; im<br />
folgenden ein Beispiel, wo für das Rumänische decât die Verdoppelung der Note g benötigt<br />
wird:<br />
(8) Friedrich:<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01<br />
Von Libretti und ihren Übersetzungsschwierigkeiten.<br />
Am Beispiel von Wagners "Lohengrin"<br />
Viel lieber tot, als feig! Mai bine mort de-cât laş!<br />
In der rumänischen Fassung sind Wörter<br />
manchmal nur in leerstellenfüllender<br />
Funktion verwendet. Die in der Zielsprache<br />
vorgeschlagene Variante setzt häufig Paraphrasen<br />
als bedeutungumschreibendes Mittel<br />
ein. Es ist aber festzustellen, daß die durch<br />
die Formenmechanismen bedingten Abweichungen<br />
die stilistische Ebene und<br />
dadurch die sich außerhalb der Zeit<br />
situierende Märchen- und Heldensprache<br />
nicht beeinflussen. Dabei soll die Schlichtheit<br />
und der Zauber der gewählten Lexeme<br />
(9) König:<br />
(Aufzug 1, Szene 3)<br />
und Strukturen hervorgehoben werden:<br />
credinŃă, har, înfrângere, faimă etc. Sinnentsprechungen<br />
sind auf einer Skala<br />
punktenmäßig zu beurteilen. Verschiedene<br />
Mechanismen liegen der Produktion dieser<br />
Relation zugrunde. Im folgenden Beispiel ist<br />
dieses semantische Verhältnis nicht<br />
zwischen Wörtern, sondern zwischen<br />
höheren, komplexeren Einheiten –<br />
Strukturen, Syntagmen, bis zu Sätzen zu beobachten:<br />
Beginnen soll nun das Gericht! Să-nceapă judecata dar,<br />
Gott, laß mich weise sein! Tu, Doamne, martor fii!<br />
(Aufzug 1, Szene 1)<br />
Oft wird aber der Bedeutungsvermittlung nicht gedient. Das Inhaltliche tritt in den<br />
Hintergrund zugunsten der Realisierung:<br />
(10) Friedrich:<br />
Du hörst die Klage, König! Richte recht! Ce-aveam pe suflet, rege, eu am spus.<br />
(Aufzug 1, Szene 1)<br />
Bemerkenswert ist folgender Beleg, der an das im Text Nonverbalisierte anknüpft: der<br />
Text wird dem Zuschauer durch das im Vorspiel gezeigte Bild verständlich.<br />
(11) Lohengrin:<br />
In fernem Land, unnahbar euren Schritten, Departe-ntr-o misterioasă Ńară<br />
Liegt eine Burg, die Montsalvat genannt; E un castel ce-i spune Montsalvat<br />
Ein lichter Tempel stehet dort inmitten, Şi-un templu sfânt ca o minune rară<br />
So kostbar als auf Erden nichts bekannt; Cu pietre nestemate îmbrăcat.<br />
Drin ein Gefäß von wundertätgem Segen Acolo este un potir de aur<br />
Wird dort als höchstes Heiligtum bewacht … adus de-un stol de îngeri pe pământ …<br />
Der übersetzte Textabschnitt ist bildhaft<br />
deskriptiv im Vergleich zur Textvorlage.<br />
Das Herniedersteigen der Engelschar ist eine<br />
Anspielung auf das dem Zuschauer schon<br />
Bekannte, allerdings nicht Vorerwähnte.<br />
Die Auseinandersetzung mit dem Text<br />
und seinen Interpretationsmöglichkeiten, mit<br />
Formelementen, die zur Musik passen, wird<br />
(Aufzug 3, Szene 3)<br />
notwendigerweise durch die Auseinandersetzung<br />
mit den in der Notenpartitur enthaltenen<br />
Vortragsangaben (im Text -<br />
indicaŃii de caracter şi mişcare) für Sänger,<br />
Orchester und Dirigenten ergänzt. Diese<br />
werden in der Regel in der Opernsprache<br />
Italienisch verfaßt. Wagner hat sie deutsch<br />
formuliert; die in der untersuchten Partitur<br />
enthaltene Variante des Übersetzers ist teils<br />
243
Ruxandra Cosma<br />
rumänisch, teils italienisch. So werden zum Beispiel folgende Entsprechungen markiert:<br />
(12)<br />
mäßig langsam = moderat rar<br />
sehr bewegt = molto animato<br />
nicht schleppend = fără tărăgănare<br />
mit freierem Vortrag = a piacere, mai rar usw.<br />
Das Übersetzen von Textbüchern ist als<br />
kollektive Arbeit zu verstehen. Die neuentstandenen<br />
Texte sind zum Singen gedacht,<br />
fügen sich dementsprechend musikalischen<br />
Gesetzmäßigkeiten, was Wort- und Satzsemantik<br />
beeinträchtigt. Musik und Text bestimmen<br />
sich auch im Übersetzten gegenseitig,<br />
wenn nicht gerade hier im höheren<br />
Maße. Dieses Interagieren ist durch Dichter<br />
und Übersetzer, durch Sänger, Dirigenten<br />
und Regisseuren gleichermaßen gesichert.<br />
244<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Bârsan, I. (<strong>19</strong>95) – Convorbiri cu Dimitrie<br />
Cuclin, filosof, muzician, scriitor. GalaŃi.<br />
Editura Porto-Franco.<br />
2. Fierăscu, C. / GhiŃă, Gh. (<strong>19</strong>79) – Mic dicŃionar<br />
îndrumător în terminologia literară. Bucureşti.<br />
Editura Ion Creangă.<br />
3. Holman, J. K (<strong>19</strong>96) – Wagner’s Ring. A<br />
Listener’s Companion and Concordance.<br />
Portland/Oregon. Amadeus Press.<br />
4. Honolka, Kurt (<strong>19</strong>79) – Kulturgeschichte des<br />
Librettos. Wihelmshaven.<br />
*<br />
* *<br />
5. Kaindl, Klaus (<strong>19</strong>95) - Die Oper als Textgestalt.<br />
Perspektiven einer interdisziplinären<br />
Übersetzungswissenschaft. Tübingen.<br />
Stauffenburg, Verlag Brigitte Narr.<br />
6. Kloiber, Rudolf (<strong>19</strong>73/<strong>19</strong>85) – Handbuch der<br />
Oper. Bd. 2. Kassel. dtv/Bärenreiter.<br />
7. Lichtfuss, Martin (<strong>19</strong>89) – Operette im Ausverkauf.<br />
Studien zum Libretto des musikalischen<br />
Unterhaltungstheaters im Österreich der<br />
Zwischenkriegszeit. Böhlau. Wien/Köln.<br />
8. Michels, Ulrich (<strong>19</strong>77/<strong>19</strong>94) - dtv – Atlas zur<br />
Musik. Bd. 1- 2. Kassel. dtv/Bärenreiter.<br />
9. Millington, Barry (<strong>19</strong>92) – The Wagner Compendium.<br />
A Guide to Wagner’s Life and<br />
Music. New York / Oxford / Singapore /<br />
Sindey. Maxwell MacMillan International.<br />
Schirmer Books.<br />
10. Pop, Sergiu Dan (<strong>20</strong>00) – Teatrul muzical.<br />
Reflexii structurale şi stilistice. Diss.<br />
Bucureşti. Editura Muzicală.<br />
11. Tranchefort, Francois-Rene (<strong>19</strong>83) – L’Opéra.<br />
Editions du Seuil.<br />
12. Wagner, R. – Lohengrin. Klavierauszug mit<br />
Text (Mottl). Edition Peters nr. 3401<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
VORÜBERLEGUNGEN ZUR WIEDERAUFNAHME DER DONAU-<br />
SCHWÄBISCHEN EXISTENZFORMEN DER DEUTSCHEN SPRACHE<br />
UND LITERATUR DES SERBISCHEN DONAURAUMS IN DIE GERMANI-<br />
STISCHE LEHRE UND FORSCHUNG RESTJUGOSLAWIENS *)<br />
Zum Untersuchungsgegenstand<br />
Zu den donauschwäbischen Existenzformen<br />
der deutschen Sprache und Literatur im<br />
heute serbischen Donauraum als dem Gegenstand<br />
der germanistischen Lehre und Forschung<br />
in Rumpfjugoslawien kommen vor<br />
allem diejenigen aus der Zeit von <strong>19</strong>18 an<br />
bis heute in Frage. Daraus ergibt sich zugleich<br />
ihr Status der Sprache und Literatur<br />
einer der jugoslawischen Nationalminderheiten.<br />
Die Donauschwaben wurden bekanntlich<br />
<strong>19</strong>18 zur Nationalminderheit in sämtlichen<br />
Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie<br />
und somit auch im heute serbischen<br />
Donauraum. Dies besagt auch noch, daß sich<br />
das Objekt unserer Vorüberlegungen innerhalb<br />
der gegenwärtigen administrativen<br />
Grenzen der serbischen Provinz Wojwodina<br />
befindet. Innerhalb solcher unserer Vorüberlegungen<br />
werden dabei vor allem donauschwäbische<br />
Sprachträger resp. Schriftsteller<br />
berücksichtigt, die im Raum der gegenwärtigen<br />
Wojwodina beheimatet sind.<br />
So besehen gehört die im serbischen Teil<br />
des Donauraumes beheimatete donauschwäbische<br />
Literatur also in den zweiten der<br />
insgesamt drei allgemein anerkannten Zeitabschnitte<br />
des donauschwäbischen Schrifttums.<br />
Dabei zählt der erste Zeitabschnitt vom<br />
ausgehenden 17. Jh. an bis <strong>19</strong>18 normalerweise<br />
zur Geschichte des ab 1687 habsburgischen<br />
Erblandes Ungarn, wo immer<br />
seine Geschichte auch hingehört, und der<br />
dritte und zunächst letzte - von <strong>19</strong>45 bis<br />
heute - in die Geschichte Deutschlands oder<br />
Österreichs als der jeweiligen Wahlheimat<br />
der geflüchteten, vertriebenen oder ausgewanderten<br />
Donauschwaben. In Rumpfjugoslawien<br />
und somit auch in seiner Region<br />
Wojwodina als der Heimat der Donauschwaben<br />
im serbischen Teil des Donauraumes<br />
konnte es nämlich spätestens nach<br />
<strong>19</strong>50 ohne eine einheimische deutsche<br />
Zoran Žiletić<br />
Bevölkerung auch keine deutsche Literatur<br />
mehr geben [Vgl. Anhang 2, Fassel (<strong>19</strong>89),<br />
S. 289b].<br />
An Existenzformen der deutschen Sprache<br />
werden diejenigen im Raum der Wojwodina<br />
berücksichtigt, die unterhalb der Schriftsprache<br />
liegen. Auch die Schriftsprache<br />
selbst in der donauschwäbischen Handhabe<br />
plant man in die Lehre und Forschung miteinzubeziehen.<br />
Laut Thierfelder nämlich war<br />
bei den Donauschwaben ein Sprachproblem,<br />
das auch anderwärts zu beobachten war,<br />
besonders brennend geworden.<br />
"Der Auslandsdeutsche, der ganz und gar in der<br />
Mundart aufwuchs und keinen oder nur unzulänglichen<br />
Unterricht in hochdeutscher Sprache erhielt,<br />
beherrschte diese vielfach weniger als der Nichtdeutsche,<br />
der sie als Fremdsprache gelernt hatte." 1<br />
Dabei werden nicht nur Gemeinsamkeiten,<br />
sondern auch regionale Eigenheiten beachtet.<br />
Für literarische Texte gelten innerhalb<br />
unserer Vorüberlegungen fiktionale Texte<br />
jeglicher Art.<br />
Definition der Begriffe<br />
Unter den donauschwäbischen Existenzformen<br />
der deutschen Sprache sind die<br />
donaudeutschen Dialekte gemeint, die in den<br />
heute serbischen Teilen des Donauraumes<br />
vom Ende des 17. Jh. an heimisch geworden<br />
sind.<br />
*) "Rumpfjugoslawien" sowie "rumpfjugoslawisch"<br />
lehnt sich an die in historiographischen Arbeiten<br />
übliche Bildung "Rumpfungarn" für das Ungarn nach<br />
<strong>19</strong>18. Die Bezeichnung wird hier nicht als Werturteil,<br />
sondern als Ersatz für die sperrigen Wortgruppen<br />
"das (/dem) 3. Jugoslawien (angehörig)" bzw. "das<br />
(/dem) Dayton-Jugoslawien Miloševićs (angehörig)"<br />
verwendet.<br />
1 Thierfelder, Franz, "Deutsche Sprache im Ausland",<br />
in: Wolfgang Stammler [Hg], Deutsche Philologie im<br />
Aufriß. (Berlin:) Schmidt (<strong>19</strong>78). Bd 1: Sp. 1417.
Unter den donauschwäbischen Existenzformen<br />
der deutschen Literatur sind die<br />
donaudeutschen fiktionalen Texte gemeint,<br />
deren Autoren aus den heute serbischen<br />
Teilen des Donauraumes stammen. Die<br />
Texte von Angehörigen der Erlebnisgeneration,<br />
wenn sie allein historiographisch ausgerichtet<br />
sind, oder die der sog. Heimatbücher,<br />
werden hier nicht berücksichtigt, wenn<br />
sie die faktographische Authentizität eines<br />
Geschichtswerkes und nicht die transponierte<br />
eines sprachlichen Kunstwerkes anstreben.<br />
Unter den Donauschwaben/-deutschen<br />
sind die von den Habsburgern in die ca. 160<br />
Jahre lang durch die Osmanen besetzt gehaltenen<br />
und infolge davon wirtschaftlich<br />
und kulturell devastierten Gebiete des<br />
einstigen Königreiches Ungarn nach seiner<br />
Befreiung planmäßig angesiedelten Deutschen<br />
gemeint. Ihre Zusammengehörigkeit<br />
ergibt sich nicht so sehr daraus, daß sie auf<br />
eine dreihundertjährige Vergangenheit<br />
zurückblicken [dass., S. 289a] sondern, daß<br />
sie - so H. Klocke im Jahre <strong>19</strong>36 - in ihrem<br />
Werden als Einheit zu fassen sind [a.a.O.].<br />
Die weitaus meisten dieser sog. Donauschwaben<br />
verließen zwischen <strong>19</strong>44-<strong>19</strong>58 die<br />
seit <strong>19</strong>18 gesamtjugoslawischen Teile dieser<br />
Gebiete als Flüchtlinge, Vetriebene oder<br />
Aussiedler.<br />
3. Forschungsstand<br />
In den Gebieten Restjugoslawiens gibt es<br />
eine Germanistik seit <strong>19</strong>05 in Belgrad und<br />
seit <strong>19</strong>54 in Novi Sad/Neusatz. Die donauschwäbischen<br />
Existenzformen der deutschen<br />
Sprache wurden dabei zunächst einmal allein<br />
von der Belgrader als der bis <strong>19</strong>54 einzigen<br />
Germanistik innerhalb der Dayton- bzw. der<br />
rumpfjugoslawischen Grenzen systematisch<br />
berücksichtigt. Die literarischen Produkte der<br />
Donauschwaben wurden indessen in der<br />
jugoslawischen Germanistik vor <strong>19</strong>41 nicht<br />
behandelt und nach dem 2. Weltkrieg wohl<br />
einmal und auch dann allein anläßlich einer<br />
im Ausland stattgefundenden Fachtagung 2 .<br />
2 Vgl. Katalin Hegedüs-Kovačević, "Arbeiterbewegung<br />
und Arbeiterdichtung in der Batschka und im<br />
Banat bis <strong>19</strong>14", in: Arbeiterbewegung und Arbeiterdichtung.<br />
Beiträge zur Geschichte der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterbewegung im Sudeten/, Karpaten/<br />
und Donauraum. Referate gehalten in Stockerau am<br />
246<br />
Zoran Žiletić<br />
Nach <strong>19</strong>45 bis anfang der 90/er Jahre<br />
wurden die donauschwäbischen Existenzformen<br />
der deutschen Sprache und Literatur<br />
zwar von den jugoslawischen Germanisten<br />
behandelt aber nur außerhalb der einheimischen<br />
germanistischen Lehre und Forschung,<br />
wenn man von zwei Ausnahmen absieht. 3<br />
4. Einordnungsfragen<br />
Es gibt insgesamt zwei Fragestellungen<br />
zur Einordnung der donauschwäbischen<br />
Existenzformen der deutschen Literatur: (a)<br />
die des Standortes sowie (b) die des künstlerischen<br />
Wertes.<br />
So stellt sich unter (a) die Frage, ob die<br />
literarischen Produkte der Deutschen aus<br />
dem serbischen Donaugebiet innerhalb einer<br />
um die donauschwäbischen Autoren dieses<br />
Gebietes erweiterten Geschichte der deutschen<br />
Literatur oder innerhalb einer eigenen<br />
Geschichte sämtlicher nichtserbophonen Literaturen<br />
dieses Gebietes erforscht // gelehrt<br />
werden sollten. Horst Fassel weist in einem<br />
anderen Zusammenhang darauf hin, daß man<br />
seit den 60-er Jahren in Rumänien die<br />
deutschsprachige Literatur des Landes als<br />
rumänien- und in Ungarn als<br />
ungarndeutsches Schrifttum bezeichnet.<br />
Darin erkennt er die Absicht, die jeweilige<br />
deutsche Literatur als Teil der rumänischen<br />
bzw. der ungarischen Staatskultur einzusetzen,<br />
weshalb man in diesen Ländern die<br />
Bezeichnung ‘Donauschwaben’ und ‘donauschwäbische<br />
Literatur’ ablehne 4 . Auch Karl<br />
Kurt Klein spricht in seiner Arbeit "Ungarn<br />
in der deutschen Dichtung" vom deutschen<br />
3.-4. September <strong>19</strong>87 im Rahmen der "Mattersburger<br />
Gespräche", Stuttgart: Seliger Archiv e. V., 9 (<strong>19</strong>88),<br />
S. 27-36.<br />
3 Vgl. dazu Emilija Grubačić, Glasovni sistem i<br />
oblici njemačkog narječja sela Gudurice [Das Lautsystem<br />
und die Formen der deutschen Mundart des<br />
Dorfes Kudritz], Zagreb <strong>19</strong>58 [Diss., maschinenschriftl.]<br />
sowie "Jedan primjer paralelne metafore u<br />
banatskim jezicima" [Ein Beispiel der parallelen<br />
Metapher in den Banater Sprachen], in: Radovi<br />
Filozofskog fakulteta u Sarajevu, Sarajevo 3(<strong>19</strong>65),<br />
S. 269-272 vom gleichen Autor; die die donauschwäbische<br />
Sprache und Literatur betreffenden Arbeiten,<br />
die unsere Autoren im Ausland publiziert / fürs<br />
Ausland angefertigt haben, sind hier im Anhang 1<br />
bibliographisch erfaßt.<br />
4 Diese Tendenz konnte es allerdings weder in Ex-<br />
noch in Rumpfjugoslawien geben, da es dort, wie hier<br />
schon vermerkt wurde, nach <strong>19</strong>50 keine deutsche<br />
Literatur einer einheimischen Bevölkerung mehr gab.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Donauschwäbische Existenzformen der deutschen Sprache und Literatur<br />
des serbischen Donauraums<br />
Schrifttum auf dem ungarischen Boden als<br />
von einem Teil der deutschen Dichtung.<br />
Dieses Schrifttum habe allerdings seine<br />
Eigenproblematik und sei dadurch ohne<br />
Belang für sein Thema bis auf das es zum<br />
Verständnis der Verflochtenheit der deutschungarischen<br />
Geistesbeziehung Erwähnung<br />
verdiene. 5<br />
donauschwäbischen Existenzformen der<br />
deutschen Sprache und Literatur ohne eine<br />
voraufgehende Einführung in die donauschwäbische<br />
Ansiedlungs-/ und politische<br />
Geschichte einschließlich der politischen<br />
Geschichte der serbisch-deutschen Beziehungen<br />
praktisch unmöglich.<br />
Die Ansiedlungsgeschichte ihrerseits<br />
Unter (b) stellt sich die Frage, wo sich<br />
die literarischen Produkte der Deutschen aus<br />
macht eine geraffte Einführung in die Ge-<br />
dem serbischen Donaugebiet auf der aktuschichte<br />
des Apostolischen Königreiches<br />
ellen Wertskala befinden. Davon hängt Ungarn und somit auch des Karpatenbeckens<br />
nämlich ab, ob sie überhaupt berücksichtigt bis <strong>19</strong>18 und anschließend auch noch der<br />
werden können und wenn ja, dann innerhalb dem Versailles-Jugoslawien zugefallenen<br />
welch eines Konzepts. So werden z. B. die Teile des historischen Südungarn erforder-<br />
donauschwäbischen Existenzformen der lich. Unabwendbar erscheint auch eine knapp<br />
