ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II
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Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />
mit dem Essay Transit Berlin und mit seinem<br />
Essay Manhattan Monolog die Stadt, in und<br />
mit der er den Osten wie den Westen gleichermaßen<br />
zu überwinden sich vorgenommen<br />
hatte. Freilich kommen auch andere<br />
Städte in seinen Gedichten zur Sprache, Los<br />
Angeles beispielsweise, Moskau, Paris, Rom<br />
und vor allem Venedig in seinem an die<br />
große Tradition deutscher Venedig-Dichtung<br />
anknüpfenden Zyklus Veneziana aus Nach<br />
den Satiren. Zahlreiche Gedichte lassen sich<br />
zudem keiner bestimmten Stadt zuordnen, sie<br />
haben einfach die Großstadt als solche zum<br />
Gegenstand mit ihrem ganzen Arsenal an<br />
Themen, die seit dem Ausgang des <strong>19</strong>.<br />
Jahrhunderts in die deutsche Literatur Einzug<br />
gehalten haben. Die Industrie- und Sozialkritik<br />
des Naturalismus, ergänzt durch die<br />
zeitgenössische ökologische Komponente, ist<br />
in Grünbeins Gedichten ebenso präsent wie<br />
die eskapistische und dadurch gleichwohl bedeutsame<br />
Tradition des Ästhetizismus, man<br />
denke beispielsweise an das Einer Gepardin<br />
im Moskauer Zoo (NdS 55) gewidmete<br />
Poem, das eine lyrische Antwort auf Rilkes<br />
Der Panther darstellt, oder auch an die Fünf<br />
Impromptus (NdS 133-141), von denen das<br />
Yoni betitelte zweite ebenfalls auf ein Gedicht<br />
Rilkes, das Sonett Die Fensterrose,<br />
antwortet. Die Blüte der deutschen Großstadtlyrik,<br />
die expressionistische Großstadtdichtung,<br />
manifestiert sich bei Grünbein<br />
nicht nur in der Wiederaufnahme der Motive<br />
des Todes, des Verfalls, des Untergangs und<br />
des Weltendes, sondern auch im Rückgriff<br />
auf die Topoi der existenziellen Einsamkeit<br />
und der Anonymität in der Masse, wie diese<br />
vor allem in seinen zahlreichen U-Bahn-Gedichten<br />
in Erscheinung treten. Die Stadt als<br />
Ort der Vergnügung und der Verführung, wie<br />
sie aus der Großstadtlyrik der zwanziger<br />
Jahre bekannt ist, kommt bei Grünbein<br />
ebenso zur Geltung wie das schon im Expressionismus<br />
übliche Ensemble städtischer<br />
Treffpunkte und Begegnungsräume wie zum<br />
Beispiel Cafés und Hotels. Die Großstadtdichtung<br />
der Kriegs- und Nachkriegszeit mit<br />
ihrer Trümmer- und Ruinenthematik ist insbesondere<br />
in Grünbeins Gedichten auf und<br />
über Dresden präsent. Vor allem die Großstadtlyrik<br />
der sog. Alltagsdichter 18 , nament-<br />
18 Darauf weist u.a. auch Kurt Drawert in seiner<br />
Rezension zu ‘Schädelbasislektion’ hin; vgl. dazu: Kurt<br />
lich Nicolas Born, Jürgen Theobaldy und<br />
allen voran Rolf Dieter Brinkmann, stellt<br />
dann wieder einen literarhistorischen Fixpunkt<br />
in Grünbeins Oeuvre dar. Schließlich<br />
ist Grünbeins Großstadtdichtung ohne die<br />
politische Lyrik der Wendezeit, ohne den<br />
Prenzlauer Berg und die Reflexion auf die<br />
Problematik des posttotalitären Menschen <strong>19</strong><br />
schlechthin nicht denkbar.<br />
Nach diesem kurzen Überblick über die<br />
Großstadtdichtung Durs Grünbeins, ihre<br />
Themen, Vorbilder und literarischen Traditionen,<br />
wollen wir uns nun in einem zweiten<br />
Teil anhand von exemplarischen Interpretationen<br />
einzelnen ausgewählten Gedichten zuwenden.<br />
Im Vordergrund wird dabei neben<br />
der Großstadtthematik auch die literarische<br />
Entwicklung, die literaturkritische Wertung<br />
und die literaturgeschichtliche Bedeutung<br />
des viel geehrten und hoch gepriesenen jungen<br />
Dichters stehen. Die Anfänge Durs<br />
Grünbeins stehen im Zeichen der sog.<br />
Alltagslyrik. Sein Gedicht Eine einzige silberne<br />
Büchse (Gm 26) aus seinem ersten<br />
Lyrikband, das eine weggeworfene Sardinenbüchse<br />
zum Gegenstand hat, ist ganz im Ton<br />
dieser literarischen Strömung der siebziger<br />
Jahre gehalten. Während aber Rolf Dieter<br />
Brinkmann beispielsweise in seinem Gedicht<br />
Die Konservendose <strong>20</strong> auf jede Poetisierung<br />
des alltäglichen Dinges verzichtet - „[...] was<br />
// hat das zu be- / deuten, fragte / er, sie gab<br />
ihm / darauf keine Ant- // wort [...]“ 21 -,<br />
steigert Grünbein die Realität dieses weggeworfenen<br />
Müllobjekts, das er zunächst als<br />
„ziemlich / bedeutungsarm“ (Gm 26)<br />
charakterisiert, durch die ästhetisch über-<br />
Drawert, Die leeren Zeichen, in: neue deutsche literatur,<br />
40. Jg., 474. Heft, 6/92, Berlin, Weimar <strong>19</strong>92, S. 132-<br />
137.<br />
<strong>19</strong> Sibylle Cramer spricht in ihrer Laudatio anläßlich<br />
der Verleihung des Bremer Literaturpreises <strong>19</strong>92 an<br />
Durs Grünbein von der „Krise des Subjekts nach dem<br />
Zerfall des totalitären Staates und beim Eintritt in die<br />
mediale Kommunikationsgesellschaft des Westens“<br />
(Anm. 13, S. 29); der posttotalitäre Mensch ist einerseits<br />
dem Zugriff der Politik entzogen und andererseits<br />
noch nicht Beutetier der Medien geworden, oder, anders<br />
ausgedrückt, er ist noch kein „kapitalistischer Idiot und<br />
sozialistisches Staatstier“ (ebd.) nicht mehr!<br />
<strong>20</strong> In: Rolf Dieter Brinkmann, Künstliches Licht.<br />
Lyrik und Prosa, hg. v. Genia Schulz, Stuttgart <strong>19</strong>94, S.<br />
36.<br />
21 Ebd.<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 171