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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen<br />

Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick<br />

Gebrochen. Im Fernsehn gab ein<br />

/Fernsehkoch<br />

Den guten Rat zum Kochen.<br />

Verwesung und Gestank im Zimmer,<br />

Hinter Gardinen blaues Flimmern, später<br />

Die blanken Knochen.<br />

Nichts<br />

Sagten Nachbarn, die ihn scheu beäugten,<br />

/denn<br />

Sie alle dachten längst dasselbe: „Ich hab’s<br />

/Gerochen.“<br />

Ein Toter saß an dreizehn Wochen...<br />

Es war ein fraglos schönes Ende.<br />

Jahrhundertwende.<br />

Ernst Osterkamp hat in seiner Nach dem<br />

Glückskind 29 betitelten Rezension zu Nach<br />

den Satiren die Tendenz zur Zyklusbildung<br />

in Grünbeins gesamtem Werk konstatiert und<br />

diese folgendermaßen gedeutet: „Dahinter<br />

steht der Wille, die Erscheinungsfülle der<br />

Welt in sich aufzunehmen, ohne sich von ihr<br />

überwältigen zu lassen. Zur poetischen Organisation<br />

der Vielfalt der Phänomene bieten<br />

sich zyklische Strukturen an. Auf Durs Grünbeins<br />

Formbewußtsein ist Verlaß.“ 30 Nicht<br />

nur der Wille zur Reduktion von Komplexität,<br />

sondern auch der Wille zur Polyperspektivität<br />

und der Wille zur Form, der sich<br />

als poetisches Prinzip der Variation manifestiert,<br />

bilden bei Grünbein die Basis und den<br />

inneren Grund für die Tendenz zur Zyklizität.<br />

Bezeichnenderweise finden sich deshalb<br />

im Hinblick auf die Großstadtthematik<br />

bei Grünbein nicht nur Einzelgedichte, sondern<br />

auch und gerade Zyklen. In den Lyrikband<br />

Nach den Satiren beispielsweise sind<br />

ein elf Gedichte umfassender Dresden-Zyklus<br />

mit dem Titel Europa nach dem letzten<br />

Regen (NdS 143-153), ein fünf Gedichte umfassender<br />

Berlin-Zyklus mit dem Titel<br />

Berliner Runde (NdS 159-163) und ein<br />

Nachbilder betitelter und aus elf Gedichten<br />

bestehender Sonett-Zyklus aufgenommen,<br />

der das Phänomen Großstadt aus der Perspektive<br />

dessen schildert, der im Einschlafen,<br />

Träumen und Aufwachen die Tagesreste und<br />

die Nachbilder des Wachzustandes, die<br />

Wahrnehmungsschocks und Erlebnissplitter<br />

29 In: FAZ vom 23. März <strong>19</strong>99, Seite L 5.<br />

30 Ebd.<br />

erinnert, wiederholt und durcharbeitet. Wir<br />

wollen uns im folgenden mit diesen drei Zyklen<br />

detailliert interpretierend wie motivisch<br />

summierend näher auseinandersetzen.<br />

Schon in Grauzone morgens hatte Grünbein<br />

seiner Heimatstadt verschiedene Gedichte<br />

(z.B. Gm 22 oder Gm 35f.) gewidmet.<br />

Auch in seinen Lyrikband Schädelbasislektion<br />

hat er ein seinem Künstlerfreund Via<br />

Lewandowsky gewidmetes Gedicht über<br />

Dresden (Sch <strong>19</strong>4) aufgenommen. Darin sind<br />

bereits zahlreiche Motive enthalten, die<br />

Grünbeins Dresden-Bild charakterisieren.<br />

Als „Barockwrack an der Elbe“ verkörpert<br />

die sächsische Großstadt Höhepunkte der<br />

Kunst wie der Zerstörung gleichermaßen.<br />

Als „Werk des Malerlehrlings / Mit dem in<br />

Wien verstümperten Talent / Der halb Europa<br />

seinen Stilbruch aufzwang“ erinnert sie an<br />

den Zweiten Weltkrieg und die furchtbare<br />

Bombennacht im Februar <strong>19</strong>45 und stellt<br />

damit gleichsam „die anglo-sächsische Version<br />

von nevermore“ dar. „Groß im Verfall“<br />

besitzt sie „Ruinenwert“, die „Schönheit der<br />

Ruinen“ erzeugt dabei Melancholie und<br />

Nostalgie. „Ein Gesamtkunstwerk / Singt unter<br />

Trümmern noch in höchsten Tönen“:<br />

diese Verse spielen einerseits auf Richard<br />

Wagner an, den Königlich Sächsischen Hofkapellmeister,<br />

der nach seiner Teilnahme am<br />

Dresdner Mai-Aufstand 1849 ins Exil gehen<br />

mußte und über ein Jahrzehnt nicht mehr in<br />

das geliebte Elbflorenz zurückkehren konnte;<br />

zum anderen knüpfen diese Verse an Walter<br />

Benjamins Trauerspiel-Buch und an seine<br />

Deutung der Ruine und damit zusammenhängend<br />

der barocken Allegorie an. 31 Im Gegensatz<br />

zum barocken Gesamtkunstwerk jedoch,<br />

das „nichts als dauern“ 32 will und sich mit<br />

allen Organen ans Ewige klammert, betont<br />

Grünbein die Zeitlichkeit und Endlichkeit<br />

auch des „Ruinenwerts“. So lautet denn auch<br />

der letzte Vers des Gedichts: „Im Futur <strong>II</strong><br />

wird alles still geworden sein“.<br />

31 Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen<br />

Trauerspiels, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am<br />

Main <strong>19</strong>78, S. 155-160; vgl. insbes. den Satz: „Was da<br />

in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende<br />

Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der<br />

barocken Schöpfung“ (S. 156); vgl. auch die dortigen<br />

Ausführungen zum barocken „Gesamtkunstwerk“ (S.<br />

158).<br />

32 Anm. 31, S. 158.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 175

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