deutschen Literatur von den Goethe-Insti- gehaltene Darstellung vor allem der<br />
tuten wegen der nur regionalen Bedeutung Geschichte der Donauschwaben als natio-<br />
dieser Produkte mit der Begründung zunaler Minderheit im Versailles-Jugoslawien<br />
nächst ausgespart, man könne allein Texte und speziell des Kulturbundes, dessen Funk-<br />
vom überregionalen Rang berücksichtigen. tion trotz seiner ganz späten Nazifizierung<br />
im Juni <strong>19</strong>39 als von Anfang an nazistisch<br />
5. Didaktisierungsfragen<br />
dargestellt wird, sowie ihrer größtenteils<br />
Ein gravierendes Problem bei der Ver- unfreiwillige Verwicklung in die Kriegsgemittlung<br />
von Kenntnissen über die Donauschehnisse im besetzten Jugoslawien.<br />
schwaben insgesamt und in Rumpfjugo-<br />
Erfahrungen bei der Vermittlung vom<br />
slawien insbesondere stellt die jahrzehnte-<br />
historischen Wissen über die Donauschwalange<br />
Verteufelung sämtlicher Donauschwaben<br />
an die Belgrader Germanistikstudenten<br />
ben durch die Schule, die öffentlichen<br />
sind im bescheidenen Umfang bereits vor-<br />
Medien sowie die offizielle Geschichtshanden.<br />
So fand im akademischen Jahr<br />
schreibung sowohl im Gesamt-/ als auch im<br />
<strong>19</strong>92/<strong>19</strong>93 versuchsweise eine einstündige<br />
Rumpfjugoslawien dar. Diese Verteufelung<br />
wöchentliche Einführung in die deutsche<br />
ist um so zählebiger, als sie alle das sowjeti-<br />
Sprache und Zivilisation im restjugoslasierte<br />
Jugoslawien // Serbien ablehnenden<br />
wischen Donauraum für die im siebten<br />
Teilen der ex-/ und restjugoslawischen / der<br />
Semester stehenden Germanistikstudenten<br />
serbischen Bevölkerung unermüdlich einbe-<br />
statt. So viel Zeit für eine derartige<br />
zieht. In der leider zählebigen sprachlichen<br />
Einführung wird es allerdings kaum je<br />
Parallelwelt des Kommunisten Tito und des<br />
wieder geben. Als Alternative bietet sich zu-<br />
Neokommunisten Milojevičs wird nämlich<br />
nächst der Versuch einer Zusammenfassung<br />
das Gleichheitszeichen zwischen allen ihren<br />
und Integrierung dieses Stoffes in die Ge-<br />
Gegnern einerseits, gleich welcher Proveschichte<br />
der deutschen Sprache sowie in die<br />
nienz, und sämtlichen Donauschwaben ande-<br />
Landeskunde für Germanisten an.<br />
rerseits gesetzt, wobei sie seit länger als<br />
einem halben Jahrhundert alle vorbehaltlos<br />
Normalerweise wäre eine derartig weit<br />
bei jeder Gelegenheit als Faschisten / als<br />
gefaßte Geschichte eines Sprachträgers nicht<br />
Fünfte Kolone / als Hochverräter etikettiert<br />
erforderlich, wäre sie / wie hier schon ange-<br />
werden. Dies macht eine Einführung in die<br />
deutet wurde / nicht zum Politikum herangezüchtet.<br />
Einen kleinen aber bedeutenden<br />
Schritt im entgegengesetzten Prozeß der<br />
5 Desatanisierung stellt die <strong>19</strong>97 stattgefun-<br />
Klein, Karl Kurt, "Ungarn in der deutschen<br />
Dichtung", in: Stammler, Wolfgang [Hg], Deutsche dene Besichtigung des Hauses der Dona-<br />
Philologie im Aufriß. (Berlin) Schmidt (<strong>19</strong>62). Bd 3, uschwaben in Sindelfingen durch eine <strong>20</strong>-<br />
Sp. 551.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 247
köpfige Studentengruppe von der Belgrader<br />
Germanistik dar - die erste überhaupt. Sie<br />
konnte an ein zweiwöchiges Praktikum für<br />
diese Studenten an der Univ. Tübingen angeschlossen<br />
werden. Auch bei der Gelegenheit<br />
zeigten sich die Folgen der Tabuisierung des<br />
Deutschtums im Südosten 6 .<br />
Als Alternativen böten sich entweder die<br />
stillschweigende Anerkennung des aus der<br />
Schule mitgebrachten irreführenden ideologisierten<br />
/ mythologisierten Wissens über<br />
den ‘Weg und das Ende’ dieser Volksgruppe<br />
in Ex-Jugoslawien Titos, oder gar das konforme,<br />
stillschweigende Aussparen des<br />
Sprach-/ und literarischen Stoffes, den die<br />
Donauschwaben hinterlassen haben. Dies war<br />
ohnehin ein halbes Jahrhundert lang in der<br />
Germanistik gesamtjugoslawisch die Regel.<br />
Auf eine Wende zugunsten der Danubianosuevica<br />
in Restjugoslawien kann man<br />
natürlich erst dann hoffen, wenn nebst dem<br />
guten Willen auch noch der Ansatz zu einer<br />
donauschwäbischen Philologie erarbeitet ist.<br />
Ansätze zu einer Anthologie der donauschwäbischen<br />
Autoren aus Rumpfjugoslawien<br />
für Germanistikstudenten sind auch<br />
vorhanden. Franz Hutterer und Zoran Žiletić<br />
haben zunächst einmal eine vorläufige Auswahl<br />
von Autoren getroffen, worunter allerdings<br />
nicht restlos alle fiktionale Texte verfaßt<br />
haben. Was noch ganz fehlt, sind mundartliche<br />
Texte sowie Proben aus der sog.<br />
Kalenderliteratur. 7<br />
Der erste, von Stefan Teppert herausgegebene<br />
Band einer Anthologie sämtlicher<br />
donauschwäbischen Autoren läßt auf<br />
6 Daß die Folgen der Ideologisierung des Themas<br />
"Deutsche außerhalb des Mutterlandes" überall ähnlich<br />
sein können, zeigt sich auch im Osten der neuen<br />
Bundesrepublik. So meinte Prof. Dr. Carola L. Gottzmann<br />
in einem Interview zu ihrer Lehrtätigkeit in<br />
Leipzig über Deutsche Literatur und Sprache im östlichen<br />
Europa vom November <strong>19</strong>96 "Ich habe in Leipzig<br />
bei Null angefangen" bzw. "Wenn nicht irgendein<br />
Student .... irgendeine Großmutter hatte, die aus den<br />
ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten stammte,<br />
dann hatte er überhaupt keine Kenntnis davon" [vgl.<br />
Kulturpolitische Korrespondenz <strong>Nr</strong>. 988, Bonn]<br />
7 Im Anhang 3 zu dieser Arbeit ist die vorläufige<br />
Liste zur Einsicht angeboten.<br />
248<br />
Zoran Žiletić<br />
Lückenlosigkeit der künftigen regionalen<br />
Anthologien hoffen 8 .<br />
Perspektiven<br />
Es gibt Anzeichen dafür, daß die zur<br />
Wiederbelebung des Faches erforderliche<br />
Lockerung der Tabuierung durch Anhebung<br />
des entideologisierten Wissenspegels erreicht<br />
wurde. Es wurde Neugier resp. Sensibilisierung<br />
für die Danubianosuevica geweckt<br />
sowie die Frage des untergeordneten Ranges<br />
ihrer literarischen Leistungen aufgeworfen.<br />
Daß es die Neugier bis vor kurzem auch<br />
anderswo nicht geben konnte, zeigt das Buch<br />
Unerkannt und (un)bekannt. Deutsche<br />
Literatur in Mittel/ und Osteuropa hgg von<br />
Carola L. Gottzmann. Auch die blosse<br />
inhaltliche Systematik der Untersuchungsgegenstände<br />
aus dem Bereich des donauschwäbischen<br />
Geisteslebens wir hoffentlich<br />
bald überwunden sein. 9<br />
L i t e r a t u r :<br />
I. Sprachwissenschaftliche Texte:<br />
1. Brežnik, Pavel (<strong>19</strong>35): Die Mundart der<br />
hochdeutschen Ansiedlung Franztal in Jugoslawien.<br />
Zur Heimatfrage der Siebenbürger<br />
Sachsen. Belgrad ( = Bibliothek des Germanistischen<br />
Instituts der Belgrader Universität,<br />
Bd 2).<br />
2. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>58): Glasovni sistem i<br />
oblici njemačkog narječja sela Gudurice [Das<br />
Lautsystem und die Formen der deutschen<br />
Mundart des Dorfes Kudritz]. Zagreb [Diss.,<br />
maschinenschriftlich].<br />
8<br />
Siehe unter Teppert, Stefan in Literatur <strong>II</strong> zu dieser<br />
Arbeit.<br />
9<br />
So ist z. B. die Übersicht der Arbeiten zu donauschwäbischen<br />
Sprache und Literatur von Anton<br />
Tafferner unter dem Titel "Donauschwäbische<br />
Wissenschaft. Versuch einer geistigen Bestandsaufnahme<br />
und einer Standortbestimmung von den Anfängen<br />
bis zur Gegenwart. 1. Teil", in: Senz, Josef<br />
Volkmar, Donauschwäbische Lehrer- und Forschungsarbeit.<br />
25 Jahre ADL: <strong>19</strong>47-<strong>19</strong>72. München:<br />
Arbeitsgemeinschaft Donauschwäbischer Lehrer im<br />
Südostdeutschen Kulturwerk <strong>19</strong>87 (= Bd 5: Donauschwäbisches<br />
Archiv. Reihe I), S. 9-142, eine Bestandsaufnahme<br />
mit heute nicht mehr zufriedenstellenden<br />
inhaltlichen Systematik. Vgl. auch Carola L.<br />
Gottzmann "Es ist natürlich schwierig, die Masse der<br />
Literatur im östlichen Europa, der deutschen Literatur,<br />
ästhetisch zu erfassen. Da ist meines Erachtens<br />
viel zu wenig getan worden. Es sind die Texte, die<br />
Autoren bekannt, aber jetzt fehlt es an Analysen der<br />
Texte" [Quellenhinweis unter 7].<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Donauschwäbische Existenzformen der deutschen Sprache und Literatur<br />
des serbischen Donauraums<br />
3. Grubačić, Emilija [<strong>19</strong>63]: Die Mundart von 3. Fassel, Horst, "Die donauschwäbische Litera-<br />
Karlsdorf (Banat). Münster: Deutsches tur und ihre Entwicklung vom 18. bis zum <strong>20</strong>.<br />
Spracharchiv.<br />
Jahrhundert", in: Eberl, Immo et. al. [Bearb.]:<br />
4. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>65a): "Jedan primjer<br />
paralelne metafore u banatskim jezicima" [Ein<br />
Beispiel der parallelen Metapher in den<br />
Die Donauschwaben. Deutsche Siedlung in<br />
Südosteuropa. Ausstellungskatalog. Sigmaringen:<br />
Thorbecke (<strong>19</strong>89). S. 289-291.<br />
Banater Sprachen], in: Radovi Filozofskog 4. Fassel, Horst //Josef Schmidt: Banater Lese-<br />
fakulteta u Sarajevu 3, Sarajevo, S. 269-272. buch. Emmendingen <strong>19</strong>86 [Textsammlung].<br />
5. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>65b): "Koiné-Bestre- 5. Fittbogen, Gottfried: Was jeder Deutsche vom<br />
bungen in der deutschen Halbmundart", in: Grenz- und Auslandsdeutschtum wissen muß.<br />
Verhandlungen des 2. Internationalen Dia- München-Berlin: <strong>19</strong>37, 245 S.<br />
lektologenkongresses, Marburg/Lahn, 5.-10.<br />
9. <strong>19</strong>65, Bd 1, S. 295-301.<br />
6. Hockl, Hans Wolfram: Heimatbuch der Donauschwaben.<br />
München: o.J. [Textsamm-<br />
6. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>70): "Kriva Bara, lung].<br />
Banat". In: Phonai. Lautbibliothek der europäischen<br />
Sprachen und Mundarten. Deutsche<br />
Reihe. Tübingen, Bd 6, S. 133-187.<br />
7. J. S. K.: "Versuch einer Geschichte der<br />
Deutschen Sprache in Ungarn, samt ihren<br />
verschiedenen Dialekten", in: K. k. Wiener<br />
7. Grubačić, Emilija (<strong>19</strong>71): "Knićanin/Banat", Anzeigen, Bd 3(1773)109-118 [vgl. den Hin-<br />
in: Phonai. Lautbibliothek der europäischen weis auf diese Arbeit bei Schmeller, Johann<br />
Sprachen und Mundarten. Deutsche Reihe. Andreas: Bayerisches Wörterbuch. Leipzig:<br />
Tübingen, Bd 9, S. 8-94.<br />
Koehler <strong>19</strong>39 ].<br />
8. Janko, Anton (<strong>19</strong>78): "Deutsche Sprachinsel 8. Klein, Karl Kurt: Literaturgeschichte des<br />
Gottschee (Koöevje)", in: Michigen Germanic Deutschtums im Ausland. Leipzig: <strong>19</strong>39.<br />
Studies 4.1, S. 86-100.<br />
9. Müller/Guttenbrunn, Adam: Ruhmeshalle<br />
9. Popadić, Hanna (<strong>19</strong>78): Deutsche Siedlungs- deutscher Arbeit in der österreichisch/-ungamundarten<br />
aus Slawonien (Jugoslawien). rischen Monarchie. Stuttgart/Berlin: <strong>19</strong>16.<br />
Tübingen ( = Phonai. Lautbibliothek der<br />
europäischen Sprachen und Mundarten.<br />
Deutsche Reihe).<br />
10. Müller-Guttenbrunn, Adam [Einleitung]:<br />
Schwaben im Osten. Dichterbuch aus Ungarn.<br />
Heilbronn: <strong>19</strong>11 [Textsamml.].<br />
10. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>33): Die deutsche<br />
Mundart von Bela Crkva (Weißkirchen).<br />
Beograd ( = Bibliothek des Germanistischen<br />
Institutes der Belgrader Universität, Bd 1).<br />
11. Petri, Martha: Das Schrifttum der Südostschwaben<br />
in seiner Entwicklung von den Anfängen<br />
bis zur Gegenwart. Diss. Berlin,<br />
Novivrbas-Neuwerbas, <strong>19</strong>40.<br />
11. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>35): Die deutsche<br />
Mundart von Vrüac (Werschetz). Beograd ( =<br />
Bibliothek des Germanistischen Institutes der<br />
Belgrader Universität, Bd 3).<br />
12. Weifert, Ladislaus (<strong>19</strong>60): "Grundsätzliche<br />
Probleme und Erkenntnisse im Lichte der<br />
südostdeutschen, insbesondere Banater<br />
Mundartforschung", in: Zeitschrift für Mundartforschung<br />
27, S. 115-128.<br />
<strong>II</strong>. Literaturwissenschaftliche und anthologische<br />
Texte:<br />
10<br />
12. Petri, Martha: Donauschwäbisches Dichterbuch.<br />
Wien und Leipzig: <strong>19</strong>39 [Textsammlung].<br />
11<br />
13. Scherer, Anton: Die Literatur der Donauschwaben<br />
als Mittlerin zwischen Völkern und<br />
Kulturen. Graz: Selbstveralg <strong>19</strong>72, <strong>19</strong> S.<br />
14. Scherer, Anton: Die nicht sterben wollten.<br />
Donauschwäbische Literatur von Lenau bis<br />
zur Gegenwart. Freilassing <strong>19</strong>59, 259 S.<br />
( 2 <strong>19</strong>85, Graz) [Textsamml.].<br />
15. Scherer, Anton: Einführung in die Geschichte<br />
der donauschwäbischen Literatur. Graz:<br />
Selbstverlag <strong>19</strong>60, 31 S.<br />
1. Diplich, Hans / Hans Wolfram Hockl: Heimat<br />
im Herzen. Wir Donauschwaben. Salzburg:<br />
<strong>19</strong>50 [Textsamml.].<br />
2. Engel, Walter: Deutsche Literatur im Banat<br />
. Der Beitrag der Kulturzeitschriften<br />
zum banatschwäbischen Geistesleben.<br />
Heidelberg: <strong>19</strong>82.<br />
16. Scherer, Anton: Schöpferische Donauschwaben.<br />
Bd 1: Der donauschwäbische An-<br />
10 Es war die erste Überblicksdarstellung der donauschwäbischen<br />
Literatur<br />
11 Es handelt sich um eine Textauswahl aus dem<br />
literarischen Gesamtschaffen der Donauschwaben<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 249
250<br />
teil am österreichischen Schrifttum. Wien:<br />
<strong>19</strong>57.<br />
17. Schneider, Wilhelm: Die Auslandsdeutsche<br />
Dichtung unserer Zeit. Berlin: <strong>19</strong>36.<br />
18. Stein, Jacob: Fünfundzwanzig Jahre deutschen<br />
Schrifttums im Banate. Beitrag zur<br />
deutschbanater Geistesgeschichte der Jahre<br />
1890-<strong>19</strong>15. Temeswar: <strong>19</strong>15.<br />
<strong>19</strong>. Streit, Karl / Josef Zirenner [Auswahl u. Einleitung]:<br />
Schwowische Gsätzle ausm Banat.<br />
Gedichte in Banater Mundart. Temeswar:<br />
<strong>19</strong>69 [Textsammlung].<br />
<strong>20</strong>. Teppert, Stefan [Hg]: Die Erinnerung bleibt.<br />
Donauschwäbische Literatur seit <strong>19</strong>45. Eine<br />
Anthologie. Sersheim: Hartmann (<strong>19</strong>95)<br />
[Textsammlung].<br />
<strong>II</strong>I. Liste von Autoren, deren Texte für<br />
die Existenzformen der donauschwäbischen<br />
Literatur aus dem Teil des heute serbischen<br />
Donauraums für repräsentativ gelten können:<br />
Zoran Žiletić<br />
*<br />
* *<br />
1. Johannes Weidenheim<br />
2. Kaäa Celan<br />
3. Franz Bahl<br />
4. Franz Hutterer<br />
5. Otto Alscher<br />
6. Marie Eugenie delle Grazie<br />
7. Hans Diplich<br />
8. Bruno Kremling<br />
9. Andreas Laubach<br />
10. Konrad Gerescher<br />
11. Roland Vetter<br />
12. Josef Haltmayer<br />
13. Jakob Wolf<br />
14. Hans Thurn<br />
15. Johan Petri<br />
16. Adalbert Karl Gaus<br />
17. Friedrich Lotz<br />
18. Felix Milleker<br />
<strong>19</strong>. Wendelin Gruber<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
GÜNTER GRASS – NOBELPREISTRÄGER <strong>19</strong>99<br />
DIE SACHE, OHNE DIE SACHE ZU SEIN, UND DOCH DIE SACHE *) . ZUR<br />
VIELSCHICHTIGEN SYMBOLIK IN GÜNTER GRASS’ KATZ UND MAUS<br />
Katz und Maus 1 , die geniale Jugendnovelle<br />
von Günter Grass, bewegt sich<br />
thematisch, weltanschaulich und künstlerisch<br />
auf vielen verschiedenen, aber eng verbundenen<br />
Ebenen. Eine wesentliche Rolle<br />
spielt dabei (neben der raffinierten fiktionsironischen<br />
Erzählperspektive 2 ) die ebenso<br />
vielschichtige Symbolik, deren Art und<br />
Funktion in diesem Vortrag erörtert werden<br />
soll.<br />
Die Erzählung 3 thematisiert erstens die<br />
Mentalität der deutschen Bevölkerung zur<br />
Zeit des Zweiten Weltkriegs, exemplifiziert<br />
durch die 'unschuldigen' Kinder und Jugendlichen<br />
in Grass' Geburtsstadt Danzig (Grass<br />
ist Jahrgang <strong>19</strong>27 und schildert also die eigene<br />
Generation an diesem besonderen welthistorischen<br />
Brennpunkt, obwohl kaum in<br />
Einzelheiten sehr weitgehend autobiographisch).<br />
Geschildert wird aus der Jugendperspektive<br />
natürlich auch die nicht einmal<br />
scheinbar 'unschuldige' Erwachsenengeneration<br />
(Eltern, Geistliche und Funktionsträger<br />
der Nazi-Welt wie Lehrer und<br />
Offiziere). Frappierend ist dabei die scheinbare<br />
Normalität und die mit Händen zu<br />
greifende Alltäglichkeit, aber das ist m.E.<br />
*) Goethe: Nachtrag zu Philostrats Gemälde, Weimarer<br />
Ausgabe, 1. Abt. 49/1, S. 142 (Hanser Ausgabe,<br />
München <strong>19</strong>93, Bd.13.2, S. 27).<br />
1 Grass, Günter: Katz und Maus, rororo 572, Reinbek<br />
bei Hamburg <strong>19</strong>63, 675. Tausend <strong>19</strong>73 (Erstausgabe<br />
Luchterhand Velag, Neuwied/Berlin-Spandau <strong>19</strong>61;<br />
Werkausgabe Bd. <strong>II</strong>, hg. v. Volker Neuhaus, Luchterhand,<br />
Neuwied/Darmstadt <strong>19</strong>87.<br />
2 Vgl. dazu Tiesler, a.a.O., S. 97-117.<br />
3 Grass bezeichnet sie selbst auf dem Titelblatt als<br />
Eine Novelle. Auf die Diskussion des 'Novellistischen'<br />
kommen wir noch zurück.<br />
Bjørn Ekmann<br />
eine ungeheure Provokation, die den Leser<br />
zum Nachdenken nicht nur über die<br />
Brutalisierung von Denken und Verhalten in<br />
der Nazizeit, sondern auch über das<br />
’Normale’ von heute veranlassen soll.<br />
Zweitens wird scheinbar beiläufig, aber<br />
sehr suggestiv und intensiv, durch die besondere<br />
Perspektive der zurückblickenden<br />
und dabei ausgesprochen unglaubwürdigen<br />
Erzähler-Figur 4 , die Frage nach der Nachwirkung<br />
der Nazizeit und des Krieges und<br />
nicht zuletzt der Mitschuld gestellt, womit<br />
sich die Erzählung in die u.a. von der<br />
"Gruppe 47" getragene Tradition der versuchten<br />
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />
5 , bzw. der demokratischen und<br />
humanistischen Aufklärungsarbeit einschreibt.<br />
Drittens: Unverkennbar wird als Hauptmerkmal<br />
der Mentalität im Dritten Reich die<br />
Kleinbürgerlichkeit gezeigt (in mehreren Bedeutungen<br />
dieses Begriffes) 6 . Ohne dass das<br />
eigens ausdrücklich betont wird, geht daraus<br />
klar hervor, dass sich in der demokratisierten<br />
und reformierten, aber restaurativen Bundesrepublik<br />
daran im Grunde wenig verändert<br />
hat - für die wirklich tiefgehende Vergangenheitsarbeit<br />
und die Vorbeugung einer<br />
Wiederholung der Geschichte also eine<br />
Menge Aufklärungs- und Emanzipationsarbeit<br />
noch zu leisten ist. Diese Implikation<br />
ist auch verstanden worden und hat nicht unerheblich<br />
zur wütenden Reaktion im<br />
4 Vgl. dazu Krumme.<br />
5 nicht etwa Bewältigung der Vergangenheit; die<br />
darin enthaltene Implikation von ”damit Fertigwerden”<br />
hat Grass noch schärfer als die Gruppe 47<br />
abgelehnt.<br />
6 Vgl. dazu Koopmann; siehe auch Tiesler, S. 59-84.
konservativen Teil der bundesdeutschen<br />
Öffentlichkeit beigetragen (das DDR-<br />
Publikum durfte damals Grass gar nicht lesen<br />
und dabei womöglich zu Reflexionen über<br />
kleinbürgerliches Gedankengut im eigenen<br />
sozialistischen System veranlasst werden).<br />
Viertens: Die Novelle ist nicht nur aus<br />
der Sicht damaliger Pubertärer erzählt, sondern<br />
thematisiert auch ausführlich und intensiv<br />
gerade das Pubertäre - sowohl dessen Zusammenhang<br />
mit der Nazi-Mentalität wie<br />
auch überhaupt die entwicklungspsychologische<br />
Problematik der Sexualität, der<br />
Identitätskrise und der Selbstfindung. Dabei<br />
verletzt Günter Grass etliche Tabus und Geschmacksgrenzen<br />
der Leser.<br />
Dem persönlichen Zeugnis Flensburger<br />
Freunde verdanke ich den Hinweis darauf,<br />
dass damals auch junge und betontermaßen<br />
'linke' Intellektuelle etwas angewidert fragten:<br />
"Muss das so obszön sein?". Aus heutiger<br />
Sicht leuchtet eher ein, dass das in der<br />
Optik von Grass gerade eben sein musste,<br />
weil Tabuierung für ihn ein so wesentlicher<br />
Teil der nicht-aufgeklärten, autoritären und<br />
hinten herum immer noch potentiell gewalttätigen<br />
Mentalität geblieben war - und weil<br />
nach seiner Auffasung die Alternative zur<br />
emanzipierten Sexualität nicht sublimierte<br />
Geistigkeit, sondern verklemmte und perverse<br />
und grausame Sexualität ist 7 .<br />
5) Spätestens bei dieser Dimension der<br />
Novelle wird deutlich, dass die beunruhigenden<br />
Fragen nicht auf die Nazizeit<br />
und deren Nachwirkungen beschränkt<br />
bleiben. Grass schreibt sich mit dieser erschütternd<br />
wahrhaftigen und hautnah erlebten<br />
jugendpsychologischen Studie in eine<br />
Tradition der ”jungen Leiden” von Rousseau<br />
bis Salinger ein und verweist damit auf<br />
Lebensprobleme, die zwar dringend nach<br />
Aufklärung und Reformarbeit verlangen,<br />
unmöglich aber ein für allemal dadurch beseitigt<br />
werden können.<br />
6) Das gilt erst recht, wenn wir im einzelnen<br />
nachvollziehen, wie Grass sowohl anhand<br />
seiner Mahlke-Figur wie auch anhand<br />
von dessen 'Schatten', dem Erzähler, die<br />
Frage nach der Selbstfindung sowohl über<br />
die Pubertätspsychologie als auch über die<br />
besondere Nazizeit-Bedingtheit hinaus- und<br />
in die Dimension der generellen philo-<br />
7 Zur Dingsymbolik der verklemmten und verbogenen<br />
Sexualität, vgl. vor allem Roberts.<br />
252<br />
Bjørn Ekmann<br />
sophischen Fragen nach Existenz und Sinn,<br />
nach Schicksal und Willensfreiheit und nach<br />
ethischer Verantwortlichkeit hineingehoben<br />
hat 8 .<br />
Die Grass-Forschung ist von allem Anfang<br />
an auf die Symbolik bei Grass aufmerksam<br />
gewesen – allerdings oft unter Abstandnahme<br />
von dem Terminus Symbol, z.T. auf<br />
Grass selbst gestützt, der z.B. in einem Interview<br />
im amerikanischen Life 9 kurzerhand<br />
behauptete: Symbols are nonsense – when I<br />
write about potatoes, I mean potatoes.<br />
Niemand leugnet natürlich, dass dieser<br />
phantasiereiche Autor etwas mit seinen Kartoffeln<br />
macht, wenn er sie künstlerisch gestaltet.<br />
Die Frage ist nur, ob man das Symbolik<br />
nennen soll. G.Just zum Beispiel 10<br />
möchte lieber in Anlehnung an T.S. Eliot 11<br />
und Wellek & Warren 12 von einem objektiven<br />
Korrelat sprechen ("Materialisation des<br />
Psychischen“ gerade eben kraft der tatsächlichen<br />
Funktion des konkreten Gegenstandes<br />
im konkreten Handlungsverlauf – der ja freilich<br />
eine fiktive Realität ist, so wie ja auch<br />
überhaupt von einer Kommunikation durch<br />
sprachliche Zeichen in einer Textstruktur die<br />
Rede ist). Andere 13 wollen nur von "Gegenständlichkeit“<br />
reden (bzw. von "Gegenstand<br />
und Metapher zugleich“ 14 ) und weisen darauf<br />
hin, dass Grass eben, wie der Graphiker, der<br />
er nicht nur in seiner bildenden Kunst ist,<br />
durch "die Art“, wie die Gegenstände geformt,<br />
gefärbt und in eine Gesamtkonzeption<br />
eingebaut werden, diese Gegenstände "bedeutsam“<br />
macht (als ob damit sofort bewiesen<br />
wäre, dass dann "nicht irgendeine<br />
Verweisung auf einen außerhalb des Bildes<br />
8 Vgl. dazu Stolz a.a.O., S. 10-11.<br />
9 Life LV<strong>II</strong>I, 22, S. 51<br />
10 Just, G.: Darstellung und Appell in der ”Blechtrommel”<br />
von Günter Grass. Darstellungsästhetik<br />
versus Wirkungsästhetik, Frankf. a. M. <strong>19</strong>72. Vgl.<br />
auch dessen Beitrag zu Jurgensen, M.: Kritik, Thesen,<br />
Analysen, Bern, 5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 31-44.<br />
11 Eliot, T.S.: Hamlet and His Problems (<strong>19</strong><strong>19</strong>), in:<br />
Selected Prose, Harmondsworth, 3. Aufl. <strong>19</strong>58, S.<br />
107.<br />
12 Theory of Literature, New York <strong>19</strong>42.<br />
13 Baier, L.: Weder ganz noch gar. Günter Grass und<br />
das Laborgedicht , in: Text + Kritik 1/1a, 4. Aufl.<br />
<strong>19</strong>71, S. 67-71. Neuhaus, Volker: Günter Grass, 2.<br />
überarb. u. erw. Ausg., Sammlung Metzler 179,<br />
Stuttg./Weimar <strong>19</strong>93.<br />
14 Baier, a.a.O., S. 68.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />
in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />
bleibenden Sinn“ 15 mit im Spiele wäre).<br />
Dazu bemerkt m.E. sehr überzeugend<br />
K.L.Tank 16 : ”Dennoch ist der Gegenstand<br />
Bedeutungs- oder Formträger, genauer gesagt:<br />
er wird es im Laufe des (Werkes)”.<br />
Ebenso überzeugend verweist F. Richter 17<br />
darauf, dass die besondere "Gegenständlichkeit“<br />
bei Grass gerade dadurch entsteht, dass<br />
die "Gegenstände“ isoliert dastehen und in<br />
isolierten Episoden aufleuchten – und dass<br />
Grass überhaupt "die gewohnte 'Wirklichkeit‘<br />
zertrümmert" 18 , wodurch der "Gegenstand“<br />
erstens an Gewicht und Bedeutung<br />
gewinnt, zweitens in neue eigene interne<br />
Bezugsstrukturen im Text eingehen kann; ein<br />
Beispiel solcher Bezugsstrukturen wäre die<br />
Leitmotiv-Tech-nik <strong>19</strong> : die "Dinge“ sind zuerst<br />
als "Zeugen“ bei den dramatischen und unbegreiflichen<br />
Ereignissen dabei, werden<br />
dann aber mehrfach wiederholt und verwandeln<br />
sich damit in Träger des Unbegreiflichen,<br />
das sie veranschaulichen und<br />
assoziativ in Erinnerung rufen – was eben<br />
letzten Endes das miteinander in Verbindung<br />
bringt, was zusammenhängt und dadurch<br />
langsam begreiflich wird, begreiflich aber<br />
nicht im Sinne der Vereinfachung, sondern<br />
im Sinne der Einsicht in fremde und fremdbleibende<br />
Personen, Geschehnisse und Zusammenhänge.<br />
– Frizen <strong>20</strong> wiederum bezeichnet<br />
diese textinternen Verweis-<br />
Strukturen als die Entwicklung von Keimmetaphern<br />
zu einem allegorischen Netz.<br />
Mir ist nicht entscheidend wichtig, ob wir<br />
von objektiven Korrelaten, von allegorischen<br />
Netzen, von besonderer Gegenständlichkeit,<br />
von graphischer Bildlichkeit oder von zertrümmerten<br />
Wirklichkeitsbildern reden; jede<br />
dieser Formulierungen trifft m.E. einen<br />
Aspekt des Sachverhalts bei Grass. Nichts<br />
davon scheint mir aber dagegen zu sprechen,<br />
15 Neuhaus, a.a.O., S. 12-13<br />
16 In: Jurgensen, M.: Kritik, Thesen, Analysen, Bern<br />
5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 43.<br />
17 Richter, F.: Die zerschlagene Wirklichkeit. Überlegungen<br />
zur Form der Danzig-Trilogie von Günter<br />
Grass, Bonn <strong>19</strong>77, S. 51-67.<br />
18 In Anlehnung an poetologische Äusserungen von<br />
Döblin (vgl. dazu zusammenfassend Neuhaus<br />
a.a.O.S.3-18)<br />
<strong>19</strong> Vgl. Cepl-Kaufmann, G.: Günter Grass. Eine Analyse<br />
des Gesamtwerks unter dem Aspekt von Literatur<br />
und Politik, Kronberg/Ts. <strong>19</strong>75<br />
<strong>20</strong> Frizen, a.a.O. S.144-169, insbes. S.150.<br />
dass wir Symbole bei Grass untersuchen 21 .<br />
Die genannten Nachweise von komplizierten<br />
Relationen zwischen Abbildung und Verfremdung,<br />
Veranschaulichung und Deutung<br />
stimmen vielmehr beispielhaft mit der paradoxen<br />
Symbol-'Definition‘ Goethes überein:<br />
die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch<br />
die Sache 22 .<br />
Wie ich zu zeigen hoffe, sind die Symbole<br />
bei Grass auch in dem eher landläufigen<br />
Sinne 'symbolisch‘, dass ihre Bildlichkeit<br />
z.T. von wohlbekannten emblematischen<br />
Bedeutungen zehrt, zwar nicht gerade Herz<br />
und Nachtigall und Rose und auch nicht ohne<br />
Ironie, wohl aber teils einleuchtende und aus<br />
Freud- und Jung-Popularisierungen allgemein<br />
vertraute Traum- und Märchen-Symbole,<br />
teils Embleme der verschiedensten<br />
Ideologien – wohlgemerkt aber weder traditionalistisch-stereotyp<br />
noch sarkastisch-satirisch<br />
vereinfachend angewandt, sondern immer<br />
durch ihre gegenseitige oder innere Widersprüchlichkeit<br />
zu Reflexion und Neudenken<br />
anregend (auf einmal verfremdendkritisch<br />
und einfühlend-verständnisvoll).<br />
Wichtig ist mir ferner Folgendes: Die<br />
Weise, wie Grass, bzw. der quasselnde, unzuverlässige<br />
Erzähler Pilenz, albern kommentierend<br />
um die Symbolik kreist, lässt<br />
dem Leser nichts anderes übrig als sich bewusst<br />
deutend und kritisch wertend zu den<br />
21 Ich muss die Behauptung ablehnen, die einigermaßen<br />
einmütig von Geissler, Hille-Sandvoss (s. zusammenfassend<br />
op.cit. S. 2-16), Jurgensen, Just, Wagenbach<br />
und Wieser aufgestellt wird, bei Grass fehle<br />
die für Symbolik unentbehrliche Reflexivität und<br />
Sprachskepsis etwa der deutschen Klassik, der Romantik<br />
und des Modernismus (weil Grass eben auch<br />
bildender Künstler sei und als solcher recht problemlos<br />
„einen gezeichneten Pilz“ mit dem entsprechenden<br />
realen Objekt gleichsetze). Angesichts<br />
eines Jahrhunderts abstrakter, expressionistischer und<br />
konstruktivistischer bildender Kunst halte ich eine<br />
solche Annahme einfach für naiv, und bei Grass kann<br />
ich keinen Anhaltpunkt dafür finden, zumal in Betracht<br />
der offensichtlichen Ambivalenz seiner Erzählperspektive<br />
und der ausdrücklichen Fiktionsironie<br />
seiner Erzähler (bei Pilenz genauso wie bei Oskar<br />
Matzerath). Das schließt natürlich nicht aus, dass die<br />
genannten Forscher richtig und fruchtbar darauf hingewiesen<br />
haben, wie außerordentlich wirksam Grass<br />
seine Bilder anschaulich, gegenständlich und ”sinnlich”<br />
anregend einsetzt.<br />
22 Vgl. Anm. 1!<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 253
Symbolen und zu den durch sie aufgeworfenen<br />
ethischen und existentiellen Problemen<br />
zu verhalten.<br />
Dazu trägt auch die eingangs erwähnte<br />
Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit bei.<br />
Bei beiden Personen (Mahlke und Pilenz)<br />
bleiben sehr viele und sehr wesentliche Fragen<br />
betontermaßen offen: Ist Mahlke damals<br />
gestorben, oder ist er glücklich davongekommen?<br />
Ist der extrem unzuverlässige<br />
und drum herum redende Erzähler schuld am<br />
Tod des Schulfreundes (oder doch mitschuldig,<br />
wie ja die Grauzone der Mitschuld<br />
überhaupt in jenen Jahren deutsches<br />
Schicksal war)? Sind sie beide wehrlose<br />
Opfer einer Kombination von ihrer Pubertätskrise<br />
und der Nazi-Mentalität – bzw.<br />
einer überhaupt absurden und fatalen Welt –<br />
oder aber hätten sie beide andere Wahlmöglichkeiten<br />
gehabt, glücklichere und ethisch<br />
richtigere? Die ungeheuer umfassende Grass-<br />
Literatur gibt auf diese Fragen sehr verschiedene<br />
Antworten.<br />
Es soll meine These sein, dass gerade die<br />
Anwendung der Symbole einerseits zwar<br />
diese und andere Fragen noch mehr kompliziert<br />
und differenziert, andererseits aber zugleich<br />
in einer solchen Weise wirkungsästhetisch<br />
zuspitzt, dass der Leser sich einer<br />
Stellungnahme unmöglich entziehen kann.<br />
Das wiederum heißt, dass der Leser – ob er<br />
nun mehr zur sympathisierenden Nachsicht<br />
oder zur Verurteilung der einen oder der<br />
anderen Person neigt, - für seine eigene Person<br />
eine gewisse (begrenzte) Wahlfreiheit 23<br />
und damit die Verantwortung bejaht, bzw.<br />
aus der Geschichte zu lernen bereit ist.<br />
Dabei hat es seine Grenzen, wieviel man<br />
aus der Geschichte lernen kann, so wie Geschichte<br />
von Grass verstanden und dargestellt<br />
wird. Vgl,dazu vor allem Karthaus 24 ,<br />
der sehr überzeugend ein Zitat aus Grass’<br />
Vortrag Über meinen Lehrer Alfred Döblin<br />
auf Katz und Maus anwendet: Geschichte sei<br />
eine ”Vielzahl widersinniger und gleichzeitiger<br />
Abläufe”.<br />
Die meisten und die wichtigsten Symbole<br />
gruppieren sich in zwei Komplexe: die vielen<br />
verschiedenen und merkwürdigen Dinge, mit<br />
denen Mahlke seinen allzu großen Adamsapfel<br />
zu verdecken sucht, - und der Adams-<br />
23 Vgl. dazu Stallbaum a.a.O., S. 117 f.<br />
24 A.a.O., S. 84-85.<br />
254<br />
Bjørn Ekmann<br />
apfel selbst mit dem damit verknüpften<br />
zentralen Bildpaar Katz und Maus.<br />
Durch die ganze Erzählung hindurch<br />
zieht sich leitmotivisch das Bild von Katze<br />
und Maus – Raubtier und Opfer, Bedrohtheit<br />
und Flucht, Gewalttat und Schuld.<br />
Einerseits weist der Erzähler dabei raunend<br />
auf das Raubtier als lauerndes, hämisches<br />
und unausweichliches Schicksal hin.<br />
Andererseits erfolgt das immer an einem<br />
Punkt, wo Mahlke oder Pilenz gerade etwas<br />
Fatales getan hat – fatal also eben nicht im<br />
Sinne von unvermeidlich, sondern vielmehr<br />
im Sinne von folgenschweren Handlungen,<br />
die der Betreffende hätte lassen sollen und<br />
die der Leser erkennt und rückblickend versteht<br />
und vorausahnend rügt. Besonders eindrucksvoll<br />
und nachdenkenerregend ist da<br />
das einleitende und mehrfach in Erinnerung<br />
gerufene Handlungsmotiv der ganz realen<br />
Katze, die dem ahnungslosen Mahlke heimtückisch<br />
auf die Kehle geworfen wird –<br />
vielleicht von Pilenz, vielleicht auch nicht.<br />
Gerade weil es zweideutig bleibt, was real<br />
passiert, erwägt der Leser ein ganzes Spektrum<br />
von Bedeutungsmöglichkeiten des<br />
symbolischen Bildkomplexes, vor allem die<br />
Beziehung zwischen den Raubtierkrallen und<br />
dem wehrlosen Kehlkopf.<br />
Die sexuelle und entwicklungsbiologische<br />
Referenz des überentwickelten Adamsapfels<br />
liegt auf der Hand (Scheu und Scham<br />
und Tabu-Angst beider Jungen angesichts<br />
der hervorbrechenden Männlichkeit) – unentschieden<br />
bleibt zunächst, wie man sich<br />
dazu stellen soll. Adam und Apfel verweisen<br />
natürlich auf den Sündenfallmythos (so wie<br />
überhaupt vielfach beim jungen Grass auf<br />
Mythen angespielt wird, immer um ihre gängige<br />
Deutung zu reflektieren und in Frage zu<br />
stellen) – aber wer ist nun eigentlich welcher<br />
Sünde schuldig? Ist es sündhaft, geschlechtsreif<br />
zu werden, oder wird uns als Lesern<br />
nicht vielmehr nahegelegt, kritisch zu durchschauen,<br />
dass der ’Zeitgeist’ in dieser erzählten<br />
Welt so pervers mit Geschlecht und<br />
Wachstum und Leben umgeht, dass daraus<br />
unvermeidlich Krampf und Angst und Bosheit<br />
und Unheil entstehen muss?<br />
Ich für mein Teil jedenfalls finde die Gesamtdeutung<br />
schlüssig, dass das Schicksal<br />
Katze (Gewalt und Totschlag) und Maus<br />
(Angst, Flucht, Opferrolle, entwürdigendes<br />
Unterwerfungsspiel, Leiden und Tod) allerdings<br />
abstrakt gesehen allgemeinmenschliches<br />
Los ist, konkret aber nicht notwendi-<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />
in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />
gerweise so allbeherrschend sein müsste wie<br />
in dieser männlichkeitsprotzenden Naziwelt.<br />
Wäre der Zwang zur Männlichkeit nicht<br />
so unbarmherzig und die bornierte Tabuierung<br />
davon nicht zugleich so verängstigend,<br />
dann hätte Mahlke nicht so verkrampft Pseudo-<br />
und Ersatz-Männlichkeit produzieren<br />
müssen, und dann hätte auch Pilenz nicht so<br />
mörderisch eifersüchtig den bewunderten<br />
größeren Freund hassen müssen, dass Maus<br />
und Katze, Opfer-Angst und Raubtier-Gewalt,<br />
Selbsthass und Menschenhass der unvermeidlichen<br />
Katastrophe entgegenwirbeln<br />
müssen.<br />
Wie Gerhard Kaiser überzeugend nachweist<br />
25 , ’gewinnt’ dabei am Ende die große,<br />
ungelenke ’Maus’ Mahlke: die ’grausame<br />
Katze’ Pilenz ist dazu verdammt, bis in alle<br />
Ewigkeit das verschwundene Opfer angstvoll<br />
ungewiss weiter zu jagen. Überhaupt sind<br />
Henker und Opfer gleichermaßen ohnmächtig<br />
und unglücklich in ihren Rollenzwängen.<br />
Das wird alles vielleicht etwas deutlicher,<br />
wenn wir eine schnelle Inventaraufnahme der<br />
symbolischen Gegenstände aufstellen, mit<br />
denen sich groteskerweise der große Schuljunge<br />
schmückt, um seinen tabuierten<br />
Schampunkt, den Adamsapfel, zu überdecken.<br />
Vor dem definitiven und fatalen<br />
Schmuck, dem Eisernen Kreuz für Helden<br />
der Nazi-Wehrmacht, hängen da als Halsschmuck<br />
in schneller Folge und in verschiedenen<br />
Kombinationen ein katholisches<br />
Kruzifix, ein Schraubenzieher, ein Medaillon<br />
der polnischen Schwarzen Madonna von<br />
Tschen-stochau, ein Büchsenöffner, ein Bündel<br />
Woll-Quasten, eine Gedenkmedaille vom<br />
polnischen Feldmarschall Pilsudski, eine<br />
Grammofonkurbel, ein Paar Sicherheits-<br />
Leuchtknöpfe für Straßenverkehr bei Verdunkelung,<br />
eine Sicherheitsnadel, die Eisenbahnmedaille<br />
des Vaters, der in einer heroischen<br />
Rettungsaktion umkam, und anderes<br />
mehr.<br />
Entwicklungspsychologisch ist es natürlich<br />
vollkommen realistisch, dass ein identitäts-verunsicherter<br />
Junge in der Pubertät mit<br />
Rollensignalen experimentiert – einschließlich<br />
derer vom anderen Geschlecht, wie in<br />
diesem Fall mit den ultrafemininen Wollpuscheln,<br />
die mitten im hypermännlichen<br />
Propagandasturm des Krieges eine Mode-<br />
25 a.a.O., S. 12-<strong>19</strong>.<br />
welle für männliche Jugendliche werden.<br />
Andererseits ist die sonstige Auswahl so seltsam<br />
und so auffällig mit widerstreitenden<br />
Signalwerten besetzt, dass auch ein nichtprofessionel-ler<br />
Leser zum Nachdenken über<br />
symbolische Werte und weltanschauliche<br />
Orientierung gezwungen wird.<br />
Ein schneller Überblick zeigt, dass den so<br />
verschiedenartigen Totems eine wesentliche<br />
Eigenschaft gemeinsam ist (außer den weiblichen<br />
Quasten, die als verdeutlichender Gegenzug<br />
dazu dienen): sie verdecken alle die<br />
biologische Männlichkeit des Adamsapfels<br />
mit einem Zeichen der Leistung, der Potenz<br />
im übertragenen Sinne, sei es als Werkzeug<br />
technischer Manipulation, sei es als Logo<br />
einer Partei oder Bewegung oder Nationalität<br />
– wobei es provozierenderweise dem identitätshungrigen<br />
Jungen offenbar zutiefst egal<br />
ist, ob das nun polnisch oder deutsch, nationalsozialistisch<br />
oder katholisch, zivil oder<br />
militärisch ist; Hauptsache: es befreit von<br />
Bios und Individualität. Ein Zufall ist es<br />
dann natürlich doch nicht, dass als äußerste<br />
Konsequenz das Eiserne Kreuz um jeden<br />
Preis angestrebt wird; darin gipfelt das im<br />
Sinne von Erich Fromm 26 Nekrophile: die<br />
Flucht vor dem Leben in Destruktion und<br />
Tod.<br />
Gefüllt mit konkreten und anschaulichen<br />
Vorstellungen werden diese Symbole weitgehend<br />
durch den Kontext.<br />
Die Signale von Krampf und Lebensangst<br />
Mahlkes etwa durch die leitmotivisch wiederholte<br />
Beschreibung seines mit Zuckerwasser<br />
gestärkten Mittelscheitels, seines Untertauchens,<br />
seiner gezwungenen Turn-,<br />
Schwimm- und Masturbationsleistungen, seines<br />
Rückzugs in die Uterus-ähnliche Höhle<br />
im versunkenen Schiff etc.<br />
Und die Technik-Besessenheit durch die<br />
langen Gespräche der Jungen über Brutto-<br />
Tonnage, Höchstgeschwindigkeit und Bestückung<br />
von Schiffen, Panzern und Flugzeugen.<br />
Mehrere Interpreten 27 haben diese zeitspezifischen<br />
Perversionssymptome etwas<br />
26 Fromm, Erich: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit<br />
zum Guten und zum Bösen, Wien/ Frankfurt/Berlin<br />
<strong>19</strong>81 (The Heart of Man. Its Genius for<br />
Good and Evil, New York <strong>19</strong>64).<br />
27 Neuhaus, Friedrichsmeyer, Behrendt, Rothenberg,<br />
Stallbaum, Hensing.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 255
zurückgedrängt zugunsten einer eher abstrakt<br />
und zeitlos ’allgemeinmenschlichen’ und absolut<br />
fatalistischen Deutung.<br />
Verwiesen wird dann meist auf Camus<br />
als philosophisches Vorbild. Diese Beziehung<br />
halte ich an sich für ganz einleuchtend<br />
28 , aber auch Camus bleibt ja nicht<br />
bei der Absurdität einfach stehen, sondern er<br />
leitet davon die ’condition humaine’ ab, dass<br />
der Mensch als alleinverantwortlich auf sich<br />
selbst zurückgeworfenes Individuum darauf<br />
angewiesen ist, dem Sinnlosen einen Sinn<br />
abzutrotzen, und sei das auch nur für einen<br />
Augenblick, - darauf angewiesen, selbst eine<br />
Gemeinschaft zu stiften mit den anderen<br />
ebenso Zurückgeworfenen, selbst eine Ethik<br />
zu setzen ohne Glauben an Gott oder Idee 29 .<br />
Genau diese anti-idealistische Ethik, diese<br />
Philosophie einer begrenzten Willensfreiheit<br />
aber einer absoluten Verantwortung,<br />
einer Treue dem Bios und einer Feindschaft<br />
dem Tode oder der Todessucht gegenüber,<br />
scheint mir der Kern von Katz und Maus wie<br />
vom ganzen Jugendwerk von Grass zu sein.<br />
Erschütternde Katastrophen, jawohl, aber<br />
immer mit dem Willen, genau zu zeigen, was<br />
falsch gemacht wird (verständlich, aber<br />
falsch): psychologisch genau und historisch<br />
genau. Nicht mit einer Lösung oder einer Erlösung<br />
30 , wohl aber mit der unausweichlichen<br />
Herausforderung zu Einsicht und Bemühung<br />
(”Man muss sich Sisyphos als einen<br />
glücklichen Menschen vorstellen”) 31 .<br />
28 Von Grass selbst auch mehrfach als solches benannt.<br />
Vgl. Neuhaus 2, S.46; vgl. auch Stallbaum und<br />
Hensing.<br />
29 Vgl.etwa L’homme révolté, Paris <strong>19</strong>51, S. 39: ”...il<br />
ne s’agit pas seulement d’une négation pur et simple.<br />
... nous trouvons un jugement de valeur au nom duquel<br />
le révolté refuse son approbation à la condition<br />
qui est la sienne”, und ebenda S. 377: ”...apprendre à<br />
vivre et à mourir, et pour être homme, refuser d’être<br />
dieu ... pour partager les luttes et le destin communs.”<br />
30 Völlig überzeugend verweist Richter s. etwa op.cit.<br />
S. 9) darauf, dass jeder, aber auch wirklich jeder Versuch<br />
einer Kausalerklärung und eines Werturteils<br />
Schwierigkeiten hat mit den ungelösten Widersprüchen,<br />
Paradoxien und Ironisierungen der Grasschen<br />
Erzählweise. Ich kann daher auch unmöglich<br />
beweisen, dass meine Deutung besser stimmt als etwa<br />
die eher auf Ohnmacht und Resignation hinauslaufende<br />
von Gerhard Kaiser.<br />
31 Camus, Albert: Le mythe de Sisyphe, Paris <strong>19</strong>43<br />
(die Einleitungsworte des Textes).<br />
256<br />
Bjørn Ekmann<br />
Zu diesem Zweck auch sind Mythos und<br />
Symbol erschütternd gestaltet, aber nicht nur<br />
erschütternd, sondern auch verfremdet und<br />
nachdenkenerregend.<br />
In diesem Sinne auch ist die Novelle novellistisch<br />
und Novellen-Dekonstruktion zugleich.<br />
Was ist nämlich die ”unerhörte Begebenheit”?<br />
Jeder Grass-Kritiker, der darauf<br />
eingeht, wählt mit der größten Selbstverständlichkeit<br />
eine andere als die anderen<br />
Interpreten (oder aber lehnt es glatt ab, dass<br />
die Erzählung überhaupt eine Novelle ist 32 ).<br />
Bitte sehr: eine unerhörte Begebenheit ist es<br />
gleich zu Anfang, als Pilenz (oder wer auch<br />
immer) dem allzu männlichen Mahlke das<br />
Raubtier an die Kehle wirft. Das nimmt ja<br />
aber bloß vorweg, dass Pilenz am Ende mit<br />
seinen Lügen den gejagten Deserteur in das<br />
versunkene Schiff lockt und ihm dabei den<br />
lebensnotwendigen Büchsenöffner vorenthält.<br />
Aber auch Mahlkes Diebstahl vom Ritterkreuz<br />
ist (aus den verschiedensten Perspektiven)<br />
eine unerhörte Begebenheit. Seine<br />
Masturbationsparade aber auch. Und das<br />
Freipissen der Luke zum Zweck des winterlichen<br />
Tauchens in ’schöner’ Literatur ebenso.<br />
Und seine gespenstischen ’Heldentaten’<br />
im Panzer erst recht. Und das ”Stabat Mater”<br />
auf der Feldlatrine. Und so weiter und so<br />
fort. Besonders ’unerhört’ ist natürlich, dass<br />
die ’Heldentaten’ einzig und allein aus pubertär-infantiler<br />
Verwirrung und Geltungssucht<br />
stattfinden 33 . Aus der einen unerhörten<br />
Begenheit der klassischen Novelle wird eine<br />
Kettenreaktion von unerhörten Begebenheiten,<br />
und zwar sicherlich mit Absicht: Wir<br />
können als Leser kaum umhin, so sehr sich<br />
auch alles in uns dagegen sträubt, den Ursachen<br />
und Wirkungen dieser Kettenreaktion<br />
forschend und reflektierend nachzugehen.<br />
Ändern können wir an der Geschichte selbst<br />
ja nichts. Aber als unveränderlich wird es<br />
nicht dargestellt 34 .<br />
32 ”Anti-Novelle”, vgl. Rothenberg, a.a.O., S. 47; vgl.<br />
auch Bruce, a.a.O., S. 139-149.<br />
33 Vgl. Kaiser, a.a.O., S. 30-31.<br />
34 Ich stimme in diesem Punkt vorbehaltlos Neuhaus<br />
(Neuhaus I S. <strong>20</strong>-22) und Cepl-Kaufmann (a.a.O., S.<br />
101) zu: Die vielen Symptome kleinbürgerlicher<br />
Denk- und Verhaltensweisen in der ganzen ’Danziger<br />
Trilogie’ sind keineswegs so zu verstehen, als ergäben<br />
sich daraus mit soziologischer Prädetermination Nationalsozialismus<br />
und Gemeinheit. Vielmehr gibt es<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache. Zur vielschichtigen Symbolik<br />
in Günter Grass' "Katz und Maus"<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Baier, L.: Weder ganz noch gar. Günter Grass<br />
und das Laborgedicht , in: Text + Kritik 1/1a,<br />
4. Aufl. <strong>19</strong>71, S. 67-71.<br />
2. Behrendt, Johanna E.: Auf der Suche nach<br />
dem Adamsapfel, in: GRM NF, 29, 3 (<strong>19</strong>69),<br />
S. 313-326<br />
3. Behrendt, Johanna E.: Die Ausweglosigkeit<br />
der menschlichen Natur. Eine Interpretation<br />
von Günter Grass’ ”Katz und Maus”, in:<br />
Geissler, Rolf (Hrsg.): Günter Grass: ein Materialienbuch,<br />
Darmstadt <strong>19</strong>76, S. 115-135<br />
4. Bruce, James C.: The equivocating narrator in<br />
Gunter Grass’ ”Katz und Maus”, in: Monatshefte<br />
58, 1 (Madison, Wisconsin <strong>19</strong>66)<br />
5. Cepl-Kaufmann, G.: Günter Grass. Eine Analyse<br />
des Gesamtwerks unter dem Aspekt von<br />
Literatur und Politik, Kronberg/Ts. <strong>19</strong>75<br />
6. Friedrichsmeyer, Erhard M.: Aspects of<br />
Myth, Parody, and Obscenity in Grass’ ”Die<br />
Blechtrommel” and ”Katz und Maus”, in:<br />
Germanic Review 40 (<strong>19</strong>65), S. 240-252<br />
7. Frizen, W.: Anna Bronskis Röcke – ”Die<br />
Blechtrommel” in ’ursprünglicher Gestalt’,<br />
in: Neuhaus/Hermes (Hg.): Die ’Danziger<br />
Trilogie’ von Günter Grass. Texte, Daten,<br />
Bilder, Frankf. a. M. <strong>19</strong>91, S. 144-169.<br />
8. Hensing, Dieter: Günter Grass und die Geschichte<br />
– Camus, Sisyphos und die Aufklärung,<br />
in: Labroisse, Gerd / van<br />
Stekelenburg, Dick (Hrsg.): Günter Grass: ein<br />
europäischer Autor?, Amsterdamer Beiträge<br />
zur neueren Germanistik 35 (<strong>19</strong>92), S. 85-122<br />
9. Hermes: siehe Neuhaus<br />
10. Hille-Sandvoss, Angelika: Überlegungen zur<br />
Bildlichkeit im Werk von Günter Grass,<br />
Stuttgart <strong>19</strong>87<br />
11. Jurgensen, M.: Kritik, Thesen, Analysen,<br />
Bern 5. Ausg. <strong>19</strong>73, a.a.O., S. 43.<br />
12. Just, G.: Darstellung und Appell in der<br />
”Blechtrommel” von Günter Grass. Darstellungsästhetik<br />
versus Wirkungsästhetik,<br />
Frank-furt a. M. <strong>19</strong>72<br />
13. Kaiser, Gerhard: Günter Grass: ”Katz und<br />
Maus”, München <strong>19</strong>71<br />
14. Karthaus, Ulrich: ”Katz und Maus” von<br />
Günter Grass – eine politische Dichtung, in:<br />
Deutschunterricht 23, 1 (<strong>19</strong>71) S. 74-85<br />
Beweise genug dafür, dass ethisches Verhalten<br />
durchaus möglich war, und jeder einzelne wird auf<br />
seine individuelle Schuld und Verantwortung festgehalten.<br />
15. Koopmann: siehe Neuhaus<br />
16. Krumme, Detlef: Der suspekte Erzähler und<br />
sein suspekter Held. Überlegungen zur Novelle<br />
”Katz und Maus”. In: Durzak, Manfred<br />
(Hg.): Zu Günter Grass. Geschichte auf dem<br />
poetischen Prüfstand, Stuttgart <strong>19</strong>85, S. 65-<br />
79 (= LGW-Interpretationen 68, Klett-Verlag)<br />
17. Neuhaus, Volker (1): Günter Grass, 2. überarb.<br />
u. erw. Ausg., Sammlung Metzler 179,<br />
Stuttg./Weimar <strong>19</strong>93<br />
18. Neuhaus, Volker (2): Schreiben gegen die<br />
verstreichende Zeit. Zu Leben und Werk von<br />
Günter Grass, München <strong>19</strong>97<br />
<strong>19</strong>. Neuhaus/Hermes (Hg.): Die ’Danziger Trilogie’<br />
von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder,<br />
Frankf. a. M. <strong>19</strong>91, insbes. S. 170-181: Hermes,<br />
Daniela: ”Was mit Katz und Maus begann”<br />
- ein Kabinettstück Grassscher Prosakunst,<br />
und S. <strong>20</strong>0-221: Koopmann, Helmut:<br />
Der Faschismus als Kleinbürgertum und was<br />
daraus wurde.<br />
<strong>20</strong>. Pickar, Gertrud Bauer: Intentional Ambiguity<br />
in Günter Grass’ ”Katz und Maus”, in: Orbis<br />
Litterarum 26 (<strong>19</strong>71) S. 232-245<br />
21. Richter, F.: Die zerschlagene Wirklichkeit.<br />
Überlegungen zur Form der Danzig-Trilogie<br />
von Günter Grass, Bonn <strong>19</strong>77, S. 51-67.<br />
22. Ritter, Alexander: Günter Grass: Katz und<br />
Maus, Erläuterungen und Dokumente, Reclam<br />
UB 8137, ergänzte Ausg., Stuttgart<br />
<strong>19</strong>90.<br />
23. Roberts, David: The Cult of the Hero. An<br />
Interpretation of ”Katz und Maus”, in: German<br />
Life and Letters XXIX, 3 (April <strong>19</strong>76),<br />
S. 307-322<br />
24. Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos<br />
in verbesserter Ausführung: Zeitgeschichte<br />
als Thema und Aufgabe des Prosawerks, Heidelberg<br />
<strong>19</strong>76 (S. 33-61: Kap. <strong>II</strong> zu ”Katz und<br />
Maus”)<br />
25. Stallbaum, Klaus: Kunst und Künstlerexistenz<br />
im Frühwerk von Günter Grass, Köln<br />
<strong>19</strong>89<br />
26. Tiesler, Ingrid: Günter Grass: Katz und Maus,<br />
Interpretationen zum Deutschunterricht 771,<br />
München <strong>19</strong>71<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 257
GÜNTER GRASS: EIN WEITES FELD - EIN FONTANE-ROMAN<br />
Der <strong>19</strong>95 fertiggeschriebene Roman Ein<br />
weites Feld wird von Marcel Reich-Ranicki<br />
besonders begrüßt, indem er den Autor beglückwünscht,<br />
daß ihm etwas „Ungeheuerliches“<br />
gelungen sei, nämlich eine Erzählung<br />
mit Essays zu verknüpfen. Mit seiner Buchbesprechung<br />
im „Spiegel“ wird der Kritiker<br />
einen Medienskandal auslösen, der seinen<br />
Höhepunkt in der Sendung „Literarisches<br />
Quartett“ vom 24.08.<strong>19</strong>95 erfährt.<br />
Zu den Jubelausrufen der Rezensenten<br />
kommen viele kritische Stimmen hinzu, die<br />
den Roman regelrecht „zerreißen“. Tilmann<br />
Krause beispielsweise bezeichnet den gekünstelt<br />
komponierten Roman als „Fontaniana“,<br />
der zu plakativ die Fontanischen<br />
Leitmotive in den „stockenden“ Erzählfluß<br />
einbettet und dabei ganze Episoden aus dem<br />
Leben des Schriftstellers hinzuzieht.<br />
„Er zählt auf, ordnet ein und klappt das imaginäre<br />
Album wieder zu. Das Denken erfaßt noch ‘wann’<br />
und ‘wer mit wem’. Das ‘wie’ und ‘warum’ übersteigt<br />
schon den Horizont. […] Wo es mit dem Bezug auf<br />
die Biographie Fontanes und ihrem geschichtlichen<br />
Umfeld nicht hinhaut, holt Grass dann die Romane<br />
hervor.” (Tilmann: in: Görzel, 100 f.)<br />
Die Vorwürfe gehen viel weiter und noch<br />
tiefer, doch Zweck dieser Studie ist es gerade<br />
diesen Positionen zu widersprechen, indem<br />
versucht wird, andere Positionen und<br />
Lesarten zu suggerieren. Ausgangspunkt ist<br />
der Romantext selbst und auch die positiven<br />
Stimmen der Literaturkritiker, die sich mit<br />
dem Schriftsteller Günter Grass solidarisch<br />
zeigen. Der Kritiker Martin Lüdke wertet das<br />
Prosawerk als den großen Roman zur deutschen<br />
Einheit. Grass hat einen Roman als<br />
Jahrhundert-Werk angelegt, wobei der Autor<br />
in seinem Buch einen Bogen über mehr als<br />
100 Jahre deutscher Geschichte schlägt. Der<br />
Kunsthistoriker Peter Ludwig lobt die geschichtlichen<br />
Kenntnisse und den Sprachstil<br />
des Erzählwerkes:<br />
„Als subtiler Kenner der DDR, in die ich wieder<br />
und wieder gereist bin und wo ich viele Freunde unter<br />
den Bildenden Künstlern gewonnen habe, bin ich begeistert<br />
von Ihrer Fähigkeit, die Welt des Denkens<br />
und Fühlens dort für Heutige erlebbar zu machen...<br />
Sie haben in Ihrem dichterischen Lebenswerk unserer<br />
deutschen Sprache neuen Glanz gegeben, und Sie<br />
Eleonora Pascu<br />
sollten sich durch des Pöbels Geschrei, das im Fall<br />
Ihres neuen großen Buches als selbstgefällige Fachkritik<br />
daherkommt, nicht irremachen lassen. Ein<br />
Glück, daß es Sie gibt.“ (Ludwig: in: Neuhaus, 230)<br />
Walter Jens befindet sich ebenfalls unter<br />
den gutgesinnten Literaturwissenschaftlern,<br />
da er das neue Werk von Grass positiv einschätzt.<br />
„Ich lese Ein weites Feld ganz anders als die Kritiker.<br />
Ich lese es mit den Werken von Fontane, Bismarck,<br />
Nietzsche und den Fontane-Biographien auf<br />
der linken Seite des Tisches – auf der rechten liegt<br />
das Buch von Günter Grass. Eine vielleicht etwas altväterliche,<br />
auch viel Zeit verschlingende Lektüre,<br />
aber es ist nötig. Um einem Autor wie Grass auf die<br />
Schliche zu kommen, muß man genau lesen, sich auf<br />
ein Gespräch mit ihm einlassen und den Dialog, den<br />
er anbietet, fortspinnen. Ein Buch wie dieses, in dem<br />
Altes und Neues in wechselseitiger Erhellung sich<br />
begegnen – dessen Sprache in der Schwebe zwischen<br />
ureignester Grass-Diktion und Fontaneschem Plauderton<br />
sehr angenehm ist -, braucht viel Zeit – nicht<br />
nur zum Lesen, sondern auch zur Kritik.“ (Jens: in:<br />
Neuhaus, 229)<br />
Den Standpunkt des Germanisten vertretend<br />
und der Stimme des Autors folgend<br />
wird sich der Wert des Romans herauskristalisieren,<br />
indem sich der aufmerksame Leser<br />
die notwendige Zeit nimmt, um das Erzählwerk<br />
zu lesen, mit Liebe und Distanz.<br />
Günter Grass selbst erklärt seine Absicht,<br />
mit seinem Roman eine „literarische Korrektur<br />
und Gegenstimme“ zu der Geschichtsdarlegung<br />
von einer „gelungenen<br />
Einheit“ vorzulegen. Schon in seinen Reden<br />
und essayistischen Aufsätzen protestiert der<br />
Schriftsteller gegen den falschen „pharisäenhaften“<br />
Umgang der Westdeutschen mit den<br />
Ostdeutschen, gegen die politische, wirtschaftliche<br />
und ideologische „Vereinnahmung“<br />
der DDR seitens der BRD: so in Ein<br />
Schnäppchen namens DDR (<strong>19</strong>93) und Die<br />
Deutschen und ihre Dichter (<strong>19</strong>95).<br />
Thematisch betrachtet kann der Roman<br />
Ein weites Feld mehreren Romantypen zugeordnet<br />
werden. So gibt es darin Elemente,<br />
die auf einen Zeitroman bzw. historischen<br />
Roman hinweisen. Dieser Interpretationsansatz<br />
legitimiert sich durch das weit gefächerte<br />
zeitliche Spannungsfeld, das hun-
Günter Grass: "Ein weites Feld" - ein Fontane-Roman<br />
dertfünfzig Jahre deutsche Geschichte einbezieht,<br />
vom Vormärz und der Revolution<br />
von 1848 bis zum Spätsommer <strong>19</strong>91. Die<br />
Überlagerung von historischer Vergangenheit<br />
und Gegenwart berechtigt die Lesart als<br />
historischen Roman. „Das weitreichende Gedächtnis<br />
der Protagonisten macht aus dem<br />
vermeintlichen Zeitroman einen historischen<br />
Roman.“ (Moser: <strong>20</strong>00, 164) Textuelle<br />
Argumente aus dem Prosawerk bekräftigen<br />
insbesondere die Deutung als „Wenderoman“,<br />
die aber nur partiell dem Werk gerecht<br />
wird.<br />
„Wende-Roman? DDR-Reminiszenz? Stasi-Groteske?<br />
Wanderungen durch die Großstadt Berlin? Literatur<br />
über Literatur? Von allem etwas und in allem<br />
ein Schelmenroman, in dem Fonty als Widergänger<br />
von Theodor Fontane auftritt...“ (Herbert Glossner,<br />
Cover der DTV-Ausgabe)<br />
Hinzu kann auch die Lesart als Berlin-<br />
Roman gezählt werden, da sich die Haupthandlung<br />
in dieser Großstadt abspielt, sowohl<br />
auf der Ebene der Gegenwart als auch<br />
der Vergangenheit. Berlin bietet den richtigen<br />
Rahmen für die Abschweifungen in das<br />
„historische Feld“, das aus den verschiedensten<br />
Perspektiven dargestellt wird.<br />
Eine Zusammenfassung der möglichen<br />
Romantypen bietet auch Gisella Zimmermann-Thiel<br />
in ihrer Romanbesprechung.<br />
„Günter Grass’ jüngster Roman Ein weites Feld,<br />
der Zeitroman und Mentalitätsgeschichte ist, ein Fontane-<br />
und Berlin-Roman und nicht zuletzt ein Roman<br />
über die prekäre gesellschaftliche Stellung des<br />
Schriftstellers, ist das ästhetisch gelungene Ergebnis<br />
einer Verbindung, die der im vergleichenden Sehen<br />
geschulte Zeichner und Bildhauer Günter Grass mit<br />
dem historisch versierten Erzähl-Künstler Günter<br />
Grass eingegangen ist.“ (Zimmermann-Thiel: 15)<br />
Die Genialität des Schriftstellers Günter<br />
Grass besteht gerade darin Stoffe der alten<br />
und neuen Zeit zu verknüpfen, in seinem<br />
berüchtigten Montagestil, indem er Texte<br />
aus Texten schafft, die auf seiner weitgehenden<br />
Lektüre und intensiven Werkstattarbeit<br />
beruhen – Romane, Erzählungen,<br />
Entwürfe, Fragmente, Balladen, Theaterkritiken,<br />
Kriegsbücher, Reiseberichte, autobiographische<br />
Werke, Tagebücher, Briefe<br />
und verschiedene Forschungsarbeiten. (Vgl.<br />
Neuhaus: 217)<br />
Günter Grass greift in seinem Roman<br />
vorwiegend zum kollektiven „wir“, bestehend<br />
aus dem Erzählkollektiv vom<br />
Fontane-Archiv, das eine pluralistische<br />
Erzählposition einführt. Schon der erste Satz<br />
des Romans kündet diese Erzählperspektive<br />
an: Wir vom Archiv nannten ihn Fonty.<br />
(EWF, 9). Die Erzähler sind somit die anonymen<br />
Mitarbeiter des Fontane-Archivs in<br />
der Potsdamer Dortustraße, die in Fonty eine<br />
lebendige Kopie des „Unsterblichen“ sehen.<br />
Sie beobachten Theo Wuttke alias Fonty<br />
genau, hören ihm aufmerksam zu und<br />
recherchieren in seiner Abwesenheit den<br />
Fontane-Nachlaß mit größter Genauigkeit.<br />
Die Fonty-Wuttke Gestalt wirkt stimulierend<br />
auf das Archivkollektiv, das sich verpflichtet<br />
fühlt, die Geschichte des Verschollenen<br />
niederzuschreiben. Nach dem Verschwinden<br />
Wuttkes im Spätsommer <strong>19</strong>91, womit der<br />
Roman schließt, beginnt das Erzählerkollektiv<br />
die früheren Beobachtungen mit<br />
Recherchen zu ergänzen und festzuschreiben,<br />
Fakten, die dem Leser aus dem Gesamtgeschehen<br />
des Erzählwerkes schon bekannt<br />
sind. Damit wird die Geschichte der Wiedervereinigung<br />
Deutschlands erzählt und niedergeschrieben.<br />
Günter Grass stellt die<br />
neuesten geschichtlichen Ereignisse aus der<br />
Perspektive der DDR-Intelektuellen dar, deren<br />
Existenzen von diesem System dominiert<br />
wurden. Eine besondere Position wird<br />
mittels der „verkrachten“ Existenz von Theo<br />
Wuttke thematisiert, der im System um den<br />
Preis gelegentlicher Spitzeldienste überleben<br />
konnte. Sein lebenslanger Begleiter und<br />
„Tagundnachtschatten“, der Führungsoffizier<br />
Ludwig Hoftaller, ist letzendlich auch nur<br />
ein gescheiterter kleiner Stasi-Agent. Grass<br />
intendiert gerade am Beispiel der Kleinen<br />
seine Geschichtsschreibung zu begründen:<br />
„Mein Roman ist aus dem Blickwinkel der Geschlagenen<br />
und Beladenen geschrieben. Ich denke,<br />
daß jeder Schriftsteller, unabhängig von seinem Thema,<br />
gut daran tut, sich auf die Seite der Geschlagenen,<br />
der Verlierer zu stellen.“ (Grass, in: Neuhaus:<br />
222)<br />
Das gegenwärtige Paar Fonty-Hoftaller,<br />
das zwischen <strong>19</strong>89 und <strong>19</strong>91 den Großraum<br />
Berlin, die Insel Hiddensee, Neuruppin und<br />
die Lausitz durchwandern, und dabei das<br />
aktuelle Geschehen mit Abschweifungen ins<br />
„historische Feld“ der Fontane-Zeit kommentiert,<br />
wird doppelwertig besetzt. Auf der<br />
Ebene der Wiederspiegelungen der DDR-<br />
Realität sind Fonty und Hoftaller die Vertreter<br />
der sich mit der Staatssicherheit im<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 259
Konflikt befindenden Kultur. Dieses Altmännerpaar<br />
ähnelt mancherorts mit dem<br />
komischen Figuren-Paar Don Quijote – Sancho<br />
Panza, eine Ähnlichkeit, die somit die<br />
beklemmende Stasi-Thematik ins befreiend<br />
Groteske überführt. Zugleich ist eine Parodie<br />
des traditionellen Herr-Knecht Verhältnisses<br />
aufzudecken, da Fonty nur auf der psychischen<br />
Ebene Erscheinungsformen des Herrn<br />
aufweist, während auf der Ebene der realen<br />
Macht es der Stasi-Knecht Hoftaller ist, der<br />
als Herr über Fonty gebietet.<br />
Der siebzigjährige Ost-Berliner Theo<br />
Wuttke erlebt zwei Diktaturen, das Dritte<br />
Reich und die DDR, während seine persönliche<br />
Erfahrung als Hintergrund dient, die<br />
„neue Zeit“ zu beobachten und zu kommentieren.<br />
Die Gegenwartshandlung setzt im<br />
Dezember <strong>19</strong>89 ein und endet im Oktober<br />
<strong>19</strong>91. Die ersten drei Bücher des Romans<br />
entwickeln ein Bild der letzten Phase der<br />
untergehenden DDR, die als sozialistischer<br />
Arbeiter- und Bauernstaat bezeichnet wird.<br />
Die anderen zwei Bücher zeigen die Aktivitäten<br />
im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung<br />
Deutschlands. Vergleichsweise<br />
kann das Theaterstück Schlußchor von<br />
Botho Strauß herangezogen werden, in dem<br />
ebenfalls dieses historische Ereignis thematisiert<br />
wird, das als Hintergrund für menschliche<br />
Schicksale steht. Beide Autoren beschäftigen<br />
sich intensiv mit der Gegenwart<br />
und schreiben in ihren Werken die jüngste<br />
Geschichte nieder, gefiltert durch ihre ganz<br />
persönlichen Positionen und Weltanschauungen.<br />
Günter Grass bettet die chronologisch erzählte<br />
Gegenwartshandlung in die Geschichte<br />
der Deutschen seit 1848 ein, indem<br />
historische Fakten aus der Zeit Theodor<br />
Fontanes durch Theo Wuttke „wiederbelebt“<br />
werden. Das Konstruktionsprinzip des Pendelns<br />
zwischen den historischen Ereignissen<br />
der Vergangenheit und denen der Gegenwart<br />
erlaubt es dem Schriftsteller die Lebensgeschichten<br />
des reellen Fontane und der<br />
Kunstfigur Fonty parallel darzustellen.<br />
Somit erlebt der Leser in einer manieristisch<br />
konzipierten Darstellungsform Theodor<br />
Fontanes Leben (18<strong>19</strong>-1898) und das imitatorische<br />
Nachleben von Theo Wuttke, alias<br />
Fonty (<strong>19</strong><strong>19</strong>-<strong>19</strong>91).<br />
260<br />
Eleonora Pascu<br />
Schon der Romantitel verweist auf die<br />
enge Beziehung zu Theodor Fontane, wobei<br />
ersichlich ist, daß das Zitat aus dem Effi<br />
Briest-Roman stammt. Günter Grass zitiert<br />
diese Textstelle mehrmals im Romantext,<br />
insbesondere mit dem Ziel, die Wahrheit in<br />
Frage zu stellen. Es handelt sich auch um das<br />
Problem der Schuld, die zur Diskussion gestellt<br />
wird, und um die Frage nach der deutschen<br />
Einheit. Als Illustration werden folgende<br />
zwei Textstellen herangezogen:<br />
"Das ist furchtbar richtig. Aber was richtig ist, muß<br />
nicht wahr sein. Die Wahrheit ist ein weites Feld."<br />
(EWF, 140)<br />
oder<br />
"Doch die Schuld ist ein weites Feld und die Einheit<br />
ein noch weiteres, von der Wahrheit gar nicht zu<br />
reden." (EWF, 295f.)<br />
Das „weite Feld“ ist demnach nicht nur<br />
das Lebens-Feld seines Helden Theo Wuttke,<br />
sondern auch das seines Idols Theodor<br />
Fontane; hinzu kommt noch das „weite<br />
Feld“ deutscher Geschichte des <strong>19</strong>. und <strong>20</strong>.<br />
Jahrhunderts.<br />
Der Roman Ein weites Feld hat somit<br />
zwei Zentren: einerseits die Figur des Fontane-Imitators,<br />
Theo Wuttke, auch „Fonty“<br />
genannt, dessen familiäre Verhältnisse und<br />
Konflikte denen Fontanes nachgebildet sind,<br />
und andererseits die des Schriftstellers<br />
Theodor Fontane, der im Roman ausschließlich<br />
„der Unsterbliche“ genannt wird. (Vgl.<br />
Thomas Manns Fontane-Projekt)<br />
Günter Grass schafft aus fremden Texten<br />
einen eigenen Text, in dem Theodor Fontane<br />
als „lebendige“ Gestalt auftritt. Der Gegenwartsautor<br />
verbindet die Künstlerbiographie<br />
seines Vorgängers mit der Gattung des Zeitromans<br />
dadurch, daß Fontanes Zeiten als<br />
Spiegelbild für die gegenwärtige Geschichte<br />
fingieren.<br />
Somit kann Ein weites Feld als biographischer<br />
Roman bzw. romanhafte Biographie<br />
gelesen werden, aber auch als Zeitroman<br />
bzw. historischer Roman, der einen<br />
„weiten“ Querschnitt durch die deutsche<br />
Geschichte unternimmt. Grass greift zu einem<br />
Kunstgriff, indem er Theo Wuttke erfindet,<br />
einen kauzigen Verehrer von Theodor<br />
Fontane, der genau 100 Jahre nach dem<br />
Dichter, am 30. Dezember <strong>19</strong><strong>19</strong>, in Neuruppin<br />
geboren wird.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Günter Grass: "Ein weites Feld" - ein Fontane-Roman<br />
"Seinen Papieren nach hieß er Theo Wuttke, weil<br />
aber in Neuruppin, zudem am vorletzten Tag des<br />
Jahres <strong>19</strong><strong>19</strong> geboren, fand sich Stoff genug, die Mühsal<br />
einer verkrachten Existenz zu spiegeln, der erst<br />
spät Ruhm nachgesagt, dann aber ein Denkmal gestiftet<br />
wurde, das wir, mit Fontys Worten, die<br />
'sitzende Bronze' nannten." (EWF, 9)<br />
Seine Gesichtszüge, von Max Liebermann<br />
in Zeichnungen festgehalten, seine<br />
eigentümliche Art sich zu kleiden erleben<br />
eine Wiederholung im <strong>20</strong>. Jahrhundert in der<br />
Gestalt Fontys.<br />
"So sehr ähnelte er, daß man vermuten konnte: er<br />
ist es; wenn Unsterblichkeit – oder anders gesagt, das<br />
ideelle Fortleben nach dem Tod - ein beschreibbares<br />
Aussehen hat, gaben seine Gesichtszüge im Profil wie<br />
frontal den Unsterblichen wieder.[...] Auch er war<br />
über die Ohren hinweg und bis in den Nacken vollhaarig<br />
geblieben. Auch er liebte es, die silbrigen<br />
Strähnen unordentlich über den Kragen fallen zu lassen.<br />
Und seine Koteletten wucherten gekräuselt bis<br />
flaumig an den Ohrläppchen vorbei. Nicht etwa wilhelminisch<br />
gezwirbelt, kaum gebürstet, als unbeschnittener<br />
Wildwuchs hing ihm der Schnauzbart<br />
über die Oberlippe hinweg und verdeckte mit den<br />
Mundwinkeln deren häufiges, weil nervöses Zucken."<br />
(EWF, 45f.)<br />
Diese Beschreibung folgt bis ins kleinste<br />
Detail der Libermann-Lithographie, indem<br />
sie die bildlichen Elemente versprachlicht<br />
und aus dem Abbild eines Abbilds eine „lebendige“<br />
Figur schafft. Diese manieristische<br />
Schreibtechnik intendiert das Konstrukthafte<br />
der Romanfigur zuzulassen, die aus bekanntem<br />
zeitgeschichtlichem und historischem<br />
Material zusammengebastelt ist. Der Schriftsteller<br />
läßt seinen Erzähler die Romanfigur<br />
mit der Lithographie von Liebermann vergleichen,<br />
wobei gleichzeitig die Entstehungsgeschichte<br />
zweier Kunstwerke, die<br />
Fontane darstellen, skizziert werden. (Vgl.<br />
EWF, 45ff.)<br />
Der Rückgriff auf den Lebenslauf des berühmten<br />
Vorgängers reicht bis in die Konstruktion<br />
der Familienverhältnisse und der<br />
Verwandschaft. Demnach ist Fonty mit einer<br />
Frau verheiratet, die Emmi gerufen wird; sie<br />
haben drei Söhne namens Georg, Theodor<br />
und Friedrich und auch noch eine Tochter<br />
Martha, die Mete genannt wird. Ähnlich wie<br />
bei Fontane gibt es Probleme in der Ehe,<br />
dennoch dauert die Ehe von Fonty ziemlich<br />
lange, ebenso wie seine Partnerschaft, die als<br />
„Bund“ bezeichnet wird.<br />
"Die Ehe war schwierig, die eine, die andere, doch<br />
beide hielten. Jene mit Emilie Rounaet [...] dauerte<br />
achtundvierzig Jahre, und der Bund mit der geborenen<br />
Emmi Balunek [...] blieb gleichfalls krisenfest,<br />
trotz brüchiger Nähte." (EWF, 186)<br />
Wie Fontane erlebt sein Doppelgänger<br />
schwere Krisen, sogenannte „Nervenpleiten“<br />
und rettet sich vor einer schweren Krankheit,<br />
indem er auf Anraten des Arztes seine Erinnerungen<br />
aus der Kindheit niederschreibt.<br />
Die Tatsache, daß Fontane an Gehirnanämie<br />
litt, ist bekannt, ebenso der Umstand, daß<br />
sein Arzt ihm empfohlen hatte, weiterzuschrieben,<br />
wobei der Roman Effi Briest vollendet<br />
wurde. Bei Günter Grass übernimmt<br />
Hoftaller die Rolle des Arztes, der seinem<br />
kranken Freund ebenfalls suggeriert, schriftstellerisch<br />
tätig zu sein.<br />
"Und hat nicht dazumal der Hausarzt dem Unsterblichen,<br />
der aufgeben wollte, dem seine Effi entschwunden<br />
und alle Romanschreiberei nichtsnutz zu<br />
sein schien, nen prima Rat gegeben und ihn, den<br />
Dauerkranken, sozusagen am Hemdzipfel gepackt<br />
und mit nem anspornenden Auftrag aus dem Bett<br />
getrieben? Wie wär´s, wenn ich mal den Onkel<br />
Doktor spiele. Kleiner Vorschalg: Sie bringen Ihre<br />
Kinderjahre, von mir aus in doppelter Ausführung, zu<br />
Papier." (EWF, 226)<br />
Der Versuch, Identitäten zu schaffen geht<br />
soweit, daß die Wohnung und die Umgebung,<br />
in der Fonty lebt, sich mit Fontanes<br />
Arbeitszimmer aus Berlin, Potsdamerstraße<br />
134C, identifizieren. Das Spiel mit den Fakten<br />
bezieht auch die Wanderungen in der<br />
Mark Brandenburg ein, die der Schrifsteller<br />
oft unternahm. Andererseits lebt Fonty in<br />
einer Welt, die sich mit Landschaften und<br />
Erlebnissen der Romanwelt seines Idols dekken.<br />
Fiktion in der Fiktion stehen somit neben<br />
reellen Fakten und vervollständigen das<br />
Bild der Romanfigur, die sich als ein komplexer<br />
Konstrukt entpuppt. Um auf die angespielten<br />
Assoziationen zurückzukehren,<br />
sollen ein paar Beispiele gennant werden:<br />
Emmi wird andauernd mit Corina Schmidt<br />
verglichen; Wuttkes Tochter trägt Züge der<br />
Mathilde Möhring; Metes Hochzeit mit<br />
Grundmann erinnert an Graf Petöfi. Elemente<br />
aus Effi Briest, Irrungen, Wirrungen<br />
und Stechlin werden immer wieder angespielt.<br />
Eine ganz merkwürdige Ähnlichkeit ist<br />
mit Romanfiguren aus Fontanes Werken<br />
festzustellen, nehmen wir nur das Beispiel<br />
des alten Stechlin, dessen Beschreibung sich<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 261
mit der des Unsterblichen sowie mit jener<br />
Fontys teilweise deckt.<br />
"Kein Wuttke mehr, Fonty genannt, saß angeschnallt,<br />
vielmehr erwartete der Unsterbliche den<br />
Start, diese Beschleunigung, dieses Abheben... Leicht<br />
zitterten die Flusen des Schnauzbarts.[...] Er schloß<br />
die Augen und erzählte sich weit zurück, erzählte<br />
vom See und vom aufsteigenden Wasserstrahl, von<br />
Wetterfahnen im Spinnwebmuseum und dann vom<br />
alten Stechlin, der komischerweise mit Vornamen<br />
Dubslav hieß. (EWF, 678f.)<br />
Fonty ist der liebevoll-spöttische Spitznamen<br />
von Theo Wuttke, einem Fontane-<br />
Spezialisten, der es besonders liebt, sich mit<br />
dem Schriftsteller zu identifizieren. Aus<br />
Fontanes Briefen und aus den Spracheigentümlichkeiten<br />
seiner Romanhelden hat er<br />
sich ein Sprachidiom geschaffen, das er für<br />
„Fontaneisch“ hält.<br />
Er identifiziert sich mit Leben und Werk<br />
von Fontane und zitiert bei wiederholten<br />
Gelegenheiten aus den literarischen Produktionen<br />
seines Vorbildes. Obzwar er kein<br />
schriftstellerisch agierender Held ist, arbeitet<br />
er in einem Archiv. Grass erlaubt sich, nicht<br />
überlieferte Details aus Fontanes Leben neu<br />
zu erfinden, indem Fonty die Existenz des<br />
„Unsterblichen“ nochmals erlebt, sondern er<br />
erzählt in einem neuen Kontext eine neue<br />
Lebensgeschichte, die sich mit Fakten aus<br />
dem Leben und Werk seines Vorgängers und<br />
Vorbildes deckt.<br />
Auf der Ebene der Schreibtechnik ergibt<br />
sich eine überaus gelungene intertextuelle<br />
Erzählstruktur. Sehen, Beobachten und<br />
Montage des Beobachteten und Recherchierten<br />
vervollkommnen die kollagierten<br />
Textstellen aus Fontanes literarischen Produktionen,<br />
Aufsätzen, Tagebucheintragungen,<br />
Briefen. Hinzu kommen die verschiedenen<br />
Allusionen, die eine Pluralität ergeben.<br />
262<br />
Eleonora Pascu<br />
Es entsteht ein Geflecht aus Realität und<br />
Phantasie, historischen Fakten und Fitktion,<br />
die über literarische Spiegelungen den romanhaften<br />
Konstrukt motivieren.<br />
Jedenfalls ist schlußfolgernd zu bemerken,<br />
daß Günter Grass keine Fontane-Biographie<br />
zu schreiben intendierte, sondern mit<br />
Fonty eine Kunstfigur geschaffen hat, eine<br />
Fiktion. Die Annäherung an Fontane läßt<br />
den Roman Ein weites Feld den Realismusbegriff<br />
mit der „beobachtenden“ Zeitgenossenschaft<br />
kombinieren, deren Intention die<br />
Vermittlung des Wahren ist.<br />
L i t e r a t u r :<br />
Primärliteratur:<br />
1. Ein weites Feld. Roman. Deutscher Taschenbuchverlag,<br />
München <strong>19</strong>95 (Abgekürzt:<br />
EWF)<br />
Sekundärliteratur:<br />
1. Moser, Sabine: Günter Grass. Romane und<br />
Erzählungen. Erich Schmidt Verlag, Berlin<br />
<strong>20</strong>00.<br />
2. Neuhaus, Volker: Schreiben gegen die verstreichende<br />
Zeit. Zu Leben und Werk von<br />
Günter Grass. Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />
München <strong>19</strong>97.<br />
3. Reich-Ranicki, Marcel: „...und es muß gesagt<br />
werden“. Ein Brief von Marcel Reich-Ranicki<br />
an Günter Grass zu dessen Roman Ein weites<br />
Feld. In: Oskar Negt (Hrsg.): Der Fall Fonty.<br />
die Rolle des Arztes Ein weites Feld von<br />
Günter Grass im Spiegel der Kritik. Steidl<br />
Verlag, Göttingen <strong>19</strong>96.<br />
4. Tilmann, Krause: Der Tagesspiegel. 23.08.<br />
<strong>19</strong>95 In: Klaus Görzel: Der Lustmord. „Ein<br />
weites Feld“ von Günter Grass und die Kritik.<br />
Deutschunterricht, H. 5, <strong>19</strong>96.<br />
5. Zimmermann-Thiel, Gisella: Günter Grass:<br />
„Ein weites Feld“. Romanbesprechung ein<br />
Jahr danach. In: Kulturchronik, <strong>Nr</strong>. 2, <strong>19</strong>97.<br />
*<br />
* *<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
LITERATURA CA PRIVEGHI AL ISTORIEI *)<br />
Vestea-surpriză s-a lăsat aşteptată mai<br />
bine de treizeci de ani. Şi a fost salutată mai<br />
de toată lumea ca un eveniment remarcabil şi<br />
ca binemeritată răsplată atât pentru creaţia<br />
literar-artistică a lui Günter Grass, cât şi pentru<br />
întreaga sa activitate în plan social. Hans-<br />
Georg Gadamer afirma:<br />
“Nu sunt surprins. Într-adevăr, trebuie să recunoaştem<br />
că primele romane ale lui Günter Grass au<br />
avut un efect amplu asupra literaturii germane postbelice,<br />
efect mult mai puternic decât literatura care a<br />
apărut după aceea pe aceste meleaguri. N-am fost<br />
întotdeauna încântat de ceea ce a mai publicat el mai<br />
apoi. Dar enormul său talent, înrădăcinat profund în<br />
originea sa şi în istoria epocii sale, a fost întodeauna o<br />
realitate de netăgăduit.“<br />
La rândul său Jürgen Habermas scotea şi<br />
el în evidenţă impactul operei sale asupra<br />
contemporaneităţii, acea “mentalitate care l-a<br />
marcat pe Grass, o atitudine spirituală din<br />
care se hrăneşte şi astăzi Republica Federală.“<br />
Regizorul de film Volker Schlöndorff,<br />
care îi preluase ca scenariu Toba de tinichea,<br />
făcând un film mult discutat în <strong>19</strong>79, consideră<br />
că figurile fanteziei sale populează deja<br />
mitologia germană, de parcă n-ar fi zămisliri<br />
ale minţii sale, ci derivate ale unor legende şi<br />
basme. Criticul literar Michael Krüger reliefa<br />
noul statut pe care profesiunea de scriitor<br />
şi-l câştigase de-a lungul deceniilor prin operele<br />
acestui mare prozatort: “El /scriitorul;<br />
G.G./ îşi putea exprima părerea în calitatea<br />
sa de scriitor.“ În fine, un alt glas sonor saluta<br />
acordarea celebrului premiu marelui scriitor<br />
german – glasul Christei Wolf, autoare cu<br />
care Grass s-a simţit întotdeauna într-o destul<br />
de largă comuniune de gânduri şi idealuri,<br />
dacă n-ar fi decât să ne gândim la celebrele<br />
fresce de istorie literară şi a mentalităţilor<br />
zugrăvite cu o impresionantă forţă<br />
imagistică şi într-un limbaj de o certă savoare<br />
intelectuală în Treffen in Telgte (Întâlnirea<br />
de la Telgte) de Grass şi Kein Ort.<br />
Nirgends (Nici un loc. Nicăieri) de Christa<br />
Wolf. Fosta autoare estgermană declara:<br />
“Grass a fost şi este, ca artist şi contemporan, un<br />
însoţitor critic al istoriei germane postbelice, iar în<br />
ultimii zece ani şi al procesului de unificare a Germaniei;<br />
să vezi cum această atitudine şi rangul său literar<br />
sunt atât de apreciate, ne încurajează şi pe noi. Consider<br />
că literatura germană postbelică este reprezentată<br />
cu demnitate prin premiile Nobel primite de Nelly<br />
Sachs, Heinrich Böll şi Günter Grass.“<br />
George Guţu<br />
Presa germană a marcat la loc de frunte<br />
evenimentul, acordându-i semnificaţii care<br />
trec adesea de zona literaturii şi artei, vizând<br />
dimensiunea socială şi istorică a premiului<br />
norvegian de anul acesta: “Nici un alt scriitor<br />
german n-ar fi putut fi luat în consideraţie …<br />
În finalul unui secol al grozăviilor germane<br />
iată, simbolic, o imensă victorie spirituală“,<br />
scrie Frank Schirrmacher, un publicist cu<br />
care premiantul a polemizat într-un registru<br />
destul de dur. Schirrmacher nu a fost singurul<br />
care a emis o anumită reţinere faţă de<br />
decernarea premiului Nobel lui Günter<br />
Grass, numărul acestora fiind chiar apreciabil.<br />
Iată ce spunea, de pildă, Alfred Hrdlicka<br />
din Austria:<br />
“Scriitorul suprem al naţiunii se simte competent,<br />
se pare, să formuleze şi interdicţia de a scrie şi de a<br />
vorbi, considerând ca pe o impertinenţă faptul că mai<br />
scriu şi alţii câte o carte…“<br />
Ironia răzbate şi din afirmaţiile lui Wiglaf<br />
Droste: “Cel mai mult i-ar place lui<br />
Grass să fie preşedintele întregii lumi.“ În<br />
timp ce tinerii se distanţează de generaţiile<br />
de cărturari şi scriitori mai vârstnici, preferând<br />
să-şi caute singuri propria lor identitate,<br />
decât să accepte sfaturi sau “apeluri“<br />
precum cel adresat de Grass tinerilor scriitori.<br />
Unul dintre aceştia, Matthias Altenburg,<br />
ripostează prompt:<br />
“S-ar prea putea ca nouă, tinerilor scriitori, gestul<br />
preceptorial şifonat al unui Günter Grass să ne fie la<br />
fel de străin ca şi tonul de pensionar ponosit al unui<br />
Frank Schirrmacher. S-ar prea putea ca noi să exclamăm<br />
pur şi simplu: Mai ţine-ţi fleoanca, Günter,<br />
shut up, Frank; acum e rândul nostru. Iar noi suntem<br />
zgomotoşi sau silenţioşi, exact după cum avem chef.<br />
Scriem când despre iubire, când despre spiritul vremii,<br />
când despre primăvară. Ba chiar uneori şi despre<br />
politică.“<br />
Înafara Germaniei ecourile au fost puternice,<br />
îndeosebi în Austria, unde autori<br />
precum Elfriede Jelinek, Milo Dor, Ernst<br />
Jandl sau Friederike Mayröcker l-au semnalat<br />
cu deplină aprobare, dar şi în Polonia,<br />
Japonia, Spania şi Statele Unite ale Americii.<br />
Evenimentul fusese intuit, aşteptat cu tenacitate,<br />
timp de peste treizeci de ani… Căci<br />
în <strong>19</strong>56 literatura germană intra într-o nouă<br />
etapă a dezvoltării sale, iar inovaţia purta<br />
numele lui Günter Grass: după ce publicase<br />
un volumaş de poeme, desene şi proză intitu-
lat Vorzüge der Windhühner (Avantajele<br />
cocoşilor de vânt, <strong>19</strong>56) şi marcat vizibil de<br />
poemele lui Gottfried Benn, autorul, se duce<br />
împreună cu familia la Paris, locuind în<br />
Avenue d’Italie din al 13-lea arondisment, cu<br />
intenţia declarată: “M-am pus pe un amplu<br />
şezut epic, începându-mi romanul.“ Grass<br />
are 30 de ani, eroul romanului, Oskar Matzerath,<br />
idem. Aşa se năştea primul roman, primul<br />
succes fulgerător al lui Günter Grass:<br />
Die Blechtrommel (Toba de tinichea).<br />
Matzerath îşi începe rememorarea propriei<br />
stranii biografii la vârsta de treizeci de<br />
ani. Fundalul autobiografic este şi el prezent<br />
– născut la Danzig/Gdansk, Grass îşi<br />
plasează eroul tot acolo, numai că fantasticul<br />
atât de caracteristic în canavaua epică se instalează<br />
auctorial atât în viaţa lui Oskar, care<br />
la vârsta de trei ani refuză să mai crească,<br />
bătând necontenind din tobă, cât şi a autorului<br />
care se lasă pur şi simplu purtat – într-o<br />
senină complicitate – de o naratologie de o<br />
inconfundabilă fizionomie. Debilul matur<br />
cântă asurzitor, sfărâmând obiecte de sticlă,<br />
şi-i ia drept model pe Goethe şi Rasputin, se<br />
încarcă de vinovăţia morţii celor doi taţi şi a<br />
mamei sale, se expune în permanenţă pericolului<br />
iminent de a fi tras pe linie moartă ca<br />
orice handicapat “nedemn de a mai trăi“,<br />
copulează o progenitură cu viitoarea sa<br />
mamă vitregă, străbate istoria vremii sale<br />
bătând din tobă, jucând teatru, îmbogăţinduse<br />
şi ajungând în final la casa de alienaţi<br />
min-tali, închizând astfel spirala ciclului<br />
narativ deschis cu prima frază a romanului:<br />
“Recunosc: sunt locatarul unui sanatoriu de<br />
handicapaţi.“<br />
Gerd Ueding reflecta peste ani că unicitatea<br />
romanului de debut al lui Grass consta în<br />
faptul că<br />
“scrierea lui este totodată vorbire, naraţiune vie,<br />
singura lectură posibilă, comprehensibilă şi dătătoare<br />
de satisfacţii, fiind aceea la care îţi participă şi urechile…<br />
Când a apărut în <strong>19</strong>59, Toba de tinichea a<br />
adus în literatura germană mai recentă nu doar o tonalitate<br />
nouă, ci, în general, o primă tonalitate – şi cât de<br />
substanţială şi de polifonică!“<br />
La vârsta de 31 de ani, Grass îşi luă în<br />
geamantan manuscrisul romanului la care<br />
lucrase îndeosebi în ultimii ani petrecuţi la<br />
Paris, poposind pe “scaunul electric“ al celebrei<br />
grupări literare intrată în istorie sub<br />
denumirea de “Gruppe 47“. Hans-Werner<br />
Richter, spiritus rector al acesteia, îl ascultă<br />
bântuit de un oarecare scepticism, împreună<br />
cu ceilalţi scriitori aflaţi de faţă – printre care<br />
Literatura ca priveghi al istoriei<br />
Peter Weiss, Paul Celan, Ingeborg Bachmann<br />
şi cel care mai apoi avea să devină<br />
“papa“ scenei literare germane, criticul literar<br />
Marcel-Reich Ranicki, cu care avea să<br />
poarte mai târziu dispute grave… Impresia<br />
auditoriului este copleşitoare, i se acordă ad<br />
hoc premiul grupei, fiind salutat de tânărul<br />
Hans Magnus Enzensberger ca “solitar sălbatic<br />
al domesticitei noastre literaturi“ şi<br />
aşezându-i romanul alături de “stânci precum<br />
Berlin Alexanderplatz de Döblin sau Baal de<br />
Brecht.” Exegeza a extins aceste punţi de<br />
similitudine pe numitorul comun al primei<br />
opere, al unui debut fulminant, în care talentul<br />
original, inconfundabil, al autorului se<br />
descarcă cu o intensitate egală cu aceea a<br />
forţelor naturii, mimând peste veacuri ceva<br />
din spontaneitatea şi naturaleţea geniilor<br />
Sturm und Drang-ului, îmbogăţită cu rafinamentul<br />
naratologic al epocii moderne şi<br />
cu aliura barocă a fanteziei epice şi a polifoniei<br />
limbajului.<br />
Efectul prim este şocul, atacul brutal la<br />
adresa unei băltiri morale şi sociale, argumentarea<br />
cu ajutorul vomitivului capabil să-i<br />
scoată pe cei din jur din amorţeală şi inerţie,<br />
din autoamăgire şi din plictis degenerant. Ca<br />
şi cum un vraci ar scoate o oglindă din buzunar,<br />
ţinând-o cu brutalitate sub nasul contemporanilor<br />
săi, pentru ca aceştia să se vadă<br />
în adevărata lor stare de fapt, ca la Andersen,<br />
într-o dezarmantă şi deziluzionantă goliciune.<br />
Exegeza le-a dăugat operelor de debut<br />
enumerate de Enzensberger şi pe altele precum<br />
Suferinţele tânărului Werther de Johann<br />
Wolfgang Goethe, Hoţii de Friedrich Schiller,<br />
Străinul de Albert Camus, Procesul de<br />
Franz Kafka, Casa Buddenbrock de Thomas<br />
Mann, Se scrie de Friedrich Dürrenmatt,<br />
Cântăreaţa cheală de Eugen Ionescu… O<br />
galerie strălucită de creaţii prin care autorii<br />
respectivi aplicau o puternică terapie de şoc<br />
semenilor lor din contemporaneitate şi posteritate.<br />
Creaţii care întemeiază şi consolidează<br />
o nouă estetică, estetica celebrelor Les fleurs<br />
du mal, a Florilor de mucigai, aşa cum o<br />
întrezărise, cutremurat de consecinţe, tânărul<br />
Schiller: “Să înfrumuseţezi lumea prin cruzime”.<br />
Kantianul din el realiza, însă, că astfel<br />
era periclitat “întregul edificiu moral al<br />
lumii”, aşa încât evoluează în timp până la<br />
formula “imperiului frumoasei aparenţe”<br />
(Reich des schönen Scheins). Debutul lui<br />
este însă, ca şi al celorlalţi şi al multor altor<br />
autori, matricea a tot ceea ce mai târziu avea<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 265
să se cheme nihilism, solipsism, destructivism.<br />
Joc gratuit? Câtuşi de puţin. Noua tonalitate<br />
ce răsuna triumfător în literatura germană<br />
îngemăna un limbaj neobişnuit de suculent<br />
şi o forţă imagistică copleşitoare cu o<br />
schemă narativă complexă şi o tematică densă<br />
şi complexă. Zugrăvindu-şi biografia,<br />
Matzerath zugrăveşte epoci ample ale istoriei<br />
moderne – de la procrearea mamei sale în<br />
anul 1899 până la perioada de dinaintea, din<br />
timpul şi de după cel de al <strong>II</strong>-lea Război<br />
Mondial (<strong>19</strong>54) – într-o zonă frământată<br />
cum a fost aceea oraşului său natal Danzig/Gdansk.<br />
Grass recurge la elemente ale<br />
tehnicii şi conţinutului romanului picaresc,<br />
ale Bildungs- şi Entwicklungsroman-ului,<br />
combinându-le cu problematica artistului,<br />
într-un amalgam fascinant de fantezie şi<br />
creativitate lingvistică, de semiotică a imagisticii<br />
rezultate dintr-un sincretism unic al<br />
talentului literar şi pictural. Grass însuşi e un<br />
amalgam: “Sunt scriitor sau desenator?” –<br />
repeta el însuşi o întrebare pe care el însuşi o<br />
definea ca fiind “pe cât de neavenită, pe atât<br />
de ridicolă”. Un amalgam capabil să pună în<br />
evidenţă conexiuni altfel greu de depistat:<br />
“Înfingându-şi lopata în trecut, Günter Grass<br />
sapă mai adânc decât mulţi alţii şi descoperă<br />
cât de întrepătrunse sunt rădăcinile Binelui şi<br />
Răului“ – se spune în expunerea de motive a<br />
Academiei Suedeze.<br />
Trecutul, istoria – cunoaşterea lor profundă,<br />
autentică, deschide perspective de<br />
viitor, căci “trecutul nu vrea să se sfârşească“:<br />
istoria “îşi aruncă umba asupra secolului<br />
următor. Nu putem să ne sustragem istoriei.<br />
Ea ne face să devenim rumegători.“ Iată<br />
o imagine terifiant de inedită: Günter Grass,<br />
scriitorul în genere, ca “rumegător“ al meandrelor<br />
istoriei. Cea mai recentă confesiune a<br />
premiantului Nobel, făcută cu ocazia decernării<br />
în octombrie <strong>19</strong>99 a unui alt premiu<br />
renumit “Prinţul de Asturia“, confirmă<br />
procesualitatea scriiturii, nonconformismul<br />
unei interminabile provocări:<br />
“De la primul meu roman, Toba de tinichea, până la<br />
cea mai recentă progenitură a toanelor mele aflată sub<br />
denumirea posesivă Secolul meu, am fost un serv revoltat.“<br />
Cu nemiloasa lupă a binevăzătorului,<br />
scriitorul decupează din istoria-fluviu acele<br />
configuraţii care curg şi curg, ca în fluviul de<br />
sub luntrea lui Vasudeva din Siddhartha lui<br />
Hermann Hesse, adică destine umane în şi<br />
prin care există, se în-făptuieşte istoria. Lite-<br />
266<br />
George Guţu<br />
ratura “deschide drumul privirii spre acele<br />
evenimente infime, destabilizatoare, care se<br />
nasc îndărătul tribunei care susţine un stat“;<br />
“astfel cursul istoriei se revarsă în apele reziduale<br />
din care se hrăneşte neţărmurita mare<br />
a absurdului.“ De unde apartenenţa proprie a<br />
lui Grass la tipologia picarului care scotea la<br />
iveală adevărul prin intermediul minciunilor.<br />
Ca precursor şi-l revendică pe Cervantes,<br />
“părintele acelui gen romanesc european, în ţarcul<br />
larg al căruia Candide al lui Voltaire smulgea penele<br />
‚celei mai bune dintre lumi‘, Tristram Shandy al lui<br />
Laurence Sterne îşi datora procrearea întrebării referitoare<br />
la starea ceasornicului, Tyll Ullenspiegel a lui<br />
Charles de Coster simulează o nebunie vicleană în<br />
lupta de eliberare a flamanzilor de sub stăpânirea<br />
străină a spaniolilor, iar eroul lui Grimmelshausen,<br />
Simplicissimus, caută să supravieţuiască schimbând<br />
mereu armatele bulucite.“<br />
Iar ideea de bază, de la Cervantes,<br />
trecând prin Schiller, până la George Orwell<br />
sau scriitorul spaniol de origine franceză<br />
Max Aub, este următoarea:<br />
“Marginalizată, cartea va redeveni subversivă. Şi se<br />
vor găsi cititori pentru care cărţile vor reprezenta nişte<br />
mijloace de supravieţuire.“<br />
Postistoria, a cărei expresie se vrea a fi<br />
postmodernismul, se remarcă prin starea de<br />
dezagregare şi confuzie. Ceea ce înseamnă,<br />
după Grass, în mod paradoxal, o şansă pentru<br />
literatură:<br />
“Ea trăieşte din crize. Floarea ei se deschide printre<br />
dărâmături. Ea aude cum roade viermele. Sarcina ei<br />
este să jefuiască cadavrele. Fără să fie plătită sau cu<br />
plată, ea ţine priveghi, povestindu-le rudelor răposaţilor<br />
vechile poveşti, iară şi iară.“<br />
Ce istorii a mai narat, în felul său inconfundabil,<br />
Günter Grass? Lista este destul de<br />
lungă, cele mai multe dintre opusuri fiind de<br />
o consistenţă copleşitoare. Toba de tinichea<br />
avea să fie prima parte a “Trilogiei Danzigului“,<br />
celelalte două fiind Katz und Maus<br />
(Şoarecele şi pisica, <strong>19</strong>61) şi Hundejahre<br />
(Ani câineşti, <strong>19</strong>63). “Tragedia germană“<br />
intitulată Die Plebejer proben den Aufstand<br />
(Plebeii fac proba unei răscoale, <strong>19</strong>66) face<br />
referire la atitudinea lui Brecht în timpul<br />
revoltei anticomuniste din <strong>19</strong>53 din Berlinul<br />
de Est, örtlich betäubt (anestezie locală,<br />
<strong>19</strong>69) încearcă să facă distincţia dintre<br />
“normalitate“ şi revolta anului <strong>19</strong>68, dintre<br />
resemnarea vârstnicilor şi protestul idealist al<br />
tinerilor. În <strong>19</strong>72 publică o introspecţie severă<br />
a propriei deveniri, a implicării sale în<br />
campaniile electorale ale social-democraţilor,<br />
glosând pe marginea rolului scriitorului<br />
şi cetăţeanului în societatea modernă. Der<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
Butt (Calcanul, <strong>19</strong>77), asociat desoeri ca<br />
tehnică şi vigoare a limbajului cu Toba de<br />
tinichea, imaginează numeroase planuri narative,<br />
tema centrală fiind aceea a rolului<br />
femeii în devenirea umană, în istorie, prin<br />
aspectul particular al procurării hranei, eroinele<br />
centrale fiind bucătărese, temă îmbinată<br />
cu impactul mitului şi magiei. Prezent şi<br />
trecut se împletesc în planul fanteziei, prezentul<br />
este radiografiat critic prin prisma<br />
istoriei. În <strong>19</strong>79 apare fermecătoarea ficţiune<br />
a întâlnirii idilice a unor poeţi de pe vremea<br />
barocului la sfârşitul Războiului de treizeci<br />
de ani. Această “Grupă 1647“ este un travesti<br />
literar cu aluzii la propria experienţă şi la<br />
ceea ce ar fi putut fi în trecut prin proiecţia<br />
prezentului. A urmat un volum de proză<br />
Kopfgeburten (Zămislirile minţii, <strong>19</strong>80) şi<br />
controversatul roman Die Rättin (Şobolanca,<br />
<strong>19</strong>86), un adevărat recviem după un holocaust<br />
atomar, în acre trecutul şi viitorul se<br />
întrepătrund într-o nouă dimensiune temporală<br />
numită “Vergegenkunft” (trecpreyviitor.<br />
După o şedere la Calcuta îi apare volumul<br />
ilustrat de el însuşi Zunge zeigen (Scoate<br />
limba, <strong>19</strong>88). În <strong>19</strong>95 îi apărea naraţiunea<br />
Ein weites Feld (Un câmp vast) cu trimiteri<br />
la istoria literară, în speţă la Theodor Fontane<br />
şi epoca acestuia. Critica literară a constatat<br />
epuizarea vânei narative a lui Grass,<br />
din celebritatea sa rămânând moralistul,<br />
“conştiinţa naţiunii”. Revine masiv în atenţia<br />
opiniei publice printr-un volum în care<br />
trăiesc din nou în simbioză scriitorul şi pictorul<br />
Grass: Mein Jahrhundert (Veacul meu,<br />
<strong>19</strong>99), în care nu rareori găsim intarsii autobiografice<br />
reflectate prin prisma inocenţei<br />
copilăreşti dotată cu un bun ochi critic.<br />
După Dario Fo şi José Saramago, iată<br />
încă un autor laureat al premiului Nobel<br />
“care s-a considerat întotdeauna şi critic al<br />
societăţii, spirit contradictoriu, uneori ca<br />
vociferator, uneori un tip enervant” – cum<br />
afirma Claudius Seidl.<br />
Grass nu este câtuşi de puţin un One-<br />
Work-Author, chiar dacă nu s-a mai ridicat<br />
niciodată pe acele culmi pe care le escaladase<br />
cu Toba de tinichea. Ceea ce intrigă<br />
Literatura ca priveghi al istoriei<br />
este faptul că tinerii autori au păstrat o semnificativă<br />
tăcere, poate şi pentru că nu au<br />
atins acea rodnică vârstă de, să spunem, 30<br />
de ani… Cel puţin privind dinafara Germaniei,<br />
după scriitorul Grass domneşte un îngrijorător<br />
pustiu, după cum constată critici<br />
literari precum Uwe Wittstock şi Sven Boedecker:<br />
“După el urmează puţinătatea… În general, dincolo<br />
de graniţa germanofonă interesul faţă de literatura<br />
germană contemporană se stinge.”<br />
Günter Grass este o reuşită a unei lumi<br />
spirituale aflată în continuă căutare de sine,<br />
într-o istorie care se face prin asumarea<br />
conştientă a trecutului şi a viitorului. O<br />
reuşită cu suficiente pete negre în solarul<br />
univers al fanteziei creatoare.<br />
La priveghiul istoriei, al clipei şi al faptei<br />
trecute în ireversibil, în negura din ce în ce<br />
mai deasă a trecutului, scriitorul, artistul – ne<br />
spune Günter Grass – jefuieşte cadavrele,<br />
furându-le istoriile, biografiile proprii sau ale<br />
celor care l-au înconjurat, cu care s-a interferat,<br />
dând şi luând, construind şi distrugând,<br />
cântând şi urlând de disperare. El se jefuieşte<br />
şi pe sine însuşi, cu fiecare clipă murind şi<br />
el. Priveghiul literaturii a început odată cu<br />
cuvântul originar şi se va termina odată cu<br />
sfârşitul lumii. E un priveghi cât o eternitate.<br />
Bibliografie:<br />
1. Walter Killy (ed.), Bertelsmann Lexikon<br />
Deutsche Autoren, <strong>19</strong>94, Bd. 2.<br />
2. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur<br />
seit <strong>19</strong>45. Begründet von<br />
Hermann Kunisch, fortgeführt von Herbert<br />
Wiesner u. Sybille Cramer, dtv, München<br />
<strong>19</strong>93.<br />
3. “Süddeutsche Zeitung“, <strong>Nr</strong>. 227, 1. Oktober<br />
<strong>19</strong>99, S. 17.<br />
4. Birgit Lahann, Trommelwirbel für die Bauchgeburt,<br />
in: “Der Stern”, <strong>Nr</strong>. 41, 7.10.<strong>19</strong>99, S.<br />
63f.<br />
5. “Fachdienst Germanistik”, <strong>Nr</strong>. 11, November<br />
<strong>19</strong>99.<br />
*) Der Beitrag erschien auch in: "Secolul XX", 10-<br />
12, <strong>19</strong>99, 1-3, <strong>20</strong>00, S. 245-252.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 267
“SCHULDIGE KUNST, SCHULDIGE KÜNSTLER” – EINE UNTERSUCHUNG<br />
DER KÜNSTLERGESTALTEN AUS GÜNTHER GRASS’ "DANZIGER<br />
TRILOGIE"<br />
Infolge einer Debatte bezüglich der<br />
Verhaltensweise verschiedener deutscher<br />
Künst-ler in der Nazizeit, entschied Grass<br />
daß er nicht darüber urteilen will. Das regte<br />
ihn aber an, sich selbst als Künstler im<br />
Hitlerdeutschland vorzustellen, also zehn<br />
Jahre älter, denn die Tatsache daß er<br />
Jahrgang 27 ist, nennt er einen<br />
fragwürdigen Glücksfall.(Grass, S. 127)<br />
Von der Emigration zum Freitod, oder zu<br />
inneren Emigration, von stillhalten bis<br />
weiterhin dichten und schreiben, schienen<br />
ihm alle Möglichkeiten offen, denn<br />
“das große, bis heute anhaltende Entsetzen über das<br />
Ausmaß der geduldeten, direkt oder indirekt<br />
geförderten, in jedem Fall mitzuverantwortenden<br />
Verbrechen kam erst später (…) und dieses Entsetzen<br />
wird bleiben.” (Grass, S. 129.)<br />
Die "Danziger Trilogie" ist mit den<br />
unterschiedlichsten Künstlergestalten bevölkert:<br />
Schriftsteller/Erzähler, Musiker,<br />
Bildhauer, Maler, Schauspieler, die neben<br />
den anderen Gestalten einen Teil aller<br />
bewußten oder unbewußten Schuldigen<br />
bilden.<br />
Ihre direkte oder indirekte Schuld an<br />
allen Geschehnissen ist ein Leitmotiv in der<br />
Trilogie.<br />
Oskar Matzerath, macht uns selbst die<br />
Einladung, das Motiv der Schuld und damit<br />
in Verbindung der Sühne im Roman “Die<br />
Blechtrommel” zu untersuchen.<br />
“Man könnte ein Traktat über Oskars verlorene<br />
Unschuld beginnen, könnte den trommelnden,<br />
permanent dreijährigen Oskar neben den Buckligen,<br />
tränen- und trommellosen Oskar stellen”. ( Bt, S. 615 ).<br />
Dieses Motiv ist eng mit der<br />
Vergangenheit (Vor- und Kriegszeit) und<br />
der Gegenwart (Zeit der Entstehung des<br />
Romans) verbunden.<br />
Es gibt im Roman eine Gestalt die<br />
Raskolnikoff heißt. Raskolnikoff, Student<br />
auf der Kunstakademie, und Maler, wurde<br />
von den anderen so genannt, weil er “ewig<br />
von Schuld und Sühne sprach.” ( Bt, S. 580<br />
)<br />
Ioana Diaconu<br />
Dieser Maler spricht nicht nur davon,<br />
sondern versucht seine Obsession auch<br />
künstlerisch zu gestalten. Oskar Mazerath<br />
soll in verschiedenen Posen immer die<br />
Schuld darstellen, weil seine Schuld, so wie<br />
der Maler meint, offensichtlich sei. Auch<br />
ist er der Meinung sich auf Oskars, aber<br />
nicht nur dessen Vergangenheit beziehend,<br />
daß nichts vorbei ist, “alles kommt wieder,<br />
Schuld, Sühne, abermals Schuld”. (Bt, S.<br />
582). Diese Gestalt soll darauf aufmerksam<br />
machen, daß man irgend wann, in irgend<br />
einer Form - so wie Dostoievskis<br />
gleichnamiger Held - für seine Schuld<br />
büßen wird.<br />
In der “Blechtrommel” wird gerade die<br />
Kunst als erste mit “schuldig” bestempelt.<br />
Oskar Mazerath, den sein Wärter Bruno<br />
einen “prominenten Künstler” (Bt, S. 8)<br />
nennt, sagt diesem eines Tages: “Ach<br />
Bruno, würdest du mir fünfhundert Blatt<br />
unschuldiges Papier kaufen?” (Bt, S.8), und<br />
die Niederschrift der Erzählung bezeichnet<br />
er mit “Beflecken”. Oskar will schreiben,<br />
um seine Vergangenheit zu bewältigen. Er<br />
sagt aber selbst daß seine Erzählungen<br />
Lügen sind. Aus seiner Vergangenheit<br />
schildert er nur was ihm paßt, vieles fügt er<br />
nur später hinzu. Er erzählt über seine<br />
Vergangenheit als Trommler, Glaszersinger<br />
und wieder einmal Trommler, also ein<br />
vielseitiger Künstler.<br />
Als Kind trommelt er ständig, was allen<br />
auf die Nerven geht. Sein Trommeln nennt<br />
er Kunst. Um seiner Trommel nicht<br />
abhanden zu kommen, zersingt er Glas. Das<br />
heißt, er schreit und Glas wird zu Scherben.<br />
Glas zersingen nennt er ebenfalls Kunst.<br />
Später wird dies ein Kunststück im<br />
Programm des Fronttheaters.<br />
Diese Kunst ist, genau wie das Erzählen,<br />
auch schuldig, denn:<br />
“Wenn er in jener ersten Periode nur notfalls, dann<br />
allerdings gründlich Quarzsandprodukte zersang,<br />
machte er später während der Blüte und Verfallzeit<br />
seiner Kunst Gebrauch von seinen Fähigkeiten ohne
“Schuldige Kunst, schuldige Künstler” – eine Untersuchung der Künstlergestalten<br />
in Günther Grass´ "Danziger Trilogie"<br />
äußeren Zwang zu verspüren. Aus bloßen Spieltrieb, Sein Versuch mit der Wirklichkeit etwas<br />
dem Manierismus, muß einer Spätepoche verfallend anzufangen, muß scheitern. Umsonst will er<br />
dem l,art pour l,art ergeben, sang Oskar sich dem Glas<br />
ins Gefüge und wurde älter dabei” (Bt, S. 78/79). sich aktiv am sozialen Leben beteiligen. Er<br />
“diskutierte mit den Katholiken und<br />
Darin besteht die Schuld des Künstlers Protestanten die Kollektivschuld” (Bt, S.<br />
der sich komplett von der Welt gewandt hat, 525), er versucht den Rausch der<br />
und dessen Kunst sogar zerstörerisch wirkt. Nachkriegszeit mitzuerleben, er betätigt sich<br />
Oskar meint er hätte den Tod seiner Mutter als Künstler und wird dadurch bekannt und<br />
verursacht, und sagt, daß er sie “ins Grab berühmt. Doch gelingt es ihm nicht, sich<br />
getrommelt hatte” (Bt, S. 299). Um der auch tatsächlich in dieser Wirklichkeit<br />
Kunst Willen zersingt er wertvolle einzuschließen.<br />
Gegenstände aus Glas, und er wird dafür<br />
sogar bewundert.<br />
Symbolisch dafür, daß er keinen Platz in<br />
der Wirklichkeit findet, ist der Versuch des<br />
Die Zwecklosigkeit seiner Kunst kommt Bildhauers Maruhn, ihn als Modell zu<br />
auch in seiner zweiten Trommelperiode zum benützen. Er bildet für sein Modell ein<br />
Vorschein. Nach dem Krieg, um Bebras Gerüst das so perfekt ist, daß Oskar, der<br />
Beschuldigung loszuwerden, um sich seine eigentlich abgebildet werden soll, keinen<br />
Unschuld von ihm zu erkaufen, tritt er als Platz mehr darin hat.<br />
Oskar der Trommler öffentlich auf. Durch<br />
sein Trommeln soll er seine Zuhörer, sein<br />
Oskar kann seiner Schuld nicht<br />
Publikum an die Vergangenheit erinnern,<br />
loswerden. Er wirft die Trommel ins Grab<br />
die alle vergessen wollen. Dieses Ziel wird<br />
seines Vaters, – was auch als Schuldbekenn-<br />
aber nicht erreicht. Sein Trommeln macht<br />
tnis betrachtet werden kann, – muß sie aber<br />
seine Zuhörer zu “glückselig hallenden<br />
wieder als Modell annehmen, obwohl er das<br />
Kindern”. (Bt, S. 615)<br />
nicht will, und auch sagt Oskar hat gebüßt<br />
(Bt, S. 583), denn “nichts ist vorbei, alles<br />
Oskar verfolgt eigentlich überhaupt kommt wieder, Schuld, Sühne, abermals<br />
nichts mit seiner Kunst. Trommeln tut er Schuld.” (Bt, S. 582)<br />
nur für sich selbst, was für Auswirkungen<br />
sein Trommeln hat, ob positive oder<br />
In derselben Lage befindet sich auch<br />
negative, ist ihm egal. Er muß die<br />
Walter Mattern, Mitglied des<br />
Verpflichtungen respektieren, die im<br />
Autorenkollektivs der Hundejahre, Erzähler<br />
Vertrag enthalten sind, und ist vom Gewinn<br />
der Materniaden. Er erzählt so wie Oskar,<br />
angelockt.<br />
um seine Vergangenheit zu bewältigen, um<br />
Täter und Mittäter an die Vergangenheit zu<br />
Somit ist seine dreifache Kunst - erinnern. Jedoch ist er nicht dazu bereit,<br />
Erzählen, Trommeln, Glaszersingen - eine sich selbst zu den Tätern zu rechnen, er ist<br />
ziellose Kunst die ihn als Künstler schuldig nicht bereit seine Schuld zu<br />
macht.<br />
vergegenwärtigen und zu gestehen.<br />
Oskars größte Schuld als Mensch und Auch als Schauspieler, Künstler in der<br />
Künstler wird von David Roberts in seiner Nachkriegszeit, ist er Oskar sehr verwandt.<br />
Analyse “Aspects of psychology and Er leiht seine Stimme für Kinderhörspiele,<br />
mythology in «Die Blechtrommel»” darin hat aber keine Neigung dazu. Er würde sich<br />
gesehen, daß er nicht imstande ist, seine gerne diesen Aufträgen entziehen. Mit<br />
abgekapselte Welt der Illusionen und diesem Auftreten bringt er das Vergessen in<br />
Träume, also sich selbst, mit dem damaligen Verbindung das er als “produktive<br />
Deutschland in Verbindung zu setzen. Beschäftigung” bezeichnet.<br />
Zwar macht Oskar den Versuch aus So wie auch Oskars Trommelkunst ihr<br />
dieser Lage herauszukommen, und Ziel nicht erreicht, erreicht auch Walter<br />
entschließt sich zum Wachstum, aber das Matterns Kunst nicht ihr Ziel. Eltern, und<br />
Ergebnis ist erbärmlich: aus dem Gnom durch sie auch ihre Kinder, vernachläßigen<br />
wird ein buckliger, lächerlicher Mann. den eigentlichen Sinn der Hörspiele, ihre<br />
Seine dämonische, magische Kraft, die Finalität und machen aus Mattern und seine<br />
Fähigkeit Glas zu zersingen, verliert er. Stimme etwas Furchterregendes. Schlimme<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 269
Kinder werden mit der erschreckenden<br />
Stimme des Radioonkels ermahnt.<br />
Auch Pilenz schreibt um seine<br />
Vergangenheit zu bewältigen. Er schreibt<br />
über sein Verbrechen an Mahlke, über Katz<br />
und Maus und mea culpa. (K.u.M, S. 96)<br />
Seine Kunst ist eine Art Sühne. Bebra und<br />
Amsel sehen auch in der Kunst eine<br />
Möglichkeit zu büßen, und bringen Oskar<br />
und Mattern dazu, in der Öffentlichkeit<br />
aufzutreten, um durch ihre Kunst an die<br />
Vergangenheit, also an die vergessene<br />
Schuld, zu erinnern.<br />
Amsel/Brauchsel, der Leiter und zu<br />
gleicher Zeit Mitglied des Autorenkollektivs<br />
das Das Handbuch über den Bau von<br />
wirksamer Vogelscheuchen, eine Festschrift<br />
zum zehnjährigen Bestehen seiner Firma,<br />
schreiben soll, ist auch ein vielseitiger<br />
Künstler. Als Erzähler berichtet er über die<br />
am weitesten gelegene Periode, die<br />
Vorkriegszeit, da er das beste Gedächtnis<br />
hat, und den besten Überblick auf alle<br />
Verhältnisse. Obwohl er sich gerade durch<br />
sein Erinnerungsvermögen von Walter<br />
Matern unterscheidet, ist er aber auch Oskar<br />
in den meisten Hinsichten sehr ähnlich.<br />
Seine künstlerischen Neigungen beweist er<br />
schon als Kind. Er baut ganz wirkungsvolle<br />
Vogelscheuchen, eigentlich um sich, so wie<br />
Oskar in dessen ersten Trommelperiode, vor<br />
der Welt zu schützen.<br />
Seine Kunst in ihrer nächsten Phase, ist<br />
genau wie die Oskars, art pour l'art. Er sagt<br />
selbst “daß (er) keinerlei Kritik äußern<br />
woll-te (Hj, S. 237 ). Sie wirkt sogar<br />
zerstörerisch, zwar indirekt, denn er benützt<br />
Matern als seine Verbindung zur<br />
Außenwelt, und läßt diesen so dem<br />
Nationalsozialismus verfallen.<br />
Durch Matern gelingt es ihm, sich als<br />
Künstler von der Wirklichkeit zu<br />
distanzieren, was einst auch Oskar, durch<br />
dessen permanente Dreijährigkeit gelungen<br />
war, der die Welt, wie kein anderer, von<br />
unten beobachten konnte und so, wie später<br />
Amsel alles sah, was andere nicht sehen<br />
konnten.<br />
Die Wirkung Amsels ersten<br />
Vogelscheuchen ist verblüffend. Die<br />
Produkte seiner Kunst werden vorerst im<br />
konkretesten Sinne nützlich. Danach fängt<br />
270<br />
Ioana Diaconu<br />
er an, Scheu-chen nach dem Bild des<br />
Menschen anzufertigen. Er produziert mit<br />
künstlerischen Mitteln “Pfundskerle wie<br />
Schweinehunde, gemischt und gewürfelt, wie<br />
nun mal das Leben spiele.” ( Hj, S. 237),<br />
und ist wieder Oskar verwandt, der gegen<br />
Rot, Schwarz und Braun trommelt, gegen<br />
alles.<br />
So sind seine SA Vogelscheuchen nicht<br />
nur Nazigrößen, sondern unter ihnen<br />
befinden sich Gerhard Hauptmann, Willi<br />
Bir-gel, Emil Jennings, Max Schmelling,<br />
Pacelli, Friedrich von Schiller, Goethe,<br />
Herbert Morkus, Horst Wessel, Otto<br />
Weininger und er selbst.<br />
Mattern kann dieses Spiegelbild, das<br />
ihm gezeigt wird, “eine Gruppe von<br />
automati-sierten, mechanisierten Gestalten,<br />
die durch Druck eines Knopfes jede<br />
gewünschte Hand-lung vollziehen”,<br />
(Schwefe, S. 49) - das die Essenz der SA<br />
darstellen soll, nicht aushalten, und<br />
organisiert so den Überfall auf Amsel.<br />
Während aber Oskars Gründe rein<br />
ästhetisch, sind, wirken Amsels Gründe –<br />
der dem Menschen ein Ebenbild durch seine<br />
Kunst schafft – eher aufklärerisch.<br />
Seine Scheuchen sollen die Essenz des<br />
Erschreckenden im Menschen zeigen, dem<br />
Deutschen die Essenz der SA. Die Drohung<br />
die seine Scheuchen ausüben wird auch von<br />
Mattern verspürt, der eigentlich nicht fähig<br />
ist sich selbst in der Vergangenheit zu<br />
erkennen.<br />
Was ihn aber am meisten von Oskar, der<br />
das Böse als Triebkraft seiner Kunst sieht,<br />
unterscheidet, ist die Tatsache daß die<br />
Motivation seiner Kunst die Liebe für den<br />
Menschen und vor allem für den Deutschen<br />
ist “Mein lieber Walter, du magst deinem<br />
Vaterland so sehr grollen, ich aber, liebe<br />
die Deutschen.”(Hj, S. 646)<br />
So wie Oskar ist auch Amsel ein<br />
dreifacher Künstler. Er baut<br />
Vogelscheuchen, ist Balettmeister und<br />
Erzähler.<br />
Balletmeister wird er nach dem Überfall<br />
und funktioniert, wie Bebra auch, als<br />
Kulturoffizier. Durch die Inszenierung des<br />
Vogelscheuchenballets zeigt er wie die<br />
Wirklichkeit in einer höchst stilisierenden<br />
Kunst ihren Platz hat.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01
“Schuldige Kunst, schuldige Künstler” – eine Untersuchung der Künstlergestalten<br />
in Günther Grass´ "Danziger Trilogie"<br />
Kunst ist für ihn aber nicht nur eine das Handbuch entstehen. Als Opfer, aber<br />
Materialisierung seiner Beobachtung der gleichzeitig als Einziger, der einen<br />
Wirklichkeit und Auseinandersetzung<br />
damit, sondern auch ein Weg daraus zu<br />
flüchten. Er spielt mit Felsner Imbs und<br />
Jenny Klavier, während die anderen<br />
Bewohner des Mietshauses in ihren<br />
Überblick auf alle Verhältnisse behalten hat,<br />
erzählt er die am weitesten liegende<br />
Vergangenheit. Die Gegenwart, die Zeit der<br />
Buße erzählt Walter Matern, der Täter der<br />
zu Rechenschaft gezogen werden muß.<br />
alltäglich Problemen verstrickt sind, aber Diese vier Erzähler, die die<br />
zugleich die Berühmtheit Harras` steigern. Vergangenheit nicht los lassen können, und<br />
Brunies ist ihnen in dieser Hinsicht ähnlich. sie durch ihre Wiedergabe in die<br />
Er bemüht sich um die künstlerische Gegenwart bringen, verkörpern Grassens<br />
Erziehung seiner Ziehtochter und flüchtet in Erzählintention, und zwar:<br />
Heines und Eichendorffs Welt Zuflucht in “zu erinnern, an all das, was alle vergessen wollen,<br />
die Kunst ist für sie eine Alternative zur damit man “weiß wie es dahin gekommen, wie man es<br />
Verhaltensweise der Anderen, unter den so weit gebracht. Was Deutschland das Ungeteilte war,<br />
herrschenden Verhältnissen, und zugleich und sein könnte, wer die Schuld trägt an all dem, wo sie<br />
heute wieder sitzen, und wie man verhindern kann, daß<br />
ein Zeichen dafür, daß Amsel der Jude und<br />
es dahin kommt.” ( Hj, S. 514)<br />
Jenny das Zigeunerkind, Außenseiter sind.<br />
Für den Künstler Amsel hat Kunst eine<br />
lebenserhaltende Kraft einerseits und<br />
Literatur:<br />
überdauert das Leben andererseits:<br />
Erzählt Kinder, erzählt, … laßt den Faden nicht<br />
abreißen, Kinder! Solange uns etwas einfällt, mit oder<br />
1. Günter Grass: “Die<br />
Luchterhand, Berlin, <strong>19</strong>88<br />
Blechtrommel”,<br />
ohne Pointe (…) solange Geschichten noch zu<br />
unterhalten vermögen, vermag uns keine Hölle uns<br />
unterhaltsam sein. ( Hj, S. 641)<br />
Als Erzähler kann Amsel, über seine<br />
Kunst der Vogelscheuchenproduktion<br />
hinaus, die den Menschen nur ihr<br />
Spiegelbild zeigt, diese auch an ihre<br />
Vergangenheit erinnern.<br />
Matern hatte zwar erneut die Drohung<br />
der zweiunddreißig Scheuchen verspürt, soll<br />
aber für sein Vergehen an Amsel, für sein<br />
Verhalten während des Kriegs büßen. Dafür<br />
muß er daran erinnert werden, denn auch<br />
2. Günter Grass: “Katz und Maus”, Verlag<br />
Volk und Welt, Berlin, <strong>19</strong>84<br />
3. Günter Grass: “Hundejahre”, Luchterhand,<br />
Berlin, <strong>19</strong>63<br />
4. Günter Grass: “Der Autor als Fragwürdiger<br />
Zeuge” DtV, München, <strong>19</strong>97<br />
5. Göetze, Albrecht: ”Pression und Deformation”,<br />
Verlag Alfred Kümmerle, Göppingen,<br />
<strong>19</strong>72<br />
6. Neuhaus, Volker: “Günter Grass” J. B. Metzlersche<br />
Verlagsbuchhandlung, Stuttgart,<br />
<strong>19</strong>93<br />
diese erneute Zusammenkunft mit den 7. Schwarz, Wilhelm Johannes: “Der Erzähler<br />
Scheuchen weckt in ihm keine Erinnerung. Günter Grass”, Francke Verlag, Bern und<br />
Um ihn und zusammen mit ihm die München, <strong>19</strong>75<br />
ganze Gesellschaft ihre Schuld nicht 8. Schwefe, H. R. Müller: “Sprachgrenzen” J.<br />
vergessen zu lassen, läßt Amsel/Brauchsel<br />
*<br />
Pfeiffer Verlag, München, <strong>19</strong>78<br />
* *<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 271